»Ich musste sie kaputt machen«
Anatomie eines Jahrhundert-Mörders | Deutschlands bekanntester Serienmordexperte berichtet über einen Jahrhundertmörder
Der Name Joachim Georg Kroll steht für eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Kriminalgeschichte. In mehr als zwei Jahrzehnten tötete der Serienmörder mehrere Frauen und Mädchen, bevor er von der Polizei gefasst wurde. Mit analytischer Schärfe...
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Produktinformationen zu „»Ich musste sie kaputt machen« “
Klappentext zu „»Ich musste sie kaputt machen« “
Der Name Joachim Georg Kroll steht für eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Kriminalgeschichte. In mehr als zwei Jahrzehnten tötete der Serienmörder mehrere Frauen und Mädchen, bevor er von der Polizei gefasst wurde. Mit analytischer Schärfe untersucht der bekannte Kriminalist Stephan Harbort den Fall des »Jahrhundertmörders«. Dabei entsteht das beeindruckende Psychogramm eines Mannes, der zeit seines Lebens von seinen Trieben gesteuert wurde.Lese-Probe zu „»Ich musste sie kaputt machen« “
Ich musste sie kaputt machen von Stephan HarbortVorwort
Über Jahrtausende hinweg haben die Menschen sich erbittert und erbarmungslos bekämpft und bekriegt - um sich selbst zu befreien und den anderen unfrei zu machen. Und sie werden nicht müde, lassen nicht nach, verzweifelt wird um jeden Zentimeter Freiheit gerungen; auch wenn es den eigenen Tod bedeutet. Der Freiheitsdrang beseelt die Menschen, er treibt sie an und um. Nichts auf dieser Welt hat mehr Menschenleben gekostet als der unversöhnlich geführte Kampf um die Freiheit.
Es ist ein nicht enden wollendes Gemetzel, denn das Böse, Schlechte, Unvollkommene, Missratene gehört auch zum Drama der menschlichen Freiheit. Die Marter, das Maßlose und das Mörderische sind der Preis, der Blutzoll, den wir für unsere Freiheit zu entrichten haben. Wir fürchten uns besonders vor Menschen, die das Unmenschliche nicht scheuen, sondern danach trachten, sich daran ergötzen und dafür töten. Ihre Opfer sind vogelfrei. Die Täter leben jenseits der sozialen Ordnung, aber mitten unter uns. Die gewaltsame Unterjochung des Opfers, seine Vernichtung, wird als triumphaler Befreiungsakt gefeiert. Das Lebensmotto der »Monster« und »Bestien«, die wir gerne verbal als solche etikettieren und sozial exekutieren, mit denen wir aber sonst nichts zu schaffen haben wollen, schockiert: Ich morde, also bin ich.
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Um existieren zu können, wollen und müssen sie es immer wieder tun - ohne Rücksicht auf Verluste. Die Gründe sind die Abgründe, die sich im Menschen auftun. Sie können unterschiedlicher Natur sein, einen individuellen Verlauf nehmen, doch am Ende steht immer das Drama. Der Mensch ist das »nicht festgestellte Tier«, hat Nietzsche einmal behauptet. Und die Freiheit der Wölfe bedeutet den Tod der Lämmer. Nicht selten kommen sie im Schafspelz daher: unscheinbar und unberechenbar.
Gemeinhin werden Menschen, die mit heiß-kaltem Herzen töten und nicht davon loskommen wollen oder können, als »Serienmörder« oder »Serienkiller« bezeichnet. Was genau sich hinter diesen Begriffen verbirgt, ist umstritten. Der Fall, von dem das vorliegende Buch handelt, gehört in diese Kategorie und sprengt alle Maßstäbe - damals wie heute. Die schockierenden Gräueltaten übersteigen den Verstand, das Gefühl und die Sprache.
Auch in diesem Fall wird das Böse, das Entsetzliche nicht vollends erhellt und erklärt werden können. Manchmal müssen wir uns mit Beschreibungen begnügen, obwohl wir nach Aufklärung verlangen. Hier stoßen wir an unsere Grenzen. Aber diese Geschichte, dieses Buch soll Perspektiven und Denkanstöße liefern, die etwas weiter sehen lassen. Solche »Ungeheuer«, die ungeheuerliche Taten verüben, gehören ohne Zweifel auf die Anklagebank und eingesperrt - so lange, bis ihre Schuld gesühnt ist und von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht.
