Im Spinnhaus
Roman
Nicht unweit von Dresden, zwischen den Ortschaften Lauter, Neuwelt und Schwarzenberg steht ein ganz besonderes Gebäude mit drei Stockwerken und einem schiefergedeckten Spitzdach: das Spinnhaus. Errichtet um 1860, hat es vielen Menschen eine Heimat geboten,...
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Produktinformationen zu „Im Spinnhaus “
Klappentext zu „Im Spinnhaus “
Nicht unweit von Dresden, zwischen den Ortschaften Lauter, Neuwelt und Schwarzenberg steht ein ganz besonderes Gebäude mit drei Stockwerken und einem schiefergedeckten Spitzdach: das Spinnhaus. Errichtet um 1860, hat es vielen Menschen eine Heimat geboten, vor allem Frauen. Zu Beginn arbeiteten Spinnerinnen in ihm - "fasernhustend und traumversponnen". Mit Anbruch des 20. Jahrhunderts kam dann seine große Zeit. Wäscherinnen zogen ein, eigensinnige und zähe Frauen, von denen keine auf die Idee gekommen wäre, die Welt der Frau sei nur der Mann. Genau im Jahr 1900 wird im Spinnhaus die "alte Uhlig" geboren, die Tochter eines Schindelmachers und einer Strumpfstrikkerin. Stumm geht sie durch ihr Leben, wird mit 60 plötzlich schwanger und ist es mit 70 noch immer. Hier lebt Trulla, von der es heißt: "Sie dachte selten daran, daß ihr etwas fehlte." Hier ziehen das Kaiserreich, die Nazizeit und der Sozialismus ihre tiefen Spuren. Hier wird eine jüdische Mitbürgerin umgebracht, später zieht ein Trupp vermummter Menschen vorbei, Nemci, Deutsche, steht auf den Armbinden. Und hier lernt die Mühl-Susanne Herrn Nobis kennen, der aber, nachdem sozialistisch gegrüßt wird, nicht mehr das sein darf, wofür er von ihr geliebt wurde: Spirituosenfabrikant.Kerstin Hensel erzählt in ihrer bildreichen, sinnlichen und kräftigen Sprache vom 20. Jahrhundert aus der Perspektive einer nur scheinbar kleinen Welt von Frauen, die von den großen Geschichten und dergroßen Geschichte nicht verschont wird.
Lese-Probe zu „Im Spinnhaus “
Mit dem Schnee kam der Bär nach Neuwelt.Den Schnee brachte die letzte Novemberwoche des Jahres 2003. An einem jener Abende, der vier Uhr nachmittags beginnt, Stockdunkelheit erzeugt und zur Nacht hin heller wird. Der finstere Morgen bereitet den Menschen quälendes Erwachen.
Der Bär war aus dem Böhmischen über Crottendorf und Schwarzenberg gekommen.
Jäger konnten seine Spur zurückverfolgen, zwei Tage lang im Frischschnee. Sie führte geradewegs über die Gleise der Erzgebirgsbahn, verlor sich im Pöhlbach und tauchte östlich hinter der Podlava in der Nähe von Horni Halze im Gehölz wieder auf.
Der Bär trat aus dem Wald, schlug sich stadtwärts, sappte Straßen und Gehsteige entlang. Kein Mensch sah ihn. Tausalz fraß sich in seine Fußballen. Der Bär brummte, verfiel in Galopp. Sein Weg ging am Friedhof vorbei, Sozialamt Landrat Post, Uttmannstraße links, Schneeberger, Straße der Einheit, die aus der Stadt hinausführte zum Ortsteil Neuwelt. Der Bär lief Richtung Schule, die Lutherstraße entlang, es trieb ihn beim Steinbruch den Geringsberg hinauf.
Vor einem der geputzten Felssteinhäuschen blieb er stehen, winselte und schnorchelte. Kein Mensch hörte ihn.
Durch den Schnee in die Finsternis. Hinterm Berg lockte der Wald. Der Bär blickte sich noch einmal um. Es war ihm, als hätte ihm aus der Stadt jemand mit einer Sturmlampe nachgeleuchtet. Er witterte, vom eigenen Atem umdunstet, die Kälte. Gegen Morgen erreichte der Bär das Spinnhaus.
Er fand an der Rückseite eine moosige Felssteintreppe, die in die Tiefe führte, glitschig noch vom ersten Schnee. Seit Jahren hatte kein Mensch mehr diese Treppe betreten.
Der Bär stieg sie nach unten. Er lehnte sich gegen die Brettertür und brach sie aus den Angeln.
Neben einem schwarzen stählernen Waschkessel legte er sich auf den Boden.
Der Bär pulte sich die Schneereste, die zwischen den stumpfen gebogenen Krallen hingen, heraus, lutschte sie auf und begann mit gebleckten Zähnen und zarten vorsichtigen
... mehr
Zungenbewegungen die Haut von den Fußsohlen zu ziehen und zu verspeisen. Er leckte und saugte angestrengt an seinen gehäuteten Sohlen, bis er einschlief.
Der Bär blieb sieben Wochen im Waschkeller des Spinnhauses, bevor er seine Winterruhe unterbrach und eines Nachts davonschlich. Die Spur führte deutlich zum Ort seiner Herkunft. Das Spinnhaus
Es wurde um 1860 herum erbaut: ein dreistöckiges Gebäude mit schiefergedecktem Spitzdach. Das Fundament aus Steinen, die von den Granitmassiven des Erzgebirges geschlagen worden waren.
In der unteren Etage befand sich die Fabrik. Dutzende moderne Kämm- und Ringspinnmaschinen, Wollschläger und Klettenwölfe versprachen dem Besitzer Reichtum, etwas, das dem Leben im Erzgebirge nie zugedacht war.
