Hüttengaudi
Ein Alpen-Krimi. Originalausgabe
Kommissarin Irmi Mangold ärgert sich: Warum hat sie sich nur von ihrer Nachbarin zu dieser albernen Schrothkur in Oberstaufen überreden lassen? Und dann steht sie am Urlaubsort plötzlich vor einem Toten, der ihr nur allzu bekannt vorkommt: ihrem Exmann Martin Maurer.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hüttengaudi “
Kommissarin Irmi Mangold ärgert sich: Warum hat sie sich nur von ihrer Nachbarin zu dieser albernen Schrothkur in Oberstaufen überreden lassen? Und dann steht sie am Urlaubsort plötzlich vor einem Toten, der ihr nur allzu bekannt vorkommt: ihrem Exmann Martin Maurer.
Klappentext zu „Hüttengaudi “
Kommissarin Irmi Mangold ärgert sich: Warum hat sie sich nur von ihrer Nachbarin zu dieser albernen Schrothkur in Oberstaufen überreden lassen? Und dann steht sie am Urlaubsort plötzlich vor einem Toten, der ihr mehr als bekannt vorkommt: ihrem Exmann Martin Maurer ... Währenddessen hat es Kollegin Kathi Reindl in Garmisch mit dem toten Liftmann Xaver Fischer zu tun, der zu Lebzeiten im Skiclub mitmischte. Ein arger Dorn im Auge war ihm die moderne Skihütte, deren Wirte er so piesackte, dass sie schließlich verkaufen wollten. Zwei Mordfälle an zwei verschiedenen Orten, aber beide Male dieselbe Todesursache alles nur Zufall?
Lese-Probe zu „Hüttengaudi “
Hüttengaudi von Nicola Förg Prolog
Was hatte ihre Mutter ihr zum Dreißigsten grinsend auf den
weiteren Lebensweg mitgegeben ? Als Frau musst du dich
irgendwann entscheiden, ob du eine Kuh oder eine Ziege werden
willst. Irmi hatte das schrecklich zynisch gefunden - und
über die letzten zwanzig Jahre zugenommen. Damit gehörte
sie eindeutig in die Kategorie Kuh, dabei hatte sie sich für
diese Statur gar nicht bewusst entschieden. Die Pfunde waren
einfach über sie gekommen - mäßig, aber gleichmäßig.
Sie war nicht eitel, höchstens ein ganz kleines bisschen. Sie
war kein Fashion Victim, wirkte aber auch nicht ungepflegt.
Kleidung kaufte sie meist im Vorübergehen an Sonderpreisständern
- weniger wegen des reduzierten Preises, sondern
weil sie sich ihr quasi in den Weg stellte. Sie wäre nie auf
die Idee gekommen, freiwillig einen Modeladen zu betreten.
Shopping stand auf ihrer Liste überhaupt nirgendwo.
... mehr
Außerdem gab es Kataloge, in denen man die Ecken umknicken
konnte von all den Seiten, auf denen Verlockendes zu
sehen war. Sie nahm die Kataloge bisweilen mit in die Badewanne,
wo sie regelmäßig abstürzten, woraufhin die bereits
ausgefüllten Bestellkarten bis zur Unkenntlichkeit verwischten
und sich die Eselsohren mitsamt des Katalogs auflösten.
Eigentlich empfand sie es jedes Mal als Affront, wenn so
ein Moppelfrauenkatalog eintraf : von Größe vierzig bis Größe
sechzig. Woher wussten die, dass sie keine Größe sechsunddreißig
war ? Vermutlich durch den Verkauf von Adressen, was
Datenschutz betraf, gab sie sich als Polizistin erst recht keinen
Illusionen hin. Es kamen auch Werbeblättchen mit Wunderpillen
- und ja, sie war gefährdet. Verschämt dachte sie immer
wieder mal darüber nach, sich so etwas zu bestellen. Klang
einfach zu gut und zu einfach : essen wie sonst und dabei abnehmen.
Fressen wie beim römischen Gelage und dann die
Ich-setz-nicht-an-Pille hinterher. Auch die Bauchmuskeltrainer
aus dem Shopping-Fernsehen ließen sie immer mal
zusammenzucken. Sollte sie sich so was mal bestellen ? Nein,
natürlich würde sie das nicht tun. Das wäre ja peinlich.
Und dann war Lissi gekommen, ihre Nachbarin. Lissi,
das Energiewunder. Lissi, der Kugelblitz. Einsfünfundfünfzig
groß und rund. Dabei war sie beileibe nicht fett oder unförmig,
nur eben rund mit dem besten Dirndldekolleté, das man
sich vorstellen konnte. Von Figurfragen war sie meist unbeeindruckt,
umso mehr hatte sich Irmi gewundert, als Lissi ihr
die kühne Frage gestellt hatte, ob sie mit ihr nach Oberstaufen
fahren wolle.
Irmi hatte erst einige Sekunden überlegt : Oberstaufen ?
Lag das nicht irgendwo kurz vor Vorarlberg, wo die Menschen
so einen drolligen Dialekt hatten ? Und was sollten sie dort ?
» Wir machen eine Schrothkur «, hatte Lissi erklärt.
Leicht befremdet hatte Irmi das » wir « registriert, aber in
ihrer flammenden Rede für das Schrothwesen hatte ihre
Nachbarin am » wir « festgehalten. » Was glaubst du, wie gut
uns das tut ! Es geht uns ja nicht ums Abnehmen. Es geht
ums Entgiften. Ohne Verzicht kein Genuss, ohne Kampf kein
Sieg, ohne Reinigung keine Heilung «, schmetterte sie.
Irmi fragte sich, aus welcher Broschüre sie das wohl hatte.
Ihre Einwände, sie müsse weder kämpfen, noch bedürfe sie
irgend einer Heilung, wurden geflissentlich übergehört.
» Wir brauchen das. Mal raus aus dem Alltag. Und Oberstaufen
passt viel besser zu uns als die Karibik oder so. «
Schwungvoll hatte Lissi ein Unterkunftsverzeichnis auf den
Tisch geworfen. » Ich hab auch schon was ausgesucht für uns.
Was Kleines, Kuscheliges. «
Hinterher hatte Irmi nicht den blassesten Schimmer,
warum sie schließlich zugestimmt hatte.
