Im hellen Licht des Todes
Kriminalroman. Deutsche Erstausgabe
'Aix-en-Provence, 1885. An einem heißen Augusttag wird eine junge Frau tot in einem Steinbruch gefunden. Der unerfahrene Richter Bernard Martin ermittelt, so gut er kann. Auch der Maler Paul Cézanne gerät in Verdacht, denn er hat vor Jahren einen Mord...
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Produktinformationen zu „Im hellen Licht des Todes “
'Aix-en-Provence, 1885. An einem heißen Augusttag wird eine junge Frau tot in einem Steinbruch gefunden. Der unerfahrene Richter Bernard Martin ermittelt, so gut er kann. Auch der Maler Paul Cézanne gerät in Verdacht, denn er hat vor Jahren einen Mord gemalt an einer Frau, die der Toten zum Verwechseln ähnlich sieht. Um ihn zu überführen, braucht Martin allerdings einen handfesten Beweis. Vor dem gut recherchierten Hintergrund von Cézannes Leben entfaltet sich ein packender historischer Kriminalroman.
Lese-Probe zu „Im hellen Licht des Todes “
Im hellen Licht des Todes von Barbara Pope LESEPROBE 1 Albert Franc kam wegen der toten Frau im Steinbruch zu ihm, denn sonst gab es niemanden im Palais de Justice, dem der Inspektor den Leichenfund hätte melden können. Der Gerichtshof war während der Sommerpause geschlossen. Für gewöhnlich
ereignete sich in den letzten beiden Augustwochen nie etwas Wichtiges, und die Richter waren alle aufs Land gefahren. Die Verwaltung von Recht und Ordnung hatten sie Bernard Martin überlassen, einem jungen Kollegen mit wenig Erfahrung, der keine Familie oder sonstige Beziehungen im Süden Frankreichs besaß.
Martin las gerade in einem Buch, als jemand laut an die Tür seines Dachzimmers hämmerte. Erschrocken markierte er die Seite in Zolas neuem Roman und legte das Buch auf das Regal über seinem Bett. Germinal und Darwins Die Entstehung der Arten schob er nach hinten an die Wand und vergewisserte sich, dass die schwarze, in Leder gebundene Bibel – ein Geschenk seiner Mutter – sie verdeckte. Er wusste nicht genau, wer an der Tür war. Doch in diesen Zeiten, in dieser Stadt, war es ratsam, seine radikalen politischen Ansichten geheim zu halten. Er schob die Briefe von zu Hause auf die eine Seite des Tisches, das trockene Brot und den harten Käse, die Überreste seines einsamen Abendbrots, zur anderen.
»Monsieur Martin. Monsieur le juge!«, rief eine ungeduldige Stimme draußen im Gang.
... mehr
Mit drei Schritten war Martin bei der Tür und öffnete sie. »Bitte entschuldigen Sie, ich war in ein Buch vertieft –«»Dem Himmel sei Dank! Sie sind hier.«
Martin war nicht gerade erfreut über den Anblick des schwer atmenden Albert Franc. Der Veteran unter den Inspektoren von Aix war nicht sehr groß, doch er war breit und kräftig gebaut; der Mann war bekannt für seine Härte und für seine manchmal recht freie Auslegung der Strafprozessordnung. Sein massiger Körper füllte den niedrigen Torbogen aus. Martin trat beiseite und deutete auf den hölzernen Stuhl am Tisch.
