Ihr unschuldiges Herz
Mord in einem Weinberg! Bald stellt sich heraus: Die Tat gehört zu einer Serie, die schon seit 65 Jahren andauert! Alle 13 Jahre wird eine Frau aus der Familie Schneider ermordet. Die Wurzeln der Taten reichen zurück bis in Deutschlands dunkelste...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ihr unschuldiges Herz “
Mord in einem Weinberg! Bald stellt sich heraus: Die Tat gehört zu einer Serie, die schon seit 65 Jahren andauert! Alle 13 Jahre wird eine Frau aus der Familie Schneider ermordet. Die Wurzeln der Taten reichen zurück bis in Deutschlands dunkelste Zeit.
Für Fans von Nele Neuhaus!
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Klappentext zu „Ihr unschuldiges Herz “
Er mordet seit Jahrzehnten - und stets wird ein anderer an seiner Stelle verurteiltNach dem Mord an einer Kinderärztin hat die junge Staatsanwältin Inga Jäger schnell den Hauptverdächtigen im Visier, denn der Ehemann des Opfers wäre nach der geplanten Scheidung völlig mittellos gewesen. Doch dann kommen ihr Zweifel. Mit der Unterstützung des erfahrenen Kriminalhauptkommissars Kai Gebert bohrt sie tiefer, und gemeinsam enthüllen sie eine Mordserie, die sich bereits über 65 Jahre erstreckt. Da wird ihnen von höchster Stelle nahe gelegt, den Fall nicht weiter zu verfolgen - für Inga Jäger ein Grund, auf keinen Fall aufzugeben.
Der erste Fall von Staatsanwältin Inga Jäger und Kripohauptkommissar Kai Gebert.
Lese-Probe zu „Ihr unschuldiges Herz “
Ihr unschuldiges Herz von Richard HagenPROLOG
... mehr
Sieglinde Reichard spuckte Blut und kniete sich wie befohlen in den herbstkalten, mit welkem Weinlaub bedeckten Schlamm. Obwohl sie inzwischen ahnte, was geschehen würde, zuckte sie voller Panik zusammen, als es ganz dicht neben ihrem linken Ohr klickte. Das metallische Geräusch, das eine Pistole macht, wenn jemand anderes den Hahn spannt und dir die harte Mündung gegen die Schläfe drückt, besitzt eine ganz eigene Qualität. Es hat etwas Endgültiges, etwas Gnadenloses und Unabwendbares, und man weiß, dass man gleich sterben wird. Was aber denkt man in diesem einzigartigen Moment, in dem man das erkennt? Was geht einem vor der Kugel als Letztes durch den Kopf?
Man sagt weitläufig, entscheidende Szenen des Lebens zögen einem am inneren Auge vorbei, in dieser Sekunde, aus der der menschliche Geist eine Ewigkeit zu formen in der Lage ist - wie ein Film im Schnellvorlauf; vielleicht mit, vielleicht ohne Ton. Oder auch nur einzelne, blitzartig aufleuchtende Standbilder ... Schnappschüsse ... Momentaufnahmen - wie in einer hektischen, stroboskopartig präsentierten Diashow.
Sowohl die großen und kleinen Erfolge und Triumphe als auch alle Misserfolge und Niederlagen.
Momente berauschenden, unvergleichlichen Glücks und ganz besonderen Schmerzes. Erstere, weil man sie mit jemandem geteilt hat, Letztere, weil man sie mit niemandem teilen konnte.
Wägen religiöse Menschen in diesem endgültigen Augenblick ihre Sünden und Wohltaten gegeneinander ab, um schon vor der großen Reise herauszufinden, ob sie im Himmel endet oder in der Hölle? Ist das nicht sogar die Urdefinition von endgültig?
Andere jedoch sind der festen Überzeugung, dass es gar nicht unsere Erinnerungen sind, die sich im grausigen Angesicht des sicheren Todes vor unserem geistigen Auge abspulen, sondern vielmehr all unsere unerfüllten Träume und Ziele - all die Dinge, die wir trotz größter Sehnsucht und selbst nach härtesten Kämpfen nie erreicht haben oder die zu erledigen wir einfach noch keine Gelegenheit fanden.