Wie hatte ihre Mutter das gestern formuliert ? » Wenn du weiter
so abnimmst, wirst du in zehn Jahren aussehen wie eine
alte Ziege. Mager und faltig - zickig bist ja eh schon. « Sie
hatte das » mager « besonders tirolerisch betont : » mooger «.
Ihre Tochter Sophia war herumgehüpft wie ein Derwisch und
hatte laut gerufen : » Mama ist 'ne Zicke, Mama ist 'ne Zicke ! «
Kathi hatte beide mit einem » Leckts mi « gestoppt, die Tür
zugeknallt und war die Treppe hinaufgerannt mit einem Geräuschpegel,
der auch auf eine Herde Flusspferde hätte deuten
können. Vorausgesetzt, Flusspferde würden durch Tiroler
Häuser trampeln.
Kathi war vor den Spiegel getreten, hatte ihr bauchfreies
T-Shirt noch weiter hochgezogen und nüchtern konstatiert :
Rippen statt Wölbung nach außen. Die Brüste noch kleiner
als früher, und da hatte sie auch nicht gerade in der Dolly-
Buster-Liga gespielt. Das knochige Dekolleté gefiel ihr wirklich
nicht. Sie drehte sich um und blickte über die Schulter.
Kein Arsch in der viel zu weiten Jeanshose. Man konnte es
nicht mal auf den Modetrend der » Boyfriend-Jeans « schieben.
Das war eine ganz normale Damenhose, die ihr früher
mal richtig gut gepasst hatte.
Dann schob sie das Kinn näher an den Spiegel heran und
betrachtete ihr Gesicht. Sie war hübsch, das war sie immer
schon gewesen. Auf der Stirn traten erste schmale Falten
zum Vorschein, in den Augenwinkeln auch. Sie würde in ein
paar Tagen dreißig werden und dabei ziemlich » mooger «
daherkommen.
Dabei aß sie genug, mehr als Irmi und ihre Kollegin Andrea,
die schon zunahmen, wenn sie das Wort Fleischsalat nur
dachten oder die Torte bloß durch die Scheibe beim Konditor
ansahen. Richtig neidisch waren die beiden auf sie.
Jetzt allerdings war sie zugegebenermaßen arg schmal geworden.
Das lag auch an ihrem Neuen. Sven studierte Architektur
in München und war erst fünfundzwanzig. Außerdem
war er Veganer. Und weil Kathi dieses ganze Grün- und Körnerzeug
nicht mochte, ihn aber nicht durch den Verzehr toter
Tiere provozieren wollte, aß sie lieber gar nichts.
Sie und Sven hatten sowieso wenig Zeit zum Essen.
Schließlich gab es auch Wichtigeres, wenn der eine nächtelang
über Modellen in München saß und die andere mit unmöglichen
Dienstzeiten in Garmisch. So oft trafen sie sich
nicht, aber wenn sie sich trafen ... Kathi war jedes Mal ein
wenig überrascht, dass ein eher anämischer Kulturmensch es
im Bett so krachen lassen konnte.
1
Da saß sie nun in dem eher puristisch eingerichteten Hotelzimmer.
An den Wänden hingen Bilder von Allgäuer Landschaften.
Der Hochgrat, der Alpsee, eine üppig geschmückte
Kuh beim Almabtrieb. Oder nein, hier hieß das ja Viehscheid.
Eine Einführungsveranstaltung hatte es gegeben mit Erklärungen,
die Irmi auch nicht gerade beruhigt hatten. Sie
wurden aufgeklärt, dass der Name Schrothkur nichts mit
Schrot und Korn zu tun hatte, sondern von einem schlesischen
Fuhrmann namens Johann Schroth stammte. Der Mann hatte
irgendwann um 1820 nach einem Pferdetritt ein steifes Knie
bekommen, sich erfolgreich mit feuchtkalten Wickeln behandelt
und daraus dann die Therapie mit einem Ganzkörperwickel
abgeleitet. Seine Beobachtung, dass krankes Vieh die
Nahrung verweigerte und wenig trank, übertrug er als Diät
mit sogenannten Trockentagen auf den Menschen. Er musste
ein echter Marketingprofi gewesen sein, denn schon bald hatte
er sich einen Ruf als » Wunderdoktor « erarbeitet und eine
Kurklinik in Niederlindewiese im heutigen Tschechien eröffnet.
Hermann Brosig, einer der dortigen Kurärzte, war nach
englischer Kriegsgefangenschaft nach Oberstaufen gelangt
und hatte dort die Schrothsche Heilkur eingeführt.
Nicht, dass Irmi dem Mann seine Karriere nicht gegönnt
hätte und sein Überleben im Krieg. Aber hätte der nicht durch
Kriegstraumatisierung den ganzen Blödsinn vergessen und
mit irgendwas anderem sein Geld verdienen können ? Und
Oberstaufen - und damit ihr - den Schrothwahnsinn ersparen ?
Irmi verfluchte Schroth, Brosig und Lissi, sich selbst aber
am allermeisten. Sie hätte ja nur nein sagen müssen. Nun
aber saß sie hier neben ihrem Koffer auf dem Bett und
wusste, dass sie in wenigen Minuten zum Abendessen antreten
sollte.
Abendessen war ein großes Wort. Sie sollte hier zwei
Wochen lang cholesterinfreie Nahrung zu sich nehmen, ohne
tierisches Eiweiß und Fette. Kein Salz, nur Kohlenhydrate
und das im Umfang von fünfhundert Kalorien am Tag. Wussten
diese Wahnsinnigen denn nicht, was allein eine einzige
Leberkas-Semmel an Kalorien hatte ? Von fünfhundert Kalorien
konnte doch kein bayerischer Mensch leben !
Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Das dreigängige
Menü bestand aus einem Süppchen, das wenig mehr
war als gewürztes Wasser, gekochtem Gemüse als Hauptgang
und Kompott als Hauch eines Nachtisches. Himmel, ihre
Zähne hatte sie doch noch ! Schon jetzt sehnte sie sich danach,
einfach mal herzhaft in etwas hineinzubeißen.
Lissi war sehr still geworden, das Gespräch verlief eher
schleppend. Klar, Lissi fühlte sich schuldig ! Gut so, fand Irmi.
Ihre Nachbarin murmelte, dass sie gleich ins Bett gehe, weil
sie doch gestern noch eine Problemgeburt im Stall gehabt
habe und die ganze Nacht wach gewesen sei.
