Hölle
Thriller. Ausgezeichnet mit dem ABC Fiction Award 2006
Sie fanden den Clown aus Stephen Kings "ES" unheimlich? Lesen Sie Will Elliott!
"Düster, verflucht einfallsreich und dabei erschreckend komisch ein wunderbares Buch!"
Maxim
"Düster, verflucht einfallsreich und dabei erschreckend komisch ein wunderbares Buch!"
Maxim
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
16.90 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Hölle “
Sie fanden den Clown aus Stephen Kings "ES" unheimlich? Lesen Sie Will Elliott!
"Düster, verflucht einfallsreich und dabei erschreckend komisch ein wunderbares Buch!"
Maxim
"Düster, verflucht einfallsreich und dabei erschreckend komisch ein wunderbares Buch!"
Maxim
Klappentext zu „Hölle “
Als Jamie eines Nachts einen Clown überfährt, der urplötzlich vor seiner Motorhaube auftaucht, ist ab sofort nichts mehr, wie es war. Jamie erhält unheimliche Drohungen, und eine Horde mordgieriger Geschöpfe in Clownskostümen macht Jagd auf ihn. Die Clowns entführen Jamie in den Pilo-Zirkus, eine bizarre, jenseitige Welt, beherrscht von unheimlichen Akrobaten, Zwergen, Freaks und Wahrsagern. Ein geheimnisvolles Pulver erfüllt jeden Wunsch, und auch Jamie verfällt ihm. Doch wer es einnimmt, wird zum eiskalten Killer. Wenn Jamie dieser Hölle entkommen will, muss er nicht nur den Zirkus zerstören, sondern auch seinen größten Feind besiegen die eigene dunkle Seite Das preisgekrönte Debüt des neuen Shootingstars Will Elliott »eine heimtückische Mischung aus Horror, Fantasy und schockierend gutem Humor«. Scotland on Sunday
Lese-Probe zu „Hölle “
Die Hölle von Will Elliot LESEPROBE
KAPITEL EINS
DER SAMTBEUTEL
There was not one among them that did not cast an eye behind
In the hope that the carny would return to his own kind.
» T H E C A R N Y « , N I C K C AV E
Jamie hielt mit quietschenden Reifen. Der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war nicht: Den Typen hätte ich fast platt gemacht!, sondern: Das Ding hätte ich fast platt gemacht! Die Erscheinung im gleißenden Licht der Scheinwerfer trug einen weiten Kittel mit knallbuntem Blumenmuster, übergroße rote Schuhe, eine gestreifte Hose und weiße Schminke im Gesicht.
... mehr
Was Jamie sofort beunruhigte, waren die Augen des Clowns, seine leeren, glasigen Pupillen, die den Eindruck erweckten, dass er völlig neu auf dieser Welt war und noch nie im Leben ein Auto gesehen hatte. Man hätte meinen können, das Geschöpf sei soeben aus einem Riesenei geschlüpft und geradewegs auf die Straße gelaufen, wo es nun so verwirrt und regungslos stand wie eine Schaufensterpuppe, den geblümten Kittel in den Hosenbund gestopft, über den ein schlaffer Bauch quoll. Die in die Hüften gestemmten Arme standen zu beiden Seiten wie Henkel ab, mit weißen Handschuhen über den geballten Fäusten. Schweißflecken breiteten sich unter den Achseln aus. Die Gestalt starrte Jamie mit gruseligen Glotzaugen durch die Windschutzscheibe an, ehe sie das Interesse verlor und sich von dem Fahrzeug abwandte, das ihr beinahe das Lebenslicht ausgeblasen hätte.
Der Uhrzeiger am Armaturenbrett sprang gerade auf die zehnte Sekunde nach Jamies Vollbremsung. Es roch nach verbranntem Gummi. Seit er den Führerschein besaß, hatte die Welt zwei Katzen, einen Fasan und nun auch beinahe ein absolut hirnrissiges Exemplar von einem Menschen verloren. Jamie ging blitzschnell durch den Kopf, was alles hätte passieren können, wenn sein Fuß nicht sofort die Bremse durchgetreten hätte: Prozesse, Verurteilungen, schlaflose Nächte und Schuldgefühle für den Rest seines Lebens. Autofahrer-Zorn erfasste ihn und brach mit Wucht aus ihm hervor. Er kurbelte das Fenster herunter und schrie dem anderen hinterher: »Hey! Verzieh dich von der Straße, du Arsch!«
Der Clown blieb stehen und drehte den Kopf – sein Mund klappte zwei Mal lautlos auf und zu. Jamies Zorn brachte ihn an den Rand eines Anfalls. Fand der Typ das vielleicht komisch? Er knirschte mit den Zähnen und schlug auf die Hupe. Sein kleiner alter Nissan keifte heiser in die Zwei-Uhr-Morgenstille.
Damit schien er Eindruck zu machen. Der Mund des Clowns klappte noch einmal auf und zu, dann presste die Gestalt die weiß behandschuhten Finger auf die Ohren. Der Blick, der Jamie traf, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Mach das nie wieder, Mann!, sagten die unheimlichen Augen. Einer wie ich hat seine Macken, klar? Und du willst doch ganz bestimmt nicht, dass ich meine Macken an dir auslasse, oder?
