Hybris
Die überforderte Gesellschaft
Größenwahn und Selbstüberschätzung sind Teil der menschlichen Natur. Doch erst heute werden sie als Erfolgsfaktoren kultiviert. Die Folgen sind krankhaft wuchernde Wirtschaftsaktivitäten, entfesselte Finanzmärkte, dysfunktionale Bildungs- und...
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Produktinformationen zu „Hybris “
Klappentext zu „Hybris “
Größenwahn und Selbstüberschätzung sind Teil der menschlichen Natur. Doch erst heute werden sie als Erfolgsfaktoren kultiviert. Die Folgen sind krankhaft wuchernde Wirtschaftsaktivitäten, entfesselte Finanzmärkte, dysfunktionale Bildungs- und Infrastrukturen, aus dem Ruder laufende Großprojekte, unkontrollierbare Datenmengen und globales Allmachtstreben. Meinhard Miegel, einer der profiliertesten Vordenker Deutschlands, sieht in dieser allgegenwärtigen Hybris die wesentliche Ursache für die tiefgreifende Krise von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Die exzessive Entwicklung unserer Lebenswelt, die Miegel eindringlich schildert, überfordert alle: Einzelne und Gruppen, Unternehmen, Schulen und Universitäten, Parteien, Regierungen und internationale Organisationen. Ihre Kosten sind enorm, keine Volkswirtschaft kann sie stemmen. Die Lösung des Problems ist erprobt und zuverlässig: Es ist die Kunst der Beschränkung - die Rückkehr zu einem menschlichen Maß, das unsere individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen schont und in ein neues Gleichgewicht bringt. Worin diese Kunst besteht, macht Miegel an vielfältigen Beispielen eindrucksvoll deutlich.
Lese-Probe zu „Hybris “
Hybris von Meinhard MiegelProlog
„Der Mensch ist das Modell der Welt" - Leonardo da Vinci
Die große Krise
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„Die große Krise", die die Menschen in den frühindustrialisierten Ländern und anderen Teilen der Welt seit langen plagt, will nicht weichen. Gibt es eben noch Hoffnungsschimmer, flammt die wenig später schon wieder auf. Das nährt die Sorgen, eine ganze Generation könne um ihre Lebensperspektiven gebracht werden und der in Jahrzehnten erworbene Wohlstand wieder zerrinnen. Für Entwarnungen sehen die meisten keinen Anlass, und manche fürchten sogar, das Schlimmste komme erst noch.
Deutschland ist bei alledem bislang recht gut gefahren. Zwar ist es keine Insel der Seligen. Doch im Vergleich zu anderen Ländern ist seine Wirtschaft derzeit robust und seine Beschäftigungslage gut. Seine Steuerquellen sprudeln, und seine Sozialsysteme sind solide. Die Bevölkerung weiß das zu schätzen und ist mit sich und der Lage zufrieden. Sie weiß aber auch: Dieser Zustand ist zerbrechlich und kann abrupt enden. Deutschland kann sich von europäischen und globalen Entwicklungen nicht dauerhaft abkoppeln. Es sitzt mit allen anderen in einem Boot, und dieses Boot schwankt bedenklich.
Das lenkt den Blick zurück auf die Krise. Die Krise - was ist das eigentlich? Ihre Symptome sind wohlbekannt: Banken, die sich hoffnungslos verspekuliert haben; kollabierende Unternehmen und Märkte; verbreitete Arbeitslosigkeit; immense öffentliche Schulden und Staaten, die sich nur dank der Hilfe Dritter mühsam über Wasser halten.
Und wohlbekannt sind auch die Stationen auf dem Weg in diese Krise: ein beispielloses Finanzdebakel in den USA, das rasch auf andere Länder übergriff; Unternehmen, die dadurch vom Geldfluss abgeschnitten wurden; Massenentlassungen; über forderte Sozialsysteme; Staaten, welche die daraus erwachsende Last nicht zu tragen vermochten; solidarische Hilfs-, Not- und Rettungsprogramme. Und was kommt dann? Darüber lässt sich nur spekulieren.
So viel zu Symptomen und bisherigem Verlauf der Krise. Was aber sind ihre Ursachen? Wie konnte es dazu kommen, dass eine Welt, die bis dahin leidlich gut geordnet schien, binnen Tagen und Wochen an »den Rand eines Abgrunds«5 geriet? Was konnte derartige Beben auslösen?