Nun, Irmi war nicht böse um die frühe Schlafenszeit
und ruhte trotz ihres Grants gut und traumlos. Plötzlich ertönte
von irgendwoher ein schauerliches Geräusch. Felswände
schienen einzustürzen, und eine Sirene heulte grauenvoller als
alles, was je an ihr Ohr gedrungen war.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Das
Geräusch kam von einem Radiowecker und war so laut, dass
es die gesamte Unterwelt geweckt hätte. Hektisch hieb Irmi
auf einige Tasten ein, doch das Gerät dröhnte weiter. Mit
einem jähen Sprung aus dem Bett erreichte sie die Stromzufuhr
und entriss dem Ding den Saft. Leider hing nun auch
die halbe Steckdose aus der Wand.
Irmis Herz raste. Dass es nun auch noch klopfte und jemand
etwas von Tee flötete, der draußen stehe, gab ihr den Rest. Sie
hatte, bevor sie den Wecker so rüde vom Strom getrennt hatte,
einen Blick darauf geworfen. Es war halb vier Uhr in der Früh,
da stand nicht mal ein Landwirt auf !
Gestern bei der Einführung hatten sie das nun folgende
Horrorszenario bereits durchgesprochen : Irmis schlafwarme
Haut wurde in feuchte Tücher gewickelt, damit der Körper
gegen die Kälte mit einer gesteigerten Durchblutung anheizte.
Wärmflaschen im Rücken, an den Füßen und auf dem
Bauch trieben den Schweiß zusätzlich aus allen Poren. Die
anschließende Schnürung war am schlimmsten. Da durfte
man wirklich nicht klaustrophobisch sein. Und von wegen
wohlig warme Hülle. Irmis Tüchergefängnis heizte sich nicht
auf. Sie fror. Ziemlich lange. Bis sie um Hilfe rief und ihr erklärt
wurde, dass ihr Körper eben noch ganz falsch reagiere.
Einen bedauernden Blick hatte ihr die Packerin zugeworfen
und versichert, dass sie mit zunehmender Entgiftung auch
normaler reagieren werde. Normaler ?
Immerhin schlief Irmi im Wickel wieder ein und zog sich,
nachdem sie entwickelt worden war, nochmals in ihr Bett
zurück. Gut, das Frühstück war ja auch nicht der Rede wert,
ebenso wenig wie das Mittagessen. Nachdem sie und Lissi
sich wirklich nicht für Nordic Walking hatten erwärmen können,
hatte man ihnen den Ponyhof empfohlen. Zum Fünf-
Uhr-Tee.
Das Lokal entdeckten sie in Weidach. Mit Ponys hatte es
wenig zu tun - die Pferdchen hier waren von anderem Kaliber.
Vorbei schwebten mit kostbaren Ketten und Armreifen
behängte Damen weit jenseits des Alters, das man gerne
zugab.
Auf der Terrasse lag ein Flor aus Rosenblättern, offenbar
anlässlich einer Hochzeit. Der Mann, der sich verehelicht
hatte, war ein berühmter Doppelprofessor an der Uni Tübingen
- das entnahmen Irmi und Lissi der Unterhaltung zweier
Damen am Nebentisch, deren altersgemäße Taubheit dazu
führte, dass sie extrem laut redeten.
Irmi blickte zum Hochzeitspaar hinüber : Das neue Weibchen
war eine bildschöne orientalisch aussehende Frau, Irmi
vermutete, eine Iranerin. Sie war etwa so alt wie die erwachsenen
Kinder des Herrn Professor, denen anzusehen war,
wie sehr sie die neue Stiefmama schätzten. Die eine Tochter
blickte unentwegt auf das sanft gerundete Bäuchlein der Iranerin.
Ein Hauch eines Bauchs - im engen Partykleid aber
sichtbar. Die Tochter schien ihre Erbpfründe schwinden zu
sehen.
An einem zweiten Tisch saßen weitere geldige Gäste, ebenfalls
behängt mit allerlei schwerem Schmuck. Eine Frau redete
ohne Punkt und Komma, und Irmi fragte sich, ob diese Dame
denn nie Luft holte.
Irgendwann kamen Riesenplatten mit Backhendl, Leberkäse
und Obatzda - in den Himmel wachsende Gestelle, die
üppig mit Brezen behängt waren. Irmi warf einen Seitenblick
auf Lissi, die hektisch an ihrem Wasser sog.
» Ungesundes Zeug «, sagte Lissi. » Ich glaub, wir zahlen mal. «
Wenig später trollten sie sich. Draußen kamen sie an Porsche
Cabrios vorbei, einem Maybach, zwei Bentleys, diversen
Benzen und ein paar Z3s, die neben den Riesenkutschen so
wirkten, als gehörten sie der Putzfrau.
Sie stapften bergwärts, und Irmi war wirklich verwundert,
wie frisch sie ausschreiten konnte, obwohl sie nichts gegessen
hatte. Schweigend gingen sie voran, bis Lissi schließlich sagte :
» Prominent sein ist vielleicht a Soach. «
Irmi musste lachen. Lissi war wirklich eine Philosophin.
Am nächsten Morgen hatte Irmi den Eindruck, dass sie sich
schon etwas schneller erwärmte in ihrem Wickel. Das Problem
an dieser Kur war natürlich, dass man zu viel Zeit hatte.
Ein normaler Menschentag wurde in angemessenen Abständen
von Essen unterbrochen. Man überlegte, was man kochen
würde. Oder aber man studierte Speisekarten, man saß, wartete,
aß. Man räumte Geschirr weg. Essen teilte den Tag in
vernünftige Abschnitte. Essen war Belohnung.
Zumindest eins hatte Irmi am dritten Tag ihres Aufenthalts
schon begriffen : Ihre Einstellung zum Essen würde sie
ändern. Nicht mehr schnell im Stehen irgendwas in sich
hi neinschlingen, sondern sich Zeit nehmen. Essen war doch
so schön.
Weil die Tage so viel Leere boten, nahmen Irmi und Lissi
natürlich die Freizeitangebote gerne an, beispielsweise eine
Wanderung zur Alpe Mohr.
» Wie weit ist es denn zu der Alm ? «, fragte Irmi den Wanderführer.
» Gnädige Frau, ich sehe, Sie stammen aus dem Oberbayerischen.
Bei uns im Allgäu heißt das Alp oder Alpe. «
Zweierlei verdarb Irmi den Tag : die Anrede » Gnädige
Frau « und dieses » bei uns «, das in tiefstem Sächsisch vorgetragen
wurde. Sehr ungnädig schlurfte Irmi deshalb dahin,
zumal der Großteil des Weges auf Asphalt verlief.