Jamies Hand verharrte über der Hupe. Der Clown wandte sich dem Fußweg zu, tat ein paar torkelnde Schritte und blieb dann erneut stehen. Wenn jetzt ein Wagen von der anderen Seite kam, würde er das vollenden, was Jamie gerade noch verhindert hatte. Egal. Mutter Natur machte es schon richtig – das war nun mal das Schicksal der dummen Gene. Mit Kopfschütteln und einem nervösen Lachen fuhr Jamie los. »Was hatte das zu bedeuten, verdammt noch mal?«, flüsterte er seinem Gegenüber im Rückspiegel zu. Er sollte es nur zu bald erfahren – um genau zu sein: in der folgenden Nacht.»Teufel, wo ist mein REGENSCHIRM?«
Jamie stöhnte innerlich auf. Die Frage war nun bereits zum fünften Mal an ihn gerichtet worden, mit wechselnder Betonung der einzelnen Worte. Vor ihm stand kein Geringerer als Richard Peterson, seines Zeichens Briefkastenonkel bei einem der nationalen Käseblätter namens Voice of the Taxpayer. Er war durch das Portal des Wentworth Gentlemen’s Club hereingerauscht, umweht von Armani und Schuhwichse. In seiner Eigenschaft als Portier erhielt Jamie achtzehn Kröten die Stunde, gerade genug, um solche Tiraden höflich über sich ergehen zu lassen. Peterson verstummte und bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. Sein Schnurrbart zuckte empört.
»Tut mir leid, Sir, ich habe ihn nicht gesehen. Kann ich Ihnen vielleicht mit einem Schirm des Hauses ...«
»Dieser Schirm war ein ERBSTÜCK, verdammt nochmal!«Ich verstehe, Sir. Vielleicht ...«
»WO zum Teufel ist mein Regenschirm?« Jamie verzog das Gesicht, während zwei attraktive Damen am Portal vorbeischlenderten und das Theater lächelnd mitverfolgten. In den nächsten zwei Minuten beteuerte er immer wieder: »Ich verstehe, Sir. Vielleicht –«,
während Peterson drohte, seine Mitgliedschaft zu kündigen, das Haus zu verklagen oder dafür zu sorgen, dass Jamie gefeuert wurde ... Er wisse wohl nicht, wen er vor sich hatte? Schließlich tauchte einer von Petersons Kollegen im Foyer auf und trieb ihn an die Bar, so wie man einen Dobermann mit einem blutigen Steak überzeugte. Peterson zog sich knurrend zurück. Jamie seufzte. Nicht zum ersten Mal erschien ihm sein Leben wie eine Sitcom. Der abendliche Ansturm um sechs kam und ging vorüber. Herein brach die bierbäuchige Brisbane-Prominenz – Anwaltskanzleipartner, TV-Nachrichtensprecher, AFL*- Oberbosse, ehemalige Kricketspieler, die es um ein Haar ins Nationalteam geschafft hatten, Abgeordnete des Landesparlaments und Geschäftsleute aller Couleur, außer jungen und weiblichen. Schließlich legte sich wieder Stille über das Foyer. Die einzigen Geräusche, die den Granit der Außenmauern durchdrangen, waren gedämpfter Verkehrslärm, das allmählich nachlassende Hasten und Rennen in der Großstadt und schließlich das Erwachen des Nachtlebens.
Die friedliche Stille im Foyer wurde nur hin und wieder durch Klubmitglieder gestört, die betrunkener und glücklicher gingen, als sie gekommen waren. Nachdem der Letzte von ihnen ins Freie getorkelt war, vertiefte sich Jamie in seinen Science-Fiction-Roman und warf ab und zu einen verstohlenen Blick über die Schulter, um nicht von seinem Chef oder einem versprengten Brisbane-Promi beim Schmökern erwischt zu werden. Er empfand es als ausgleichende Gerechtigkeit, dass er auch für diese Tätigkeit seine achtzehn Kröten die Stunde erhielt. Die Uhr schlug zwei. Jamie schreckte aus einer Art Trance hoch und fragte sich, wo die letzten sechs Stunden geblieben waren. Im Klub herrschte Stille. Die Belegschaft war nach Hause gegangen, und sämtliche Mitglieder lagen im Bett, mit Bier gut abgefüllt und vermutlich eine schlafende Hostess neben sich.
Jamie schlenderte zum Myer Centre, ein hoch aufgeschossener, schlaksiger junger Rotschopf mit dünnen Beinen und blank gewichsten Schuhen, deren Absätze auf das Pflaster knallten, die Hände in den Hosentaschen vergraben und eine Dollarmünze zwischen Daumen und Zeigefinger drehend. Ein Bettler hatte in Erfahrung gebracht, wann seine Schicht zu Ende war, und versuchte ihn seit Wochen auf dem Weg zum Parkplatz abzufangen. Als könne er Gedanken lesen, trat der Alte vor dem Myer Centre auf Jamie zu, gekleidet wie ein vergammelter Nikolaus und umgeben von einer Fuselwolke. Er murmelte etwas über das Wetter und zeigte sich völlig verwundert, als Jamie ihm den Dollar schenkte. So endete Jamies Schicht doch noch einigermaßen erfreulich – in einer Flut überschwänglicher Dankesbekundungen. Während er den Nissan anließ, überlegte er erneut, weshalb er sich all das antun musste. Warum zum Henker er ausgerechnet Kunst studiert hatte. Auf der Heimfahrt sah er wieder einen Clown.
Die Frontscheinwerfer glitten an den geschlossenen Läden von New Farm vorbei, und da stand er, vor einem Lebensmittelgeschäft. Es war nicht der gleiche Clown wie in der Nacht zuvor; dieser hier hatte dunkle Haarbüschel, die wie Stachel von einem basketballrunden Kopf abstanden. Auch sein Kostüm war anders – er trug ein schlichtes rotes Hemd, das an altmodische Feinrippunterwäsche erinnerte und Brust und Bauch eng umspannte, dazu eine Hose des gleichen Alters mit Schnellfeuerklappe. Das weiß geschminkte Gesicht, die Plastiknase und die roten Riesenschuhe waren der einzige Hinweis darauf, dass es sich bei dem Typen überhaupt um einen Clown handelte; ohne dieses Zubehör hätte man ihn vielleicht für einen einsamen Mittfünfziger halten können, der sich nach einer Sauftour verlaufen hatte oder auf der Suche nach einer Hinterhofromanze war.