Über Fragen wie diese wird seit Jahren gestritten. Die einen beharren darauf, dass es sich keineswegs um ein Systemversagen oder auch nur um einen systemimmanenten Fehler handele. Vielmehr sei die Krise die Folge einer unglücklichen Verkettung von Fehleinschätzungen, Missverständnissen, Leichtfertigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissen. Das Entscheidende sei jedoch: Alles ist reparabel, das System ist intakt.
Andere bezweifeln das. Zwar ist auch für sie der Kapitalismus weiterhin vital. Aber das, was da geschehen ist und weiterhin geschieht, sei doch weit mehr als nur ein Unfall. Das sei systemimmanent. Der Kapitalismus produziere solche Krisen zwangsläufig, und manche meinen, diese würden nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung heftiger und häufiger.
Eine dritte Gruppe hält auch diese Erklärung noch für unzureichend. Für sie ist der Kapitalismus in seine Endphase eingetreten und die aktuelle Krise eine Manifestation seines Niedergangs. In nicht sehr ferner Zukunft komme die finale Krise, von der er sich nicht mehr erholen werde.
Überforderung
So unterschiedlich diese Sichtweisen sind, haben sie doch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Für sie ist diese Krise primär ökonomisch. Das ist sie zweifellos auch. Ihre Wurzeln liegen jedoch tiefer. Diese Krise ist nichts Geringeres als eine Krise der westlichen Kultur, die mit Begriffen wie »Kapitalismus« oder »kapitalistisch« keineswegs hinreichend erfasst ist. Der Kapitalismus ist vielmehr nur eine Erscheinungsform dieser viel umfassenderen Kultur.
Die Essenz dieser Kultur ist der allem Anschein nach fehlgeschlagene Versuch, eine ursprünglich im Jenseitigen angesiedelte Idee, nämlich die Gottesidee völliger Unbegrenztheit, diesseitig zu wenden. Alles sollte immerfort wachsen, schneller, weiter, höher werden. Begrenzungen jedweder Art wurden verworfen, Maß und Mitte oder menschliche Proportionen wurden zu Synonymen für Spießertum und Mittelmäßigkeit, für Langeweile. Die Grenzüberschreitung, das Überbieten von allem bis lang Dagewesenen, der ultimative Kick entwickelten sich zu Idealen.
Ein jahrhundertelang gültiges Wertesystem wurde grundlegend uminterpretiert, oder genauer: in sein Gegen teil verkehrt. Waren Habsucht, Gier und Maßlosigkeit zuvor Laster, so wurden sie jetzt zu wohlstandsfördernden Tugenden erhoben. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwammen und sollten verschwimmen, weil materieller Erfolg als der neue und alleinige Maßstab galt. Wer materiell erfolgreich war, genügte den gesellschaftlich-moralischen Anforderungen.
Wird die gegenwärtige Krise in diesem Licht gesehen, haben sich alle, die an ihr mitgewirkt haben, im Großen und Ganzen normenkonform verhalten. Zwar sanktionieren westliche Gesellschaften Betrug, Untreue und Urkundenfälschung. Aber sie honorieren sie, wenn sie erfolgsgekrönt sind. Nicht der Kapitalismus beschwört zwangsläufig Krisen herauf, sondern seine Perversion. Krisen entwickeln sich aus der Unmäßigkeit, der Hybris, die die westliche Kultur seit langem prägt.
Alles in ihr ist auf Exzess ausgelegt: Bauten, Mobilität, Sport, Arbeit, Vergnügen, Technik, Kommunikation, Schulden, staatliche und selbstredend wirtschaftliche Aktivitäten. Nach dem Wofür und Wohin wird kaum noch gefragt. Die Hauptsache ist, dass es vorangeht beziehungsweise dem Fortschrittswahn genügt wird. Das Ziel interessiert nicht. Und die meisten ziehen mit: manche aus Neigung und innerer Überzeugung, andere notgedrungen und widerstrebend, viele aus Gewohnheit. Sie haben nichts anderes kennengelernt - in Schulen und Universitäten, Unternehmen und Banken, Gewerkschaften und Parteien, Behörden und Parlamenten gilt immer nur das eine: Strebe nach mehr, strebe nach Entgrenzung.
