Ich warte auf ein Wort von Dir
Roman. Deutsche Erstausgabe
'Als ihr Zwillingsbruder Billy sich vor den Augen der TV-Nation umbringt, ist für die 35-jährige Lila klar, dass es eine Verzweiflungstat war. Seine alkoholkranke Exfrau hatte ihm den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern verwehrt. Erinnerungen an die eigene...
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Produktinformationen zu „Ich warte auf ein Wort von Dir “
'Als ihr Zwillingsbruder Billy sich vor den Augen der TV-Nation umbringt, ist für die 35-jährige Lila klar, dass es eine Verzweiflungstat war. Seine alkoholkranke Exfrau hatte ihm den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern verwehrt. Erinnerungen an die eigene schwere Kindheit werden wach, und Lila setzt alles daran, Billys Kindern ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Doch die Dämonen der Vergangenheit geben keine Ruhe. Als Lila erkennt, dass die Wahrheit anders war, als ihr Bruder immer behauptet hatte, ist es fast zu spät ...
Lese-Probe zu „Ich warte auf ein Wort von Dir “
Ich warte auf ein Wort von dir von Lisa TuckerKapitel 1
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Als Millionen Menschen ihren Bruder sterben sahen, saß Lila in ihrem stillen Universitätsbüro und arbeitete an ei¬nem Aufsatz über Herman Melvilles Spätwerk. Man hätte es als Ironie des Schicksals betrachten können, dass sie just an diesem Nachmittag an Melvilles Sohn dachte, der sich erschossen hatte. Lila stellte diese Verbindung allerdings erst viel, viel später her. Im Rückblick und in ihrer tiefen Verzweiflung sah sie darin nur noch ein deutliches Zeichen, dass sie es doch hätte wissen müssen. Dass sie Billy im Stich gelassen hatte, als er sie am meisten brauchte.
Obwohl Billy sich nicht selbst erschoss, wurde sein Tod als Selbstmord gewertet. Lilas Mann Patrick musste es ihr zweimal erklären, bevor sie begriff, was er sagte. Ihr Ver¬stand arbeitete unendlich langsam, aber schließlich erfasste sie, dass »Selbstmord durch Polizisten« ein feststehender Begriff war, weil diese Art von Suizid ziemlich häufig vor¬kam. Billy hatte sich in einem Hotel in der Innenstadt von Philadelphia mit einem Gewehr verschanzt, das zwar nicht geladen, aber auf eine Grundschule gerichtet war, so dass ein Sondereinsatzkommando tun musste, was er selbst nicht tun konnte oder wollte. Soweit Lila wusste, hatte Billy nie ein Gewehr besessen, doch in den vergangenen zwei Jahren hatte sie nur selten mit ihrem Zwillingsbruder gesprochen, da er mit seiner Familie nach Pennsylvania
gezogen war. Trotzdem wussten alle, dass Lila einen Zwil¬lingsbruder hatte, denn sie sprach ständig von ihm. Und wahrscheinlich hatten auch viele von ihnen am Fernsehen mitverfolgt, wie Lilas Bruder einen ganzen Straßenblock lahmgelegt und Eltern, Lehrer und Kinder in Panik ver¬setzt hatte. Wie hatte doch einer der Väter zu den Reportern gesagt, als die »Gefahr« gebannt war? »Natürlich sind wir Eltern besorgt über die grassierende Gewalt. Neuerdings scheint jede Woche ein neuer Irrer aufzutauchen und seine Nummer abzuziehen.«
Ihr hinreißender, sensibler Bruder - der klügste Mensch, dem sie je begegnet war -, der ihr gezeigt hatte, wie man auf Bäume klettert, der ihr Geschichten erzählt hatte, wenn sie nicht schlafen konnte, und der erklärt hatte, Blumen seien der hinreichende Beweis dafür, dass Gott uns liebt - der war jetzt nur noch ein »Irrer«. Am liebsten hätte sie diesen Vater, diesen Fremden angeschrien, aber sie brachte nur ein ersticktes Schluchzen hervor.