Im Vorbeifahren bemerkte Jamie, wie verzweifelt der Clown aussah. Er streckte die Arme in die Luft und schrie, als wolle er sich bei den Mächten des Himmels über irgendetwas beklagen. Im Rückspiegel bekam Jamie noch mit, wie der Clown zwischen dem Lebensmittelgeschäft und einem Gartencenter verschwand.
Jamie hätte es am liebsten dabei belassen – jeder wusste, dass in New Farm genug Spinner unterwegs waren. Er wäre gern heimgefahren und über die Hintertreppe nach oben geschlichen, um zu duschen. Danach hätte er etwas Futter für die Katzen verteilt, die in Legionen durch das Viertel streunten, hätte leise sein Zimmer aufgesucht und sich zu einem Internet-Porno einen runtergeholt, bis er einigermaßen zufrieden ins Bett gefallen wäre. Aber sein Wagen hatte andere Pläne. Erst vernahm Jamie das mahlende Geräusch eines großen verstimmten Metallbauchs – und dann stieg ihm der Geruch von Öl und Rauch in die Nase. Mitten auf dem Heimweg gab sein eigentlich unverwüstlicher Nissan den Geist auf.
Er hieb mit der flachen Hand auf den Beifahrersitz. Musikkassetten spritzten wie aufgescheuchte Riesenschaben in alle Richtungen. Sein Zuhause war noch vier Straßen und eine Anhöhe entfernt. Er spannte die schlappen Wadenmuskeln an, um das meuternde Wrack anzuschieben, als er hinter sich eine seltsame Stimme vernahm.»Goshy!«
Jamies Herz setzte aus. Gleich darauf rief die Stimme erneut.»Goshy?«
Er hatte den Clown völlig vergessen. Es war die Stimme eines Clowns, eine kindliche, übertrieben besorgte und weinerliche Stimme aus dem Mund eines erwachsenen Mannes. Der Tonfall beschwor in Jamie das Bild eines Dorfdeppen herauf, der sich fortwährend mit dem Hammer auf den Kopf schlug und fragte, was da so schepperte.Wieder rief der Clown: »Goshiiiii?«
Goshy? War das eine Art Schimpfwort? Jamie machte kehrt und ging zurück zum Parkplatz des Lebensmittelgeschäfts. Die Straßen waren still und seine Schritte kamen ihm sehr laut vor. Einem Instinkt gehorchend, der ihm riet, sich verborgen zu halten, kroch er hinter eine Hecke neben dem Parkplatz und spähte durch das Blattwerk. Der Clown stand vor dem Gartencenter, starrte zum Dach hinauf und ging sämtliche Posen eines verzweifelten Vaters durch – fuhr sich mit den Fingern durch den Haarschopf, reckte die Arme himmelwärts, presste wie eine exaltierte Bühnendiva eine Hand an die Stirn, trat dann zurück und stöhnte. Jamie wartete, bis die Gestalt ihm den Rücken zuwandte, ehe er hinter der Hecke hervorflitzte und sich hinter einer riesigen Mülltonne für Industrieabfälle duckte, um das Geschehen besser mitverfolgen zu können. Der Clown gab nicht auf. »Gosh-iiiiii!«
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Goshy« ist ein Name. Vielleicht der Name des Clowns, den ich um ein Haar überfahren hätte. Vielleicht sucht dieser hier nach ihm, weil er sich irgendwie verlaufen hat. Das schien zu passen. Und noch während er den Clown beobachtete, entdeckte Jamie auch den anderen. Der Typ von letzter Nacht stand nämlich auf dem Dach des Gartencenters, steif wie ein Schornstein. Und dann starrte er Jamie an, und zwar so unvermittelt, dass dieser beinahe aufgeschrien hätte. Die Blicke des Clowns zeigten wie in der Nacht zuvor blanke Verständnislosigkeit.
»Goshy, das is nich lustig!«, beschwerte sich der Clown unten auf dem Parkplatz. »Komm jetz da runter! Los, Goshy, du sollst jetz da runterkommen, is das klar? Goshy, das is nich lustig!«
Goshy rührte sich nicht, stand da wie ein trotziges Kind, die Fäuste in die Seiten gestemmt, die Augen weit aufgerissen, die Lippen zusammengepresst, der Bauch unter dem Kittel schlaff wie ein Sack voll nassem Sand. Goshy starrte seinen Kumpel an, ohne auch nur zu blinzeln. Der kam nicht runter vom Dach, so viel stand fest. Allem Anschein nach leistete er passiven Widerstand, denn sein Mund klappte stumm auf und zu, ehe er sich abwandte.
»Goshy, komm runter, biiitte! Sonst holt dich Gonko, und der wird soo bööse auf dich sein ...«
Keine Reaktion auf dem Dach. »Goshy, komm ruuun- ...«
Goshy wandte sich wieder dem anderen Clown zu, bewegte stumm die Lippen, ging ohne Warnung mit drei steifen Schritten auf die Dachkante zu und trat ins Leere. Er stürzte wie ein Mehlsack etwa vier Meter in die Tiefe und schlug mit dem Kopf voraus auf. Ein hässliches Klatschen begleitete seine Landung. Jamie atmete tief ein.