Menschen, die das verinnerlicht haben, müssen mobil und flexibel sein, Bindungen vermeiden, konsequent ihren eigenen Vorteil suchen, an der Oberfläche verharren, sich frei von hinderlichen Verpflichtungen halten. Sie müssen jede sich bietende Gelegenheit nutzen, auch wenn dies anderen zum Schaden gereicht. Unwerturteile oder gar gesellschaftliche Ächtung haben sie dabei nicht zu befürchten. Im Gegenteil. Denn sie entsprechen ja dem Menschenbild, das die westliche Kultur im Laufe von Generationen geformt hat.
Allerdings gibt es auch viele, die diesem Bild nicht entsprechen wollen oder können. Es widerstrebt ihrer Natur und ihren kulturellen Traditionen, die weiter zurückreichen als die modernen westlichen Gesellschaften. Und nicht wenige fühlen sich von deren Vorgaben überfordert: Kinder von den Anforderungen in Kindergärten und Schulen, Eltern mit der Erziehung dieser Kinder und der Zusammenführung von Beruf und Familie, Arbeitnehmer, Unternehmer und Manager von Groß- und Weltkonzernen, Politiker auf allen Ebenen, Sportler, Künstler, Wissenschaftler, Verbandsvertreter und nicht zuletzt die Verantwortlichen in den Kirchen. Was die moderne Gesellschaft von ihnen erwartet und nicht selten auch nachdrücklich fordert, übersteigt ihre Kräfte und entspricht auch nicht dem, was sie wollen.
Umso wertvoller ist die derzeitige Krise - vorausgesetzt, sie wird als Chance zur kulturellen Erneuerung verstanden und nicht zugeschüttet: physisch mit Bergen buntbedruckten Papiers und strohfeuergleichen Konjunktur- und Beschäftigungsprogrammen, psychisch mit substanzlosen Durchhalte- und Beschwichtigungsparolen. Das gilt es zu erkennen: Diese Krise betrifft nicht nur Staats- und Wirtschaftsformen oder Systeme, sondern eine Kultur, die in ihrem ständigen Streben nach Entgrenzung dem Menschen weder Halt noch Orientierung zu geben vermag. Wenn das einmal begriffen worden ist, kann eine neue menschen- und lebensfreundlichere Kultur heranreifen, eine Kultur, die nicht auf Hybris, sondern auf Lebensformen gründet, die dem Menschen gemäß sind. »Die große Krise« könnte sich so eines hoffentlich nicht fernen Tages als glückliche Wendung erweisen - als ein grundlegender Paradigmenwechsel.
Türme von Babylon
„Auf! Lasst uns eine Stadt und einen Turm
bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht:
Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir
nicht in alle Winde zerstreut werden:" - Genesis, 11,4
Bauten
Flughäfen, Kongresshallen, Bahnhöfe
Wäre es nicht zum Weinen, es wäre zum Lachen.
Da wollen die Deutschen nach Krieg, Zerstörung und Jahrzehnten der Spaltung ihre frühere Hauptstadt neu erstehen lassen und sind bereit, dafür beträchtliche Lasten zu schultern. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Binnen kurzem werden repräsentative Parlamentsbauten, Ministerien, Landesvertretungen und zahlreiche andere öffentliche Gebäude aus dem Boden gestampft, und auch der private Büro- und Wohnungsbau boomt. Das Glanzstück soll jedoch ein neuer Flughafen sein, der alles Bisherige in den Schatten stellt. Groß soll er sein und technisch vollkommen, beeindruckend und ästhetisch ansprechend. Dabei ist allen bewusst, dass sich solche Wünsche nicht mit kleiner Münze verwirklichen lassen. Aber sie sind ja bereit zu zahlen. Immerhin 1,7 Milliarden Euro. Das ist kein Pappenstiel.
So wird geplant und verworfen und weitergeplant und wieder verworfen, und jedes Mal entsteht in den Köpfen der Beteiligten noch Größeres, Prächtigeres und technisch Vollkommeneres. Derweil vergehen die Jahre, und die Kosten steigen und steigen. Sind es 2004 1,7 Milliarden Euro, so sind es 2008 bereits 2,4 Milliarden und 2012 4,3 Milliarden. Und inzwischen wird sogar mit fünf Milliarden gerechnet.6 Die Schlussrechnung ist das allerdings noch nicht. Auf sie warten alle mit Spannung: Architekten und Planer, Bauleiter und Politiker und nicht zuletzt die Steuerzahler.