Aber es hilft nicht wirklich weiter, diese verlorenen Seelen nur unter Paragraphen zu begraben und hinter hohen Gefängnismauern verschwinden zu lassen. Wird der eine hinter Gitter gebracht, beginnt ein anderer sein todbringendes Handwerk. Das schauderhafte Grauen beginnt von vorn. Immer wieder. Wenn wir unsere kollektive moralische, soziale und erzieherische Verantwortung weiterhin verharmlosen oder leugnen, den Tätern die alleinige Schuld zuweisen und sie lediglich auf den gesellschaftlichen Müllhalden entsorgen, droht tödliche Gefahr. Denn: Die angehenden Mörder können sich nicht selbst heilen oder reparieren, ihnen muss geholfen werden, und das rechtzeitig. Und dazu sind wir aufgerufen und verpflichtet, jeder von uns! Solange wir glauben, »Triebtäter« seien rational denkende und pragmatisch entscheidende Verbrecher, die anders handeln könnten, wenn sie denn nur wollten, flüchten wir uns in die falsche Richtung.
Das vorliegende Kriminal-und Justizdrama darf zu Recht als »Jahrhundert-Fall« gelten und führt uns an die Grenzen des Erträglichen - und bisweilen darüber hinaus. Die unsäglichen Verbrechen eines höchst unscheinbaren Mannes, dessen kümmerliche Existenz in sämtlichen Lebensabschnitten kaum wahrnehmbar wurde, sind ein mahnendes Beispiel dafür, wie weit ein Mensch sich von seinesgleichen entfernen kann, wozu er fähig ist, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Und es zeigt, wie und wie weit sich seelische Deformationen und sexuelle Perversionen entwickeln können - wenn sie wie Krebsgeschwüre unerkannt und unbehandelt wuchern dürfen. Insofern ist diese Tragödie tatsächlich einzigartig. Deshalb musste sie dokumentiert werden. Deshalb müssen wir sie zur Kenntnis nehmen.
Stephan Harbort
Düsseldorf, im Oktober 2003
»Aber sobald das Sexualverbrechen den Gegenstand der Wollust vernichtet, vernichtet es die Wollust, die gerade nur im Augenblick der Vernichtung besteht. Darauf muß man sich ein neues Objekt unterwerfen und es abermals töten, ein weiteres und nach ihm die Unendlichkeit aller möglichen Objekte.« Albert Camus, Ein Schriftsteller
»Alles ist gut, wenn es maßlos ist.« Marquis de Sade, Die Philosophie im Boudoir
Die geschilderten Ereignisse sind authentisch. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation dienten die 781 Seiten starke Urteilsschrift des Landgerichts Duisburg (Aktenzeichen 14 Js 529/76), polizeiliche Vernehmungsprotokolle, Tatortbefundberichte, Obduktionsprotokolle, forensische Gutachten, glaubwürdige Presseberichte und persönlich geführte Interviews. Ich habe alle Ereignisorte aufgesucht, um mir vor Ort ein Bild zu machen. Die in wörtlicher Rede oder als Dialog wiedergegebenen Sequenzen wurden den genannten Quellen entnommen oder sinngemäß dargestellt. Die beschriebenen inneren Vorgänge der handelnden Personen fußen auf entsprechenden Selbstaussagen. In seltenen Fällen habe ich mir literarische Freiheiten gestattet - ohne dabei den Wahrheitsgehalt im Kern zu verfälschen. Die Namen einiger Personen sind zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte geändert worden.
1.
Er hatte die mit braunem Eichenlaub gemusterte Gardine zugezogen und das Licht ausgeschaltet. Es sollte ihm vom Haus gegenüber niemand dabei zusehen können. Vor langer Zeit schon hatte er einmal vom Dachboden des Nachbarhauses aus zu seinem Küchenfenster herübergeschaut und festgestellt, dass so nichts zu erkennen war. Er setzte sich an das schmale Ende des hellbraunen Holztischs, sodass er den Herd und den Spülstein aus etwa zweieinhalb Metern Entfernung anstarren konnte. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Brotmesser mit Wellenschliff, Klingenlänge 18 Zentimeter.