»Goshy!« Der andere Clown rannte herbei. Goshy lag mit dem Gesicht nach unten da, die Arme immer noch steif in die Seiten gestemmt. Sein Kumpel klopfte ihm auf den Rücken, als habe sich Goshy nur verschluckt. Das half ganz bestimmt nicht. Wahrscheinlich brauchte Goshy einen Krankenwagen. Jamie beäugte voller Unbehagen den Münzfernsprecher auf der anderen Straßenseite. Sollte er ...? Der andere Clown bearbeitete Goshys Rücken etwas heftiger. Immer noch mit dem Gesicht nach unten rollte Goshy hin und her wie ein umgeworfener Kegel. Offenbar hatte er eine Art Krampfanfall. Der andere Clown packte ihn an den Schultern. Goshy gab ein schrilles, lang gezogenes Pfeifen von sich, das an einen Teekessel mit kochendem Wasser erinnerte: »Mmmmmmmmmmm! Mmmmmmmmmmm!«
Der andere Clown zerrte Goshy auf die Beine. Da stand er nun, stieß immer noch dieses pfeifende Geräusch aus und glotzte sein Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Kumpel hielt ihn an den Schultern fest, flüsterte: »Goshy!« und umarmte ihn. Der Teekessel schrillte, wurde jedoch mit jedem Luftholen ein wenig leiser und verstummte schließlich ganz. Als der andere Clown ihn losließ, wandte sich Goshy um, deutete mit steif ausgestrecktem Arm auf das Gartencenter und klappte stumm den Mund auf und zu. Der andere Clown sagte: »Ich weiß, aber wir müssen los! Gonko is unterwegs, un...« Der Clown versetzte Goshy ein paar Klapse auf das Hinterteil, fuhr ihm dann in die Hosentaschen und zog etwas hervor. Jamie konnte nicht sehen, was es war, aber es trieb den anderen Clown erneut in Verzweiflungsqualen. »Oh! Oh-oh! Himmel, Goshy, was haste dir denn dabei bloß gedacht! Du weißt genau, dass du das nich hierher mitnehmen darfst. Oh, oh, oh, Gonko wird ... der Boss wird sooo ...«
Der Clown unterbrach sich und spähte auf dem leeren Parkplatz umher, ehe er das kleine Bündel wegwarf. Es landete mit einem kurzen hellen Klang, der an eine Windharfe erinnerte, und schlitterte in die Hecke neben dem Fußweg, bevor Jamie einen Blick darauf werfen konnte. »Mach jetz endlich, Goshy«, sagte der Clown. »Wir müssen looos!«
Er packte Goshy am Kragen und schob ihn vorwärts. Jamie erhob sich, unsicher, ob er dem Paar folgen oder zum Münzfernsprecher laufen sollte – wenn man diese beiden Knallköpfe sich selbst überließ, würden sie noch in ihr Unheil rennen. Dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit: ein dritter Clown. Er stand neben dem Eingang eines Copyshops, zwei Türen von dem Gartencenter entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt. Jamie schüttelte ungläubig den Kopf und ging wieder in Deckung. Er erkannte auf den ersten Blick, dass dieser Typ alles andere als geistig minderbemittelt war: hellwach und mit zusammengekniffenen Augen starrte er den beiden anderen streng entgegen, als sie über den Parkplatz gestolpert kamen. Goshy und sein Kumpel blieben stehen. Während Goshys Miene unverändert war, spiegelte sich in den Zügen seines Begleiters so etwas wie Entsetzen. »Hi ... Gonko«, stammelte er.
Der neue Clown blieb stumm und rührte sich nicht vom Fleck. Er war hager und trug die klassische Arbeitskleidung seines Standes – weite gestreifte Hosen, die von Trägern gehalten wurden, eine Fliege, weiße Gesichtsschminke, ein mit Kätzchenbildern geschmücktes Hemd und einen riesigen Hut. Er musterte die beiden anderen Clowns wie ein Gangster aus einem Mafiafilm. Wenn er je Leute zum Lachen bringen wollte, dann gelang ihm das wohl nur mit vorgehaltener Knarre. Er ließ seine Blicke über den Parkplatz schweifen, als hielte er Ausschau nach möglichen Zeugen. Jamie duckte sich weiter hinter die Tonne, überzeugt davon, dass er besser ungesehen blieb. Das Geräusch, mit dem Goshy auf dem Asphalt des Parkplatzes gelandet war, hallte immer noch in seinen Ohren wider, Klatschknack. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der neue Clown winkte die beiden anderen mit einem Finger zu sich. Sie schlurften näher. »Ich hab ’n einfach suchen müssen, Gonko«, sagte der namenlose Clown.
»Das hab ich einfach müssen. Der findet sich doch hier draußen nich allein zurecht, echt nich, das kann er nich ...«
»Halt deine verdammte Klappe«, fuhr ihn der neue Clown an. »Los jetzt!« Seine Blicke wanderten erneut über den Parkplatz, vom Fußweg bis zur Tonne, hinter der Jamie kauerte und den Atem anhielt. Er blieb etwa eine Minute lang so sitzen. Sein Herz schlug so laut, dass er befürchtete, die Clowns könnten es hören, obwohl er nicht genau sagen konnte, wovor er eigentlich Angst hatte. Endlich riskierte er einen Blick über den Rand der Tonne. Sie waren fort. Erleichtert trat er aus dem Schatten der Tonne und ihrem Gestank nach verdorbenen Abfällen hervor. An der Stelle vor dem Gartencenter, wo der Clown Goshy vom Dach gestürzt war, bemerkte er einen kleinen weißen Klecks. Schminke. Er nahm eine Probe davon und zerrieb sie zwischen den Fingern. Der Beweis dafür, dass er die Ereignisse der letzten zehn Minuten nicht geträumt hatte. Die Nachtgeräusche der Stadt rückten näher, als hätte sie jemand wieder eingeschaltet. Ein Hund bellte, eine Autoalarmanlage hupte irgendwo weit entfernt. Jamie fröstelte plötzlich. Seine Armbanduhr zeigte 2 Uhr 59. Ein verdammt langer Heimweg stand ihm bevor.
Als er den Fußweg erreichte, sah er etwas unter der Hecke liegen. Er erinnerte sich, wie der eine Clown dem anderen etwas aus der Tasche gezogen und es weggeworfen hatte. Er hob das Ding auf, einen kleinen Samtbeutel, etwa halb so groß wie eine Faust und oben mit einer weißen Kordel verschnürt. Er fühlte sich an, als sei er mit Sand gefüllt. Oder mit sonst einem körnigen Zeug. Und so wie sich die Clowns verhalten hatten, war es vermutlich genau das Pulver, das Mitglieder des Wentworth-Klubs hin und wieder in winzigen Spuren auf Handspiegeln in ihren Zimmern zurückließen, zusammen mit blutigen Papiertaschentüchern und Strohhalmen. Interessant. Er stopfte den Samtbeutel in seine Tasche, wo er bei jedem Schritt gegen seine Hüfte schlug.