Doch bis sie kommt, wird noch einige Zeit vergehen. Zunächst ist nämlich eine Fülle schwerwiegender Planungs- und Baumängel zu beseitigen, und so mancher hätte das ganze Unterfangen am liebsten abgeblasen. Dafür ist es jedoch zu spät. Der Flughafen muss und wird vollendet werden, und sei es als Mahnmal überforderter Bauleute, vor allem aber überforderter Bauherren, oder richtiger deren drei: der Bundesrepublik Deutschland sowie den Ländern Berlin und Brandenburg. Alle haben ihr Können und ihre Fähigkeiten beträchtlich überschätzt. Hybris allerorten.
Auch in Bonn. Um nach dem Wegzug von Bundestag und Bundesregierung den Verlust von Funktion und Glanz einer Hauptstadt zu mindern, erhält diese Stadt nicht nur großzügige Ausgleichszahlungen. Zugleich werden gezielt wichtige Einrichtungen der Vereinten Nationen angesiedelt. Bonn ist damit nicht nur »Bundesstadt«, sondern auch »Stadt der Vereinten Nationen«.
Das bringt ein wenig vom früheren Glanz zurück. Es verpflichtet aber auch. So zum Bau einer Kongresshalle, die den illustren Gästen aus aller Welt angemessen ist. Schon ihr Name soll dies zum Ausdruck bringen: World Conference Center Bonn, WCCB. Dass so ein WCCB seinen Preis hat, versteht sich von selbst. Aber schließlich geht es um die Vereinten Nationen.
Zu Beginn läuft alles bemerkenswert glatt. Entwürfe werden präsentiert und ein Sieger gekürt. Es kann los gehen. Dem Verhängnis steht nichts mehr im Weg. Es erscheint in Gestalt eines kleinen koreanischen Ganoven, der von seiner Liebe zu Beethoven schwadroniert und Visitenkarten verteilt, auf denen der in Korea nicht gerade seltene Name Hyundai zu lesen ist.
Beethoven und Hyundai - die Verantwortlichen sind entzückt und bezeichnen das Auftauchen des Koreaners als Glücksfall für die Stadt. Er soll, obgleich - wie sich später herausstellt - weitgehend mittellos, als Investor fungieren.
Das Ganze ist eine Art Köpenickiade oder eine Neuauflage jener Geschichte von Gottfried Kellers Kleidern, die Leute machen. Geblendet von Namen, Auftreten und Versprechungen, lassen die Bonner den »Investor« samt seinen Helfern gewähren, bis diese sich die Taschen gefüllt und das stolze Projekt in Grund und Boden gewirtschaftet haben. Dafür sitzen jetzt einige im Gefängnis und die Bonner auf einem riesigen Schuldenberg. Das WCCB ist, was die Pro-Kopf-Belastung angeht, der bundesweit bisher teuerste Bauskandal.
Diese Last müssen die Bürger tragen, weil Entscheider, Kontrolleure und Politiker ihre Fähigkeiten maßlos überschätzt haben und wie ihre Pendants in Berlin glaubten, Aufgaben meistern zu können, denen sie nicht gewachsen waren. Selbstüberschätzung, Verblendung und ein Schuss Schlendrian reichen aus, um immense Schäden zu verursachen.
Und so geht es weiter. Die Hamburger haben ihre Elbphilharmonie, die sie bis zum Jahre 2010 zum Preis von 186 Millionen Euro vollenden wollten und die nunmehr - mit Glück - vielleicht 2016 für 789 Millionen Euro fertiggestellt sein wird. Allein das Architektenhonorar ist mittlerweile höher als der Betrag, den die Hamburger Bürgerschaft ursprünglich für das Gesamtprojekt bewilligt hatte.
Oder die U-Bahn der Kölner. Abgesehen davon, dass im Zuge der Baumaßnahmen unersetzliche Kulturgüter für immer verlorengingen, beziffern Experten die nicht eingeplanten baulichen Kollateralschäden schon jetzt auf viele Hundert Millionen Euro.
Oder die Rheinland-Pfälzer und ihr Projekt »Nürburgring 2009«. Zwar scheint das Ganze baulich in Ordnung zu sein. Doch ist das Konzept so verfehlt, dass es ebenfalls zu einem Millionengrab geworden ist.