Seine gelblichen langen Finger betasteten den schwarzen Knauf des Messers. Behutsam. Zögerlich. Langsam ließ er den Daumen der rechten Hand an der Klinge entlanggleiten. Er musste vorsichtig sein, das Messer hatte er kurz vorher nochmals geschärft. Dabei fixierte er den vierflammigen Elektroherd, auf dem ein blauer und ein weißer Kochtopf standen; der blaue mit Deckel, der andere ohne. Er hatte es genauso arrangiert, das war ihm wichtig. Die etwa anderthalb Meter große Puppe, die er mühsam aufgeblasen hatte, gehörte auch dazu. Den dunkelbraunen Rock und die rot-weiß gepunktete Bluse hatte er ihr übergestreift und sie rücklings quer über den Spülstein gelegt.
Dann stand er auf, ging ein paar Schritte und überzeugte sich nochmals davon, dass der Vorhang nicht die kleinste Möglichkeit bot, ihn und alles andere zu erspähen. Er fürchtete sich vor den neugierigen Blicken seiner Nachbarn, die ihn sowieso nicht verstehen würden. Schließlich drehte er sich beruhigt um und ließ seine rechte Hand über die Bluse der Puppe gleiten. Das Spektakel konnte beginnen.
Der raue Stoff fühlte sich unendlich geschmeidig an. Seine dünnen Finger wanderten bis zum Hals der Puppe, den er mit der Hand fest umschloss. Er starrte die Puppe unentwegt an, so, als wenn er ihr etwas sagen wollte. Er kniff die Augen zusammen, sein Kiefer begann zu arbeiten, die Lippen zitterten. Doch er blieb stumm. Dann beugte er sich über den Herd. Er schob den Deckel des blauen Kochtopfs vorsichtig ein kleines Stück beiseite und lugte hinein. Die tief liegenden dunklen Augen fixierten das Objekt seiner Begierde. Minutenlang verharrte er so und glotzte. Es inspirierte, es stimulierte ihn.
Irgendwann hatte er sich satt gesehen. Er schob den Deckel wieder in seine ursprüngliche Stellung. Es musste alles seine Ordnung haben, er durfte sich keinen Fehler erlauben. Nun nahm er vier kleine Kartoffeln und fünf mittelgroße Möhren aus einer Glasschale, die links neben ihm auf der Waschmaschine stand, und legte alles in den weißen Topf. Während seine linke Hand jetzt über die Bluse und den Rock der Puppe streichelte, berührte er mit der rechten den Griff des blauen Topfs. Am liebsten hätte er wieder hineingesehen und sich sofort des Inhalts bemächtigt. Aber es war noch zu früh. Das wusste er aus Erfahrung. Er musste sich beherrschen.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk ausgiebig. Schließlich setzte er sich wieder an den Tisch. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, nahm den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er war nicht müde, und er dachte auch nicht nach, er ließ sich einfach von seinen monströsen Gedanken überwältigen, die jetzt von ihm Besitz ergriffen. Alles war leicht, alles war möglich.
Mit einem Mal riss er die Augen auf. Seine Blicke wanderten hektisch zwischen der Puppe und den Kochtöpfen hin und her, die rechte Hand umklammerte nun fest den Knauf des Brotmessers. Er begann leicht zu schwitzen, sein Puls raste. Und dann wurde er wieder von diesem Gefühl überrannt, gegen das er sich nicht wehren konnte, das ihn antrieb. Sein ganzer Körper begann sich zu verkrampfen.
2.
»Hast Du schon mal gesehen, wie ein Mann seinen Mantel aufknöpft? Klar. Im Restaurant. Im Kino. Oder auf der Straße, wenn es warm ist. Das ist ja auch ganz normal. Macht aber ein Mann seinen Mantel auf, ohne daß jemand außer Dir dabei ist (zum Beispiel im Wald, in der U-Bahn oder im Treppenhaus), und Du siehst dann sein Geschlechtsteil, dann ist das nicht normal. Das hat schon etwas mit Sex zu tun. Mit bösem. Es gibt nämlich Männer, die eine Freude daran haben, Kindern ihr Geschlechtsteil zu zeigen. Diese Männer nennt man Sittenstrolche.«
Die Idee war richtig, man wollte es erst gar nicht so weit kommen lassen, Kinder über drohende Gefahren rechtzeitig aufklären. Im Auftrag der Innenminister von Bund und Ländern glaubte eine Expertengruppe, den typischen Kinderschänder enttarnt zu haben. Seinen Steckbrief konnte jeder nachlesen, in einem kleinen gelben Heft, 32 Seiten im DIN-A5-Format, erhältlich für 1,50 Mark am Kiosk. Im Juni 1976 war die Aufklärungs-Schrift »im Kampf gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern« als Flaggschiff des »kriminalpolizeilichen Vorbeugungsprogramms« erstmals erschienen. Zur Begründung hieß es: »Bei uns werden jährlich fast 100 000 Kinder zwischen sieben und 14 Jahren sexuell mißbraucht. Seelisch geschädigt. Körperlich verletzt. Und manchmal ermordet.«
Die Lebenshilfe war bestimmt für Kinder vom siebten Lebensjahr an, bündelte »kriminalistischen Sachverstand«, fußte auf »kinderpsychologischem Wissen« und enthielt wohlmeinende Faustregeln wie diese: »Wenn Du einem Sittenstrolch begegnest, nichts wie weg!« Und wie das »Böse« auszusehen hatte, war ebenfalls unzweifelhaft: Es musste ein »Mann mit Mantel« sein, natürlich. Der »Sittenstrolch« war stets ein Fremder, jemand, der wie eine Naturkatastrophe über seine Opfer hereinbrach. Besonders verdächtig erschien, wer »keine Frau hat«. Denn: »Der ...