Die Wahrheit ist, und das wusste Sieglinde Reichard jetzt, da sie, verloren in dunkler Nacht, mit zittrigen Beinen im Matsch kniete: Nichts davon stimmt. Auch wenn du weißt, dass du gleich sterben wirst, glaubst du es nicht. Du denkst, dass das alles nur ein schrecklicher Irrtum ist, dass Menschen unmöglich wirklich so böse sein können und dass ganz bestimmt gleich irgendein Wunder geschieht, das dich retten wird. Oder dass du jeden Augenblick schweißgebadet von der Matratze deines eigenen warmen Bettes aufschreckst und mit einem erleichterten Aufatmen feststellst: Das alles war nur ein böser Traum.
Aber realistischer als in jedem noch so erschreckenden Albtraum, den sie in ihrem bisherigen Leben durchlitten hatte, klebte ihr der leichte Nieselregen das Haar ins Gesicht und die Bluse an den im Nachtwind fröstelnden Leib. Sie kniete zwischen zwei talwärts laufenden Weinbergzeilen mit Blick auf den vom vollen Mond beschienenen Rhein, aber ihre tränenverquollenen Augen nahmen die idyllische Schönheit nicht wahr. Sie versuchten, die Namen zu entziffern, die auf dem nassen Blatt standen, das ihr in die Hand gedrückt worden war.
»Lies vor! « Der raue Befehlston ließ sie noch einmal zusammenzucken.
»Bitte... «, flehte sie.
Doch als Antwort auf ihr Flehen wurde ihr nur die Mündung der Waffe fester gegen die Schläfe gepresst. »Lies endlich vor!«
Von Erbach und Eltville herauf erklang das regengedämpfte Schlagen der Kirchturmuhren.
Es war Mitternacht.
Sieglinde Reichard überlegte, ob sie sich wehren oder fliehen sollte, doch beides hatte sie schon versucht, und jetzt fehlten ihr zwei Backenzähne, und mindestens drei ihrer Rippen waren gebrochen, wenn nicht gar gesplittert. Das Atmen schmerzte höllisch, und es tat auch mörderisch weh, wenn sie Blut ausspuckte, aber es sammelte sich in ihrem Mund, und sie wollte es nicht schlucken.
»Jetzt!« Seine Stimme kippte vor Ungeduld, und er schlug ihr mit dem Lauf auf den Hinterkopf.
Sieglinde riss sich zusammen und begann, mit zittriger Stimme zu lesen. Es waren männliche und weibliche Namen - allesamt deutsch. Viele von ihnen hatten einen altmodischen Klang, wie etwa Joseph, Magda und Philomena. Keiner dieser Namen sagte ihr etwas. Sie kannte die Menschen nicht, denen sie gehörten, und sie wusste auch nicht, warum sie gezwungen wurde, sie vorzulesen. Aber sie fürchtete zu wissen, was geschehen würde, sobald sie den letzten der Namen über ihre zitternden, blutverschmierten Lippen gebracht hatte. Deshalb, wie um das Unvermeidliche zu vermeiden und in vollem Bewusstsein der Absurdität dieser Sehnsucht, las sie so langsam, wie sie nur konnte.
»Schneller!«, brüllte der Mann.
»I-ich kann nicht... «, stieß sie unter Schluchzen hervor und wollte den Erbarmen heischenden Blick hin zu ihm wenden, damit er die Wahrheit ihrer Worte, ihre nackte Angst sehen konnte und das verzweifelte Bekenntnis, alles, alles, alles zu tun, was er wollte, wenn er sie danach nur leben und nach Hause gehen lassen würde, in ihren Augen lesen konnte.
Doch ehe sie das tun konnte, schoss er ganz dicht bei ihrem Kopf in die Luft, und ihr linkes Trommelfell platzte. Sie schrie auf vor Schmerz, und er drückte ihr die von dem Schuss heiße Mündung gegen die Wange. Sie hörte das feuchte Zischen und roch ihr eigenes angesengtes Fleisch.
»Los jetzt! Es ist nur noch ein einziger Name!«, schrie er. »Und es ist der, der wirklich zählt. Also lies ihn laut und deutlich und erweise ihm gefälligst den Respekt, der ihm gebührt. Denn nur dann töte ich dich schnell statt langsam und qualvoll, wie du und die deinen es eigentlich verdient hätten.«
Sieglinde Reichard hatte absolut keine Ahnung, wovon er sprach, nicht die blasseste, doch sie hatte furchtbare Angst davor, noch weiter gequält zu werden. Deshalb und in der dünnen Hoffnung, dass sie danach vielleicht doch aus diesem Traum hochschrecken würde, las sie die beiden Worte, den letzten Namen, so laut und so deutlich, wie sie mit ihrem geschwollenen Kiefer konnte.