»Ich danke Ihnen.« Franc ließ sich stöhnend nieder und wedelte sich mit der Mütze Luft zu. »Ein Glas Wasser?«
Der Tonkrug stand auf dem Waschstand neben Martins Kleiderschrank, er füllte ein Glas und reichte es Franc, der das Wasser hinunterstürzte und sich dann sofort wieder Luft zufächelte. Bevor Martin eine Frage stellen konnte, begann der Inspektor noch ganz außer Atem den Grund für sein Kommen zu erklären. »Verzeihen Sie, mein Herr, dass ich Sie störe. Aber ich muss es Ihnen doch melden. Im Steinbruch. Da ist eine tote Frau. Ermordet, würde ich meinen. Der Proc ist nicht in der Stadt«, sagte Franc, wobei er den am Palais de Justice gebräuchlichen Ausdruck für den Staatsanwalt verwendete, »und deshalb brauche ich Sie. Sie müssen mich zum Steinbruch begleiten.«
»Eine tote Frau, hier in Aix?« Martin ließ sich auf dem Bett nieder. »Sind Sie sicher?«
»Gerade war ein Junge mit seinem Vater auf der Wache und hat berichtet, was er gesehen hat. Sie liegt im alten Steinbruch. Er meint, es handelt sich um eine Bürgerliche.«
»Und Sie sind sich sicher, dass uns hier kein Dummejungenstreich gespielt wird? Oder ein Missverständnis vorliegt?«
»Nein, nein. Sie kennen mich doch, Herr, es ist meine Stärke. Das Verhör, meine ich.«
Martin kannte Francs Verhöre wirklich zur Genüge. Häufig erschienen Gefangene des Inspektors vollkommen verängstigt und mit Blutergüssen in seinen Räumen. »Weichklopfen« nannte Franc seine Methoden.
»Ich habe mich etwa eine Stunde mit ihm unterhalten«, fuhr Franc fort. »Er sagt die Wahrheit, davon bin ich überzeugt. Er meint, er hat Blut gesehen. Und er konnte sogar das Kleid beschreiben, das die Frau trug. Weiß, mit grünen Streifen. Von bessrer Qualität als die Kleider seiner Mutter.«
Eine vage Erinnerung ging Martin durch den Kopf, doch er konnte sie nicht einordnen. »Ist es weit bis zum Steinbruch?«
»Nein, Monsieur, er liegt in der Nähe der Bibémusstraße, knapp eine Wegstunde entfernt. Deshalb bin ich ja hier. Ich dachte, wir beide sollten uns aufmachen und so schnell wie möglich einen Blick auf die Leiche werfen. Besonders, wenn man die Hitze und die Cholera und alles bedenkt …«
»Ja, ja.« Martin bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, als er sich erhob und zum Schrank trat. Was ihn auch in diesem Steinbruch erwartete, er würde sich hüten, Anzeichen von Schwäche zu zeigen, schon gar nicht vor diesem Mann, der dafür bekannt war, dass er nur allzu gerne Gerüchte im Palais verbreitete. »Wie viele von Ihren Männern haben Sie mitgebracht?«
»Die meisten feiern immer noch das Fest der Heiligen Jungfrau, Monsieur.«
Martin wandte sich rasch um. »Aber Mariä Himmelfahrt war doch schon vor drei Tagen.«
Franc zuckte mit den Schultern. »Es sind brave Burschen, und es ist mitten im August.«
Wahrlich brave Burschen! Franc hielt sich gerne im Gefängnis auf bei den Uniformierten, die dort Dienst taten. Gott allein wusste, was er dort trieb. Wahrscheinlich machte er sich lustig über den Standesdünkel von Richtern, so wie Martin einer war. Als er den Gehrock und den Hut hervorholte – die angemessene Bekleidung für derlei offizielle Anlässe –, hob Franc die Hand, offenbar, um ihn davon abzuhalten, den Gehrock überzustreifen.
»Nein, Monsieur, das sollten Sie heute nicht tragen. Zu heiß. Und wer weiß, wie lange wir dort draußen herumklettern müssen.«
»Richtig«, murmelte Martin, »Sie haben recht.« Ein Zylinder bei dieser Hitze – da zeigte sich der richterliche Dünkel. Er griff nach der Jacke und seiner Mütze aus Studententagen und wandte sich zu Franc, der seine Unterkunft kritisch beäugte.
»Gehen wir«, sagte Martin und zog die Fensterläden zu, wobei er sich bemühte, die gesamte Autorität seines Amtes in die Stimme zu legen.