Copyright © Ullstein Verlag.
Um existieren zu können, wollen und müssen sie es immer wieder tun - ohne Rücksicht auf Verluste. Die Gründe sind die Abgründe, die sich im Menschen auftun. Sie können unterschiedlicher Natur sein, einen individuellen Verlauf nehmen, doch am Ende steht immer das Drama. Der Mensch ist das »nicht festgestellte Tier«, hat Nietzsche einmal behauptet. Und die Freiheit der Wölfe bedeutet den Tod der Lämmer. Nicht selten kommen sie im Schafspelz daher: unscheinbar und unberechenbar.
Gemeinhin werden Menschen, die mit heiß-kaltem Herzen töten und nicht davon loskommen wollen oder können, als »Serienmörder« oder »Serienkiller« bezeichnet. Was genau sich hinter diesen Begriffen verbirgt, ist umstritten. Der Fall, von dem das vorliegende Buch handelt, gehört in diese Kategorie und sprengt alle Maßstäbe - damals wie heute. Die schockierenden Gräueltaten übersteigen den Verstand, das Gefühl und die Sprache.
Auch in diesem Fall wird das Böse, das Entsetzliche nicht vollends erhellt und erklärt werden können. Manchmal müssen wir uns mit Beschreibungen begnügen, obwohl wir nach Aufklärung verlangen. Hier stoßen wir an unsere Grenzen. Aber diese Geschichte, dieses Buch soll Perspektiven und Denkanstöße liefern, die etwas weiter sehen lassen. Solche »Ungeheuer«, die ungeheuerliche Taten verüben, gehören ohne Zweifel auf die Anklagebank und eingesperrt - so lange, bis ihre Schuld gesühnt ist und von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht.
Aber es hilft nicht wirklich weiter, diese verlorenen Seelen nur unter Paragraphen zu begraben und hinter hohen Gefängnismauern verschwinden zu lassen. Wird der eine hinter Gitter gebracht, beginnt ein anderer sein todbringendes Handwerk. Das schauderhafte Grauen beginnt von vorn. Immer wieder. Wenn wir unsere kollektive moralische, soziale und erzieherische Verantwortung weiterhin verharmlosen oder leugnen, den Tätern die alleinige Schuld zuweisen und sie lediglich auf den gesellschaftlichen Müllhalden entsorgen, droht tödliche Gefahr. Denn: Die angehenden Mörder können sich nicht selbst heilen oder reparieren, ihnen muss geholfen werden, und das rechtzeitig. Und dazu sind wir aufgerufen und verpflichtet, jeder von uns! Solange wir glauben, »Triebtäter« seien rational denkende und pragmatisch entscheidende Verbrecher, die anders handeln könnten, wenn sie denn nur wollten, flüchten wir uns in die falsche Richtung.
Das vorliegende Kriminal-und Justizdrama darf zu Recht als »Jahrhundert-Fall« gelten und führt uns an die Grenzen des Erträglichen - und bisweilen darüber hinaus. Die unsäglichen Verbrechen eines höchst unscheinbaren Mannes, dessen kümmerliche Existenz in sämtlichen Lebensabschnitten kaum wahrnehmbar wurde, sind ein mahnendes Beispiel dafür, wie weit ein Mensch sich von seinesgleichen entfernen kann, wozu er fähig ist, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Und es zeigt, wie und wie weit sich seelische Deformationen und sexuelle Perversionen entwickeln können - wenn sie wie Krebsgeschwüre unerkannt und unbehandelt wuchern dürfen. Insofern ist diese Tragödie tatsächlich einzigartig. Deshalb musste sie dokumentiert werden. Deshalb müssen wir sie zur Kenntnis nehmen.