© 2014 Propyläen Verlag
„Die große Krise", die die Menschen in den frühindustrialisierten Ländern und anderen Teilen der Welt seit langen plagt, will nicht weichen. Gibt es eben noch Hoffnungsschimmer, flammt die wenig später schon wieder auf. Das nährt die Sorgen, eine ganze Generation könne um ihre Lebensperspektiven gebracht werden und der in Jahrzehnten erworbene Wohlstand wieder zerrinnen. Für Entwarnungen sehen die meisten keinen Anlass, und manche fürchten sogar, das Schlimmste komme erst noch.
Deutschland ist bei alledem bislang recht gut gefahren. Zwar ist es keine Insel der Seligen. Doch im Vergleich zu anderen Ländern ist seine Wirtschaft derzeit robust und seine Beschäftigungslage gut. Seine Steuerquellen sprudeln, und seine Sozialsysteme sind solide. Die Bevölkerung weiß das zu schätzen und ist mit sich und der Lage zufrieden. Sie weiß aber auch: Dieser Zustand ist zerbrechlich und kann abrupt enden. Deutschland kann sich von europäischen und globalen Entwicklungen nicht dauerhaft abkoppeln. Es sitzt mit allen anderen in einem Boot, und dieses Boot schwankt bedenklich.
Das lenkt den Blick zurück auf die Krise. Die Krise - was ist das eigentlich? Ihre Symptome sind wohlbekannt: Banken, die sich hoffnungslos verspekuliert haben; kollabierende Unternehmen und Märkte; verbreitete Arbeitslosigkeit; immense öffentliche Schulden und Staaten, die sich nur dank der Hilfe Dritter mühsam über Wasser halten.
Und wohlbekannt sind auch die Stationen auf dem Weg in diese Krise: ein beispielloses Finanzdebakel in den USA, das rasch auf andere Länder übergriff; Unternehmen, die dadurch vom Geldfluss abgeschnitten wurden; Massenentlassungen; über forderte Sozialsysteme; Staaten, welche die daraus erwachsende Last nicht zu tragen vermochten; solidarische Hilfs-, Not- und Rettungsprogramme. Und was kommt dann? Darüber lässt sich nur spekulieren.
So viel zu Symptomen und bisherigem Verlauf der Krise. Was aber sind ihre Ursachen? Wie konnte es dazu kommen, dass eine Welt, die bis dahin leidlich gut geordnet schien, binnen Tagen und Wochen an »den Rand eines Abgrunds«5 geriet? Was konnte derartige Beben auslösen?
Über Fragen wie diese wird seit Jahren gestritten. Die einen beharren darauf, dass es sich keineswegs um ein Systemversagen oder auch nur um einen systemimmanenten Fehler handele. Vielmehr sei die Krise die Folge einer unglücklichen Verkettung von Fehleinschätzungen, Missverständnissen, Leichtfertigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissen. Das Entscheidende sei jedoch: Alles ist reparabel, das System ist intakt.
Andere bezweifeln das. Zwar ist auch für sie der Kapitalismus weiterhin vital. Aber das, was da geschehen ist und weiterhin geschieht, sei doch weit mehr als nur ein Unfall. Das sei systemimmanent. Der Kapitalismus produziere solche Krisen zwangsläufig, und manche meinen, diese würden nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung heftiger und häufiger.
Eine dritte Gruppe hält auch diese Erklärung noch für unzureichend. Für sie ist der Kapitalismus in seine Endphase eingetreten und die aktuelle Krise eine Manifestation seines Niedergangs. In nicht sehr ferner Zukunft komme die finale Krise, von der er sich nicht mehr erholen werde.
Überforderung
So unterschiedlich diese Sichtweisen sind, haben sie doch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Für sie ist diese Krise primär ökonomisch. Das ist sie zweifellos auch. Ihre Wurzeln liegen jedoch tiefer. Diese Krise ist nichts Geringeres als eine Krise der westlichen Kultur, die mit Begriffen wie »Kapitalismus« oder »kapitalistisch« keineswegs hinreichend erfasst ist. Der Kapitalismus ist vielmehr nur eine Erscheinungsform dieser viel umfassenderen Kultur.
Die Essenz dieser Kultur ist der allem Anschein nach fehlgeschlagene Versuch, eine ursprünglich im Jenseitigen angesiedelte Idee, nämlich die Gottesidee völliger Unbegrenztheit, diesseitig zu wenden. Alles sollte immerfort wachsen, schneller, weiter, höher werden. Begrenzungen jedweder Art wurden verworfen, Maß und Mitte oder menschliche Proportionen wurden zu Synonymen für Spießertum und Mittelmäßigkeit, für Langeweile. Die Grenzüberschreitung, das Überbieten von allem bis lang Dagewesenen, der ultimative Kick entwickelten sich zu Idealen.