Als sie auf dem Kutschbock Platz genommen hatten, knallte Franc mit der Peitsche, worauf sich das Tier in Richtung der großen Kirche in Bewegung setzte. Dort hatte die Prozession zu Ehren der Himmelfahrt der Heiligen Jungfrau begonnen und war dann weiter durch die Straßen von Aix gezogen. Nun, drei Tage später, waren von den kirchlichen Festlichkeiten nur einige blaue und weiße Blumen übriggeblieben, die verloren auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Schmale, kurvenreiche Sträßchen, die trostlos wirkten wie die verblühten Blumen, führten sie hinaus aus der Stadt. Die Fenster der Konvente und Wohnhäuser waren fest geschlossen, damit das grelle Licht der späten Nachmittagssonne nicht ins Innere dringen konnte. Die bedächtigen Hufschläge des Maultiers hallten in den menschenleeren Gassen.
Martin studierte das Profil seines Gefährten. Das glänzende, schwarzgefärbte Haar und der mächtige, glatte Schnauzbart passten offensichtlich nicht zu Francs Alter, das die grauen und weißen Stoppeln in seinem unrasierten Gesicht verrieten. Im Waschraum der Richter und Advokaten hatte Martin Witze gehört über die erstaunliche Eitelkeit des Inspektors und die übermäßige Menge an Pomade, mit der er seine beeindruckende tiefschwarze Mähne zähmte. Dennoch respektierten sie ihn. Nicht nur Francs Leibesfülle, sondern seine gesamte Haltung verliehen ihm eine raubeinige und ungezwungene Autorität. Martin war genauso groß wie Franc, von mittlerem Wuchs, allerdings um einiges dünner. Nach der strikten Hierarchie, die im Palais de Justice herrschte, war Martin Francs Vorgesetzter. Aber als er nun neben dem kräftigen, selbstbewussten Mann saß, kam sich Martin wie ein Kind vor. Er schüttelte das Gefühl ab und widmete sich stattdessen der Umgebung.
Sie fuhren langsam, fast lautlos auf der steinernen weißen Straße einen Hügel hoch, vorbei an Bauernhöfen mit roten Ziegeldächern, an Olivenhainen mit krummen, silbrigblättrigen Bäumen und an Weinbergen, in denen gelbliches Laub an den Stöcken hing. In weiter Ferne ragten die leuchtenden Kalksteinberge in den wolkenlosen blauen Himmel. Alles erschien Martin zu grell, von einer fast unnatürlichen Helligkeit. Nichts war hier so wie im Norden, wo er aufgewachsen war.
Anfänglich war er noch erleichtert, als sie in die Bibémusstraße einbogen, die durch einen schattenspendenden Kiefern- und Eichenwald führte. Aber die schmale, steinige Straße war steil, und als das Maultier seinen Schritt verlangsamte, steigerten sich Martins sorgenvolle Bedenken. Er konnte nur noch daran denken, was wohl in dem Steinbruch auf sie wartete. Er lockerte den Kragen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, und bald fiel ihm das Schlucken immer schwerer. Endlich erreichte der Karren eine mit Felsen und Gestrüpp überwucherte Fläche, auf der das Maultier zum Stehen kam. Auf dieser öden Ebene hatten nur ein paar missgestaltete Föhren Fuß fassen können. Ihre Stämme und fedrig-grünen Äste neigten sich scharf
in eine Richtung, als wollten sie sich mit stummem Klagen für alle Ewigkeit dem Mistral, dem furchtgebietenden Winterwind der Provence, unterwerfen. Überall um sie herum zirpten, summten und brummten Insekten, sonst waren keinerlei Geräusche zu hören.