Stephan Harbort
Düsseldorf, im Oktober 2003
»Aber sobald das Sexualverbrechen den Gegenstand der Wollust vernichtet, vernichtet es die Wollust, die gerade nur im Augenblick der Vernichtung besteht. Darauf muß man sich ein neues Objekt unterwerfen und es abermals töten, ein weiteres und nach ihm die Unendlichkeit aller möglichen Objekte.« Albert Camus, Ein Schriftsteller
»Alles ist gut, wenn es maßlos ist.« Marquis de Sade, Die Philosophie im Boudoir
Die geschilderten Ereignisse sind authentisch. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation dienten die 781 Seiten starke Urteilsschrift des Landgerichts Duisburg (Aktenzeichen 14 Js 529/76), polizeiliche Vernehmungsprotokolle, Tatortbefundberichte, Obduktionsprotokolle, forensische Gutachten, glaubwürdige Presseberichte und persönlich geführte Interviews. Ich habe alle Ereignisorte aufgesucht, um mir vor Ort ein Bild zu machen. Die in wörtlicher Rede oder als Dialog wiedergegebenen Sequenzen wurden den genannten Quellen entnommen oder sinngemäß dargestellt. Die beschriebenen inneren Vorgänge der handelnden Personen fußen auf entsprechenden Selbstaussagen. In seltenen Fällen habe ich mir literarische Freiheiten gestattet - ohne dabei den Wahrheitsgehalt im Kern zu verfälschen. Die Namen einiger Personen sind zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte geändert worden.
1.
Er hatte die mit braunem Eichenlaub gemusterte Gardine zugezogen und das Licht ausgeschaltet. Es sollte ihm vom Haus gegenüber niemand dabei zusehen können. Vor langer Zeit schon hatte er einmal vom Dachboden des Nachbarhauses aus zu seinem Küchenfenster herübergeschaut und festgestellt, dass so nichts zu erkennen war. Er setzte sich an das schmale Ende des hellbraunen Holztischs, sodass er den Herd und den Spülstein aus etwa zweieinhalb Metern Entfernung anstarren konnte. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Brotmesser mit Wellenschliff, Klingenlänge 18 Zentimeter.
Seine gelblichen langen Finger betasteten den schwarzen Knauf des Messers. Behutsam. Zögerlich. Langsam ließ er den Daumen der rechten Hand an der Klinge entlanggleiten. Er musste vorsichtig sein, das Messer hatte er kurz vorher nochmals geschärft. Dabei fixierte er den vierflammigen Elektroherd, auf dem ein blauer und ein weißer Kochtopf standen; der blaue mit Deckel, der andere ohne. Er hatte es genauso arrangiert, das war ihm wichtig. Die etwa anderthalb Meter große Puppe, die er mühsam aufgeblasen hatte, gehörte auch dazu. Den dunkelbraunen Rock und die rot-weiß gepunktete Bluse hatte er ihr übergestreift und sie rücklings quer über den Spülstein gelegt.
Dann stand er auf, ging ein paar Schritte und überzeugte sich nochmals davon, dass der Vorhang nicht die kleinste Möglichkeit bot, ihn und alles andere zu erspähen. Er fürchtete sich vor den neugierigen Blicken seiner Nachbarn, die ihn sowieso nicht verstehen würden. Schließlich drehte er sich beruhigt um und ließ seine rechte Hand über die Bluse der Puppe gleiten. Das Spektakel konnte beginnen.
Der raue Stoff fühlte sich unendlich geschmeidig an. Seine dünnen Finger wanderten bis zum Hals der Puppe, den er mit der Hand fest umschloss. Er starrte die Puppe unentwegt an, so, als wenn er ihr etwas sagen wollte. Er kniff die Augen zusammen, sein Kiefer begann zu arbeiten, die Lippen zitterten. Doch er blieb stumm. Dann beugte er sich über den Herd. Er schob den Deckel des blauen Kochtopfs vorsichtig ein kleines Stück beiseite und lugte hinein. Die tief liegenden dunklen Augen fixierten das Objekt seiner Begierde. Minutenlang verharrte er so und glotzte. Es inspirierte, es stimulierte ihn.