Ein jahrhundertelang gültiges Wertesystem wurde grundlegend uminterpretiert, oder genauer: in sein Gegen teil verkehrt. Waren Habsucht, Gier und Maßlosigkeit zuvor Laster, so wurden sie jetzt zu wohlstandsfördernden Tugenden erhoben. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwammen und sollten verschwimmen, weil materieller Erfolg als der neue und alleinige Maßstab galt. Wer materiell erfolgreich war, genügte den gesellschaftlich-moralischen Anforderungen.
Wird die gegenwärtige Krise in diesem Licht gesehen, haben sich alle, die an ihr mitgewirkt haben, im Großen und Ganzen normenkonform verhalten. Zwar sanktionieren westliche Gesellschaften Betrug, Untreue und Urkundenfälschung. Aber sie honorieren sie, wenn sie erfolgsgekrönt sind. Nicht der Kapitalismus beschwört zwangsläufig Krisen herauf, sondern seine Perversion. Krisen entwickeln sich aus der Unmäßigkeit, der Hybris, die die westliche Kultur seit langem prägt.
Alles in ihr ist auf Exzess ausgelegt: Bauten, Mobilität, Sport, Arbeit, Vergnügen, Technik, Kommunikation, Schulden, staatliche und selbstredend wirtschaftliche Aktivitäten. Nach dem Wofür und Wohin wird kaum noch gefragt. Die Hauptsache ist, dass es vorangeht beziehungsweise dem Fortschrittswahn genügt wird. Das Ziel interessiert nicht. Und die meisten ziehen mit: manche aus Neigung und innerer Überzeugung, andere notgedrungen und widerstrebend, viele aus Gewohnheit. Sie haben nichts anderes kennengelernt - in Schulen und Universitäten, Unternehmen und Banken, Gewerkschaften und Parteien, Behörden und Parlamenten gilt immer nur das eine: Strebe nach mehr, strebe nach Entgrenzung.
Menschen, die das verinnerlicht haben, müssen mobil und flexibel sein, Bindungen vermeiden, konsequent ihren eigenen Vorteil suchen, an der Oberfläche verharren, sich frei von hinderlichen Verpflichtungen halten. Sie müssen jede sich bietende Gelegenheit nutzen, auch wenn dies anderen zum Schaden gereicht. Unwerturteile oder gar gesellschaftliche Ächtung haben sie dabei nicht zu befürchten. Im Gegenteil. Denn sie entsprechen ja dem Menschenbild, das die westliche Kultur im Laufe von Generationen geformt hat.
Allerdings gibt es auch viele, die diesem Bild nicht entsprechen wollen oder können. Es widerstrebt ihrer Natur und ihren kulturellen Traditionen, die weiter zurückreichen als die modernen westlichen Gesellschaften. Und nicht wenige fühlen sich von deren Vorgaben überfordert: Kinder von den Anforderungen in Kindergärten und Schulen, Eltern mit der Erziehung dieser Kinder und der Zusammenführung von Beruf und Familie, Arbeitnehmer, Unternehmer und Manager von Groß- und Weltkonzernen, Politiker auf allen Ebenen, Sportler, Künstler, Wissenschaftler, Verbandsvertreter und nicht zuletzt die Verantwortlichen in den Kirchen. Was die moderne Gesellschaft von ihnen erwartet und nicht selten auch nachdrücklich fordert, übersteigt ihre Kräfte und entspricht auch nicht dem, was sie wollen.
Umso wertvoller ist die derzeitige Krise - vorausgesetzt, sie wird als Chance zur kulturellen Erneuerung verstanden und nicht zugeschüttet: physisch mit Bergen buntbedruckten Papiers und strohfeuergleichen Konjunktur- und Beschäftigungsprogrammen, psychisch mit substanzlosen Durchhalte- und Beschwichtigungsparolen. Das gilt es zu erkennen: Diese Krise betrifft nicht nur Staats- und Wirtschaftsformen oder Systeme, sondern eine Kultur, die in ihrem ständigen Streben nach Entgrenzung dem Menschen weder Halt noch Orientierung zu geben vermag. Wenn das einmal begriffen worden ist, kann eine neue menschen- und lebensfreundlichere Kultur heranreifen, eine Kultur, die nicht auf Hybris, sondern auf Lebensformen gründet, die dem Menschen gemäß sind. »Die große Krise« könnte sich so eines hoffentlich nicht fernen Tages als glückliche Wendung erweisen - als ein grundlegender Paradigmenwechsel.