»Wir sind fast da«, sagte Franc und kletterte vom Karren. Er schaute sich einen Moment um, dann deutete er auf eine Linie aus rot-orangen Felsbrocken und Geröll. »Hier geht’s lang, meine ich, Monsieur. Wir werden die Leiche hochtragen müssen, aber halten Sie trotzdem Ausschau nach etwas, was der Mörder vielleicht zurückgelassen hat.«
Martin folgte dem älteren Mann. Mit einer Hand stützte er sich an dem rauen Sandstein ab, als sie auf dem Pfad im Zickzack den Hang hinunterschritten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, doch der Grund dafür war nicht die ungewohnte Anstrengung. Erst als er ausrutschte, wurde ihm klar, vor was er sich eigentlich fürchtete. Er schaute zu Boden und rechnete schon fast damit, dort Blut zu sehen. Stattdessen blickte er auf die Steine unter seinen Füßen, die glatt und ausgetreten waren von den Schritten der Wanderer, die seit Jahrhunderten diesen Pfad entlanggingen. Glücklicherweise schien Franc zu sehr mit möglichen Spuren beschäftigt und nahm keine Notiz von Martins Ungeschicklichkeit. Der Inspektor bewegte sich wie ein geschmeidiges Raubtier, das der Fährte seines Opfers folgte, er hielt die Nase in die Luft und schaute sich aufmerksam im Gelände um. Schließlich entdeckte er etwas. In den Ästen, die zwischen den Felsen hervorragten, hing die aufgerollte Leinwand eines Malers, das heißt, eigentlich war es nur ein kleines Stück einer Leinwand. Franc entrollte das Bild, und sie sahen, dass jemand ein mit groben Strichen gemaltes Gemälde von gebeugten Kiefern und mächtigen orangefarbenen Felsbrocken zerrissen hatte. Der Inspektor musterte das Stück Leinwand so lange, dass Martin ihn schließlich fragte, ob er denn wisse, wer es gemalt haben könnte.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, Monsieur, aber ich habe einen Verdacht.« Franc faltete die Leinwand zusammen und steckte sie in die Tasche. Dann deutete er auf einen zweiten Felsenpfad, der zu ihrem Ziel führte. Der Steinbruch tat sich trostlos und unheimlich vor ihnen auf.
Franc schlitterte über treppenartige Einkerbungen, die ein Steinhauer mit seinem Pickel in den Fels geschlagen hatte. Sie entdeckten sie schon nach kurzer Zeit. Als Erstes sahen sie ihr Kleid. Es war weiß, mit grünen Streifen, wie der Junge gesagt hatte. Schlagartig fiel Martin ein, wo er das Kleid schon einmal gesehen hatte: auf der anderen Seite des Platzes der Kathedrale während der Prozession der Jungfrau, unter einem Sonnenschirm. Zweifellos würde Franc später ebenjenen Sonnenschirm von der Wache zu ihm in den Gerichtshof bringen.
Sie lag zwischen Schatten und Licht, halb versteckt hinter den Überresten der Felsen, die die Steinhauer hatten stehenlassen. Als Martin sich näherte, sah er den eindeutigen Beweis, dass sie es wirklich war. Ihr offenes Haar wirkte im unbarmherzigen Schein der untergehenden Sonne, als stünde es in Flammen. Dieses wundervolle rotgoldene Haar, das sie in seiner Gegenwart immer nur elegant hochgesteckt getragen hatte, so dass die Locken ihren langen weißen Nacken freiließen. Unter ihrem Körper breitete sich von den Schultern bis zur Taille eine dunkle Blutlache aus, die schon längst in der Sonne eingetrocknet war.