Und nun zu der leichteren Aufgabe. Er ging zu seinem Nissan zurück, nahm den Gang heraus und machte sich daran, ihn zur zwei Straßen entfernten Werkstatt zu schieben. Ein Autofahrer überholte ihn und schrie: »Das kommt davon, wenn du den Japsen ihren Scheißdreck abkaufst, Mann!«
»Arigato, gozaimasu«, murmelte Jamie. Wenn Jamie später an die Nacht zurückdachte, wunderte er sich, dass er zu diesem Zeitpunkt noch geglaubt hatte, seine einzigen Probleme seien der defekte Wagen und die Rückenschmerzen vom Schieben, während ihn der kleine Samtbeutel in der Hosentasche, dessen Inhalt sich wie Sand anfühlte, keine Sekunde lang beunruhigt hatte. Noch niemals zuvor hatte er sich dermaßen getäuscht.
© Piper Verlag
Aus dem Englischen von Birgit Reß-Bohusch
Der Uhrzeiger am Armaturenbrett sprang gerade auf die zehnte Sekunde nach Jamies Vollbremsung. Es roch nach verbranntem Gummi. Seit er den Führerschein besaß, hatte die Welt zwei Katzen, einen Fasan und nun auch beinahe ein absolut hirnrissiges Exemplar von einem Menschen verloren. Jamie ging blitzschnell durch den Kopf, was alles hätte passieren können, wenn sein Fuß nicht sofort die Bremse durchgetreten hätte: Prozesse, Verurteilungen, schlaflose Nächte und Schuldgefühle für den Rest seines Lebens. Autofahrer-Zorn erfasste ihn und brach mit Wucht aus ihm hervor. Er kurbelte das Fenster herunter und schrie dem anderen hinterher: »Hey! Verzieh dich von der Straße, du Arsch!«
Der Clown blieb stehen und drehte den Kopf – sein Mund klappte zwei Mal lautlos auf und zu. Jamies Zorn brachte ihn an den Rand eines Anfalls. Fand der Typ das vielleicht komisch? Er knirschte mit den Zähnen und schlug auf die Hupe. Sein kleiner alter Nissan keifte heiser in die Zwei-Uhr-Morgenstille.
Damit schien er Eindruck zu machen. Der Mund des Clowns klappte noch einmal auf und zu, dann presste die Gestalt die weiß behandschuhten Finger auf die Ohren. Der Blick, der Jamie traf, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Mach das nie wieder, Mann!, sagten die unheimlichen Augen. Einer wie ich hat seine Macken, klar? Und du willst doch ganz bestimmt nicht, dass ich meine Macken an dir auslasse, oder?
Jamies Hand verharrte über der Hupe. Der Clown wandte sich dem Fußweg zu, tat ein paar torkelnde Schritte und blieb dann erneut stehen. Wenn jetzt ein Wagen von der anderen Seite kam, würde er das vollenden, was Jamie gerade noch verhindert hatte. Egal. Mutter Natur machte es schon richtig – das war nun mal das Schicksal der dummen Gene. Mit Kopfschütteln und einem nervösen Lachen fuhr Jamie los. »Was hatte das zu bedeuten, verdammt noch mal?«, flüsterte er seinem Gegenüber im Rückspiegel zu. Er sollte es nur zu bald erfahren – um genau zu sein: in der folgenden Nacht.»Teufel, wo ist mein REGENSCHIRM?«
Jamie stöhnte innerlich auf. Die Frage war nun bereits zum fünften Mal an ihn gerichtet worden, mit wechselnder Betonung der einzelnen Worte. Vor ihm stand kein Geringerer als Richard Peterson, seines Zeichens Briefkastenonkel bei einem der nationalen Käseblätter namens Voice of the Taxpayer. Er war durch das Portal des Wentworth Gentlemen’s Club hereingerauscht, umweht von Armani und Schuhwichse. In seiner Eigenschaft als Portier erhielt Jamie achtzehn Kröten die Stunde, gerade genug, um solche Tiraden höflich über sich ergehen zu lassen. Peterson verstummte und bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. Sein Schnurrbart zuckte empört.
»Tut mir leid, Sir, ich habe ihn nicht gesehen. Kann ich Ihnen vielleicht mit einem Schirm des Hauses ...«
»Dieser Schirm war ein ERBSTÜCK, verdammt nochmal!«Ich verstehe, Sir. Vielleicht ...«
»WO zum Teufel ist mein Regenschirm?« Jamie verzog das Gesicht, während zwei attraktive Damen am Portal vorbeischlenderten und das Theater lächelnd mitverfolgten. In den nächsten zwei Minuten beteuerte er immer wieder: »Ich verstehe, Sir. Vielleicht –«,
während Peterson drohte, seine Mitgliedschaft zu kündigen, das Haus zu verklagen oder dafür zu sorgen, dass Jamie gefeuert wurde ... Er wisse wohl nicht, wen er vor sich hatte? Schließlich tauchte einer von Petersons Kollegen im Foyer auf und trieb ihn an die Bar, so wie man einen Dobermann mit einem blutigen Steak überzeugte. Peterson zog sich knurrend zurück. Jamie seufzte. Nicht zum ersten Mal erschien ihm sein Leben wie eine Sitcom. Der abendliche Ansturm um sechs kam und ging vorüber. Herein brach die bierbäuchige Brisbane-Prominenz – Anwaltskanzleipartner, TV-Nachrichtensprecher, AFL*- Oberbosse, ehemalige Kricketspieler, die es um ein Haar ins Nationalteam geschafft hatten, Abgeordnete des Landesparlaments und Geschäftsleute aller Couleur, außer jungen und weiblichen. Schließlich legte sich wieder Stille über das Foyer. Die einzigen Geräusche, die den Granit der Außenmauern durchdrangen, waren gedämpfter Verkehrslärm, das allmählich nachlassende Hasten und Rennen in der Großstadt und schließlich das Erwachen des Nachtlebens.
