Horrorjobs

Mein Stiefvater liebte Fleischsalat, meine Mutter, seine Arbeit, die Gedichte Robert Gernhardts und die Augsburger Dult. Und wenn er auch als Chef eines kleinen Ingenieurbüros stets vielbeschäftigt war, so ließ er es sich nicht nehmen, dem Augsburger Jahrmarkt wenigstens einmal im Jahr einen Besuch abzustatten. Ein vergnügtes Leuchten war in seinen Augen, wenn Dulttag war, wenn er seinen Mantel vom Haken nahm und sich aufmachte.
Die Dultbesuche gehorchten unveränderlich festgelegten Ritualen. Zuerst kaufte sich mein Stiefvater eine Tüte Marzipankartoffeln (denn Marzipankartoffeln liebte er noch mehr als Fleischsalat, seine Arbeit und die Gernhardt-Gedichte). Er aß eine Handvoll mit der Hingebung eines Schuljungen, wobei sich mit jedem Stück eine noch tiefere Zufriedenheit in seinem Gesicht ausbreitete. Dann schlenderte er, rosawangig geworden, los. Stiefvater ließ sich treiben, bestaunte die großflächigen Auslagen an Plunder, die Holzspielzeuge und Haushaltswaren, weidete sich an der bunten, weiten Welt der Dinge und amüsierte sich über »das Volk«, das er dort antraf, »die Originale«, wie er sagte, den ganzen kleinen Menschenzirkus.
Unvermeidlicher Bestandteil seiner Dultbesuche war schließlich die Anschaffung eines Artikels. Irgendetwas musste er in einer knisternden Plastiktüte nach Hause tragen, obwohl er die meisten Angebote für maßlos überteuert hielt, es gehörte einfach dazu, rundete das Glück ab. Mal kaufte er einen praktischen Küchenhelfer, mal ein Werkzeuga. (In der Regel handelte es sich um Geräte von fragwürdiger Qualität, dafür trugen sie den Beinamen »2000«.) Meine Mutter, die betontermaßen stilbewusst ist, kommentierte seine Anschaffungen stets mit Augenrollen, nahm sie aber hin, weil es schließlich nur kleine Beträge waren, die er ausgab. Am Abend lag dann jedenfalls in Zellophan gewickelt auf dem Küchentisch irgendeine »Weltneuheit«, ein Apparat aus einem Material, das die NASA für die Raumfahrt entwickelt hatte, oder ein Produkt, das so praktisch war, dass man sich fragen musste, welche ungeheuerlichen Entwicklungsschritte der Menschheit zwangsläufig bevorstehen mussten, jetzt, da sie so ein Wunderding in Händen hielt. Mein Stiefvater kaufte revolutionäre Gemüsehobel (revolutionäre!), einen Titan-Wetzstein, der auch einen Atomkrieg überlebt hätte, wie wir sagten, mehrere flexible Drahtgreifarme für jene Situationen des Lebens, in denen eigentlich gar nichts mehr half, und einen sensationell praktischen Rückenkratzer. (Mama machte ein Gesicht, als ob sie fröstelte, als mein Stiefvater genussvoll brummend dessen Funktionsweise vorführte.)
Nun, der Greifarm hat uns tatsächlich gute Dienste erwiesen. Einmal, das war, als ich den Büroschlüssel meiner Mutter in einen Gully vor unserer Haustür hatte fallen lassen. Es brach ein ziemliches Theater los, weil das Austauschen der zugehörigen Schlösser sauteuer gewesen wäre und den Verlust zu melden peinlich. Auch befürchtete man offenbar, der Schlüssel könne von Halunken, die nachts mit Taschenlampen Gullys nach Türschlüsseln, Goldzähnen oder sonstigen Schätzen absuchen, entdeckt werden. Ich wurde also abkommandiert, das Mistding wiederzubeschaffen. Fünfzehn Minuten stocherte ich erfolglos mit einer Drahtschlaufe in dem Loch herum, gemeinsam mit meinem kleinen Bruder, der vermutlich - ich kann mir seine Teilnahme nicht anders erklären - gezwungen wurde mitzumachen. Es war aussichtslos, und ich sah mich schon einen Zweitjob annehmen, um die drohenden Kosten zu erstatten, als mit einem Mal mein Stiefvater, der von der Sache Wind bekommen haben musste, die Haustür aufriss, mit siegessicherem Grinsen, den Drahtgreifer in der Hand erst ins Freie trat und dann an den Unglücksort. Er scheuchte uns weg und nahm das Malheur in Augenschein. Als die Situation überblickt war, legte er an, konzentriert wie ein Jagdschütze, und führte den Drahtgreifer in den Gully hinab. Er packte zu, man hörte ein Klimpern; offenbar hatte er den Schlüssel am Schlafittchen. Triumphierend hob er das Ding aus seiner Falle. (Am Abend gab es eine lange Diskussion, weil der Vernunftwert seiner Dultanschaffungen ja jetzt bitteschön ein für alle Mal bewiesen war. Und das ewige Augenrollen bitte künftig zu unterlassen sei.) Die anderen hochvernünftigen Dultgeräte landeten nach und nach im Keller, wo sie bald vergessen wurden und ihrem Ende auf dem Sperrmüll entgegenstaubten. (Als der Sperrmüll vorbereitet wurde, erlebten sie eine wundersame Wiederauferstehung, vom Staub befreit und aus dem Keller geborgen. Dann wurde eifrig ein Einsatzzweck gesucht. Zwei Wochen später lagen sie wieder an ihrem Kellerplatz.)