Patrick hatte vermeiden wollen, dass Lila die Spätnach¬richten sah, aber sie hatte darauf bestanden. Sie wussten beide, dass es immer noch die Meldung des Tages sein wür¬de, obwohl es in der Stadt sicher noch über weitere Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle zu berichten gab. Die Grundschule war eine exklusive Privateinrichtung, wo Anwälte, Manager und Professoren wie Lila ihre Kinder auf dem Weg zur Arbeit absetzten. Nur hatte Lila gar kei¬ne Kinder, denn obwohl sie und Patrick bereits über zehn Jahre verheiratet und beide Mitte dreißig waren, bat sie immer darum, noch etwas länger zu warten. Worauf genau sie wartete, konnte sie nicht erklären. Sie wusste es wirk¬lich nicht.
Ihr Bruder hingegen hatte nicht gewartet. Als Billy bei ihrer College-Abschlussfeier auftauchte, hatte Lila ihn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen und freute sich unbändig über sein Kommen. Er sagte, er wolle ihr etwas schenken, und überreichte ihr einen großen Pappkarton, auf dem lediglich ein paar Etiketten mit der Aufschrift »Zerbrech¬lich« klebten. Er bat sie, die Schachtel erst später auf ihrem Zimmer zu öffnen. Sie dachte, es könnte Pot darin sein, da Billy immer einen Vorrat davon besaß, ganz gleich, wie arm er war. Damals waren sie beide arm gewesen (weil sie kein Geld von ihrem Stiefvater annehmen wollten), aber Lila hatte ein Vollstipendium an einer renommierten Uni bekommen, während Billy zu seiner abenteuerlichen Reise durch Amerika aufgebrochen war, die er mit einer Reihe ungeliebter Jobs finanzierte.
Sie brachte den Karton auf ihr Zimmer, das sie am nächsten Tag räumen musste. Die Studentenwohnheime waren bereits geschlossen - die Vorlesungszeit war schon seit Wochen vorbei -, aber Lila hatte eine Sondererlaubnis bekommen, zu bleiben, bis ihr Lehrauftrag im Sommer¬camp begann. Jedes Jahr war es das Gleiche: Um irgendwo eine Unterkunft für die Ferien zu organisieren, musste sie Gefälligkeiten von Leuten erbetteln, die sie mochten und Mitleid wegen ihrer besonderen Lebensumstände emp¬fanden. Ihre Eltern waren tot (Billy hatte damals, als Lila sich fürs College bewarb, die Totenscheine gefälscht), und ihr Bruder und einziger Verwandter war beruflich für seine Gesellschaft ständig unterwegs. »Das stimmt doch auch«, hatte Billy gesagt. »Ich gehe in Gesellschaft mit mir selbst auf Reisen - um die Gesellschaft mit den Untoten zu mei¬den.«
Lila öffnete den Karton. Ganz oben fand sie einen Beu¬tel mit drei perfekt gedrehten Joints und einem Zettel, auf dem stand: »Rauch sie und denk dabei an mich.« Darunter lag eine Ausgabe der Zeitschrift Highlights for Children, die Billy wahrscheinlich bei einem Arzt hatte mitgehen las¬sen. Auf Seite zwölf hatte er über den Comic geschrieben:
»Billy = Gallant, Lila = Goofus«. Das war ein alter Witz zwischen ihnen beiden. Lila, die stets die Regeln befolgte, war immer Gallant gewesen, und Billy, der Rebell, Goo¬fus. In dieser speziellen Folge des Comics hatte Gallant ein Geschenk, während Goofus mit leeren Händen dastand.
Eins zu null für dich, Bruderherz, dachte Lila und lä¬chelte.