Die friedliche Stille im Foyer wurde nur hin und wieder durch Klubmitglieder gestört, die betrunkener und glücklicher gingen, als sie gekommen waren. Nachdem der Letzte von ihnen ins Freie getorkelt war, vertiefte sich Jamie in seinen Science-Fiction-Roman und warf ab und zu einen verstohlenen Blick über die Schulter, um nicht von seinem Chef oder einem versprengten Brisbane-Promi beim Schmökern erwischt zu werden. Er empfand es als ausgleichende Gerechtigkeit, dass er auch für diese Tätigkeit seine achtzehn Kröten die Stunde erhielt. Die Uhr schlug zwei. Jamie schreckte aus einer Art Trance hoch und fragte sich, wo die letzten sechs Stunden geblieben waren. Im Klub herrschte Stille. Die Belegschaft war nach Hause gegangen, und sämtliche Mitglieder lagen im Bett, mit Bier gut abgefüllt und vermutlich eine schlafende Hostess neben sich.
Jamie schlenderte zum Myer Centre, ein hoch aufgeschossener, schlaksiger junger Rotschopf mit dünnen Beinen und blank gewichsten Schuhen, deren Absätze auf das Pflaster knallten, die Hände in den Hosentaschen vergraben und eine Dollarmünze zwischen Daumen und Zeigefinger drehend. Ein Bettler hatte in Erfahrung gebracht, wann seine Schicht zu Ende war, und versuchte ihn seit Wochen auf dem Weg zum Parkplatz abzufangen. Als könne er Gedanken lesen, trat der Alte vor dem Myer Centre auf Jamie zu, gekleidet wie ein vergammelter Nikolaus und umgeben von einer Fuselwolke. Er murmelte etwas über das Wetter und zeigte sich völlig verwundert, als Jamie ihm den Dollar schenkte. So endete Jamies Schicht doch noch einigermaßen erfreulich – in einer Flut überschwänglicher Dankesbekundungen. Während er den Nissan anließ, überlegte er erneut, weshalb er sich all das antun musste. Warum zum Henker er ausgerechnet Kunst studiert hatte. Auf der Heimfahrt sah er wieder einen Clown.
Die Frontscheinwerfer glitten an den geschlossenen Läden von New Farm vorbei, und da stand er, vor einem Lebensmittelgeschäft. Es war nicht der gleiche Clown wie in der Nacht zuvor; dieser hier hatte dunkle Haarbüschel, die wie Stachel von einem basketballrunden Kopf abstanden. Auch sein Kostüm war anders – er trug ein schlichtes rotes Hemd, das an altmodische Feinrippunterwäsche erinnerte und Brust und Bauch eng umspannte, dazu eine Hose des gleichen Alters mit Schnellfeuerklappe. Das weiß geschminkte Gesicht, die Plastiknase und die roten Riesenschuhe waren der einzige Hinweis darauf, dass es sich bei dem Typen überhaupt um einen Clown handelte; ohne dieses Zubehör hätte man ihn vielleicht für einen einsamen Mittfünfziger halten können, der sich nach einer Sauftour verlaufen hatte oder auf der Suche nach einer Hinterhofromanze war.
Im Vorbeifahren bemerkte Jamie, wie verzweifelt der Clown aussah. Er streckte die Arme in die Luft und schrie, als wolle er sich bei den Mächten des Himmels über irgendetwas beklagen. Im Rückspiegel bekam Jamie noch mit, wie der Clown zwischen dem Lebensmittelgeschäft und einem Gartencenter verschwand.
Jamie hätte es am liebsten dabei belassen – jeder wusste, dass in New Farm genug Spinner unterwegs waren. Er wäre gern heimgefahren und über die Hintertreppe nach oben geschlichen, um zu duschen. Danach hätte er etwas Futter für die Katzen verteilt, die in Legionen durch das Viertel streunten, hätte leise sein Zimmer aufgesucht und sich zu einem Internet-Porno einen runtergeholt, bis er einigermaßen zufrieden ins Bett gefallen wäre. Aber sein Wagen hatte andere Pläne. Erst vernahm Jamie das mahlende Geräusch eines großen verstimmten Metallbauchs – und dann stieg ihm der Geruch von Öl und Rauch in die Nase. Mitten auf dem Heimweg gab sein eigentlich unverwüstlicher Nissan den Geist auf.