Mein Stiefvater hatte einen nicht unerheblichen Teil seiner Dulteinkäufe bei jenen Händlern getätigt, die ihre Waren mit von Sensationen, lustigen Superlativen und Wortneuschöpfungen vollgestopften Vorträgen vorführten. Die zersägten mit »unstumpfbaren« Küchenmessern Nägel, um damit anschließend Tomaten in Scheiben zu schneiden, oder sie führten die Wunderkräfte »wundertätiger« Bügelpulver vor, mit denen man nie wieder am nervigen Nadelöhrverfehlen verzweifeln müsse, weil sich restlos alles fix zusammenbügeln lasse. Ich glaube, mein Stiefvater kaufte bei diesen Händlern aus einer gewissen Anerkennung für den (manchmal leicht bizarren) Unterhaltungswert ihrer Vorträge, den Einsatz, den sie zeigten, und ein bisschen auch aus Mitleid; viele wirkten schon reichlich abgerissen. Aber vielleicht war das auch Inszenierung, eine Masche.
Mit anderen Worten: Einen wie meinen Stiefvater hätte ich als Kunden brauchen können, als ich mich nun selbst als ein solcher werbender Verkäufer, als sogenannter Propagandist, versuchte.

Es war ein kühler Samstagmorgen, Mitte März, als ich mich aufmachte, um Menschen von den Vorzügen eines Gerätes zu überzeugen, dessen Vorzüge mir ehrlich gesagt bis heute nicht einleuchten wollen. Mein Ziel war, eine möglichst hohe Stückzahl des Tornadoquirls an Hausfrauen und Rentner zu bringen.
Der Tornadoquirl ist ein Rührstab aus Edelstahl, dessen eingebauten Federmechanismus man in Gang setzt, indem man mit dem Gerät beherzt in flüssigen Nahrungsmitteln herumstampft. Glaubt man der TV-Werbung, so gibt es auf dem Markt derzeit nichts Besseres im an Sensationen nicht gerade armen Rührstab-Segment. Innerhalb von Sekunden kann jedermann (!) mit dem Tornadoquirl Milchschaum aufschlagen oder Eischnee herstellen. Das Gerät ist so toll, dass ein Präsentator und eine Präsentatorin nicht anders können, als um die Wette zu jubeln. Das heißt, sie jauchzt vor Verzückung und beginnt angesichts der schaumigen Ergebnisse nahezu verliebt zu gickern. Ich möchte dem Leser diese unvergesslichen Szenen nicht vorenthalten und habe deshalb ein Gedächtnisprotokoll der Präsentation angefertigt. Hier ist es, wir steigen mittendrin ein.
Er (leidenschaftlich mitgerissen): Liebe Zuschauer, ob Sie steifschlagen, ob Sie aufquirlen, mixen, mischen oder vermengen: Mit dem Tornadoquirl geht es immer schneller, leichter und einfacher. Ganz egal, ob kalte oder warme Speisen, der Tornadoquirl ist ihr perfekter Helfer in der Küche. Und Reinigen ist ein Kinderspiel! Schau Susi (Susi schaut, und sie kann es gar nicht fassen.), kein aufwändiges Auseinanderbauen mehr. Du hältst den Tornado-quirl einfach drei Sekunden unterfließendes Wasser. Fertig! (Susi ist jetzt hin und weg.) Liebe Zuschauer, Sie sparen Strom, Batterien, Spülmittel und Zeit. Mit dem Tornadoquirl haben Sie ein Gerät für tausend kleine Aufgaben. Sie werden den Tornadoquirl nicht länger missen wollen. Milchshakes sind im Nu zubereitet. Vinaigrettes, Ei-Schnee, Omelettes, Mayonnaisen werden mit dem Tornadoquirl cremig, sämig, feinporig, denn: Alles gelingt mit dem Tornadoquirl in Perfektion. Sehen Sie diesen Milchschaum, der zergeht doch auf der Zunge! Himmlisch!