Die Lage der Alm, pardon Alpe, war wunderschön, so wie
dieses ganze Allgäu überhaupt sehr schön war. Die Berge
waren weniger erdrückend als bei ihr daheim. Das Auge
konnte sich immer wieder an Fixpunkten festhalten : Höfen,
Wiesenhängen, Waldstücken, Tümpeln und Seen. Die Landschaft
stieg gefällig stufenförmig an : Sanfte Hügel gingen
über in Vorberge, und am Horizont standen die Gipfel Spalier.
Dieses Allgäu ist wie ein Aquarell, dachte Irmi. Kein
schweres Ölgemälde wie das Karwendel.
Oben angekommen, suchten sie sich einen Tisch, jemand
trug einen Riesenberg Kaiserschmarrn vorbei, was Irmis
Laune nicht gerade steigerte, und dann trat auch noch ein
allein unterhaltender Ziehharmonikaspieler auf. Immerhin
hatte sie ja schon gelernt, » dass ma im Allgäu isch, wenn d
Schumpa scheener wia d Föhla sind «. Dabei standen Schumpa
für Jungkühe und Föhla für junge Mädchen. Und außerdem
sagten die hier » i bi gsi « für » ich bin gewesen « - und das klang
in Irmis Ohr doch sehr Schwyzerdütsch.
Der Kaiserschmarrnduft wehte herüber, der Mann sang
von den » Blauen Bergen « - ein Albtraum. Irmi bestellte sich
einen trockenen Wein. Kurwein war schließlich erlaubt. Gut,
» das Viertele « hatte sie schon zu Mittag genossen, aber sei'sdrum. Als hätte Lissi auf einen Startschuss gewartet, rief sie :
» Dann bringen S' doch gleich einen halben Liter. «
Der Wein, der die Kehle in den leeren Magen hinunterrann,
tat seine Wirkung. Und ja, sie nahmen noch einen halben
Liter. » Mezzo litro für die Damen «, blökte der Sachse,
bestimmte Tage erforderten einfach Drogen.
Eigentlich war er ganz nett, der Sachse. Man konnte ja
nichts für seinen Geburtsort. Sie tranken. Ein Leben ohne
Alko hol war zwar möglich, aber an Tagen wie diesen eben
keine Lösung. Also schunkelten sie und sangen mit, Lissi
legte ein flottes Tänzchen mit dem Sachsen aufs Parkett. Der
Tag schritt fort, das Licht wurde weicher.
Auf der Wiese neben dem Haus baute sich eine Alphorn-
gruppe auf und begann, diesem seltsamen Instrument nachgerade
magische Töne zu entlocken. Irmi setzte sich auf die
Brüstung und hörte zu. Ein Gänsehauterlebnis. Ein Instrument,
das die Seele berührte. Vielleicht machte sie der Wein
so sentimental. Oder diese bucklige Region. Oder der leere
Magen. Der Sachse hielt gerade einen Vortrag über das Alphorn.
» Alphörner waren immer Sache von Landschaften, wo es
Hirten und Herden gab - egal ob im Allgäu, in Südamerika
oder in Tibet. Hirten haben auf die Signalwirkung solcher
Hörner gesetzt, um sich über die Täler hinweg zu verständigen.
Sie lockten damit ihre Tiere an. Das Alphorn ist ein kultisch-
mystisches Instrument. «
Inzwischen fand Irmi ihn wirklich sympathisch. Er sah
eigent lich auch recht gut aus. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig.
Netter Hintern. Gut, der Schnäuzer war natürlich ein
Minuspunkt, der Dialekt auch, aber wahrscheinlich war sein
Job, hungernde Menschen bei Laune zu halten, auch nicht
gerade prickelnd.
Lissi jedenfalls schien ihn ganz besonders ansprechend
zu finden, was Irmi mit Verwunderung registrierte. Warum
eigent lich ? Sie kannte Lissi nur als Alfreds Frau. Immer
schon. Sie hatten geheiratet, als Lissi achtzehn und
schwanger gewesen war. Sie kannte Lissi als perfekte Köchin,
perfekte Bäue rin, Mutter von drei Söhnen, die alle eine gute
Ausbildung machten. Der Älteste studierte sogar in Weihenstephan
Agrarwissenschaft. Lissi war kürzlich vierzig geworden
und hatte sich immer nur um ihre vier Männer gekümmert.
Irmi schlenderte auf die Wiese hinaus, wo ein älterer Mann
an sein Alphorn gelehnt stand.
» Stimmt es, dass so ein Alphorn nur aus einem Baum stam-
men darf, der über zwölfhundert Metern gewachsen ist ? «, erkundigte
sich Irmi.
» Na, des isch a Mythos. Es gaoht au mit Fichta, dia weiter
dunda wachset. « Er lachte sie an. » I bi dr Sepp. « Reichte ihr
die Hand und fuhr dann in bestem Hochdeutsch fort: » Wenn
man ein Alphorn aus einem Stamm schaffen will, sollte der
Baum eine Krümmung aufweisen. Die erhält er zum Beispiel,
wenn der junge Setzling durch den Schnee zu Boden gedrückt
wird und später dann dem Licht zustrebt. Eng gewachsenes
Holz ist für den Musikinstrumentenbau, gerade bei Geigen,
sehr wichtig. Und in Hochlagen wachsen die Bäume sehr
langsam, die Jahresringe liegen viel dichter beisammen als
beim Talholz. Deshalb die Zwölfhundert-Meter-Regel, aber
zwingend ist das nicht. «
Irmi lächelte den Mann an. » Du kennst dich aus ? «
» Ja, i bau dia Trümmer au. «
Es war großartig, wie er zwischen seinem Heimatdialekt
und dem gepflegten Deutsch für die Touristen hin und her
springen konnte. Der Mann war eindeutig zweisprachig.
» Mei, heutzutage gibt's Alphörner auch zwei- oder dreiteilig,
aus Transportgründen. Es isch ja au bled, wenn ma so a
Trumm auf em Dach transportiera muas oder es aus'm Fenschtar
vom Auto naus hängt. «
Sie plauderten eine Weile. Sepp, der sicher weit über siebzig
war, setzte sich zu Irmi ins Gras und erzählte weiter. Er war
ein Alphornbauer der ersten Stunde gewesen.
