Im Land der glühenden Sonne
Die Australien-Saga
Als sich Barney, Sohn eines wohlhabenden Schafzüchters, in die einfache Ally verliebt kann er nicht ahnen, welche Folgen dies nach sich ziehen wird. Sein dominanter Vater ist entschlossen, diese Beziehung unter allen Umständen zu verhindern. Barney muss sich entscheiden...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Land der glühenden Sonne “
Als sich Barney, Sohn eines wohlhabenden Schafzüchters, in die einfache Ally verliebt kann er nicht ahnen, welche Folgen dies nach sich ziehen wird. Sein dominanter Vater ist entschlossen, diese Beziehung unter allen Umständen zu verhindern. Barney muss sich entscheiden...
Klappentext zu „Im Land der glühenden Sonne “
Als Barney Holton, Sohn eines wohlhabenden Schafzüchters, sich in die einfache Ally McBride verliebt und diese heiraten will, kann er nicht ahnen, welch dramatische Wendung sein Leben fortan nehmen wird. Denn sein dominanter Vater ist entschlossen, diese Liaison unter allen Umständen zu verhindern. Barney muss sich entscheiden zwischen seiner Familie und der Liebe seines Lebens. Doch dann kommt Abby ihm mit einer völlig unerwarteten Nachricht zuvor ...
Lese-Probe zu „Im Land der glühenden Sonne “
Im Land der glühenden Sonne von Di MorrisseyErstes Kapitel
1958
Ganz langsam öffnete sich die in die Bibliothek führende Flügeltür aus dunklem Holz, und durch den Spalt drang der etwas muffige Geruch von altem Samt, Leder und Möbelpolitur in den Korridor. Einen kurzen Moment lang wurde ein schmaler Lichtstreif sichtbar, ein Schatten huschte ins Zimmer, dann drückten kleine Hände die Messingklinken behutsam nach unten, um beim Zumachen möglichst kein Geräusch zu verursachen, und schlossen den Raum wieder von der Außenwelt ab.
Obwohl es drinnen dunkel war, bewegte sich die kleine Gestalt mit sicherem Schritt auf die üppigen bordeauxroten Vorhänge zu, griff nach einer der schweren Stoffbahnen und zerrte sie zur Seite. So unerwartet wie ein plötzlicher Gewehrschuss ergoss sich ein Schwall gleißendes Sonnenlicht ins Zimmer.
Der Strahl erhellte den Raum, so dass sich die Möbelstücke - ein sperriger Schreibtisch, eine Stehlampe und ein niedriger Beistelltisch - aus dem Dunkel hervorhoben. Zwei Wände des Raumes wurden vollständig von Bücherregalen eingenommen, an einer dritten standen zu beiden Seiten eines Kamins bleiverglaste Bücherschränke. Hinter den schweren Gardinen, die den Ausblick auf eine gepflegte Gartenlandschaft verborgen hatten, kam eine hohe Fensterwand zum Vorschein. Es war, als sei ein Bühnenvorhang aufgezogen worden, um für ein Publikum, das nie kommen würde, die Welt der Bibliothek und die Schönheit des Gartens zu enthüllen.
... mehr
Die winzige Gestalt in kurzen Hosen, gestärktem Hemd und wollenen Kniestrümpfen schob die kleine Trittleiter vor eine der Bücherwände, kletterte dann auf die dritte Stufe, beugte sich vor und griff, ohne zu zögern, nach einem in rotes Leder gebundenen Buch mit goldenen Lettern auf dem Rücken. Drei Bücher weiter stand eines mit schwarzem Einband, und auch dieses wurde aus dem Regal gezogen. Der Junge ging zielstrebig auf einen der Bücherschränke neben dem Kamin zu, drehte den Schlüssel, um die Glastür zu öffnen, und fügte dem kleinen Stapel zu seinen Füßen drei weitere Beutestücke hinzu. Anschließend schleppte er den Bücherberg zum Fenster, wo er sich, eingerahmt vom lockeren Faltenwurf der Samtvorhänge, zurücklehnte und das oberste der Bücher ins Sonnenlicht hob, das über seine Schultern hereinfiel.
Zuerst hielt er es nur auf den Knien und ließ andächtig die Hände über den Einband gleiten. Dann schlug er den schweren Buchdeckel auf und beugte sich hinunter, um den würzigen Geruch von Leder und altem Papier einzuatmen und endlich mit erwartungsvoller Vorfreude bedächtig das dünne Seidenpapier zurückzuschlagen und das Bild auf der Titelseite freizulegen.
Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er es eingehend betrachtete. Es zeigte eine um einen langen Küchentisch versammelte Familie mit einem vergnügt aussehenden Vater, der ein langes Tranchiermesser in der Hand hielt, mit dem er gleich den vor ihm stehenden knusprig gebratenen, dampfenden Truthahn zerteilen würde. Der Junge hatte sich die um den Tisch versammelten Menschen schon oft angesehen - die freundlich lächelnde Mutter, die gespannten Mienen der Kinder - und sich immer gefragt, wie sie wohl hießen und was sie zueinander sagten. Er schloss die Augen und atmete tief ein, nahm die Wärme der Küche in sich auf, den Duft des gebratenen Puters und der im Kamin gerösteten Kastanien, und einen kurzen Augenblick lang meinte er, sogar in der Stille der Bibliothek den Widerhall ihres fröhlichen Geplappers und Gelächters zu hören.