Nachdem das geschehen war, nahm er ihr den zerknitterten Zettel aus der zitternden Hand und stellte sich hinter sie.
»Und wie es geschrieben steht im dritten Buche Mose, Kapitel 24, die Verse 19 und 20«, intonierte er feierlich: »Wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, ganz so wie er getan hat: Schaden für Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn!«
Der einsame Schuss hallte durch die Weinberge und die Stille, die darüber lag, und Sieglinde Reichard kippte vornüber in den Matsch. Ihre blauen Augen waren überrascht geweitet und brachen binnen Sekunden, während Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse vom Regen weggespült wurden.
Sie spürte nicht mehr, dass ihr Mörder sie herumdrehte, ihr die schlammverdreckte Bluse aufriss und ihr mit einem sechzehn Zoll langen Hirschfänger den Brustkorb aufbrach, um ihr anschließend das Herz herauszuschneiden. Zum Reißen waren die Arterien zu zäh.
Was in ihren Beinen, Fingern und Lippen noch zuckte, waren nur die Nerven.
So sagt man zumindest.
1
Die Weinberge über Eltville am Rhein.
Sechs Uhr dreißig morgens. Hoch oben im Herbstwind über den Dämmerhimmel jagende Wolken. Die Luft feucht und kalt. Die Sonne klebte noch müde am nebligen Horizont, und über drei Dutzend Krähen zogen aufgebracht schreiend ihre niedrigen Kreise über den Wingertszeilen.
Ungewöhnlich viele Krähen, dachte Claus-Josef Froh-mann und quälte den vier Tonnen schweren Traubenvollernter unter dieseligem Röhren den steilen Hang des Eichbergs hinauf. Vier Jahre lebenszeitfressendes Studium im Fachbereich Weinbau und Kellerwirtschaft an der Fachhochschule Geisenheim hatte er hinter sich und einen Abschluss als Diplom-Ingenieur, und in seinem jugendlichen Enthusiasmus war er sich damals sicher gewesen, im Alter von fünfunddreißig sein eigenes, großes und international bekanntes Weingut zu besitzen und neue, einzigartige und hoch prämierte Riesling-Weine zu kreieren, die auf der Welt vergeblich ihresgleichen suchten. Doch die wirtschaftliche Lage hatte sich alles andere als zum Besten entwickelt, und dann waren im Vereinigten Europa die Zölle für Spitzenweine aus Frankreich, Italien und Spanien weggefallen, die jetzt zu Niedrigpreisen in jedem Supermarktregal zu finden waren. So hatte es Frohmann dann doch nicht weiter geschafft als bis zum Feldarbeiter und Maschinenführer bei den Hessischen Staatsweingütern in Eltville am Rhein. Sicher, er konnte noch froh sein, überhaupt einen Job zu haben, aber niemand konnte ihn dazu zwingen, den auch noch zu lieben oder gar stolz darauf zu sein.
Träume platzen nicht - sie werden zerfetzt und in Stücke gerissen ... und es bleibt immer gerade so viel von ihnen übrig, dass man ihren gallebitteren Geschmack ein Leben lang auf der Zunge hat.
Als Claus-Josef Frohmann jung war, hatte man die Weintrauben noch mit den Händen geerntet. Wie all die Jahrhunderte zuvor. Zwanzig gut gelaunte und hart arbeitende Erntehelfer mit Bottichen, die fünfzehn bis zwanzig Liter fassen konnten, stets scharf gehaltenen Traubenscheren zum Abschneiden der Stiele und schlammbeschwerte Gummistiefel, in denen man immer kalte Füße bekam, ganz egal, wie viele Socken man darunter anzog. Zwei Buttenträger, die die Zeilen mit schweren Schritten abstapften, um den Inhalt der vollen Bottiche in den Butten, die sie auf ihren breiten Rücken trugen, einzusammeln, und zwei kurze, aber gesellige Pausen am Tag mit Glühwein, Trestern- oder Hefeschnaps und über dem mitgebrachten gusseisernen Stövchen gekochte Erbsensuppe mit geräucherten Speckwürfelchen und frischen Frankfurter Knackern.