Schließlich entdeckte sie unter Unmengen von Styro¬porkügelchen eine große Schuhschachtel, aus der er ein Diorama gebastelt hatte. Es war außerordentlich raffiniert und detailgetreu und hätte in der Schule bestimmt einen Preis bekommen, obwohl Lila und Billy in der Schule nie Dioramen gebaut hatten, zumindest nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Ihre Kindheitserinnerungen waren so lü¬ckenhaft, dass sie manchmal das Gefühl hatte, diese Jahre seien, noch während sie sie erlebte, schon aus ihrem Be¬wusstsein entschwunden. Und natürlich konnte sie immer Billy fragen, was damals wirklich passiert war. Er erinnerte sich an alles.
In der Schuhschachtel standen zwei Häuser aus Eisstie¬len vor einer bunten Landschaft mit blauem Himmel, lila¬farbenen Wolken und einer Sonne in Pink und Gelb. Vor den Häusern gab es winzige Briefkästen aus Zahnstochern mit ihren Namen darauf. Demnach gehörte das linke Haus Lila und das rechte Billy. In Lilas Haus standen ein Mann und eine Frau vor einer nicht ganz geglückten Wiege mit einem Baby - alles aus Ton. In Billys Haus saßen ein Mann und eine Frau auf dem Boden und rauchten einen riesigen Joint, aber in einem anderen Zimmer lag ebenfalls ein Baby, auf einer Matratze. Billys Haus war schmutziger und hatte nur wenige Möbel und einen Fußboden aus Stroh, aber es war immer noch ein Haus und, was noch wichtiger war, es stand neben Lilas. Sie hatten immer geplant, nebeneinander zu wohnen, wenn sie erst mal erwachsen wären. Denn welche Frau auch immer Billy heiratete, würde Lila natürlich auch lieben, genau wie jeder Mann, der Lila heiratete, Billy lieben würde. Wie konnte es anders sein?
Lila merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als sie die Nachricht sah, die Billy vor das Diorama geklebt hatte: »Keine Sorge, ich hab den Plot nicht verloren. Es wird sich nichts ändern.« Sie wusste, was der erste Satz bedeutete, denn Billy hatte ihn jahrelang gesagt, aber der zweite war einfach unverständlich. Noch seltsamer fand sie, dass die Nachricht so kurz war. Seit Billy einen Stift in der Hand halten konnte, hatte er lange Briefe geschrieben. Er war der geborene Schriftsteller. Schon als Kind hatte er Dutzende von Geschichten geschrieben, und auf seinem Amerikatrip wollte er einen Roman beginnen. Lila‹37 stellte sich gerne vor, wie er in schäbigen Hotels daran schrieb, während sie in ihren Literaturseminaren lernte, wie man Romane inter¬pretierte.
Erst ein paar Tage später erfuhr sie, was er ihr sagen wollte. Da rief er an, um sie zu seiner Hochzeit einzuladen. Er hatte eine Frau geschwängert. Sie hieß Ashley und war neunundzwanzig - acht Jahre älter als Lila und Billy. Sie arbeitete als Kellnerin in Los Lunas, New Mexico, und schrieb oder las zwar keine Romane, fand es aber angeblich »cool«, dass Billy schrieb. »Der Junge hat echt Phantasie«, sagte sie und lachte. Da saßen Lila und sie auf Barhockern und warteten darauf, mit Billy und einer von Ashleys Freundinnen zum Friedensrichter zu fahren. Lila bemühte sich, sie wegen dieses Lachens nicht zu hassen, aber von da an nannte sie Ashley im Stillen nur noch »Trashley«, ob¬wohl sie das niemandem erzählte, nicht mal Patrick.