Martin wollte die summenden Fliegen von ihrem Körper verscheuchen, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Franc dagegen zeigte wenig Respekt im Umgang mit der Toten. Der Veteran schob seine Stiefelspitze unter ihre Hüfte und drehte sie so um. Und dann blickte Martin in ihr Gesicht, das einst so schön gewesen war, doch nun für alle Zeiten erstarrt war in der grotesken Maske des Todes. Mein Gott, dachte Martin, das ist Unrecht. Die Eindrücke des Tages, die grellen Sonnenstrahlen überwältigten ihn mit erbarmungsloser Intensität. Wo ihm einmal der Hauch eines Parfums in die Nase gestiegen war, schlug ihm nun der Gestank menschlicher Überreste entgegen. Ihm wurde schwindlig von der Hitze, den Ausdünstungen des Todes und dem unablässigen Zirpen der Grillen. Aus Sorge, dass er sich übergeben könnte, ließ er sich auf einem Felsbrocken nieder.»Kannten Sie sie?«»Wie bitte?«»Ich fragte, ob Sie sie kannten?«
»Ja … Nein, nicht wirklich.« Beide Antworten entsprachen der Wahrheit. Doch das wenige, das er über sie wusste, würde er keinesfalls Franc anvertrauen.»Dann wissen Sie, wer sie ist?«
Martin nickte und ließ den Kopf in die Hände sinken, wobei er nur mit größter Willenskraft die Übelkeit zurückdrängen konnte. Seine Stimme ging in dem schrillen Konzert der Grillen fast unter.»Es ist Solange Vernet.« © Ullstein Buchverlage
Martin war nicht gerade erfreut über den Anblick des schwer atmenden Albert Franc. Der Veteran unter den Inspektoren von Aix war nicht sehr groß, doch er war breit und kräftig gebaut; der Mann war bekannt für seine Härte und für seine manchmal recht freie Auslegung der Strafprozessordnung. Sein massiger Körper füllte den niedrigen Torbogen aus. Martin trat beiseite und deutete auf den hölzernen Stuhl am Tisch.
»Ich danke Ihnen.« Franc ließ sich stöhnend nieder und wedelte sich mit der Mütze Luft zu. »Ein Glas Wasser?«
Der Tonkrug stand auf dem Waschstand neben Martins Kleiderschrank, er füllte ein Glas und reichte es Franc, der das Wasser hinunterstürzte und sich dann sofort wieder Luft zufächelte. Bevor Martin eine Frage stellen konnte, begann der Inspektor noch ganz außer Atem den Grund für sein Kommen zu erklären. »Verzeihen Sie, mein Herr, dass ich Sie störe. Aber ich muss es Ihnen doch melden. Im Steinbruch. Da ist eine tote Frau. Ermordet, würde ich meinen. Der Proc ist nicht in der Stadt«, sagte Franc, wobei er den am Palais de Justice gebräuchlichen Ausdruck für den Staatsanwalt verwendete, »und deshalb brauche ich Sie. Sie müssen mich zum Steinbruch begleiten.«
»Eine tote Frau, hier in Aix?« Martin ließ sich auf dem Bett nieder. »Sind Sie sicher?«
»Gerade war ein Junge mit seinem Vater auf der Wache und hat berichtet, was er gesehen hat. Sie liegt im alten Steinbruch. Er meint, es handelt sich um eine Bürgerliche.«
»Und Sie sind sich sicher, dass uns hier kein Dummejungenstreich gespielt wird? Oder ein Missverständnis vorliegt?«
»Nein, nein. Sie kennen mich doch, Herr, es ist meine Stärke. Das Verhör, meine ich.«
Martin kannte Francs Verhöre wirklich zur Genüge. Häufig erschienen Gefangene des Inspektors vollkommen verängstigt und mit Blutergüssen in seinen Räumen. »Weichklopfen« nannte Franc seine Methoden.