Doch seit der Erfindung des verdammten Traubenvollernters gehörte all das inzwischen längst der Vergangenheit an - die ganze Romantik war beim Teufel und damit auch der Wein als Produkt zu einem leblosen Industriegut degeneriert; wie Bier aus einer Großbrauerei, das einfach nicht mehr besonders schmeckte und das Claus-Josef Frohmann nur noch wegen seiner Wirkung trank.
Der Traubenvollernter war im Grunde genommen ein riesiges, über dreieinhalb Meter hohes und auf den Kopf gestelltes U auf vier dicken Traktorrädern, mit dem man die einzelnen Zeilen entlangfuhr. In den beiden senkrechten Streben waren gepolsterte Stäbe angebracht, die gegen die Zeilen schlugen und damit die Beeren von Stielen und Stängeln lösten, sodass sie auf die zwei Förderbänder links und rechts fielen. Die beförderten die Trauben dann nach hinten in den Tank, der bis zu tausend Liter fassen konnte und, wenn er voll war, ausgetauscht wurde.
Frohmann, der ganz oben in einer Kabine auf dem U saß und nicht sehen konnte, was genau vor ihm lag, würde den Weinberg, für den früher zwanzig Leser einen ganzen Tag gebraucht hätten, in etwa einer Stunde abgeerntet haben.
Er kam am oberen Ende der ersten Zeile an und wendete das schwerfällige Gefährt auf dem asphaltierten Weg über die nächste Zeile, die er jetzt von oben nach unten abernten würde. Der Blick ins Tal war selbst noch nach all den Jahren ein atemberaubender. Unter ihm lagen auf seiner Seite des in der aufgehenden Sonne jetzt allmählich golden zu glitzern beginnenden Rheins Erbach und Hattenheim, links davon, im Osten, Eltville mit seiner durch die Burg unverwechselbaren Kulisse. Noch weiter links dann Wiesbaden und Mainz. Im Rhein selbst die lang gestreckte Mariannenaue und die Eltviller Aue und jenseits davon, auf der Pfälzer Seite, der Ähbsch Seid, wie man hierzulande sagte, Heidesheim und Mainz-Gonsenheim.
Die Sensoren des Ernters fanden den Anfang der Zeile, Frohmann justierte die Maschine, legte den niedrigsten Gang ein, um das Maschinengetriebe die steile Abfahrt bremsen zu lassen, und fuhr los. Der neben seiner Kabine nach oben führende Auspuff röhrte dabei so laut, dass auch seine Ohrenschützer kaum noch halfen und er von der Musik, die in den Kopfhörern lief, nicht viel hörte.
Plötzlich ruckte die Maschine und hielt an.
Vermutlich ein vom gestrigen Regen zusammengepappter Lehmbrocken. Frohmann aktivierte das Differential und gab Gas. Der Motor heulte noch lauter auf, und einer der großen Reifen drehte mahlend durch. Es war der vorne links. Die anderen drei übernahmen die Arbeit, brachten die Maschine ein Stück weiter nach vorn, und dann griff auch der, der ausgesetzt hatte, endlich wieder.
Zu seiner großen Verwunderung spürte Frohmann, wie die hohe Maschine in der Vorwärtsbewegung leicht ins Wanken geriet. Das passierte bei einem Gerät dieses Gewichtes eigentlich nur, wenn sie über einen Felsen fuhr - und Felsen gab es hier in den Weinbergen keine, dessen war er, nach all den Jahren, die er jetzt hier arbeitete, vollkommen sicher. Und ein Lehmbrocken wäre, so nass, wie es heute war, unter dem Gewicht des Vollernters zerquetscht worden, ohne ihn zum Wackeln zu bringen.
Frohmann zog eilig die Bremsen an und öffnete die Fahrerkabine. Er wollte nicht riskieren, auch noch mit dem Hinterrad darüberzufahren, ohne sich vorher vergewissert zu haben, was es war. Der Vollernter wog zwar Tonnen, hatte aber einen so hohen Schwerpunkt, dass die Gefahr, dass er bei zu großer Verlagerung der Balance umstürzte, nicht zu unterschätzen war.