» Als Buaba hond mir scho auf em Gartaschlauch
gschpielt «, berichtete er lachend.
Und Irmi erfuhr, dass der Heimatbund das Alphorn im Allgäu
1958 wiederbelebt hatte und das erste Alphorn damals in
Marktoberdorf erklungen war - » also fascht im Unterland «.
Der Tag hatte sich zum Guten gewendet. Sepp hatte sie
noch eingeladen, ihn bei Gelegenheit zu besuchen, und es war
dunkel, als sie zu Tale marschierten. Lissi ging neben dem
Sachsen, sie lachten und scherzten, Irmi versuchte ab und zu,
Lissis Blick zu erhaschen, aber die sah weg. So what, Lissi war
schließlich erwachsen.
© 2011 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: plainpicture/bildhaft
Karten: cartomedia, Karlsruhe
Autorenfoto: Andreas Baar
Satz: Kösel, Krugzell
Papier: Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany ISBN 978-3-492-26496-9
Außerdem gab es Kataloge, in denen man die Ecken umknicken
konnte von all den Seiten, auf denen Verlockendes zu
sehen war. Sie nahm die Kataloge bisweilen mit in die Badewanne,
wo sie regelmäßig abstürzten, woraufhin die bereits
ausgefüllten Bestellkarten bis zur Unkenntlichkeit verwischten
und sich die Eselsohren mitsamt des Katalogs auflösten.
Eigentlich empfand sie es jedes Mal als Affront, wenn so
ein Moppelfrauenkatalog eintraf : von Größe vierzig bis Größe
sechzig. Woher wussten die, dass sie keine Größe sechsunddreißig
war ? Vermutlich durch den Verkauf von Adressen, was
Datenschutz betraf, gab sie sich als Polizistin erst recht keinen
Illusionen hin. Es kamen auch Werbeblättchen mit Wunderpillen
- und ja, sie war gefährdet. Verschämt dachte sie immer
wieder mal darüber nach, sich so etwas zu bestellen. Klang
einfach zu gut und zu einfach : essen wie sonst und dabei abnehmen.
Fressen wie beim römischen Gelage und dann die
Ich-setz-nicht-an-Pille hinterher. Auch die Bauchmuskeltrainer
aus dem Shopping-Fernsehen ließen sie immer mal
zusammenzucken. Sollte sie sich so was mal bestellen ? Nein,
natürlich würde sie das nicht tun. Das wäre ja peinlich.
Und dann war Lissi gekommen, ihre Nachbarin. Lissi,
das Energiewunder. Lissi, der Kugelblitz. Einsfünfundfünfzig
groß und rund. Dabei war sie beileibe nicht fett oder unförmig,
nur eben rund mit dem besten Dirndldekolleté, das man
sich vorstellen konnte. Von Figurfragen war sie meist unbeeindruckt,
umso mehr hatte sich Irmi gewundert, als Lissi ihr
die kühne Frage gestellt hatte, ob sie mit ihr nach Oberstaufen
fahren wolle.
Irmi hatte erst einige Sekunden überlegt : Oberstaufen ?
Lag das nicht irgendwo kurz vor Vorarlberg, wo die Menschen
so einen drolligen Dialekt hatten ? Und was sollten sie dort ?
» Wir machen eine Schrothkur «, hatte Lissi erklärt.
Leicht befremdet hatte Irmi das » wir « registriert, aber in
ihrer flammenden Rede für das Schrothwesen hatte ihre
Nachbarin am » wir « festgehalten. » Was glaubst du, wie gut
uns das tut ! Es geht uns ja nicht ums Abnehmen. Es geht
ums Entgiften. Ohne Verzicht kein Genuss, ohne Kampf kein
Sieg, ohne Reinigung keine Heilung «, schmetterte sie.
Irmi fragte sich, aus welcher Broschüre sie das wohl hatte.
Ihre Einwände, sie müsse weder kämpfen, noch bedürfe sie
irgend einer Heilung, wurden geflissentlich übergehört.
» Wir brauchen das. Mal raus aus dem Alltag. Und Oberstaufen
passt viel besser zu uns als die Karibik oder so. «
Schwungvoll hatte Lissi ein Unterkunftsverzeichnis auf den
Tisch geworfen. » Ich hab auch schon was ausgesucht für uns.
Was Kleines, Kuscheliges. «
Hinterher hatte Irmi nicht den blassesten Schimmer,
warum sie schließlich zugestimmt hatte.
Wie hatte ihre Mutter das gestern formuliert ? » Wenn du weiter
so abnimmst, wirst du in zehn Jahren aussehen wie eine
alte Ziege. Mager und faltig - zickig bist ja eh schon. « Sie
hatte das » mager « besonders tirolerisch betont : » mooger «.
Ihre Tochter Sophia war herumgehüpft wie ein Derwisch und
hatte laut gerufen : » Mama ist 'ne Zicke, Mama ist 'ne Zicke ! «
Kathi hatte beide mit einem » Leckts mi « gestoppt, die Tür
zugeknallt und war die Treppe hinaufgerannt mit einem Geräuschpegel,
der auch auf eine Herde Flusspferde hätte deuten
können. Vorausgesetzt, Flusspferde würden durch Tiroler
Häuser trampeln.
Kathi war vor den Spiegel getreten, hatte ihr bauchfreies
T-Shirt noch weiter hochgezogen und nüchtern konstatiert :
Rippen statt Wölbung nach außen. Die Brüste noch kleiner
als früher, und da hatte sie auch nicht gerade in der Dolly-
Buster-Liga gespielt. Das knochige Dekolleté gefiel ihr wirklich
nicht. Sie drehte sich um und blickte über die Schulter.
Kein Arsch in der viel zu weiten Jeanshose. Man konnte es
nicht mal auf den Modetrend der » Boyfriend-Jeans « schieben.
Das war eine ganz normale Damenhose, die ihr früher
mal richtig gut gepasst hatte.
Dann schob sie das Kinn näher an den Spiegel heran und
betrachtete ihr Gesicht. Sie war hübsch, das war sie immer
schon gewesen. Auf der Stirn traten erste schmale Falten
zum Vorschein, in den Augenwinkeln auch. Sie würde in ein
paar Tagen dreißig werden und dabei ziemlich » mooger «
daherkommen.