Irgendwann hatte er sich satt gesehen. Er schob den Deckel wieder in seine ursprüngliche Stellung. Es musste alles seine Ordnung haben, er durfte sich keinen Fehler erlauben. Nun nahm er vier kleine Kartoffeln und fünf mittelgroße Möhren aus einer Glasschale, die links neben ihm auf der Waschmaschine stand, und legte alles in den weißen Topf. Während seine linke Hand jetzt über die Bluse und den Rock der Puppe streichelte, berührte er mit der rechten den Griff des blauen Topfs. Am liebsten hätte er wieder hineingesehen und sich sofort des Inhalts bemächtigt. Aber es war noch zu früh. Das wusste er aus Erfahrung. Er musste sich beherrschen.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk ausgiebig. Schließlich setzte er sich wieder an den Tisch. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, nahm den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er war nicht müde, und er dachte auch nicht nach, er ließ sich einfach von seinen monströsen Gedanken überwältigen, die jetzt von ihm Besitz ergriffen. Alles war leicht, alles war möglich.
Mit einem Mal riss er die Augen auf. Seine Blicke wanderten hektisch zwischen der Puppe und den Kochtöpfen hin und her, die rechte Hand umklammerte nun fest den Knauf des Brotmessers. Er begann leicht zu schwitzen, sein Puls raste. Und dann wurde er wieder von diesem Gefühl überrannt, gegen das er sich nicht wehren konnte, das ihn antrieb. Sein ganzer Körper begann sich zu verkrampfen.
2.
»Hast Du schon mal gesehen, wie ein Mann seinen Mantel aufknöpft? Klar. Im Restaurant. Im Kino. Oder auf der Straße, wenn es warm ist. Das ist ja auch ganz normal. Macht aber ein Mann seinen Mantel auf, ohne daß jemand außer Dir dabei ist (zum Beispiel im Wald, in der U-Bahn oder im Treppenhaus), und Du siehst dann sein Geschlechtsteil, dann ist das nicht normal. Das hat schon etwas mit Sex zu tun. Mit bösem. Es gibt nämlich Männer, die eine Freude daran haben, Kindern ihr Geschlechtsteil zu zeigen. Diese Männer nennt man Sittenstrolche.«
Die Idee war richtig, man wollte es erst gar nicht so weit kommen lassen, Kinder über drohende Gefahren rechtzeitig aufklären. Im Auftrag der Innenminister von Bund und Ländern glaubte eine Expertengruppe, den typischen Kinderschänder enttarnt zu haben. Seinen Steckbrief konnte jeder nachlesen, in einem kleinen gelben Heft, 32 Seiten im DIN-A5-Format, erhältlich für 1,50 Mark am Kiosk. Im Juni 1976 war die Aufklärungs-Schrift »im Kampf gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern« als Flaggschiff des »kriminalpolizeilichen Vorbeugungsprogramms« erstmals erschienen. Zur Begründung hieß es: »Bei uns werden jährlich fast 100 000 Kinder zwischen sieben und 14 Jahren sexuell mißbraucht. Seelisch geschädigt. Körperlich verletzt. Und manchmal ermordet.«
Die Lebenshilfe war bestimmt für Kinder vom siebten Lebensjahr an, bündelte »kriminalistischen Sachverstand«, fußte auf »kinderpsychologischem Wissen« und enthielt wohlmeinende Faustregeln wie diese: »Wenn Du einem Sittenstrolch begegnest, nichts wie weg!« Und wie das »Böse« auszusehen hatte, war ebenfalls unzweifelhaft: Es musste ein »Mann mit Mantel« sein, natürlich. Der »Sittenstrolch« war stets ein Fremder, jemand, der wie eine Naturkatastrophe über seine Opfer hereinbrach. Besonders verdächtig erschien, wer »keine Frau hat«. Denn: »Der ...
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Autoren-Porträt von Stephan Harbort
Stephan Harbort, geboren 1964 in Düsseldorf, ist Kriminalhauptkommissar und Deutschlands bekanntester Serienmord-Experte. Er entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern und ist als Fachberater für TV-Beiträge tätig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephan Harbort
- 2013, 4. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374794
- ISBN-13: 9783548374796
- Erscheinungsdatum: 10.10.2013
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