Er schloss das Buch, hob das nächste auf den Schoß und blätterte die Seiten aufmerksam durch, bis er unter den Federzeichnungen sein Lieblingsbild gefunden hatte. Diese Familie scharte sich um einen einfachen Herd, in dem ein helles Feuer brannte. Der Vater hielt eine henkellose Tasse in die Höhe, mit der er den anderen zuprostete. Ganz dicht neben ihm kauerte auf einem Hocker ein kleiner Junge. Er war krank, seine Beine mussten von Metallschienen gestützt werden, und zu seinen Füßen lag eine kleine Krücke. Der Mann umklammerte die schmale Hand seines Sohnes fest mit der seinen, als liebte er ihn so sehr, dass er ihn nie mehr loslassen wollte. Der kleine Junge sagte etwas zu seiner Familie und blickte dabei hingebungsvoll zu seinem Vater auf.
Unter dem Bild standen Buchstaben, die Wörter formten, und diese ergaben einen Satz: »Gott segne uns alle!«, sagte Tiny Tim. Aber für den Jungen mit dem Buch waren es Hieroglyphen. Wie gerne hätte er erfahren, was der kleine Junge gerade sagte. Wurde er wohl je wieder gesund? Aber auf die Antwort würde er warten müssen, bis er selbst lesen gelernt hatte und die zwischen den Buchdeckeln verborgenen Schätze bergen konnte.
Schuldbewusst blickte er auf, und als hätte er die Strafe heraufbeschworen, wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen.
»Hab ich dich erwischt! Du ungezogener Bursche!«, dröhnte eine wütende Stimme. Im Türrahmen stand eine bedrohlich aufragende Gestalt, und der Junge sprang eilig auf die Füße, wobei er gleichzeitig versuchte, die Bücher hinter seinem Rücken zu verstecken.
Ein hoch gewachsener Mann stürzte auf ihn zu und packte ihn am Kragen. »Du weißt ganz genau, dass du hier nichts zu suchen hast. Das sind wertvolle Bücher. Du hast hier nichts anzufassen.« Die Stimme des Mannes wurde noch lauter. »Mrs. Anderson«, rief er. »Mrs. Anderson!«
Er stieß das Kind auf die Tür zu. Im Korridor vernahm man jetzt Schritte, die eilig näher kamen, und eine besorgte Stimme. »Ich komme schon, Sir.«
Die Haushälterin hastete ins Zimmer, sie wirkte aufgeregt. Einzelne mit Grau durchsetzte Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst, auf ihrem runden, rosa angelaufenen Gesicht glänzten Schweißperlen, und sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ach, Richie, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«, fragte sie tadelnd.
Phillip Holten hielt den Jungen am Kragen gepackt wie einen streunenden Welpen. Er schob ihn ihr entgegen. »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Er darf erst wieder herunter, wenn ich es sage.« Dann drehte er den mit gesenktem Kopf vor ihm stehenden Jungen zu sich hin und starrte ärgerlich auf ihn nieder. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, Richard.«
Zögernd hob der Junge, um dessen Mundwinkel es bereits verdächtig zuckte, das Kinn und sah aus blauen Augen eingeschüchtert zu ihm auf.
Der Mann senkte die Stimme und sprach langsam und deutlich. »Ich verbiete dir, diese Bücher anzufassen oder dieses Zimmer zu betreten. Hast du mich verstanden?«
Der Junge nickte.
»Antworte bitte, wenn ich mit dir spreche.«
»Ja, Sir«, sagte der Kleine mit bebender Stimme. »Ich wollte mir nur die Bücher mit den Bildern ...«
»Das reicht. Du lernst lesen, wenn ich es dir sage, und dann wirst du Bücher lesen, die für Kinder geeignet sind. Du bekommst eine Hauslehrerin, die dich auf eine gute Schule vorbereiten wird. Bis dahin tust du, was dir gesagt wird. Verstanden?«
»Ja, Sir«, kam es unterwürfig zurück.
»Und jetzt entschuldige dich, mein Herzchen«, erinnerte ihn Mrs. Anderson, nahm dabei seine Hand und
drückte sie liebevoll.
»Es tut mir leid, Sir.«
»Ab nach oben. Sorgen Sie dafür, dass das Zimmer wieder in Ordnung gebracht wird, Mrs. Anderson.«
»Ja, Mr. Holten. Ich bringe ihn nur vorher noch auf sein Zimmer.«
Sie führte den Jungen an der Hand nach oben. Als sie hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen wurde, bückte sie sich und hob ihn hoch. »Warum bist du denn auch da hineingegangen, mein Spätzchen? Du weißt doch, dass du das nicht darfst. Du hast so viele Spielsachen und schöne Bücher im Kinderzimmer. Du kletterst wohl gern die Trittleiter hoch? Ich weiß ja, dass du dir nichts Böses dabei gedacht hast, aber der Spaß ist es doch nicht wert, dass er jetzt zornig und wütend auf dich ist.«
Der Junge schmiegte sein Gesicht an ihre warme Schulter. »Denk nicht mehr daran, Spätzchen. Ich bringe dir ein leckeres Abendessen aufs Zimmer, und wenn du brav bist, bekommst du vielleicht noch eine Überraschung. «
An der Tür zum Kinderzimmer setzte sie ihn keuchend wieder ab.