Fünfzehn Jahre später hatte sie das Diorama vergessen - bis zu der Nacht, als sie Billy im Fernsehen sterben sah. Da erinnerte sie sich wieder daran, und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, weil sie nicht einmal mehr wusste, wo es war. Sie sagte zu Patrick, sie wolle am nächs¬ten Morgen als Erstes im Kellerverschlag ihres Wohnhau¬ses nach Billys Diorama suchen. Daraufhin drückte Pa¬trick ihre Hand noch fester. Sicher dachte er, sie habe einen Schock erlitten. Vielleicht stimmte das ja auch.
Als Millionen Menschen ihren Bruder sterben sahen, saß Lila in ihrem stillen Universitätsbüro und arbeitete an ei¬nem Aufsatz über Herman Melvilles Spätwerk. Man hätte es als Ironie des Schicksals betrachten können, dass sie just an diesem Nachmittag an Melvilles Sohn dachte, der sich erschossen hatte. Lila stellte diese Verbindung allerdings erst viel, viel später her. Im Rückblick und in ihrer tiefen Verzweiflung sah sie darin nur noch ein deutliches Zeichen, dass sie es doch hätte wissen müssen. Dass sie Billy im Stich gelassen hatte, als er sie am meisten brauchte.
Obwohl Billy sich nicht selbst erschoss, wurde sein Tod als Selbstmord gewertet. Lilas Mann Patrick musste es ihr zweimal erklären, bevor sie begriff, was er sagte. Ihr Ver¬stand arbeitete unendlich langsam, aber schließlich erfasste sie, dass »Selbstmord durch Polizisten« ein feststehender Begriff war, weil diese Art von Suizid ziemlich häufig vor¬kam. Billy hatte sich in einem Hotel in der Innenstadt von Philadelphia mit einem Gewehr verschanzt, das zwar nicht geladen, aber auf eine Grundschule gerichtet war, so dass ein Sondereinsatzkommando tun musste, was er selbst nicht tun konnte oder wollte. Soweit Lila wusste, hatte Billy nie ein Gewehr besessen, doch in den vergangenen zwei Jahren hatte sie nur selten mit ihrem Zwillingsbruder gesprochen, da er mit seiner Familie nach Pennsylvania
gezogen war. Trotzdem wussten alle, dass Lila einen Zwil¬lingsbruder hatte, denn sie sprach ständig von ihm. Und wahrscheinlich hatten auch viele von ihnen am Fernsehen mitverfolgt, wie Lilas Bruder einen ganzen Straßenblock lahmgelegt und Eltern, Lehrer und Kinder in Panik ver¬setzt hatte. Wie hatte doch einer der Väter zu den Reportern gesagt, als die »Gefahr« gebannt war? »Natürlich sind wir Eltern besorgt über die grassierende Gewalt. Neuerdings scheint jede Woche ein neuer Irrer aufzutauchen und seine Nummer abzuziehen.«
Ihr hinreißender, sensibler Bruder - der klügste Mensch, dem sie je begegnet war -, der ihr gezeigt hatte, wie man auf Bäume klettert, der ihr Geschichten erzählt hatte, wenn sie nicht schlafen konnte, und der erklärt hatte, Blumen seien der hinreichende Beweis dafür, dass Gott uns liebt - der war jetzt nur noch ein »Irrer«. Am liebsten hätte sie diesen Vater, diesen Fremden angeschrien, aber sie brachte nur ein ersticktes Schluchzen hervor.
Patrick hatte vermeiden wollen, dass Lila die Spätnach¬richten sah, aber sie hatte darauf bestanden. Sie wussten beide, dass es immer noch die Meldung des Tages sein wür¬de, obwohl es in der Stadt sicher noch über weitere Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle zu berichten gab. Die Grundschule war eine exklusive Privateinrichtung, wo Anwälte, Manager und Professoren wie Lila ihre Kinder auf dem Weg zur Arbeit absetzten. Nur hatte Lila gar kei¬ne Kinder, denn obwohl sie und Patrick bereits über zehn Jahre verheiratet und beide Mitte dreißig waren, bat sie immer darum, noch etwas länger zu warten. Worauf genau sie wartete, konnte sie nicht erklären. Sie wusste es wirk¬lich nicht.