Dabei aß sie genug, mehr als Irmi und ihre Kollegin Andrea,
die schon zunahmen, wenn sie das Wort Fleischsalat nur
dachten oder die Torte bloß durch die Scheibe beim Konditor
ansahen. Richtig neidisch waren die beiden auf sie.
Jetzt allerdings war sie zugegebenermaßen arg schmal geworden.
Das lag auch an ihrem Neuen. Sven studierte Architektur
in München und war erst fünfundzwanzig. Außerdem
war er Veganer. Und weil Kathi dieses ganze Grün- und Körnerzeug
nicht mochte, ihn aber nicht durch den Verzehr toter
Tiere provozieren wollte, aß sie lieber gar nichts.
Sie und Sven hatten sowieso wenig Zeit zum Essen.
Schließlich gab es auch Wichtigeres, wenn der eine nächtelang
über Modellen in München saß und die andere mit unmöglichen
Dienstzeiten in Garmisch. So oft trafen sie sich
nicht, aber wenn sie sich trafen ... Kathi war jedes Mal ein
wenig überrascht, dass ein eher anämischer Kulturmensch es
im Bett so krachen lassen konnte.
1
Da saß sie nun in dem eher puristisch eingerichteten Hotelzimmer.
An den Wänden hingen Bilder von Allgäuer Landschaften.
Der Hochgrat, der Alpsee, eine üppig geschmückte
Kuh beim Almabtrieb. Oder nein, hier hieß das ja Viehscheid.
Eine Einführungsveranstaltung hatte es gegeben mit Erklärungen,
die Irmi auch nicht gerade beruhigt hatten. Sie
wurden aufgeklärt, dass der Name Schrothkur nichts mit
Schrot und Korn zu tun hatte, sondern von einem schlesischen
Fuhrmann namens Johann Schroth stammte. Der Mann hatte
irgendwann um 1820 nach einem Pferdetritt ein steifes Knie
bekommen, sich erfolgreich mit feuchtkalten Wickeln behandelt
und daraus dann die Therapie mit einem Ganzkörperwickel
abgeleitet. Seine Beobachtung, dass krankes Vieh die
Nahrung verweigerte und wenig trank, übertrug er als Diät
mit sogenannten Trockentagen auf den Menschen. Er musste
ein echter Marketingprofi gewesen sein, denn schon bald hatte
er sich einen Ruf als » Wunderdoktor « erarbeitet und eine
Kurklinik in Niederlindewiese im heutigen Tschechien eröffnet.
Hermann Brosig, einer der dortigen Kurärzte, war nach
englischer Kriegsgefangenschaft nach Oberstaufen gelangt
und hatte dort die Schrothsche Heilkur eingeführt.
Nicht, dass Irmi dem Mann seine Karriere nicht gegönnt
hätte und sein Überleben im Krieg. Aber hätte der nicht durch
Kriegstraumatisierung den ganzen Blödsinn vergessen und
mit irgendwas anderem sein Geld verdienen können ? Und
Oberstaufen - und damit ihr - den Schrothwahnsinn ersparen ?
Irmi verfluchte Schroth, Brosig und Lissi, sich selbst aber
am allermeisten. Sie hätte ja nur nein sagen müssen. Nun
aber saß sie hier neben ihrem Koffer auf dem Bett und
wusste, dass sie in wenigen Minuten zum Abendessen antreten
sollte.
Abendessen war ein großes Wort. Sie sollte hier zwei
Wochen lang cholesterinfreie Nahrung zu sich nehmen, ohne
tierisches Eiweiß und Fette. Kein Salz, nur Kohlenhydrate
und das im Umfang von fünfhundert Kalorien am Tag. Wussten
diese Wahnsinnigen denn nicht, was allein eine einzige
Leberkas-Semmel an Kalorien hatte ? Von fünfhundert Kalorien
konnte doch kein bayerischer Mensch leben !
Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Das dreigängige
Menü bestand aus einem Süppchen, das wenig mehr
war als gewürztes Wasser, gekochtem Gemüse als Hauptgang
und Kompott als Hauch eines Nachtisches. Himmel, ihre
Zähne hatte sie doch noch ! Schon jetzt sehnte sie sich danach,
einfach mal herzhaft in etwas hineinzubeißen.
Lissi war sehr still geworden, das Gespräch verlief eher
schleppend. Klar, Lissi fühlte sich schuldig ! Gut so, fand Irmi.
Ihre Nachbarin murmelte, dass sie gleich ins Bett gehe, weil
sie doch gestern noch eine Problemgeburt im Stall gehabt
habe und die ganze Nacht wach gewesen sei.
Nun, Irmi war nicht böse um die frühe Schlafenszeit
und ruhte trotz ihres Grants gut und traumlos. Plötzlich ertönte
von irgendwoher ein schauerliches Geräusch. Felswände
schienen einzustürzen, und eine Sirene heulte grauenvoller als
alles, was je an ihr Ohr gedrungen war.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Das
Geräusch kam von einem Radiowecker und war so laut, dass
es die gesamte Unterwelt geweckt hätte. Hektisch hieb Irmi
auf einige Tasten ein, doch das Gerät dröhnte weiter. Mit
einem jähen Sprung aus dem Bett erreichte sie die Stromzufuhr
und entriss dem Ding den Saft. Leider hing nun auch
die halbe Steckdose aus der Wand.
Irmis Herz raste. Dass es nun auch noch klopfte und jemand
etwas von Tee flötete, der draußen stehe, gab ihr den Rest. Sie
hatte, bevor sie den Wecker so rüde vom Strom getrennt hatte,
einen Blick darauf geworfen. Es war halb vier Uhr in der Früh,
da stand nicht mal ein Landwirt auf !
Gestern bei der Einführung hatten sie das nun folgende
Horrorszenario bereits durchgesprochen : Irmis schlafwarme
Haut wurde in feuchte Tücher gewickelt, damit der Körper
gegen die Kälte mit einer gesteigerten Durchblutung anheizte.
Wärmflaschen im Rücken, an den Füßen und auf dem
Bauch trieben den Schweiß zusätzlich aus allen Poren. Die
anschließende Schnürung war am schlimmsten. Da durfte
man wirklich nicht klaustrophobisch sein. Und von wegen
wohlig warme Hülle. Irmis Tüchergefängnis heizte sich nicht
auf. Sie fror. Ziemlich lange. Bis sie um Hilfe rief und ihr erklärt
wurde, dass ihr Körper eben noch ganz falsch reagiere.