Zurück in der Bibliothek, zog Mrs. Anderson die Vorhänge wieder vor, stellte die Trittleiter an ihren Platz zurück und hob die Bücher auf. Sie blätterte ein wenig darin herum und fragte sich dabei, warum der Junge ausgerechnet diese ausgesucht hatte. Sie spürte einen Kloß
im Hals, als sie die Bilder betrachtete. »Armer kleiner Spatz«, seufzte sie. »So ein Leben hätte er bestimmt selbst gern. Das wäre für uns alle schöner ...« Sie schob die Bücher wieder ins Regal und ging das Abendessen vorbereiten.
Weit davon entfernt, sein einsames Mahl als Strafe zu empfinden, genoss es Richie sogar. Auf dem Tablett, das ihm Mrs. Anderson auf den niedrigen Tisch gestellt hatte, fand sich unter einem gestrickten Eierwärmer ein weichgekochtes Ei und daneben eine in schmale Streifen geschnittene Scheibe Toastbrot. Dazu ein Schälchen Pudding mit Apfelkompott, ein Becher mit heißer Schokolade, und als besondere Überraschung stand neben dem Ei ein mit bunten Zuckerstreuseln verzierter Muffin in einem Papierförmchen.
Dann ließ sie Richie allein, der langsam und mit Vergnügen zu essen begann und die Toaststreifen gerade so tief in das Ei stippte, dass das Eigelb nicht oben herausquoll, genau wie Mrs. Anderson es ihm gezeigt hatte. Er spielte mit seinem Essen, summte vor sich hin, leckte sich die Finger ab und ließ Blasen in seinem Kakao blubbern. Das war doch viel schöner, als im kalten, ungemütlichen Esszimmer zu essen, wie er es fast jeden Abend tat.
Normalerweise wurde er an den langen Esstisch aus Palisanderholz gesetzt, wo seine Beine in der Luft baumelten und die unangenehme Höhe es ihm noch zusätzlich erschwerte, mit Messer und Gabel zu hantieren. Am anderen Ende der Tafel saß Phillip Holten und verzehrte andächtig und aufmerksam sein Mahl. Gelegentlich legte er das Besteck zur Seite, nahm einen Schluck Rotwein und stellte dem kleinen Jungen eine Frage, der es jedoch schwierig fand, längere Antworten zu geben und gleichzeitig darauf zu achten, dass ihm die Erbsen nicht von der Gabel rollten. Er lernte, die Hände im Schoß zu falten, falls das Antworten mehr Zeit in Anspruch nahm, beim Sprechen dem strengen, ruhigen Blick seines Gegenübers nicht auszuweichen und seine Aufmerksamkeit anschließend wieder der komplizierten Angelegenheit der manierlichen Nahrungsaufnahme zu widmen.
Mrs. Anderson servierte die einzelnen Gänge, lächelte ihrem kleinen Burschen, wie sie ihn heimlich nannte, aufmunternd zu und gab ihm hilfreiche Fingerzeige. Wenn sie die Teller in die Küche zurücktrug, meinte sie häufig mit einem Seufzer zu ihrem Mann Jim: »Der arme kleine Wurm. In seinem Alter sollte er eigentlich noch auf dem Schoß von seiner Mama sitzen und sich nicht mit großen Silbergabeln und Messern abplagen müssen.«
»Wenn er da drinnen bestehen kann, dann wird er im Leben mit allem fertig«, antwortete Jim dann immer. »Misch dich nicht ein. Du kennst doch die Regeln - es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren, wie es anders sein könnte.«
Das allabendliche Essensritual wurde genauso streng eingehalten wie zu der Zeit, als Phillip Holten selbst ein Junge gewesen war, und er hielt an der Weiterführung dieser Tradition fest. Aber für den kleinen Richie, der sich in der feinen Kleidung und den geschnürten Schuhen unwohl fühlte und sich allergrößte Mühe gab, sich gut zu benehmen, bedeutete es jedes Mal eine Tortur. Gegen Ende der Mahlzeit, wenn Mrs. Anderson ihm durch ein leichtes Kopfnicken das Zeichen gegeben hatte, sagte Richie sein Sprüchlein auf: »Darf ich bitte aufstehen?« Phillip Holten zündete sich dann seine Zigarre an und nickte. Mrs. Anderson wartete diskret an der Tür, bis er vom Stuhl gerutscht war und gute Nacht gewünscht hatte, um dann eilig in sein Schlafzimmer zu entfliehen.
Aber heute, wo er das Abendessen ›zur Strafe‹ im Kinderzimmer einnehmen musste, trug er seinen Schlafanzug und kümmerte sich nicht darum, ob er krümelte oder mit dem Eigelb kleckerte. Jetzt war er ganz allein, konnte Weihnachten spielen und so tun, als säße er im Kreis seiner Familie und Freunde um den Tisch und würde Teller mit Truthahn und Plumpudding weiterreichen. Er lachte und freute sich über die fröhliche Stimmung, von der ihm nur die stummen Bilder in den verbotenen Büchern eine Vorstellung gaben.
Später dann kam Mrs. Anderson, um das Tablett wegzuräumen und dafür zu sorgen, dass Richie sich wusch und die Zähne putzte. Sie lächelte, als sie ihn so fröhlich fand.
»Soll ich dir noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen, Spätzchen?«
Richie nickte eifrig, kuschelte sich ins Bett und machte Platz für Mrs. Anderson, damit sie sich neben ihn setzen konnte.