Sie: Ach Walter, ein Gedicht ...

Wenn ich ehrlich sein soll, ich hege leise Zweifel an der Qualität des Produktes. Das angeblich unzerstörbare Küchengerät kostet im Einkauf zwei Euro und ich habe auf der Kartonverpackung zwei Rechtschreibfehler entdeckt. (Aber wer zu streng ist mit seiner Ware, kann als Propagandist gleich einpacken, das hat man mir aus Propagandisten-Kreisen bedeutet. Gut, der Insider wählte andere Worte. Er sagte: »Verkauf den Ramsch und denk bloß nicht weiter drüber nach.«)
Kurz vor 9 Uhr parkte ich also meinen Wagen am Rand des Wochenmarktes an der Herzbergstraße im Ostberliner Stadtteil Weißensee. Man muss sich meinen Standort als ziemlich typisch für die Bezirke Ostberlins denken, die vom Aufschwung bisher nicht erreicht wurden: Plattenbauten recken sich ungeniert in den Himmel, die Straßen haben Aufmarschbreite, es gibt im Umkreis eine Unzahl vietnamesischer Nagel- und Sonnenstudios. Der Marktmeister wies mir einen Platz auf halber Treppe zu. (Womöglich ist der Mann ein Filmliebhaber und hat einen besonders feinen Sinn für Ironie.) Ich nahm meine Utensilien aus dem Wagen und errichtete mein Ständlein.
Mir gegenüber hatte bereits eine Marktfrau ihren Schuhstand aufgebaut; kollegial, aber in der Mimik zugleich etwas zitronig-wehleidig lächelte sie mich zum Gruße über ihr Sortiment an; sie war gerade dabei, in penibler Sorgfalt die Ausrichtung ihrer Filzpantoffeln mit Puscheln zu korrigieren, schob einen Hausschuh im Leopardenfellmuster ein bisschen nach links und zog das Modell mit den Konterfeis drolliger, rosanasiger, dösender Kätzchen einen Zentimeter nach vorn. Zu meiner Linken hatte ein Inder seinen Stand errichtet; der Mann bot Feinstrickbekleidung in Knisterzellophan feil; vis-à-vis befand sich der Verkaufstisch einer Gruppe junger vietnamesischer Männer, die in Obstkisten verstaut ein unüberschaubares Sortiment an Spülbürsten, Topflappen, Poesiealben, Springbällen, Flüssigseifen, Nagelsets, Seifenblasendosen, Chinaspielzeug, Trinkhalmen, Gartenhandschuhen, Kopfmassagegerätschaften und tausend Dingen mehr darboten; rechts die rollende Theke eines Fleischereibetriebs.
Der Fleischer bot neben den üblichen Wurstwaren, Koteletts, Steaks und Innereien eine Auswahl warmer Speisen, die man in bestimmten Kreisen und, wie ich beobachtet habe, zunehmend auch im TV heutzutage penetrant als »ehrlich« bezeichnet. Heiße Bockwurst zum Beispiel (in unserem Fall mit Senf und Aufbackbrötchen auf Pappe, 1,40 Euro), Bulette (1,50 Euro) und Filterkaffee (im Plastikbecher, 1,00 Euro). Gern werden Speisen des ehrlichen Segments, wozu insbesondere Fleischgerichte zählen, auch unter den Termini »was Richtiges« oder »was Ordentliches« subsumiert. Meist treten diese Floskeln in Sätzen zutage, die eine Magen- und Allgemeinbefindlichkeit ausdrücken sollen und ideologisch-weltanschauliche Standpunkte bezeugen. Man sagt beispielshalber: »Ich brauch jetzt was Richtiges.« Respektive: »Ich brauche jetzt was Ordentliches.« Wer solches spricht, der will sagen: »Bleib mir fern mit deinem Salat, du verwelkte Hirsejungfer, sonst setzt es was.« Beziehungsweise: »Verschone mich mit den sogenannten >falschen< beziehungsweise >unordentlichen Speisen< aus dem grünen Segment.« (Wozu neben Gemüsen jedwedes Obst, Falafel, Bulgur, Kleiekekse und dergleichen Körnerprodukte mehr zählen.) Andererseits besitzt man in besagten Kreisen durchaus Humor, und gern lotet man scherzhaft die Fallstricke der deutschen Sprache aus. Tritt etwa eine Kellnerin tellerbeladen an den Tisch und fragt recht freundlich: »So, Herrschaften, wer von Euch isst denn das Schnitzel?«, so ist es gute Sitte zu antworten: »Das Schnitzel bin ich.« Und dann sagt noch ein Sitznachbar eilfertig: »Und ich bin die Schweinskopfsülze.«
Ich stellte also mein Tischchen auf, drapierte ein paar Tornadoquirle pyramidal, stellte Milchtüten, Essig- und Ölflasche sowie zwei Messbecher zu Vorführungszwecken dazu, also jetzt nicht einfach so, sondern schon zu einem Stillleben. Daraufhin rührte ich mit kaltem Wasser einen Instantkaffee vom Lidl an und goss ihn in ein eigens angeschafftes Trendkaffeeglas. Sodann legte ich andächtig die Hände ineinander, in etwa wie es jene Pastoren beim Kirchentag tun, die auch Lagerfeuergitarre spielen, setzte mein unschuldigstes Lächeln auf und wartete. Auf Menschen, die man beglücken könne mit dem segensreichen Küchenhelfer.