»Ich habe mich etwa eine Stunde mit ihm unterhalten«, fuhr Franc fort. »Er sagt die Wahrheit, davon bin ich überzeugt. Er meint, er hat Blut gesehen. Und er konnte sogar das Kleid beschreiben, das die Frau trug. Weiß, mit grünen Streifen. Von bessrer Qualität als die Kleider seiner Mutter.«
Eine vage Erinnerung ging Martin durch den Kopf, doch er konnte sie nicht einordnen. »Ist es weit bis zum Steinbruch?«
»Nein, Monsieur, er liegt in der Nähe der Bibémusstraße, knapp eine Wegstunde entfernt. Deshalb bin ich ja hier. Ich dachte, wir beide sollten uns aufmachen und so schnell wie möglich einen Blick auf die Leiche werfen. Besonders, wenn man die Hitze und die Cholera und alles bedenkt …«
»Ja, ja.« Martin bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, als er sich erhob und zum Schrank trat. Was ihn auch in diesem Steinbruch erwartete, er würde sich hüten, Anzeichen von Schwäche zu zeigen, schon gar nicht vor diesem Mann, der dafür bekannt war, dass er nur allzu gerne Gerüchte im Palais verbreitete. »Wie viele von Ihren Männern haben Sie mitgebracht?«
»Die meisten feiern immer noch das Fest der Heiligen Jungfrau, Monsieur.«
Martin wandte sich rasch um. »Aber Mariä Himmelfahrt war doch schon vor drei Tagen.«
Franc zuckte mit den Schultern. »Es sind brave Burschen, und es ist mitten im August.«
Wahrlich brave Burschen! Franc hielt sich gerne im Gefängnis auf bei den Uniformierten, die dort Dienst taten. Gott allein wusste, was er dort trieb. Wahrscheinlich machte er sich lustig über den Standesdünkel von Richtern, so wie Martin einer war. Als er den Gehrock und den Hut hervorholte – die angemessene Bekleidung für derlei offizielle Anlässe –, hob Franc die Hand, offenbar, um ihn davon abzuhalten, den Gehrock überzustreifen.
»Nein, Monsieur, das sollten Sie heute nicht tragen. Zu heiß. Und wer weiß, wie lange wir dort draußen herumklettern müssen.«
»Richtig«, murmelte Martin, »Sie haben recht.« Ein Zylinder bei dieser Hitze – da zeigte sich der richterliche Dünkel. Er griff nach der Jacke und seiner Mütze aus Studententagen und wandte sich zu Franc, der seine Unterkunft kritisch beäugte.
»Gehen wir«, sagte Martin und zog die Fensterläden zu, wobei er sich bemühte, die gesamte Autorität seines Amtes in die Stimme zu legen.
Als sie auf dem Kutschbock Platz genommen hatten, knallte Franc mit der Peitsche, worauf sich das Tier in Richtung der großen Kirche in Bewegung setzte. Dort hatte die Prozession zu Ehren der Himmelfahrt der Heiligen Jungfrau begonnen und war dann weiter durch die Straßen von Aix gezogen. Nun, drei Tage später, waren von den kirchlichen Festlichkeiten nur einige blaue und weiße Blumen übriggeblieben, die verloren auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Schmale, kurvenreiche Sträßchen, die trostlos wirkten wie die verblühten Blumen, führten sie hinaus aus der Stadt. Die Fenster der Konvente und Wohnhäuser waren fest geschlossen, damit das grelle Licht der späten Nachmittagssonne nicht ins Innere dringen konnte. Die bedächtigen Hufschläge des Maultiers hallten in den menschenleeren Gassen.
Martin studierte das Profil seines Gefährten. Das glänzende, schwarzgefärbte Haar und der mächtige, glatte Schnauzbart passten offensichtlich nicht zu Francs Alter, das die grauen und weißen Stoppeln in seinem unrasierten Gesicht verrieten. Im Waschraum der Richter und Advokaten hatte Martin Witze gehört über die erstaunliche Eitelkeit des Inspektors und die übermäßige Menge an Pomade, mit der er seine beeindruckende tiefschwarze Mähne zähmte. Dennoch respektierten sie ihn. Nicht nur Francs Leibesfülle, sondern seine gesamte Haltung verliehen ihm eine raubeinige und ungezwungene Autorität. Martin war genauso groß wie Franc, von mittlerem Wuchs, allerdings um einiges dünner. Nach der strikten Hierarchie, die im Palais de Justice herrschte, war Martin Francs Vorgesetzter. Aber als er nun neben dem kräftigen, selbstbewussten Mann saß, kam sich Martin wie ein Kind vor. Er schüttelte das Gefühl ab und widmete sich stattdessen der Umgebung.