Ihr Bruder hingegen hatte nicht gewartet. Als Billy bei ihrer College-Abschlussfeier auftauchte, hatte Lila ihn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen und freute sich unbändig über sein Kommen. Er sagte, er wolle ihr etwas schenken, und überreichte ihr einen großen Pappkarton, auf dem lediglich ein paar Etiketten mit der Aufschrift »Zerbrech¬lich« klebten. Er bat sie, die Schachtel erst später auf ihrem Zimmer zu öffnen. Sie dachte, es könnte Pot darin sein, da Billy immer einen Vorrat davon besaß, ganz gleich, wie arm er war. Damals waren sie beide arm gewesen (weil sie kein Geld von ihrem Stiefvater annehmen wollten), aber Lila hatte ein Vollstipendium an einer renommierten Uni bekommen, während Billy zu seiner abenteuerlichen Reise durch Amerika aufgebrochen war, die er mit einer Reihe ungeliebter Jobs finanzierte.
Sie brachte den Karton auf ihr Zimmer, das sie am nächsten Tag räumen musste. Die Studentenwohnheime waren bereits geschlossen - die Vorlesungszeit war schon seit Wochen vorbei -, aber Lila hatte eine Sondererlaubnis bekommen, zu bleiben, bis ihr Lehrauftrag im Sommer¬camp begann. Jedes Jahr war es das Gleiche: Um irgendwo eine Unterkunft für die Ferien zu organisieren, musste sie Gefälligkeiten von Leuten erbetteln, die sie mochten und Mitleid wegen ihrer besonderen Lebensumstände emp¬fanden. Ihre Eltern waren tot (Billy hatte damals, als Lila sich fürs College bewarb, die Totenscheine gefälscht), und ihr Bruder und einziger Verwandter war beruflich für seine Gesellschaft ständig unterwegs. »Das stimmt doch auch«, hatte Billy gesagt. »Ich gehe in Gesellschaft mit mir selbst auf Reisen - um die Gesellschaft mit den Untoten zu mei¬den.«
Lila öffnete den Karton. Ganz oben fand sie einen Beu¬tel mit drei perfekt gedrehten Joints und einem Zettel, auf dem stand: »Rauch sie und denk dabei an mich.« Darunter lag eine Ausgabe der Zeitschrift Highlights for Children, die Billy wahrscheinlich bei einem Arzt hatte mitgehen las¬sen. Auf Seite zwölf hatte er über den Comic geschrieben:
»Billy = Gallant, Lila = Goofus«. Das war ein alter Witz zwischen ihnen beiden. Lila, die stets die Regeln befolgte, war immer Gallant gewesen, und Billy, der Rebell, Goo¬fus. In dieser speziellen Folge des Comics hatte Gallant ein Geschenk, während Goofus mit leeren Händen dastand.
Eins zu null für dich, Bruderherz, dachte Lila und lä¬chelte.
Schließlich entdeckte sie unter Unmengen von Styro¬porkügelchen eine große Schuhschachtel, aus der er ein Diorama gebastelt hatte. Es war außerordentlich raffiniert und detailgetreu und hätte in der Schule bestimmt einen Preis bekommen, obwohl Lila und Billy in der Schule nie Dioramen gebaut hatten, zumindest nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Ihre Kindheitserinnerungen waren so lü¬ckenhaft, dass sie manchmal das Gefühl hatte, diese Jahre seien, noch während sie sie erlebte, schon aus ihrem Be¬wusstsein entschwunden. Und natürlich konnte sie immer Billy fragen, was damals wirklich passiert war. Er erinnerte sich an alles.