Es ging etwas langsam und schwerfällig, als sie mit leiser Stimme jeden Satz nach und nach zusammensetzte, aber Richie folgte der Geschichte dennoch voller Aufmerksamkeit, fuhr mit dem Finger die Sätze nach, die sie vorlas, und merkte sich jeden einzelnen. Er hatte sie so oft gehört, dass er das Buch Wort für Wort schon alleine ›lesen‹ konnte.
Es stammte noch aus der Zeit, als seine Eltern Kinder gewesen waren, und gehörte zu der Art von Lektüre, die Phillip Holten für kleine Jungen als geeignet erachtete. Zu Weihnachten hatte Mrs. Anderson Richie einmal ein buntes Bilderbuch mit Abenteuergeschichten für Jungen geschenkt. Phillip Holten hatte sich zwar bedankt, ihr jedoch gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass er es vorzöge, wenn Richie wertvolleren Lesestoff bekäme, und hinzugefügt: »Sie müssen dem Jungen nichts zu Weihnachten schenken. Er hat ohnehin schon genug.«
»Bald ist Weihnachten«, überlegte Mrs. Anderson laut und dachte an die Bücher, die sich Richie in der Bibliothek angesehen hatte. »Und dann ist schon wieder ein neues Jahr - 1959. Ich frage mich, was es uns wohl bringen wird. Du wirst dann zum Beispiel schon zur Schule gehen.«
Aber Richies Blick war traurig. »Warum gibt es bei uns eigentlich kein Weihnachtsfest wie bei den Leuten in den Büchern?«, wollte er wissen, denn in seinem Zuhause wurde Weihnachten nicht gefeiert.
Am Weihnachtsmorgen begleitete Richie Phillip Holten zur Kirche, wo er dem Gottesdienst zwar keine besonders große Aufmerksamkeit schenkte, sich aber trotzdem brav und still verhielt. Das Singen gefiel ihm, aber mehr noch faszinierte ihn die festlich dekorierte Kirche mit den bändergeschmückten Kränzen am Eingang, dem Lametta, dem Blumenschmuck und den brennenden Kerzen im Innenraum. An diesem Tag war es anders als bei der üblichen Sonntagsmesse, die Kirche war brechend voll mit gutgelaunten Menschen, die ihre besten Kleider trugen. Alle wünschten sich gegenseitig »Fröhliche Weihnachten«, und die Augen der anderen Kinder strahlten vor Aufregung.
Während des Gottesdiensts in der einfachen presbyterianischen Kirche stand Phillip Holten immer feierlich in der ersten Reihe, und wenn er sich anschließend von den verschiedenen Gemeindemitgliedern mit einem Nicken und vom Pfarrer mit Handschlag verabschiedete, blieb Richie dicht neben ihm.
Beim anschließenden Mittagessen servierte ihnen Mrs. Anderson zum Nachtisch ihren Plumpudding - weitere Zugeständnisse an den Festtag gab es nicht.
Einmal hatte sie angedeutet, der Junge würde sich sicherlich über einen Weihnachtsbaum und ein paar »kleine Geschenke« freuen.
»Vielen Dank, Mrs. Anderson, aber die Erziehung des Kindes können Sie getrost mir überlassen. Abgesehen davon ist er noch zu klein, um für den unsinnigen Flitter, von dem einige Leute nicht lassen können, einen Sinn zu haben ... wie man sein hart erarbeitetes Geld nur so verschleudern kann.«
Mrs. Anderson hatte darauf wohlweislich nichts erwidert, sich aber bei ihrem Mann verärgert über Mr. Holtens gnadenlose Sparsamkeit ausgelassen und den Jungen wegen seiner freudlosen Kindheit bedauert.
Jim Anderson klopfte den Kopf seiner Pfeife gegen die Ofenklappe und leerte den Bodensatz dann in den Aschekasten unter dem Herd. »Tja, Rene, vielleicht ist er ja wirklich ein schäbiger Geizkragen, aber du darfst dich nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Wenn er es so für gut befindet, dann wird es eben so gemacht. Außerdem kannst du dem Mann kaum zum Vorwurf machen, dass er an Weihnachten nicht gerade fröhlich gestimmt ist.«
Richie spürte instinktiv, dass ihm etwas entging. Irgendwo da draußen musste es noch eine andere Welt geben, und er hätte nur zu gern gewusst, wie man dort hinkam. Er sah zu, wie Mrs. Anderson das Buch weglegte. »Was haben Sie an Weihnachten gemacht, als Sie so klein waren wie ich?«, wollte er wissen.
Ohne weiter darüber nachzudenken, begann Mrs. Anderson von ihren Geschwistern zu erzählen, was für lustige Spiele sie immer gespielt hatten und wie schön es gewesen war, am Weihnachtsmorgen aufzuwachen und die mit Süßigkeiten und Spielzeug gefüllten Strümpfe zu finden. Als sie allerdings Richies traurigen Blick sah und die Sehnsucht in seinem Herzen spürte, biss sie sich auf die Zunge und fügte ohne viel Überzeugungskraft hinzu:
»Unser Leben bestand natürlich nicht nur aus Spiel und Spaß. Die Zeiten waren schwer, und Geld war knapp. Wir lebten von der Hand in den Mund. Du hast es da schon viel besser, dass du in einem so herrschaftlichen Haus aufwachsen kannst. Und später wirst du auf die besten Schulen gehen und ein kluger Mann werden, und dann kannst du alle Bücher auf der ganzen Welt lesen. Vielleicht schreibst du dann ja sogar selbst eines!« Aber ihre Worte hatten einen hohlen Klang, und Richie schien nicht ganz überzeugt davon, dass er es besser hatte.