Türme von Babylon
„Auf! Lasst uns eine Stadt und einen Turm
bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht:
Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir
nicht in alle Winde zerstreut werden:" - Genesis, 11,4
Bauten
Flughäfen, Kongresshallen, Bahnhöfe
Wäre es nicht zum Weinen, es wäre zum Lachen.
Da wollen die Deutschen nach Krieg, Zerstörung und Jahrzehnten der Spaltung ihre frühere Hauptstadt neu erstehen lassen und sind bereit, dafür beträchtliche Lasten zu schultern. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Binnen kurzem werden repräsentative Parlamentsbauten, Ministerien, Landesvertretungen und zahlreiche andere öffentliche Gebäude aus dem Boden gestampft, und auch der private Büro- und Wohnungsbau boomt. Das Glanzstück soll jedoch ein neuer Flughafen sein, der alles Bisherige in den Schatten stellt. Groß soll er sein und technisch vollkommen, beeindruckend und ästhetisch ansprechend. Dabei ist allen bewusst, dass sich solche Wünsche nicht mit kleiner Münze verwirklichen lassen. Aber sie sind ja bereit zu zahlen. Immerhin 1,7 Milliarden Euro. Das ist kein Pappenstiel.
So wird geplant und verworfen und weitergeplant und wieder verworfen, und jedes Mal entsteht in den Köpfen der Beteiligten noch Größeres, Prächtigeres und technisch Vollkommeneres. Derweil vergehen die Jahre, und die Kosten steigen und steigen. Sind es 2004 1,7 Milliarden Euro, so sind es 2008 bereits 2,4 Milliarden und 2012 4,3 Milliarden. Und inzwischen wird sogar mit fünf Milliarden gerechnet.6 Die Schlussrechnung ist das allerdings noch nicht. Auf sie warten alle mit Spannung: Architekten und Planer, Bauleiter und Politiker und nicht zuletzt die Steuerzahler.
Doch bis sie kommt, wird noch einige Zeit vergehen. Zunächst ist nämlich eine Fülle schwerwiegender Planungs- und Baumängel zu beseitigen, und so mancher hätte das ganze Unterfangen am liebsten abgeblasen. Dafür ist es jedoch zu spät. Der Flughafen muss und wird vollendet werden, und sei es als Mahnmal überforderter Bauleute, vor allem aber überforderter Bauherren, oder richtiger deren drei: der Bundesrepublik Deutschland sowie den Ländern Berlin und Brandenburg. Alle haben ihr Können und ihre Fähigkeiten beträchtlich überschätzt. Hybris allerorten.
Auch in Bonn. Um nach dem Wegzug von Bundestag und Bundesregierung den Verlust von Funktion und Glanz einer Hauptstadt zu mindern, erhält diese Stadt nicht nur großzügige Ausgleichszahlungen. Zugleich werden gezielt wichtige Einrichtungen der Vereinten Nationen angesiedelt. Bonn ist damit nicht nur »Bundesstadt«, sondern auch »Stadt der Vereinten Nationen«.
Das bringt ein wenig vom früheren Glanz zurück. Es verpflichtet aber auch. So zum Bau einer Kongresshalle, die den illustren Gästen aus aller Welt angemessen ist. Schon ihr Name soll dies zum Ausdruck bringen: World Conference Center Bonn, WCCB. Dass so ein WCCB seinen Preis hat, versteht sich von selbst. Aber schließlich geht es um die Vereinten Nationen.
Zu Beginn läuft alles bemerkenswert glatt. Entwürfe werden präsentiert und ein Sieger gekürt. Es kann los gehen. Dem Verhängnis steht nichts mehr im Weg. Es erscheint in Gestalt eines kleinen koreanischen Ganoven, der von seiner Liebe zu Beethoven schwadroniert und Visitenkarten verteilt, auf denen der in Korea nicht gerade seltene Name Hyundai zu lesen ist.
Beethoven und Hyundai - die Verantwortlichen sind entzückt und bezeichnen das Auftauchen des Koreaners als Glücksfall für die Stadt. Er soll, obgleich - wie sich später herausstellt - weitgehend mittellos, als Investor fungieren.