Sie fuhren langsam, fast lautlos auf der steinernen weißen Straße einen Hügel hoch, vorbei an Bauernhöfen mit roten Ziegeldächern, an Olivenhainen mit krummen, silbrigblättrigen Bäumen und an Weinbergen, in denen gelbliches Laub an den Stöcken hing. In weiter Ferne ragten die leuchtenden Kalksteinberge in den wolkenlosen blauen Himmel. Alles erschien Martin zu grell, von einer fast unnatürlichen Helligkeit. Nichts war hier so wie im Norden, wo er aufgewachsen war.
Anfänglich war er noch erleichtert, als sie in die Bibémusstraße einbogen, die durch einen schattenspendenden Kiefern- und Eichenwald führte. Aber die schmale, steinige Straße war steil, und als das Maultier seinen Schritt verlangsamte, steigerten sich Martins sorgenvolle Bedenken. Er konnte nur noch daran denken, was wohl in dem Steinbruch auf sie wartete. Er lockerte den Kragen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, und bald fiel ihm das Schlucken immer schwerer. Endlich erreichte der Karren eine mit Felsen und Gestrüpp überwucherte Fläche, auf der das Maultier zum Stehen kam. Auf dieser öden Ebene hatten nur ein paar missgestaltete Föhren Fuß fassen können. Ihre Stämme und fedrig-grünen Äste neigten sich scharf
in eine Richtung, als wollten sie sich mit stummem Klagen für alle Ewigkeit dem Mistral, dem furchtgebietenden Winterwind der Provence, unterwerfen. Überall um sie herum zirpten, summten und brummten Insekten, sonst waren keinerlei Geräusche zu hören.
»Wir sind fast da«, sagte Franc und kletterte vom Karren. Er schaute sich einen Moment um, dann deutete er auf eine Linie aus rot-orangen Felsbrocken und Geröll. »Hier geht’s lang, meine ich, Monsieur. Wir werden die Leiche hochtragen müssen, aber halten Sie trotzdem Ausschau nach etwas, was der Mörder vielleicht zurückgelassen hat.«
Martin folgte dem älteren Mann. Mit einer Hand stützte er sich an dem rauen Sandstein ab, als sie auf dem Pfad im Zickzack den Hang hinunterschritten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, doch der Grund dafür war nicht die ungewohnte Anstrengung. Erst als er ausrutschte, wurde ihm klar, vor was er sich eigentlich fürchtete. Er schaute zu Boden und rechnete schon fast damit, dort Blut zu sehen. Stattdessen blickte er auf die Steine unter seinen Füßen, die glatt und ausgetreten waren von den Schritten der Wanderer, die seit Jahrhunderten diesen Pfad entlanggingen. Glücklicherweise schien Franc zu sehr mit möglichen Spuren beschäftigt und nahm keine Notiz von Martins Ungeschicklichkeit. Der Inspektor bewegte sich wie ein geschmeidiges Raubtier, das der Fährte seines Opfers folgte, er hielt die Nase in die Luft und schaute sich aufmerksam im Gelände um. Schließlich entdeckte er etwas. In den Ästen, die zwischen den Felsen hervorragten, hing die aufgerollte Leinwand eines Malers, das heißt, eigentlich war es nur ein kleines Stück einer Leinwand. Franc entrollte das Bild, und sie sahen, dass jemand ein mit groben Strichen gemaltes Gemälde von gebeugten Kiefern und mächtigen orangefarbenen Felsbrocken zerrissen hatte. Der Inspektor musterte das Stück Leinwand so lange, dass Martin ihn schließlich fragte, ob er denn wisse, wer es gemalt haben könnte.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, Monsieur, aber ich habe einen Verdacht.« Franc faltete die Leinwand zusammen und steckte sie in die Tasche. Dann deutete er auf einen zweiten Felsenpfad, der zu ihrem Ziel führte. Der Steinbruch tat sich trostlos und unheimlich vor ihnen auf.