Mrs. Anderson deckte ihn zärtlich zu und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange.
In der Stille unter den kühlen, weißen Laken legte der kleine Junge die Arme um sein Kissen und drückte es fest an sich. Unter seinen zusammengepressten Lidern begannen die Bilder, die er sich in den Büchern der Bibliothek angesehen hatte, plötzlich lebendig zu werden. In je der dieser Szenen sah er sich selbst, und immer lachte er.
Den Engeln oder den tanzenden Rentieren, die an Weihnachten über die im Mondschein schlummernde Landschaft eilten, war es wohl kaum zu verübeln, dass sie bei dem großen Haus nicht haltmachten. Die Fenster blickten schwarz, und keine Kerze brannte darin, um sie willkommen zu heißen. Das Haus wirkte nicht einladend, es schien sich in sich selbst zurückzuziehen, sich von der Außenwelt abzuschirmen ... versunken in Erinnerungen. Zwar war das düstere Herrenhaus nie ein fröhliches oder sonniges Heim gewesen, aber immerhin hatte darin einmal eine richtige Familie gelebt.
© Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Die winzige Gestalt in kurzen Hosen, gestärktem Hemd und wollenen Kniestrümpfen schob die kleine Trittleiter vor eine der Bücherwände, kletterte dann auf die dritte Stufe, beugte sich vor und griff, ohne zu zögern, nach einem in rotes Leder gebundenen Buch mit goldenen Lettern auf dem Rücken. Drei Bücher weiter stand eines mit schwarzem Einband, und auch dieses wurde aus dem Regal gezogen. Der Junge ging zielstrebig auf einen der Bücherschränke neben dem Kamin zu, drehte den Schlüssel, um die Glastür zu öffnen, und fügte dem kleinen Stapel zu seinen Füßen drei weitere Beutestücke hinzu. Anschließend schleppte er den Bücherberg zum Fenster, wo er sich, eingerahmt vom lockeren Faltenwurf der Samtvorhänge, zurücklehnte und das oberste der Bücher ins Sonnenlicht hob, das über seine Schultern hereinfiel.
Zuerst hielt er es nur auf den Knien und ließ andächtig die Hände über den Einband gleiten. Dann schlug er den schweren Buchdeckel auf und beugte sich hinunter, um den würzigen Geruch von Leder und altem Papier einzuatmen und endlich mit erwartungsvoller Vorfreude bedächtig das dünne Seidenpapier zurückzuschlagen und das Bild auf der Titelseite freizulegen.
Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er es eingehend betrachtete. Es zeigte eine um einen langen Küchentisch versammelte Familie mit einem vergnügt aussehenden Vater, der ein langes Tranchiermesser in der Hand hielt, mit dem er gleich den vor ihm stehenden knusprig gebratenen, dampfenden Truthahn zerteilen würde. Der Junge hatte sich die um den Tisch versammelten Menschen schon oft angesehen - die freundlich lächelnde Mutter, die gespannten Mienen der Kinder - und sich immer gefragt, wie sie wohl hießen und was sie zueinander sagten. Er schloss die Augen und atmete tief ein, nahm die Wärme der Küche in sich auf, den Duft des gebratenen Puters und der im Kamin gerösteten Kastanien, und einen kurzen Augenblick lang meinte er, sogar in der Stille der Bibliothek den Widerhall ihres fröhlichen Geplappers und Gelächters zu hören.
Er schloss das Buch, hob das nächste auf den Schoß und blätterte die Seiten aufmerksam durch, bis er unter den Federzeichnungen sein Lieblingsbild gefunden hatte. Diese Familie scharte sich um einen einfachen Herd, in dem ein helles Feuer brannte. Der Vater hielt eine henkellose Tasse in die Höhe, mit der er den anderen zuprostete. Ganz dicht neben ihm kauerte auf einem Hocker ein kleiner Junge. Er war krank, seine Beine mussten von Metallschienen gestützt werden, und zu seinen Füßen lag eine kleine Krücke. Der Mann umklammerte die schmale Hand seines Sohnes fest mit der seinen, als liebte er ihn so sehr, dass er ihn nie mehr loslassen wollte. Der kleine Junge sagte etwas zu seiner Familie und blickte dabei hingebungsvoll zu seinem Vater auf.
Unter dem Bild standen Buchstaben, die Wörter formten, und diese ergaben einen Satz: »Gott segne uns alle!«, sagte Tiny Tim. Aber für den Jungen mit dem Buch waren es Hieroglyphen. Wie gerne hätte er erfahren, was der kleine Junge gerade sagte. Wurde er wohl je wieder gesund? Aber auf die Antwort würde er warten müssen, bis er selbst lesen gelernt hatte und die zwischen den Buchdeckeln verborgenen Schätze bergen konnte.
Schuldbewusst blickte er auf, und als hätte er die Strafe heraufbeschworen, wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen.
»Hab ich dich erwischt! Du ungezogener Bursche!«, dröhnte eine wütende Stimme. Im Türrahmen stand eine bedrohlich aufragende Gestalt, und der Junge sprang eilig auf die Füße, wobei er gleichzeitig versuchte, die Bücher hinter seinem Rücken zu verstecken.