Er hieb mit der flachen Hand auf den Beifahrersitz. Musikkassetten spritzten wie aufgescheuchte Riesenschaben in alle Richtungen. Sein Zuhause war noch vier Straßen und eine Anhöhe entfernt. Er spannte die schlappen Wadenmuskeln an, um das meuternde Wrack anzuschieben, als er hinter sich eine seltsame Stimme vernahm.»Goshy!«
Jamies Herz setzte aus. Gleich darauf rief die Stimme erneut.»Goshy?«
Er hatte den Clown völlig vergessen. Es war die Stimme eines Clowns, eine kindliche, übertrieben besorgte und weinerliche Stimme aus dem Mund eines erwachsenen Mannes. Der Tonfall beschwor in Jamie das Bild eines Dorfdeppen herauf, der sich fortwährend mit dem Hammer auf den Kopf schlug und fragte, was da so schepperte.Wieder rief der Clown: »Goshiiiii?«
Goshy? War das eine Art Schimpfwort? Jamie machte kehrt und ging zurück zum Parkplatz des Lebensmittelgeschäfts. Die Straßen waren still und seine Schritte kamen ihm sehr laut vor. Einem Instinkt gehorchend, der ihm riet, sich verborgen zu halten, kroch er hinter eine Hecke neben dem Parkplatz und spähte durch das Blattwerk. Der Clown stand vor dem Gartencenter, starrte zum Dach hinauf und ging sämtliche Posen eines verzweifelten Vaters durch – fuhr sich mit den Fingern durch den Haarschopf, reckte die Arme himmelwärts, presste wie eine exaltierte Bühnendiva eine Hand an die Stirn, trat dann zurück und stöhnte. Jamie wartete, bis die Gestalt ihm den Rücken zuwandte, ehe er hinter der Hecke hervorflitzte und sich hinter einer riesigen Mülltonne für Industrieabfälle duckte, um das Geschehen besser mitverfolgen zu können. Der Clown gab nicht auf. »Gosh-iiiiii!«
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Goshy« ist ein Name. Vielleicht der Name des Clowns, den ich um ein Haar überfahren hätte. Vielleicht sucht dieser hier nach ihm, weil er sich irgendwie verlaufen hat. Das schien zu passen. Und noch während er den Clown beobachtete, entdeckte Jamie auch den anderen. Der Typ von letzter Nacht stand nämlich auf dem Dach des Gartencenters, steif wie ein Schornstein. Und dann starrte er Jamie an, und zwar so unvermittelt, dass dieser beinahe aufgeschrien hätte. Die Blicke des Clowns zeigten wie in der Nacht zuvor blanke Verständnislosigkeit.
»Goshy, das is nich lustig!«, beschwerte sich der Clown unten auf dem Parkplatz. »Komm jetz da runter! Los, Goshy, du sollst jetz da runterkommen, is das klar? Goshy, das is nich lustig!«
Goshy rührte sich nicht, stand da wie ein trotziges Kind, die Fäuste in die Seiten gestemmt, die Augen weit aufgerissen, die Lippen zusammengepresst, der Bauch unter dem Kittel schlaff wie ein Sack voll nassem Sand. Goshy starrte seinen Kumpel an, ohne auch nur zu blinzeln. Der kam nicht runter vom Dach, so viel stand fest. Allem Anschein nach leistete er passiven Widerstand, denn sein Mund klappte stumm auf und zu, ehe er sich abwandte.
»Goshy, komm runter, biiitte! Sonst holt dich Gonko, und der wird soo bööse auf dich sein ...«
Keine Reaktion auf dem Dach. »Goshy, komm ruuun- ...«
Goshy wandte sich wieder dem anderen Clown zu, bewegte stumm die Lippen, ging ohne Warnung mit drei steifen Schritten auf die Dachkante zu und trat ins Leere. Er stürzte wie ein Mehlsack etwa vier Meter in die Tiefe und schlug mit dem Kopf voraus auf. Ein hässliches Klatschen begleitete seine Landung. Jamie atmete tief ein.
»Goshy!« Der andere Clown rannte herbei. Goshy lag mit dem Gesicht nach unten da, die Arme immer noch steif in die Seiten gestemmt. Sein Kumpel klopfte ihm auf den Rücken, als habe sich Goshy nur verschluckt. Das half ganz bestimmt nicht. Wahrscheinlich brauchte Goshy einen Krankenwagen. Jamie beäugte voller Unbehagen den Münzfernsprecher auf der anderen Straßenseite. Sollte er ...? Der andere Clown bearbeitete Goshys Rücken etwas heftiger. Immer noch mit dem Gesicht nach unten rollte Goshy hin und her wie ein umgeworfener Kegel. Offenbar hatte er eine Art Krampfanfall. Der andere Clown packte ihn an den Schultern. Goshy gab ein schrilles, lang gezogenes Pfeifen von sich, das an einen Teekessel mit kochendem Wasser erinnerte: »Mmmmmmmmmmm! Mmmmmmmmmmm!«
Der andere Clown zerrte Goshy auf die Beine. Da stand er nun, stieß immer noch dieses pfeifende Geräusch aus und glotzte sein Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Kumpel hielt ihn an den Schultern fest, flüsterte: »Goshy!« und umarmte ihn. Der Teekessel schrillte, wurde jedoch mit jedem Luftholen ein wenig leiser und verstummte schließlich ganz. Als der andere Clown ihn losließ, wandte sich Goshy um, deutete mit steif ausgestrecktem Arm auf das Gartencenter und klappte stumm den Mund auf und zu. Der andere Clown sagte: »Ich weiß, aber wir müssen los! Gonko is unterwegs, un...« Der Clown versetzte Goshy ein paar Klapse auf das Hinterteil, fuhr ihm dann in die Hosentaschen und zog etwas hervor. Jamie konnte nicht sehen, was es war, aber es trieb den anderen Clown erneut in Verzweiflungsqualen. »Oh! Oh-oh! Himmel, Goshy, was haste dir denn dabei bloß gedacht! Du weißt genau, dass du das nich hierher mitnehmen darfst. Oh, oh, oh, Gonko wird ... der Boss wird sooo ...«
Der Clown unterbrach sich und spähte auf dem leeren Parkplatz umher, ehe er das kleine Bündel wegwarf. Es landete mit einem kurzen hellen Klang, der an eine Windharfe erinnerte, und schlitterte in die Hecke neben dem Fußweg, bevor Jamie einen Blick darauf werfen konnte. »Mach jetz endlich, Goshy«, sagte der Clown. »Wir müssen looos!«
Er packte Goshy am Kragen und schob ihn vorwärts. Jamie erhob sich, unsicher, ob er dem Paar folgen oder zum Münzfernsprecher laufen sollte – wenn man diese beiden Knallköpfe sich selbst überließ, würden sie noch in ihr Unheil rennen. Dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit: ein dritter Clown. Er stand neben dem Eingang eines Copyshops, zwei Türen von dem Gartencenter entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt. Jamie schüttelte ungläubig den Kopf und ging wieder in Deckung. Er erkannte auf den ersten Blick, dass dieser Typ alles andere als geistig minderbemittelt war: hellwach und mit zusammengekniffenen Augen starrte er den beiden anderen streng entgegen, als sie über den Parkplatz gestolpert kamen. Goshy und sein Kumpel blieben stehen. Während Goshys Miene unverändert war, spiegelte sich in den Zügen seines Begleiters so etwas wie Entsetzen. »Hi ... Gonko«, stammelte er.