In der Schuhschachtel standen zwei Häuser aus Eisstie¬len vor einer bunten Landschaft mit blauem Himmel, lila¬farbenen Wolken und einer Sonne in Pink und Gelb. Vor den Häusern gab es winzige Briefkästen aus Zahnstochern mit ihren Namen darauf. Demnach gehörte das linke Haus Lila und das rechte Billy. In Lilas Haus standen ein Mann und eine Frau vor einer nicht ganz geglückten Wiege mit einem Baby - alles aus Ton. In Billys Haus saßen ein Mann und eine Frau auf dem Boden und rauchten einen riesigen Joint, aber in einem anderen Zimmer lag ebenfalls ein Baby, auf einer Matratze. Billys Haus war schmutziger und hatte nur wenige Möbel und einen Fußboden aus Stroh, aber es war immer noch ein Haus und, was noch wichtiger war, es stand neben Lilas. Sie hatten immer geplant, nebeneinander zu wohnen, wenn sie erst mal erwachsen wären. Denn welche Frau auch immer Billy heiratete, würde Lila natürlich auch lieben, genau wie jeder Mann, der Lila heiratete, Billy lieben würde. Wie konnte es anders sein?
Lila merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als sie die Nachricht sah, die Billy vor das Diorama geklebt hatte: »Keine Sorge, ich hab den Plot nicht verloren. Es wird sich nichts ändern.« Sie wusste, was der erste Satz bedeutete, denn Billy hatte ihn jahrelang gesagt, aber der zweite war einfach unverständlich. Noch seltsamer fand sie, dass die Nachricht so kurz war. Seit Billy einen Stift in der Hand halten konnte, hatte er lange Briefe geschrieben. Er war der geborene Schriftsteller. Schon als Kind hatte er Dutzende von Geschichten geschrieben, und auf seinem Amerikatrip wollte er einen Roman beginnen. Lila‹37 stellte sich gerne vor, wie er in schäbigen Hotels daran schrieb, während sie in ihren Literaturseminaren lernte, wie man Romane inter¬pretierte.
Erst ein paar Tage später erfuhr sie, was er ihr sagen wollte. Da rief er an, um sie zu seiner Hochzeit einzuladen. Er hatte eine Frau geschwängert. Sie hieß Ashley und war neunundzwanzig - acht Jahre älter als Lila und Billy. Sie arbeitete als Kellnerin in Los Lunas, New Mexico, und schrieb oder las zwar keine Romane, fand es aber angeblich »cool«, dass Billy schrieb. »Der Junge hat echt Phantasie«, sagte sie und lachte. Da saßen Lila und sie auf Barhockern und warteten darauf, mit Billy und einer von Ashleys Freundinnen zum Friedensrichter zu fahren. Lila bemühte sich, sie wegen dieses Lachens nicht zu hassen, aber von da an nannte sie Ashley im Stillen nur noch »Trashley«, ob¬wohl sie das niemandem erzählte, nicht mal Patrick.
Fünfzehn Jahre später hatte sie das Diorama vergessen - bis zu der Nacht, als sie Billy im Fernsehen sterben sah. Da erinnerte sie sich wieder daran, und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, weil sie nicht einmal mehr wusste, wo es war. Sie sagte zu Patrick, sie wolle am nächs¬ten Morgen als Erstes im Kellerverschlag ihres Wohnhau¬ses nach Billys Diorama suchen. Daraufhin drückte Pa¬trick ihre Hand noch fester. Sicher dachte er, sie habe einen Schock erlitten. Vielleicht stimmte das ja auch.
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Autoren-Porträt von Lisa Tucker
Lisa Tucker ist in Missouri aufgewachsen, war Sängerin in einer Jazzband und unterrichtete Mathematik, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in New Mexico.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Tucker
- 2011, 379 Seiten, Maße: 12,6 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Rahn, Marie
- Übersetzer: Marie Rahn
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548609937
- ISBN-13: 9783548609935
Rezension zu „Ich warte auf ein Wort von Dir “
»Spannend und ergreifend« HörZu
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