Franc schlitterte über treppenartige Einkerbungen, die ein Steinhauer mit seinem Pickel in den Fels geschlagen hatte. Sie entdeckten sie schon nach kurzer Zeit. Als Erstes sahen sie ihr Kleid. Es war weiß, mit grünen Streifen, wie der Junge gesagt hatte. Schlagartig fiel Martin ein, wo er das Kleid schon einmal gesehen hatte: auf der anderen Seite des Platzes der Kathedrale während der Prozession der Jungfrau, unter einem Sonnenschirm. Zweifellos würde Franc später ebenjenen Sonnenschirm von der Wache zu ihm in den Gerichtshof bringen.
Sie lag zwischen Schatten und Licht, halb versteckt hinter den Überresten der Felsen, die die Steinhauer hatten stehenlassen. Als Martin sich näherte, sah er den eindeutigen Beweis, dass sie es wirklich war. Ihr offenes Haar wirkte im unbarmherzigen Schein der untergehenden Sonne, als stünde es in Flammen. Dieses wundervolle rotgoldene Haar, das sie in seiner Gegenwart immer nur elegant hochgesteckt getragen hatte, so dass die Locken ihren langen weißen Nacken freiließen. Unter ihrem Körper breitete sich von den Schultern bis zur Taille eine dunkle Blutlache aus, die schon längst in der Sonne eingetrocknet war.
Martin wollte die summenden Fliegen von ihrem Körper verscheuchen, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Franc dagegen zeigte wenig Respekt im Umgang mit der Toten. Der Veteran schob seine Stiefelspitze unter ihre Hüfte und drehte sie so um. Und dann blickte Martin in ihr Gesicht, das einst so schön gewesen war, doch nun für alle Zeiten erstarrt war in der grotesken Maske des Todes. Mein Gott, dachte Martin, das ist Unrecht. Die Eindrücke des Tages, die grellen Sonnenstrahlen überwältigten ihn mit erbarmungsloser Intensität. Wo ihm einmal der Hauch eines Parfums in die Nase gestiegen war, schlug ihm nun der Gestank menschlicher Überreste entgegen. Ihm wurde schwindlig von der Hitze, den Ausdünstungen des Todes und dem unablässigen Zirpen der Grillen. Aus Sorge, dass er sich übergeben könnte, ließ er sich auf einem Felsbrocken nieder.»Kannten Sie sie?«»Wie bitte?«»Ich fragte, ob Sie sie kannten?«
»Ja … Nein, nicht wirklich.« Beide Antworten entsprachen der Wahrheit. Doch das wenige, das er über sie wusste, würde er keinesfalls Franc anvertrauen.»Dann wissen Sie, wer sie ist?«
Martin nickte und ließ den Kopf in die Hände sinken, wobei er nur mit größter Willenskraft die Übelkeit zurückdrängen konnte. Seine Stimme ging in dem schrillen Konzert der Grillen fast unter.»Es ist Solange Vernet.« © Ullstein Buchverlage
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Autoren-Porträt von Barbara Pope
Barbara Pope ist Historikerin und eine vielfach mit Preisen ausgezeichnete Professorin. An mehreren Universitäten der USA und Europa hat sie Geschichte und Frauenforschung unterrichtet. Sie lebt in Eugene/Oregon.
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Pope
- 2008, 421 Seiten, Maße: 11,6 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Lisa Kuppler
- Übersetzer: Lisa Kuppler
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548608329
- ISBN-13: 9783548608327
Rezension zu „Im hellen Licht des Todes “
»Der Autorin ist ein sehr stimmungsvoller und spannender historischer Kriminalroman gelungen, der ohne die historischen Fakten zu verbiegen eine fiktive Handlung erstehen lässt, die Spaß macht und gute Unterhaltung bietet. Eine echte Leseempfehlung für vergnügliche Lesestunden.« www.histo-couch.de/ 06.10.08/Bettina Weiß
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