Das Ganze ist eine Art Köpenickiade oder eine Neuauflage jener Geschichte von Gottfried Kellers Kleidern, die Leute machen. Geblendet von Namen, Auftreten und Versprechungen, lassen die Bonner den »Investor« samt seinen Helfern gewähren, bis diese sich die Taschen gefüllt und das stolze Projekt in Grund und Boden gewirtschaftet haben. Dafür sitzen jetzt einige im Gefängnis und die Bonner auf einem riesigen Schuldenberg. Das WCCB ist, was die Pro-Kopf-Belastung angeht, der bundesweit bisher teuerste Bauskandal.
Diese Last müssen die Bürger tragen, weil Entscheider, Kontrolleure und Politiker ihre Fähigkeiten maßlos überschätzt haben und wie ihre Pendants in Berlin glaubten, Aufgaben meistern zu können, denen sie nicht gewachsen waren. Selbstüberschätzung, Verblendung und ein Schuss Schlendrian reichen aus, um immense Schäden zu verursachen.
Und so geht es weiter. Die Hamburger haben ihre Elbphilharmonie, die sie bis zum Jahre 2010 zum Preis von 186 Millionen Euro vollenden wollten und die nunmehr - mit Glück - vielleicht 2016 für 789 Millionen Euro fertiggestellt sein wird. Allein das Architektenhonorar ist mittlerweile höher als der Betrag, den die Hamburger Bürgerschaft ursprünglich für das Gesamtprojekt bewilligt hatte.
Oder die U-Bahn der Kölner. Abgesehen davon, dass im Zuge der Baumaßnahmen unersetzliche Kulturgüter für immer verlorengingen, beziffern Experten die nicht eingeplanten baulichen Kollateralschäden schon jetzt auf viele Hundert Millionen Euro.
Oder die Rheinland-Pfälzer und ihr Projekt »Nürburgring 2009«. Zwar scheint das Ganze baulich in Ordnung zu sein. Doch ist das Konzept so verfehlt, dass es ebenfalls zu einem Millionengrab geworden ist.
© 2014 Propyläen Verlag
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Autoren-Porträt von Meinhard Miegel
Meinhard Miegel wurde 1939 in Wien geboren und studierte nach dem Abitur, das er 1957 in Bad Langensalza ablegte, zunächst zwei Semester Musik an der Musikhochschule Weimar. Nach seiner Flucht in die Bundesrepublik begann er 1958 mit dem Studium der Soziologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 1959 ging er nach Washington D.C. und erwarb dort 1961 den Bachelor of Arts. Von 1961 bis 1966 studierte er in Frankfurt am Main und Freiburg Rechtswissenschaften, Philosophie und Volkswirtschaftslehre. 1966 legte er das 1. und 1969 das 2. juristische Staatsexamen ab. 1967 wurde er zum Dr. iur. utr. promoviert.Er war von 1977 bis 2008 Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn (IWG), das er zusammen mit Kurt Biedenkopf gegründet hat. Seit 2007 ist er Vorstandsvorsitzender des Denkwerk Zukunft - Stiftung kulturelle Erneuerung in Bonn, Beiratsmitglied zahlreicher wissenschaftlicher Einrichtungen und ständiger Berater von Politik und Wirtschaft. Darüber hinaus ist er seit 2008 Beiratsmitglied der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen.
1992 wurde Meinhard Miegel als außerplanmäßiger Professor an die Universität Leipzig berufen, wo er bis 1998 lehrte und das Zentrum für internationale Wirtschaftsbeziehungen leitete. Dieses Zentrum ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung, die die politisch-historischen Rahmenbedingungen und die soziokulturellen Einflüsse des wirtschaftlichen Wandels in Mittel- und Osteuropa erforscht.
Für seine Werke erhielt er bislang folgende Auszeichnungen:
Cicero-Preis (1995)
Schaderpreis (2000)
Corine (2002)
Hanns Martin Schleyer-Preis (2004)
Theodor-Heuss-Preis (2005)
Bibliographische Angaben
- Autor: Meinhard Miegel
- 2014, 2, 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BLANK
- ISBN-10: 3549074484
- ISBN-13: 9783549074480
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
Rezension zu „Hybris “
"Das mit Leidenschaft, an nicht wenigen Stellen sogar mit Wut geschriebene Buch eines hellwachen, kenntnisreichen Autors.", ORF, Brigitte Neumann, 25.04.2014
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