Er kletterte die Leiter nach unten und sprang zu Boden. Sein eigenes Gewicht ließ die Sohlen seiner grünen Gummistiefel tief in die noch feuchte Erde einsinken.
Zuerst sah er unter den Weinblättern, die der Herbst und der Vollernter von den Reben gerissen hatten, nur bräunlich roten Lehm, der nasser war, als er eigentlich sein durfte, da es schon vor Stunden zu regnen aufgehört hatte. Dann bemerkte er ein Stück Stoff wie von einer Bluse - rot getränkt. Schließlich erkannte er ein weiteres Detail dessen, was er da gerade mit dem riesigen Reifen seiner tonnenschweren Maschine überfahren hatte ...
... und musste ohne jede Vorwarnung kotzen.
...
Originalausgabe Oktober 2012 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Sieglinde Reichard spuckte Blut und kniete sich wie befohlen in den herbstkalten, mit welkem Weinlaub bedeckten Schlamm. Obwohl sie inzwischen ahnte, was geschehen würde, zuckte sie voller Panik zusammen, als es ganz dicht neben ihrem linken Ohr klickte. Das metallische Geräusch, das eine Pistole macht, wenn jemand anderes den Hahn spannt und dir die harte Mündung gegen die Schläfe drückt, besitzt eine ganz eigene Qualität. Es hat etwas Endgültiges, etwas Gnadenloses und Unabwendbares, und man weiß, dass man gleich sterben wird. Was aber denkt man in diesem einzigartigen Moment, in dem man das erkennt? Was geht einem vor der Kugel als Letztes durch den Kopf?
Man sagt weitläufig, entscheidende Szenen des Lebens zögen einem am inneren Auge vorbei, in dieser Sekunde, aus der der menschliche Geist eine Ewigkeit zu formen in der Lage ist - wie ein Film im Schnellvorlauf; vielleicht mit, vielleicht ohne Ton. Oder auch nur einzelne, blitzartig aufleuchtende Standbilder ... Schnappschüsse ... Momentaufnahmen - wie in einer hektischen, stroboskopartig präsentierten Diashow.
Sowohl die großen und kleinen Erfolge und Triumphe als auch alle Misserfolge und Niederlagen.
Momente berauschenden, unvergleichlichen Glücks und ganz besonderen Schmerzes. Erstere, weil man sie mit jemandem geteilt hat, Letztere, weil man sie mit niemandem teilen konnte.
Wägen religiöse Menschen in diesem endgültigen Augenblick ihre Sünden und Wohltaten gegeneinander ab, um schon vor der großen Reise herauszufinden, ob sie im Himmel endet oder in der Hölle? Ist das nicht sogar die Urdefinition von endgültig?
Andere jedoch sind der festen Überzeugung, dass es gar nicht unsere Erinnerungen sind, die sich im grausigen Angesicht des sicheren Todes vor unserem geistigen Auge abspulen, sondern vielmehr all unsere unerfüllten Träume und Ziele - all die Dinge, die wir trotz größter Sehnsucht und selbst nach härtesten Kämpfen nie erreicht haben oder die zu erledigen wir einfach noch keine Gelegenheit fanden.
Die Wahrheit ist, und das wusste Sieglinde Reichard jetzt, da sie, verloren in dunkler Nacht, mit zittrigen Beinen im Matsch kniete: Nichts davon stimmt. Auch wenn du weißt, dass du gleich sterben wirst, glaubst du es nicht. Du denkst, dass das alles nur ein schrecklicher Irrtum ist, dass Menschen unmöglich wirklich so böse sein können und dass ganz bestimmt gleich irgendein Wunder geschieht, das dich retten wird. Oder dass du jeden Augenblick schweißgebadet von der Matratze deines eigenen warmen Bettes aufschreckst und mit einem erleichterten Aufatmen feststellst: Das alles war nur ein böser Traum.
Aber realistischer als in jedem noch so erschreckenden Albtraum, den sie in ihrem bisherigen Leben durchlitten hatte, klebte ihr der leichte Nieselregen das Haar ins Gesicht und die Bluse an den im Nachtwind fröstelnden Leib. Sie kniete zwischen zwei talwärts laufenden Weinbergzeilen mit Blick auf den vom vollen Mond beschienenen Rhein, aber ihre tränenverquollenen Augen nahmen die idyllische Schönheit nicht wahr. Sie versuchten, die Namen zu entziffern, die auf dem nassen Blatt standen, das ihr in die Hand gedrückt worden war.