Ein hoch gewachsener Mann stürzte auf ihn zu und packte ihn am Kragen. »Du weißt ganz genau, dass du hier nichts zu suchen hast. Das sind wertvolle Bücher. Du hast hier nichts anzufassen.« Die Stimme des Mannes wurde noch lauter. »Mrs. Anderson«, rief er. »Mrs. Anderson!«
Er stieß das Kind auf die Tür zu. Im Korridor vernahm man jetzt Schritte, die eilig näher kamen, und eine besorgte Stimme. »Ich komme schon, Sir.«
Die Haushälterin hastete ins Zimmer, sie wirkte aufgeregt. Einzelne mit Grau durchsetzte Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst, auf ihrem runden, rosa angelaufenen Gesicht glänzten Schweißperlen, und sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ach, Richie, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«, fragte sie tadelnd.
Phillip Holten hielt den Jungen am Kragen gepackt wie einen streunenden Welpen. Er schob ihn ihr entgegen. »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Er darf erst wieder herunter, wenn ich es sage.« Dann drehte er den mit gesenktem Kopf vor ihm stehenden Jungen zu sich hin und starrte ärgerlich auf ihn nieder. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, Richard.«
Zögernd hob der Junge, um dessen Mundwinkel es bereits verdächtig zuckte, das Kinn und sah aus blauen Augen eingeschüchtert zu ihm auf.
Der Mann senkte die Stimme und sprach langsam und deutlich. »Ich verbiete dir, diese Bücher anzufassen oder dieses Zimmer zu betreten. Hast du mich verstanden?«
Der Junge nickte.
»Antworte bitte, wenn ich mit dir spreche.«
»Ja, Sir«, sagte der Kleine mit bebender Stimme. »Ich wollte mir nur die Bücher mit den Bildern ...«
»Das reicht. Du lernst lesen, wenn ich es dir sage, und dann wirst du Bücher lesen, die für Kinder geeignet sind. Du bekommst eine Hauslehrerin, die dich auf eine gute Schule vorbereiten wird. Bis dahin tust du, was dir gesagt wird. Verstanden?«
»Ja, Sir«, kam es unterwürfig zurück.
»Und jetzt entschuldige dich, mein Herzchen«, erinnerte ihn Mrs. Anderson, nahm dabei seine Hand und
drückte sie liebevoll.
»Es tut mir leid, Sir.«
»Ab nach oben. Sorgen Sie dafür, dass das Zimmer wieder in Ordnung gebracht wird, Mrs. Anderson.«
»Ja, Mr. Holten. Ich bringe ihn nur vorher noch auf sein Zimmer.«
Sie führte den Jungen an der Hand nach oben. Als sie hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen wurde, bückte sie sich und hob ihn hoch. »Warum bist du denn auch da hineingegangen, mein Spätzchen? Du weißt doch, dass du das nicht darfst. Du hast so viele Spielsachen und schöne Bücher im Kinderzimmer. Du kletterst wohl gern die Trittleiter hoch? Ich weiß ja, dass du dir nichts Böses dabei gedacht hast, aber der Spaß ist es doch nicht wert, dass er jetzt zornig und wütend auf dich ist.«
Der Junge schmiegte sein Gesicht an ihre warme Schulter. »Denk nicht mehr daran, Spätzchen. Ich bringe dir ein leckeres Abendessen aufs Zimmer, und wenn du brav bist, bekommst du vielleicht noch eine Überraschung. «
An der Tür zum Kinderzimmer setzte sie ihn keuchend wieder ab.
Zurück in der Bibliothek, zog Mrs. Anderson die Vorhänge wieder vor, stellte die Trittleiter an ihren Platz zurück und hob die Bücher auf. Sie blätterte ein wenig darin herum und fragte sich dabei, warum der Junge ausgerechnet diese ausgesucht hatte. Sie spürte einen Kloß
im Hals, als sie die Bilder betrachtete. »Armer kleiner Spatz«, seufzte sie. »So ein Leben hätte er bestimmt selbst gern. Das wäre für uns alle schöner ...« Sie schob die Bücher wieder ins Regal und ging das Abendessen vorbereiten.
Weit davon entfernt, sein einsames Mahl als Strafe zu empfinden, genoss es Richie sogar. Auf dem Tablett, das ihm Mrs. Anderson auf den niedrigen Tisch gestellt hatte, fand sich unter einem gestrickten Eierwärmer ein weichgekochtes Ei und daneben eine in schmale Streifen geschnittene Scheibe Toastbrot. Dazu ein Schälchen Pudding mit Apfelkompott, ein Becher mit heißer Schokolade, und als besondere Überraschung stand neben dem Ei ein mit bunten Zuckerstreuseln verzierter Muffin in einem Papierförmchen.
Dann ließ sie Richie allein, der langsam und mit Vergnügen zu essen begann und die Toaststreifen gerade so tief in das Ei stippte, dass das Eigelb nicht oben herausquoll, genau wie Mrs. Anderson es ihm gezeigt hatte. Er spielte mit seinem Essen, summte vor sich hin, leckte sich die Finger ab und ließ Blasen in seinem Kakao blubbern. Das war doch viel schöner, als im kalten, ungemütlichen Esszimmer zu essen, wie er es fast jeden Abend tat.