Einen bedauernden Blick hatte ihr die Packerin zugeworfen
und versichert, dass sie mit zunehmender Entgiftung auch
normaler reagieren werde. Normaler ?
Immerhin schlief Irmi im Wickel wieder ein und zog sich,
nachdem sie entwickelt worden war, nochmals in ihr Bett
zurück. Gut, das Frühstück war ja auch nicht der Rede wert,
ebenso wenig wie das Mittagessen. Nachdem sie und Lissi
sich wirklich nicht für Nordic Walking hatten erwärmen können,
hatte man ihnen den Ponyhof empfohlen. Zum Fünf-
Uhr-Tee.
Das Lokal entdeckten sie in Weidach. Mit Ponys hatte es
wenig zu tun - die Pferdchen hier waren von anderem Kaliber.
Vorbei schwebten mit kostbaren Ketten und Armreifen
behängte Damen weit jenseits des Alters, das man gerne
zugab.
Auf der Terrasse lag ein Flor aus Rosenblättern, offenbar
anlässlich einer Hochzeit. Der Mann, der sich verehelicht
hatte, war ein berühmter Doppelprofessor an der Uni Tübingen
- das entnahmen Irmi und Lissi der Unterhaltung zweier
Damen am Nebentisch, deren altersgemäße Taubheit dazu
führte, dass sie extrem laut redeten.
Irmi blickte zum Hochzeitspaar hinüber : Das neue Weibchen
war eine bildschöne orientalisch aussehende Frau, Irmi
vermutete, eine Iranerin. Sie war etwa so alt wie die erwachsenen
Kinder des Herrn Professor, denen anzusehen war,
wie sehr sie die neue Stiefmama schätzten. Die eine Tochter
blickte unentwegt auf das sanft gerundete Bäuchlein der Iranerin.
Ein Hauch eines Bauchs - im engen Partykleid aber
sichtbar. Die Tochter schien ihre Erbpfründe schwinden zu
sehen.
An einem zweiten Tisch saßen weitere geldige Gäste, ebenfalls
behängt mit allerlei schwerem Schmuck. Eine Frau redete
ohne Punkt und Komma, und Irmi fragte sich, ob diese Dame
denn nie Luft holte.
Irgendwann kamen Riesenplatten mit Backhendl, Leberkäse
und Obatzda - in den Himmel wachsende Gestelle, die
üppig mit Brezen behängt waren. Irmi warf einen Seitenblick
auf Lissi, die hektisch an ihrem Wasser sog.
» Ungesundes Zeug «, sagte Lissi. » Ich glaub, wir zahlen mal. «
Wenig später trollten sie sich. Draußen kamen sie an Porsche
Cabrios vorbei, einem Maybach, zwei Bentleys, diversen
Benzen und ein paar Z3s, die neben den Riesenkutschen so
wirkten, als gehörten sie der Putzfrau.
Sie stapften bergwärts, und Irmi war wirklich verwundert,
wie frisch sie ausschreiten konnte, obwohl sie nichts gegessen
hatte. Schweigend gingen sie voran, bis Lissi schließlich sagte :
» Prominent sein ist vielleicht a Soach. «
Irmi musste lachen. Lissi war wirklich eine Philosophin.
Am nächsten Morgen hatte Irmi den Eindruck, dass sie sich
schon etwas schneller erwärmte in ihrem Wickel. Das Problem
an dieser Kur war natürlich, dass man zu viel Zeit hatte.
Ein normaler Menschentag wurde in angemessenen Abständen
von Essen unterbrochen. Man überlegte, was man kochen
würde. Oder aber man studierte Speisekarten, man saß, wartete,
aß. Man räumte Geschirr weg. Essen teilte den Tag in
vernünftige Abschnitte. Essen war Belohnung.
Zumindest eins hatte Irmi am dritten Tag ihres Aufenthalts
schon begriffen : Ihre Einstellung zum Essen würde sie
ändern. Nicht mehr schnell im Stehen irgendwas in sich
hi neinschlingen, sondern sich Zeit nehmen. Essen war doch
so schön.
Weil die Tage so viel Leere boten, nahmen Irmi und Lissi
natürlich die Freizeitangebote gerne an, beispielsweise eine
Wanderung zur Alpe Mohr.
» Wie weit ist es denn zu der Alm ? «, fragte Irmi den Wanderführer.
» Gnädige Frau, ich sehe, Sie stammen aus dem Oberbayerischen.
Bei uns im Allgäu heißt das Alp oder Alpe. «
Zweierlei verdarb Irmi den Tag : die Anrede » Gnädige
Frau « und dieses » bei uns «, das in tiefstem Sächsisch vorgetragen
wurde. Sehr ungnädig schlurfte Irmi deshalb dahin,
zumal der Großteil des Weges auf Asphalt verlief.
Die Lage der Alm, pardon Alpe, war wunderschön, so wie
dieses ganze Allgäu überhaupt sehr schön war. Die Berge
waren weniger erdrückend als bei ihr daheim. Das Auge
konnte sich immer wieder an Fixpunkten festhalten : Höfen,
Wiesenhängen, Waldstücken, Tümpeln und Seen. Die Landschaft
stieg gefällig stufenförmig an : Sanfte Hügel gingen
über in Vorberge, und am Horizont standen die Gipfel Spalier.
Dieses Allgäu ist wie ein Aquarell, dachte Irmi. Kein
schweres Ölgemälde wie das Karwendel.
Oben angekommen, suchten sie sich einen Tisch, jemand
trug einen Riesenberg Kaiserschmarrn vorbei, was Irmis
Laune nicht gerade steigerte, und dann trat auch noch ein
allein unterhaltender Ziehharmonikaspieler auf. Immerhin
hatte sie ja schon gelernt, » dass ma im Allgäu isch, wenn d
Schumpa scheener wia d Föhla sind «. Dabei standen Schumpa
für Jungkühe und Föhla für junge Mädchen. Und außerdem
sagten die hier » i bi gsi « für » ich bin gewesen « - und das klang
in Irmis Ohr doch sehr Schwyzerdütsch.
Der Kaiserschmarrnduft wehte herüber, der Mann sang
von den » Blauen Bergen « - ein Albtraum. Irmi bestellte sich
einen trockenen Wein. Kurwein war schließlich erlaubt. Gut,
» das Viertele « hatte sie schon zu Mittag genossen, aber sei'sdrum. Als hätte Lissi auf einen Startschuss gewartet, rief sie :
» Dann bringen S' doch gleich einen halben Liter. «
Der Wein, der die Kehle in den leeren Magen hinunterrann,
tat seine Wirkung. Und ja, sie nahmen noch einen halben
Liter. » Mezzo litro für die Damen «, blökte der Sachse,
bestimmte Tage erforderten einfach Drogen.