»Lies vor! « Der raue Befehlston ließ sie noch einmal zusammenzucken.
»Bitte... «, flehte sie.
Doch als Antwort auf ihr Flehen wurde ihr nur die Mündung der Waffe fester gegen die Schläfe gepresst. »Lies endlich vor!«
Von Erbach und Eltville herauf erklang das regengedämpfte Schlagen der Kirchturmuhren.
Es war Mitternacht.
Sieglinde Reichard überlegte, ob sie sich wehren oder fliehen sollte, doch beides hatte sie schon versucht, und jetzt fehlten ihr zwei Backenzähne, und mindestens drei ihrer Rippen waren gebrochen, wenn nicht gar gesplittert. Das Atmen schmerzte höllisch, und es tat auch mörderisch weh, wenn sie Blut ausspuckte, aber es sammelte sich in ihrem Mund, und sie wollte es nicht schlucken.
»Jetzt!« Seine Stimme kippte vor Ungeduld, und er schlug ihr mit dem Lauf auf den Hinterkopf.
Sieglinde riss sich zusammen und begann, mit zittriger Stimme zu lesen. Es waren männliche und weibliche Namen - allesamt deutsch. Viele von ihnen hatten einen altmodischen Klang, wie etwa Joseph, Magda und Philomena. Keiner dieser Namen sagte ihr etwas. Sie kannte die Menschen nicht, denen sie gehörten, und sie wusste auch nicht, warum sie gezwungen wurde, sie vorzulesen. Aber sie fürchtete zu wissen, was geschehen würde, sobald sie den letzten der Namen über ihre zitternden, blutverschmierten Lippen gebracht hatte. Deshalb, wie um das Unvermeidliche zu vermeiden und in vollem Bewusstsein der Absurdität dieser Sehnsucht, las sie so langsam, wie sie nur konnte.
»Schneller!«, brüllte der Mann.
»I-ich kann nicht... «, stieß sie unter Schluchzen hervor und wollte den Erbarmen heischenden Blick hin zu ihm wenden, damit er die Wahrheit ihrer Worte, ihre nackte Angst sehen konnte und das verzweifelte Bekenntnis, alles, alles, alles zu tun, was er wollte, wenn er sie danach nur leben und nach Hause gehen lassen würde, in ihren Augen lesen konnte.
Doch ehe sie das tun konnte, schoss er ganz dicht bei ihrem Kopf in die Luft, und ihr linkes Trommelfell platzte. Sie schrie auf vor Schmerz, und er drückte ihr die von dem Schuss heiße Mündung gegen die Wange. Sie hörte das feuchte Zischen und roch ihr eigenes angesengtes Fleisch.
»Los jetzt! Es ist nur noch ein einziger Name!«, schrie er. »Und es ist der, der wirklich zählt. Also lies ihn laut und deutlich und erweise ihm gefälligst den Respekt, der ihm gebührt. Denn nur dann töte ich dich schnell statt langsam und qualvoll, wie du und die deinen es eigentlich verdient hätten.«
Sieglinde Reichard hatte absolut keine Ahnung, wovon er sprach, nicht die blasseste, doch sie hatte furchtbare Angst davor, noch weiter gequält zu werden. Deshalb und in der dünnen Hoffnung, dass sie danach vielleicht doch aus diesem Traum hochschrecken würde, las sie die beiden Worte, den letzten Namen, so laut und so deutlich, wie sie mit ihrem geschwollenen Kiefer konnte.
Nachdem das geschehen war, nahm er ihr den zerknitterten Zettel aus der zitternden Hand und stellte sich hinter sie.
»Und wie es geschrieben steht im dritten Buche Mose, Kapitel 24, die Verse 19 und 20«, intonierte er feierlich: »Wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, ganz so wie er getan hat: Schaden für Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn!«
Der einsame Schuss hallte durch die Weinberge und die Stille, die darüber lag, und Sieglinde Reichard kippte vornüber in den Matsch. Ihre blauen Augen waren überrascht geweitet und brachen binnen Sekunden, während Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse vom Regen weggespült wurden.