Der neue Clown blieb stumm und rührte sich nicht vom Fleck. Er war hager und trug die klassische Arbeitskleidung seines Standes – weite gestreifte Hosen, die von Trägern gehalten wurden, eine Fliege, weiße Gesichtsschminke, ein mit Kätzchenbildern geschmücktes Hemd und einen riesigen Hut. Er musterte die beiden anderen Clowns wie ein Gangster aus einem Mafiafilm. Wenn er je Leute zum Lachen bringen wollte, dann gelang ihm das wohl nur mit vorgehaltener Knarre. Er ließ seine Blicke über den Parkplatz schweifen, als hielte er Ausschau nach möglichen Zeugen. Jamie duckte sich weiter hinter die Tonne, überzeugt davon, dass er besser ungesehen blieb. Das Geräusch, mit dem Goshy auf dem Asphalt des Parkplatzes gelandet war, hallte immer noch in seinen Ohren wider, Klatschknack. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der neue Clown winkte die beiden anderen mit einem Finger zu sich. Sie schlurften näher. »Ich hab ’n einfach suchen müssen, Gonko«, sagte der namenlose Clown.
»Das hab ich einfach müssen. Der findet sich doch hier draußen nich allein zurecht, echt nich, das kann er nich ...«
»Halt deine verdammte Klappe«, fuhr ihn der neue Clown an. »Los jetzt!« Seine Blicke wanderten erneut über den Parkplatz, vom Fußweg bis zur Tonne, hinter der Jamie kauerte und den Atem anhielt. Er blieb etwa eine Minute lang so sitzen. Sein Herz schlug so laut, dass er befürchtete, die Clowns könnten es hören, obwohl er nicht genau sagen konnte, wovor er eigentlich Angst hatte. Endlich riskierte er einen Blick über den Rand der Tonne. Sie waren fort. Erleichtert trat er aus dem Schatten der Tonne und ihrem Gestank nach verdorbenen Abfällen hervor. An der Stelle vor dem Gartencenter, wo der Clown Goshy vom Dach gestürzt war, bemerkte er einen kleinen weißen Klecks. Schminke. Er nahm eine Probe davon und zerrieb sie zwischen den Fingern. Der Beweis dafür, dass er die Ereignisse der letzten zehn Minuten nicht geträumt hatte. Die Nachtgeräusche der Stadt rückten näher, als hätte sie jemand wieder eingeschaltet. Ein Hund bellte, eine Autoalarmanlage hupte irgendwo weit entfernt. Jamie fröstelte plötzlich. Seine Armbanduhr zeigte 2 Uhr 59. Ein verdammt langer Heimweg stand ihm bevor.
Als er den Fußweg erreichte, sah er etwas unter der Hecke liegen. Er erinnerte sich, wie der eine Clown dem anderen etwas aus der Tasche gezogen und es weggeworfen hatte. Er hob das Ding auf, einen kleinen Samtbeutel, etwa halb so groß wie eine Faust und oben mit einer weißen Kordel verschnürt. Er fühlte sich an, als sei er mit Sand gefüllt. Oder mit sonst einem körnigen Zeug. Und so wie sich die Clowns verhalten hatten, war es vermutlich genau das Pulver, das Mitglieder des Wentworth-Klubs hin und wieder in winzigen Spuren auf Handspiegeln in ihren Zimmern zurückließen, zusammen mit blutigen Papiertaschentüchern und Strohhalmen. Interessant. Er stopfte den Samtbeutel in seine Tasche, wo er bei jedem Schritt gegen seine Hüfte schlug.
Und nun zu der leichteren Aufgabe. Er ging zu seinem Nissan zurück, nahm den Gang heraus und machte sich daran, ihn zur zwei Straßen entfernten Werkstatt zu schieben. Ein Autofahrer überholte ihn und schrie: »Das kommt davon, wenn du den Japsen ihren Scheißdreck abkaufst, Mann!«
»Arigato, gozaimasu«, murmelte Jamie. Wenn Jamie später an die Nacht zurückdachte, wunderte er sich, dass er zu diesem Zeitpunkt noch geglaubt hatte, seine einzigen Probleme seien der defekte Wagen und die Rückenschmerzen vom Schieben, während ihn der kleine Samtbeutel in der Hosentasche, dessen Inhalt sich wie Sand anfühlte, keine Sekunde lang beunruhigt hatte. Noch niemals zuvor hatte er sich dermaßen getäuscht.
© Piper Verlag
Aus dem Englischen von Birgit Reß-Bohusch
... weniger
Autoren-Porträt von Will Elliott
Will Elliott war eigentlich nur ein 27-jähriger Australier, der sich zum Ziel gesetzt hatte, einmal einen Roman zu veröffentlichen. Ohne viel Hoffnung sandte er sein Manuskript für den ABC Fiction Award ein, einen der wichtigsten australischen Literaturpreise. Sein Debüt "Hölle" gewann den mit 10 000 Dollar dotierten Preis, wurde für den International Horror Guild Award nominiert und in fünf Sprachen übersetzt. Will Elliott lebt heute als freier Schriftsteller in Brisbane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Will Elliott
- 2008, 387 Seiten, Maße: 13,4 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Birgit Reß-Bohusch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492701590
- ISBN-13: 9783492701594
Kommentar zu "Hölle"
0 Gebrauchte Artikel zu „Hölle“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Hölle".
Kommentar verfassen