Eigentlich war er ganz nett, der Sachse. Man konnte ja
nichts für seinen Geburtsort. Sie tranken. Ein Leben ohne
Alko hol war zwar möglich, aber an Tagen wie diesen eben
keine Lösung. Also schunkelten sie und sangen mit, Lissi
legte ein flottes Tänzchen mit dem Sachsen aufs Parkett. Der
Tag schritt fort, das Licht wurde weicher.
Auf der Wiese neben dem Haus baute sich eine Alphorn-
gruppe auf und begann, diesem seltsamen Instrument nachgerade
magische Töne zu entlocken. Irmi setzte sich auf die
Brüstung und hörte zu. Ein Gänsehauterlebnis. Ein Instrument,
das die Seele berührte. Vielleicht machte sie der Wein
so sentimental. Oder diese bucklige Region. Oder der leere
Magen. Der Sachse hielt gerade einen Vortrag über das Alphorn.
» Alphörner waren immer Sache von Landschaften, wo es
Hirten und Herden gab - egal ob im Allgäu, in Südamerika
oder in Tibet. Hirten haben auf die Signalwirkung solcher
Hörner gesetzt, um sich über die Täler hinweg zu verständigen.
Sie lockten damit ihre Tiere an. Das Alphorn ist ein kultisch-
mystisches Instrument. «
Inzwischen fand Irmi ihn wirklich sympathisch. Er sah
eigent lich auch recht gut aus. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig.
Netter Hintern. Gut, der Schnäuzer war natürlich ein
Minuspunkt, der Dialekt auch, aber wahrscheinlich war sein
Job, hungernde Menschen bei Laune zu halten, auch nicht
gerade prickelnd.
Lissi jedenfalls schien ihn ganz besonders ansprechend
zu finden, was Irmi mit Verwunderung registrierte. Warum
eigent lich ? Sie kannte Lissi nur als Alfreds Frau. Immer
schon. Sie hatten geheiratet, als Lissi achtzehn und
schwanger gewesen war. Sie kannte Lissi als perfekte Köchin,
perfekte Bäue rin, Mutter von drei Söhnen, die alle eine gute
Ausbildung machten. Der Älteste studierte sogar in Weihenstephan
Agrarwissenschaft. Lissi war kürzlich vierzig geworden
und hatte sich immer nur um ihre vier Männer gekümmert.
Irmi schlenderte auf die Wiese hinaus, wo ein älterer Mann
an sein Alphorn gelehnt stand.
» Stimmt es, dass so ein Alphorn nur aus einem Baum stam-
men darf, der über zwölfhundert Metern gewachsen ist ? «, erkundigte
sich Irmi.
» Na, des isch a Mythos. Es gaoht au mit Fichta, dia weiter
dunda wachset. « Er lachte sie an. » I bi dr Sepp. « Reichte ihr
die Hand und fuhr dann in bestem Hochdeutsch fort: » Wenn
man ein Alphorn aus einem Stamm schaffen will, sollte der
Baum eine Krümmung aufweisen. Die erhält er zum Beispiel,
wenn der junge Setzling durch den Schnee zu Boden gedrückt
wird und später dann dem Licht zustrebt. Eng gewachsenes
Holz ist für den Musikinstrumentenbau, gerade bei Geigen,
sehr wichtig. Und in Hochlagen wachsen die Bäume sehr
langsam, die Jahresringe liegen viel dichter beisammen als
beim Talholz. Deshalb die Zwölfhundert-Meter-Regel, aber
zwingend ist das nicht. «
Irmi lächelte den Mann an. » Du kennst dich aus ? «
» Ja, i bau dia Trümmer au. «
Es war großartig, wie er zwischen seinem Heimatdialekt
und dem gepflegten Deutsch für die Touristen hin und her
springen konnte. Der Mann war eindeutig zweisprachig.
» Mei, heutzutage gibt's Alphörner auch zwei- oder dreiteilig,
aus Transportgründen. Es isch ja au bled, wenn ma so a
Trumm auf em Dach transportiera muas oder es aus'm Fenschtar
vom Auto naus hängt. «
Sie plauderten eine Weile. Sepp, der sicher weit über siebzig
war, setzte sich zu Irmi ins Gras und erzählte weiter. Er war
ein Alphornbauer der ersten Stunde gewesen.
» Als Buaba hond mir scho auf em Gartaschlauch
gschpielt «, berichtete er lachend.
Und Irmi erfuhr, dass der Heimatbund das Alphorn im Allgäu
1958 wiederbelebt hatte und das erste Alphorn damals in
Marktoberdorf erklungen war - » also fascht im Unterland «.
Der Tag hatte sich zum Guten gewendet. Sepp hatte sie
noch eingeladen, ihn bei Gelegenheit zu besuchen, und es war
dunkel, als sie zu Tale marschierten. Lissi ging neben dem
Sachsen, sie lachten und scherzten, Irmi versuchte ab und zu,
Lissis Blick zu erhaschen, aber die sah weg. So what, Lissi war
schließlich erwachsen.
© 2011 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: plainpicture/bildhaft
Karten: cartomedia, Karlsruhe
Autorenfoto: Andreas Baar
Satz: Kösel, Krugzell
Papier: Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany ISBN 978-3-492-26496-9
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Autoren-Porträt von Nicola Förg
Nicola Förg, geb. 1962 im Oberallgäu, ist als Reise , Berg , Ski- und Pferdejournalistin tätig. Mit ihrer Familie sowie mehreren Ponys, Katzen und Kaninchen lebt sie auf einem Anwesen im südwestlichen Eck Oberbayerns, wo die Natur opulent ist und ein ganz besonderer Menschenschlag wohnt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicola Förg
- 2011, 284 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492264964
- ISBN-13: 9783492264969
Rezension zu „Hüttengaudi “
"So liest es sich durchgehend spannend, wenn die Kommissarin das Werdenfelser Land durchsucht, eine Gegend, zu der bei der orts- und mundartkundigen Förg sogar noch das Stroafn und das Herrensalettl gehören.", Süddeutsche Zeitung, 25.03.2011
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