Sie spürte nicht mehr, dass ihr Mörder sie herumdrehte, ihr die schlammverdreckte Bluse aufriss und ihr mit einem sechzehn Zoll langen Hirschfänger den Brustkorb aufbrach, um ihr anschließend das Herz herauszuschneiden. Zum Reißen waren die Arterien zu zäh.
Was in ihren Beinen, Fingern und Lippen noch zuckte, waren nur die Nerven.
So sagt man zumindest.
1
Die Weinberge über Eltville am Rhein.
Sechs Uhr dreißig morgens. Hoch oben im Herbstwind über den Dämmerhimmel jagende Wolken. Die Luft feucht und kalt. Die Sonne klebte noch müde am nebligen Horizont, und über drei Dutzend Krähen zogen aufgebracht schreiend ihre niedrigen Kreise über den Wingertszeilen.
Ungewöhnlich viele Krähen, dachte Claus-Josef Froh-mann und quälte den vier Tonnen schweren Traubenvollernter unter dieseligem Röhren den steilen Hang des Eichbergs hinauf. Vier Jahre lebenszeitfressendes Studium im Fachbereich Weinbau und Kellerwirtschaft an der Fachhochschule Geisenheim hatte er hinter sich und einen Abschluss als Diplom-Ingenieur, und in seinem jugendlichen Enthusiasmus war er sich damals sicher gewesen, im Alter von fünfunddreißig sein eigenes, großes und international bekanntes Weingut zu besitzen und neue, einzigartige und hoch prämierte Riesling-Weine zu kreieren, die auf der Welt vergeblich ihresgleichen suchten. Doch die wirtschaftliche Lage hatte sich alles andere als zum Besten entwickelt, und dann waren im Vereinigten Europa die Zölle für Spitzenweine aus Frankreich, Italien und Spanien weggefallen, die jetzt zu Niedrigpreisen in jedem Supermarktregal zu finden waren. So hatte es Frohmann dann doch nicht weiter geschafft als bis zum Feldarbeiter und Maschinenführer bei den Hessischen Staatsweingütern in Eltville am Rhein. Sicher, er konnte noch froh sein, überhaupt einen Job zu haben, aber niemand konnte ihn dazu zwingen, den auch noch zu lieben oder gar stolz darauf zu sein.
Träume platzen nicht - sie werden zerfetzt und in Stücke gerissen ... und es bleibt immer gerade so viel von ihnen übrig, dass man ihren gallebitteren Geschmack ein Leben lang auf der Zunge hat.
Als Claus-Josef Frohmann jung war, hatte man die Weintrauben noch mit den Händen geerntet. Wie all die Jahrhunderte zuvor. Zwanzig gut gelaunte und hart arbeitende Erntehelfer mit Bottichen, die fünfzehn bis zwanzig Liter fassen konnten, stets scharf gehaltenen Traubenscheren zum Abschneiden der Stiele und schlammbeschwerte Gummistiefel, in denen man immer kalte Füße bekam, ganz egal, wie viele Socken man darunter anzog. Zwei Buttenträger, die die Zeilen mit schweren Schritten abstapften, um den Inhalt der vollen Bottiche in den Butten, die sie auf ihren breiten Rücken trugen, einzusammeln, und zwei kurze, aber gesellige Pausen am Tag mit Glühwein, Trestern- oder Hefeschnaps und über dem mitgebrachten gusseisernen Stövchen gekochte Erbsensuppe mit geräucherten Speckwürfelchen und frischen Frankfurter Knackern.
Doch seit der Erfindung des verdammten Traubenvollernters gehörte all das inzwischen längst der Vergangenheit an - die ganze Romantik war beim Teufel und damit auch der Wein als Produkt zu einem leblosen Industriegut degeneriert; wie Bier aus einer Großbrauerei, das einfach nicht mehr besonders schmeckte und das Claus-Josef Frohmann nur noch wegen seiner Wirkung trank.
Der Traubenvollernter war im Grunde genommen ein riesiges, über dreieinhalb Meter hohes und auf den Kopf gestelltes U auf vier dicken Traktorrädern, mit dem man die einzelnen Zeilen entlangfuhr. In den beiden senkrechten Streben waren gepolsterte Stäbe angebracht, die gegen die Zeilen schlugen und damit die Beeren von Stielen und Stängeln lösten, sodass sie auf die zwei Förderbänder links und rechts fielen. Die beförderten die Trauben dann nach hinten in den Tank, der bis zu tausend Liter fassen konnte und, wenn er voll war, ausgetauscht wurde.