Normalerweise wurde er an den langen Esstisch aus Palisanderholz gesetzt, wo seine Beine in der Luft baumelten und die unangenehme Höhe es ihm noch zusätzlich erschwerte, mit Messer und Gabel zu hantieren. Am anderen Ende der Tafel saß Phillip Holten und verzehrte andächtig und aufmerksam sein Mahl. Gelegentlich legte er das Besteck zur Seite, nahm einen Schluck Rotwein und stellte dem kleinen Jungen eine Frage, der es jedoch schwierig fand, längere Antworten zu geben und gleichzeitig darauf zu achten, dass ihm die Erbsen nicht von der Gabel rollten. Er lernte, die Hände im Schoß zu falten, falls das Antworten mehr Zeit in Anspruch nahm, beim Sprechen dem strengen, ruhigen Blick seines Gegenübers nicht auszuweichen und seine Aufmerksamkeit anschließend wieder der komplizierten Angelegenheit der manierlichen Nahrungsaufnahme zu widmen.
Mrs. Anderson servierte die einzelnen Gänge, lächelte ihrem kleinen Burschen, wie sie ihn heimlich nannte, aufmunternd zu und gab ihm hilfreiche Fingerzeige. Wenn sie die Teller in die Küche zurücktrug, meinte sie häufig mit einem Seufzer zu ihrem Mann Jim: »Der arme kleine Wurm. In seinem Alter sollte er eigentlich noch auf dem Schoß von seiner Mama sitzen und sich nicht mit großen Silbergabeln und Messern abplagen müssen.«
»Wenn er da drinnen bestehen kann, dann wird er im Leben mit allem fertig«, antwortete Jim dann immer. »Misch dich nicht ein. Du kennst doch die Regeln - es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren, wie es anders sein könnte.«
Das allabendliche Essensritual wurde genauso streng eingehalten wie zu der Zeit, als Phillip Holten selbst ein Junge gewesen war, und er hielt an der Weiterführung dieser Tradition fest. Aber für den kleinen Richie, der sich in der feinen Kleidung und den geschnürten Schuhen unwohl fühlte und sich allergrößte Mühe gab, sich gut zu benehmen, bedeutete es jedes Mal eine Tortur. Gegen Ende der Mahlzeit, wenn Mrs. Anderson ihm durch ein leichtes Kopfnicken das Zeichen gegeben hatte, sagte Richie sein Sprüchlein auf: »Darf ich bitte aufstehen?« Phillip Holten zündete sich dann seine Zigarre an und nickte. Mrs. Anderson wartete diskret an der Tür, bis er vom Stuhl gerutscht war und gute Nacht gewünscht hatte, um dann eilig in sein Schlafzimmer zu entfliehen.
Aber heute, wo er das Abendessen ›zur Strafe‹ im Kinderzimmer einnehmen musste, trug er seinen Schlafanzug und kümmerte sich nicht darum, ob er krümelte oder mit dem Eigelb kleckerte. Jetzt war er ganz allein, konnte Weihnachten spielen und so tun, als säße er im Kreis seiner Familie und Freunde um den Tisch und würde Teller mit Truthahn und Plumpudding weiterreichen. Er lachte und freute sich über die fröhliche Stimmung, von der ihm nur die stummen Bilder in den verbotenen Büchern eine Vorstellung gaben.
Später dann kam Mrs. Anderson, um das Tablett wegzuräumen und dafür zu sorgen, dass Richie sich wusch und die Zähne putzte. Sie lächelte, als sie ihn so fröhlich fand.
»Soll ich dir noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen, Spätzchen?«
Richie nickte eifrig, kuschelte sich ins Bett und machte Platz für Mrs. Anderson, damit sie sich neben ihn setzen konnte.
Es ging etwas langsam und schwerfällig, als sie mit leiser Stimme jeden Satz nach und nach zusammensetzte, aber Richie folgte der Geschichte dennoch voller Aufmerksamkeit, fuhr mit dem Finger die Sätze nach, die sie vorlas, und merkte sich jeden einzelnen. Er hatte sie so oft gehört, dass er das Buch Wort für Wort schon alleine ›lesen‹ konnte.
Es stammte noch aus der Zeit, als seine Eltern Kinder gewesen waren, und gehörte zu der Art von Lektüre, die Phillip Holten für kleine Jungen als geeignet erachtete. Zu Weihnachten hatte Mrs. Anderson Richie einmal ein buntes Bilderbuch mit Abenteuergeschichten für Jungen geschenkt. Phillip Holten hatte sich zwar bedankt, ihr jedoch gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass er es vorzöge, wenn Richie wertvolleren Lesestoff bekäme, und hinzugefügt: »Sie müssen dem Jungen nichts zu Weihnachten schenken. Er hat ohnehin schon genug.«
»Bald ist Weihnachten«, überlegte Mrs. Anderson laut und dachte an die Bücher, die sich Richie in der Bibliothek angesehen hatte. »Und dann ist schon wieder ein neues Jahr - 1959. Ich frage mich, was es uns wohl bringen wird. Du wirst dann zum Beispiel schon zur Schule gehen.«
Aber Richies Blick war traurig. »Warum gibt es bei uns eigentlich kein Weihnachtsfest wie bei den Leuten in den Büchern?«, wollte er wissen, denn in seinem Zuhause wurde Weihnachten nicht gefeiert.
Am Weihnachtsmorgen begleitete Richie Phillip Holten zur Kirche, wo er dem Gottesdienst zwar keine besonders große Aufmerksamkeit schenkte, sich aber trotzdem brav und still verhielt. Das Singen gefiel ihm, aber mehr noch faszinierte ihn die festlich dekorierte Kirche mit den bändergeschmückten Kränzen am Eingang, dem Lametta, dem Blumenschmuck und den brennenden Kerzen im Innenraum. An diesem Tag war es anders als bei der üblichen Sonntagsmesse, die Kirche war brechend voll mit gutgelaunten Menschen, die ihre besten Kleider trugen. Alle wünschten sich gegenseitig »Fröhliche Weihnachten«, und die Augen der anderen Kinder strahlten vor Aufregung.