So stand ich also da, stellte mein Lämmergesicht zur Schau und wartete mir eins. Und wie ich da so stand, da überfiel mich mit einem Mal ein verdrießlicher Gedanke: Was, wenn mein Atem übel röche? Übelriechender Atem ist, das muss man wissen, für den Verkaufserfolg, was ein Marianne-Rosenberg-Song für die Stimmung auf einer Heterosexuellen-Party ist. Eine solche Katastrophe galt es selbstverständlich zu verhindern. Unsicher sah ich mich um. Weil gerade niemand guckte, schwang ich die Hand zur Nase und hauchte hinein, um meinen Atem zu riechen. Ich befand, dass er noch frisch war, spürte die wohligen Wärmeschauer der Entspannung durch meinen Körper strömen und krümmte meinen Mund wieder zu einem wohlansehnlichen Aufwärtsbogen.
Doch kaum hatte ich meine anfängliche innere Gelassenheit und die für den Verkäufer unabdingbare Zuversicht zurückerlangt, schoss mir der nächste garstige Gedanke in den Kopf: Die Kleidung könnte tadelig sein. Ich hatte mich für einen ordentlichen Dress entschieden, weil Hausfrauen, wie ich mir sagte, allzu gern auf gut-gekleidete Männer hereinfallen. Zugleich, so sagte ich mir, sind Hausfrauen ziemlich sauberkeitsfixiert. Da musst du höllisch aufpassen. Schielenden Blickes kontrollierte ich mein Outfit. Auch okay, tadellos: kein Brotbrösel verunstaltete das Revers, kein peinlicher Zahnpastafleck im Schritt. Gut. Lächeln. Warten. Abwarten. Nichts geschah, also kreuzte ich die Arme vor der Brust. Natürlich bemerkte ich den Missgriff umgehend und riss sie wieder auseinander. Eine derart abweisende Körpersprache wirkt so gewinnend wie Nasebohren. Genauso schlimm, so schoss mir augenblicklich in den Kopf, ist nur fieslicher Achselgeruch. Vorsichtiges, unauffälliges Hinwenden meiner Nasenspitze Richtung Schulter. Erleichtert nahm ich unverfälschte Deo-Aromen wahr. Okay, ich sammelte mich neuerlich, nun endgültig beruhigt. Dem Verkaufserfolg stand nichts mehr im Weg.
Ich stand also da. Rentner zogen ihre Rollwagen an meinem Stand vorbei, die Rollen der Rollwagen schlugen gegen die Treppenstufen, das Zellophan knisterte beim Inder, eine Mutter schimpfe ihr Kind, ein Punk schlurfte in Springerstiefeln durch mein Blickfeld, schluckte den Schaum aus dem ersten Bier des Tages, abermals das Schlagen der Rollwagenrollen. Niemand schenkte mir auch nur die geringste Beachtung. Lediglich die Schuhverkäuferin sah manchmal herüber. Auf ihrem Gesicht lag so ein wissender Ausdruck, der nicht gerade ermutigend auf mich wirkte, so was leicht Mitleidiges, aber auch Verzagtes, alles in allem: der Blick eines Leidensgenossen.
Dann kam einer entlang, der sah schon im Vorbeigehen auf meinen Stand, er blieb stehen, den Körper halb zu mir gedreht. Ich setzte schon an, mein Werbesprüchlein aufzusagen. Doch er machte plötzlich ein Gesicht, als sei mein Produkt irgendwie vulgär oder eine Art Beleidigung für das Auge. Mein Lächeln begann sich anstrengend anzufühlen. Aber noch hielt ich es wacker aufrecht.
Irgendwas lief ganz falsch. Sollte ich doch jemanden ansprechen? An sich hatte ich in Erfahrung gebracht, dass das sinnlos ist, wenn sich der Betreffende nicht wenigstens halbinteressiert dem Stand näherte; ich versuchte es dennoch. Nachfolgend eine Zusammenfassung meiner Bemühungen.


© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011