Frohmann, der ganz oben in einer Kabine auf dem U saß und nicht sehen konnte, was genau vor ihm lag, würde den Weinberg, für den früher zwanzig Leser einen ganzen Tag gebraucht hätten, in etwa einer Stunde abgeerntet haben.
Er kam am oberen Ende der ersten Zeile an und wendete das schwerfällige Gefährt auf dem asphaltierten Weg über die nächste Zeile, die er jetzt von oben nach unten abernten würde. Der Blick ins Tal war selbst noch nach all den Jahren ein atemberaubender. Unter ihm lagen auf seiner Seite des in der aufgehenden Sonne jetzt allmählich golden zu glitzern beginnenden Rheins Erbach und Hattenheim, links davon, im Osten, Eltville mit seiner durch die Burg unverwechselbaren Kulisse. Noch weiter links dann Wiesbaden und Mainz. Im Rhein selbst die lang gestreckte Mariannenaue und die Eltviller Aue und jenseits davon, auf der Pfälzer Seite, der Ähbsch Seid, wie man hierzulande sagte, Heidesheim und Mainz-Gonsenheim.
Die Sensoren des Ernters fanden den Anfang der Zeile, Frohmann justierte die Maschine, legte den niedrigsten Gang ein, um das Maschinengetriebe die steile Abfahrt bremsen zu lassen, und fuhr los. Der neben seiner Kabine nach oben führende Auspuff röhrte dabei so laut, dass auch seine Ohrenschützer kaum noch halfen und er von der Musik, die in den Kopfhörern lief, nicht viel hörte.
Plötzlich ruckte die Maschine und hielt an.
Vermutlich ein vom gestrigen Regen zusammengepappter Lehmbrocken. Frohmann aktivierte das Differential und gab Gas. Der Motor heulte noch lauter auf, und einer der großen Reifen drehte mahlend durch. Es war der vorne links. Die anderen drei übernahmen die Arbeit, brachten die Maschine ein Stück weiter nach vorn, und dann griff auch der, der ausgesetzt hatte, endlich wieder.
Zu seiner großen Verwunderung spürte Frohmann, wie die hohe Maschine in der Vorwärtsbewegung leicht ins Wanken geriet. Das passierte bei einem Gerät dieses Gewichtes eigentlich nur, wenn sie über einen Felsen fuhr - und Felsen gab es hier in den Weinbergen keine, dessen war er, nach all den Jahren, die er jetzt hier arbeitete, vollkommen sicher. Und ein Lehmbrocken wäre, so nass, wie es heute war, unter dem Gewicht des Vollernters zerquetscht worden, ohne ihn zum Wackeln zu bringen.
Frohmann zog eilig die Bremsen an und öffnete die Fahrerkabine. Er wollte nicht riskieren, auch noch mit dem Hinterrad darüberzufahren, ohne sich vorher vergewissert zu haben, was es war. Der Vollernter wog zwar Tonnen, hatte aber einen so hohen Schwerpunkt, dass die Gefahr, dass er bei zu großer Verlagerung der Balance umstürzte, nicht zu unterschätzen war.
Er kletterte die Leiter nach unten und sprang zu Boden. Sein eigenes Gewicht ließ die Sohlen seiner grünen Gummistiefel tief in die noch feuchte Erde einsinken.
Zuerst sah er unter den Weinblättern, die der Herbst und der Vollernter von den Reben gerissen hatten, nur bräunlich roten Lehm, der nasser war, als er eigentlich sein durfte, da es schon vor Stunden zu regnen aufgehört hatte. Dann bemerkte er ein Stück Stoff wie von einer Bluse - rot getränkt. Schließlich erkannte er ein weiteres Detail dessen, was er da gerade mit dem riesigen Reifen seiner tonnenschweren Maschine überfahren hatte ...
... und musste ohne jede Vorwarnung kotzen.
...
Originalausgabe Oktober 2012 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Richard Hagen
Richard Hagen stammt aus dem Rheingau und lebt jetzt in der Nähe von Berlin. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben und wurde zu einem erfolgreichen Drehbuchautor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Hagen
- 2012, 445 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377870
- ISBN-13: 9783442377879
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