Während des Gottesdiensts in der einfachen presbyterianischen Kirche stand Phillip Holten immer feierlich in der ersten Reihe, und wenn er sich anschließend von den verschiedenen Gemeindemitgliedern mit einem Nicken und vom Pfarrer mit Handschlag verabschiedete, blieb Richie dicht neben ihm.
Beim anschließenden Mittagessen servierte ihnen Mrs. Anderson zum Nachtisch ihren Plumpudding - weitere Zugeständnisse an den Festtag gab es nicht.
Einmal hatte sie angedeutet, der Junge würde sich sicherlich über einen Weihnachtsbaum und ein paar »kleine Geschenke« freuen.
»Vielen Dank, Mrs. Anderson, aber die Erziehung des Kindes können Sie getrost mir überlassen. Abgesehen davon ist er noch zu klein, um für den unsinnigen Flitter, von dem einige Leute nicht lassen können, einen Sinn zu haben ... wie man sein hart erarbeitetes Geld nur so verschleudern kann.«
Mrs. Anderson hatte darauf wohlweislich nichts erwidert, sich aber bei ihrem Mann verärgert über Mr. Holtens gnadenlose Sparsamkeit ausgelassen und den Jungen wegen seiner freudlosen Kindheit bedauert.
Jim Anderson klopfte den Kopf seiner Pfeife gegen die Ofenklappe und leerte den Bodensatz dann in den Aschekasten unter dem Herd. »Tja, Rene, vielleicht ist er ja wirklich ein schäbiger Geizkragen, aber du darfst dich nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Wenn er es so für gut befindet, dann wird es eben so gemacht. Außerdem kannst du dem Mann kaum zum Vorwurf machen, dass er an Weihnachten nicht gerade fröhlich gestimmt ist.«
Richie spürte instinktiv, dass ihm etwas entging. Irgendwo da draußen musste es noch eine andere Welt geben, und er hätte nur zu gern gewusst, wie man dort hinkam. Er sah zu, wie Mrs. Anderson das Buch weglegte. »Was haben Sie an Weihnachten gemacht, als Sie so klein waren wie ich?«, wollte er wissen.
Ohne weiter darüber nachzudenken, begann Mrs. Anderson von ihren Geschwistern zu erzählen, was für lustige Spiele sie immer gespielt hatten und wie schön es gewesen war, am Weihnachtsmorgen aufzuwachen und die mit Süßigkeiten und Spielzeug gefüllten Strümpfe zu finden. Als sie allerdings Richies traurigen Blick sah und die Sehnsucht in seinem Herzen spürte, biss sie sich auf die Zunge und fügte ohne viel Überzeugungskraft hinzu:
»Unser Leben bestand natürlich nicht nur aus Spiel und Spaß. Die Zeiten waren schwer, und Geld war knapp. Wir lebten von der Hand in den Mund. Du hast es da schon viel besser, dass du in einem so herrschaftlichen Haus aufwachsen kannst. Und später wirst du auf die besten Schulen gehen und ein kluger Mann werden, und dann kannst du alle Bücher auf der ganzen Welt lesen. Vielleicht schreibst du dann ja sogar selbst eines!« Aber ihre Worte hatten einen hohlen Klang, und Richie schien nicht ganz überzeugt davon, dass er es besser hatte.
Mrs. Anderson deckte ihn zärtlich zu und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange.
In der Stille unter den kühlen, weißen Laken legte der kleine Junge die Arme um sein Kissen und drückte es fest an sich. Unter seinen zusammengepressten Lidern begannen die Bilder, die er sich in den Büchern der Bibliothek angesehen hatte, plötzlich lebendig zu werden. In je der dieser Szenen sah er sich selbst, und immer lachte er.
Den Engeln oder den tanzenden Rentieren, die an Weihnachten über die im Mondschein schlummernde Landschaft eilten, war es wohl kaum zu verübeln, dass sie bei dem großen Haus nicht haltmachten. Die Fenster blickten schwarz, und keine Kerze brannte darin, um sie willkommen zu heißen. Das Haus wirkte nicht einladend, es schien sich in sich selbst zurückzuziehen, sich von der Außenwelt abzuschirmen ... versunken in Erinnerungen. Zwar war das düstere Herrenhaus nie ein fröhliches oder sonniges Heim gewesen, aber immerhin hatte darin einmal eine richtige Familie gelebt.
© Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Di Morrissey
Di Morrissey ist die erfolgreichste Autorin Australiens. Als Journalistin arbeitete sie für Frauenmagazine, Radio und Fernsehen, schrieb Drehbücher und Theaterstücke und wirkte an zahlreichen TV-Produktionen mit. Sie lebt heute auf einer Farm in Byron Bay, New South Wales. Di Morrissey wurde im Zuge der Australien Book Industry Awards für ihr Verdienst in der australischen Buchbranche der Lloyd O'Neil Award verliehen und damit für ihr Lebenswerk geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Di Morrissey
- 2013, 1. Auflage, 352 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Katarina Ganslandt
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426513242
- ISBN-13: 9783426513248
- Erscheinungsdatum: 16.10.2013
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