An die hundert Spinner und Spinnerinnen schleppten sortierten wolften mischten schmälzten lösten wogen krempelten nitschelten und spannen Wolle Baumwolle Garn, zwölf Stunden am Tag, faserhustend, traumversponnen des Nachts. In den oberen Stockwerken hausten sie mit ihren Familien.
Seit jener Zeit war das Haus hinter dem Geringsberg verschrien als Hort der Ausbeutung, Armut und Krankheit, der größte Elendspunkt des westlichen Erzgebirges. Der Profit sächsischer Textilindustrie ließ die Städte stark werden. Die Neuwelter Spinnfabrik war ihr nicht gewachsen.
Nachdem vierzig Jahre vergangen waren, standen die Maschinen still.
Der Pleite folgte das neue Jahrhundert. Es versprach, anders zu werden.
Die Leute vernahmen es als Rumoren, das aus Gräben und Tälern drang. Oder es glimmerte unter den Schuttdecken der Berge, vielversprechend wie Edelmetall. Eberesche und Engelwurz nährten sich aus Säften des Miriquidiwaldes, wuchsen gegen die neue lichtungschlagende Zeit, behaupteten sich auf Waldwegen und Wiesen: urtümliche Rispen Dolden, knallrot bitter. Man sagte dem Spinnhaus Unheimliches nach.
Eine Sammelstelle wurde es für wilde Tiere, Anlaufpunkt für Leute, die dem normalen Leben entsagen wollten.
Es brachte Gerüchte zustande, zumal sich die Menschen, die das Haus nach dem Bankrott der Spinnfabrik bewohnten, in erstaunlicher Vielzahl vermehrten. Es war nicht ungewöhnlich, daß eine Familie zwölf Kinder besaß, die in höchstens zwei Zimmern miteinander auskamen.
Jeder Familie im Spinnhaus war von Gott auch mindestens eine Mißgeburt zugedacht. Sperrgusche Trulla
Mit sechzig Jahren ließ sich die alte Uhligen endlich schwängern.
Ein Wunder, daß ihr Leib noch den Saft eines Mannes hatte aufnehmen können, da sie doch seit ihrer Jugend nicht einmal richtig zu essen vermochte und nur aus Vernunft täglich ein bißchen Brot und Kompott zu sich nahm. Immer stand sie ganz schmal auf den Beinen, die Knochen von lederner Haut umgeben. Im Dorf sagte man bei ihrem Anblick:
"Su e dirrs Geprassl."
Geboren im November 1900 als Tochter eines Schindelmachers und einer Strumpfstrickerin, wurde sie mit Eltern und acht Geschwistern von der Gemeinde aus einer Schwarzenberger Hinterhofkammer ins Spinnhaus verfrachtet.
Dort, hoffte man, würde der Teufel die Sippschaft dezimieren, denn sämtliche Mitglieder der Familie Uhlig hatten etwas Unheimliches an sich: sie waren stumm. Es war ein Stummsein der Seele.
Weder Vater Mutter noch Kinder gaben je einen Laut von sich, der der Verständigung mit anderen diente. Sie redeten nicht, wie es die Leute sonst taten - die Uhligs pflegten nach außen hin erzene Tonlosigkeit. Untereinander sprachen sie das Nötigste.
Uhlig-Vater schlug Jahr um Jahr Schiefer und ergraute bis ins Weiße der Augäpfel hinein. Mutter Uhligs nadelklappernde Finger krümmten sich unter Rheuma. Immer öfter lösten sich Maschen, zerdröselten die Strümpfe. Bis Mutter das Stricken aufgeben mußte.
Als Trulla, die Jüngste, zur Welt kam, konnte Uhlig-Muttern ihr Kind schon nicht mehr festhalten. Trulla war anders.
Von Geburt an schrie sie aus kräftigem Guschel, bläkte quäkte brüllte gegen jede Familientradition an.
Als sie ein halbes Jahr alt war, starb Vater an Schieferstaublunge. Die ersten Worte, die Trulla zwei Monate später von sich gab, begleiteten Mutter ins Grab.
Trulla, genannt Sperrgusche, redete, was zehn Uhligs ihr Leben lang nicht gesprochen hatten. Unablässig sprudelten Worte aus ihr heraus. Mit großem Spaß ließ sie Töne steigen, quietschte heitere Reime, brachte Spinnhäusler und Dörfler zum Lachen.
Redete redete redete. Gehörtes spann sie zu Geschichten, Vermutetes zu Märchen. Sie versetzte die mürrischen Gebirgler in den Zauber fröhlicher Träume. Die ganze Kindheit widmete sie ihrer Kunst.
Mit zwölf Jahren besuchte Uhlig-Trulla die Klöppelschule in Schneeberg.
Sie besaß die Fähigkeit, auch beim Kreuzen der Klöppel zu erzählen. Nach Vorgaben des Musterbriefes entstanden Zierden und Ornamente nicht nur in weißer Kattunspitze. Uhlig-Trulla fädelte hunderte kuriose Geschichten in ihre Arbeit hinein. Das Garn um den Stengel geschlungen, paarweis aufgedreht, halbe Schläge, ganze Schläge, Kreuzschläge, Doppelschläge, Zipfel-, Rosen-, Raupenborten, Schnällchen Schlänglein Morgensonne, Herrenwurst und Pfaffenhut; kreuzquer schossen Klöppel, wurden Nadeln ins strohgestopfte Kissen gesteckt, kreuzquer Fäden auf Dudel geschoben, kreuzquer Zaubersprüche Sagen Geschichten verflochten.
Die anderen Klöpplerinnen mochten die Sperrgusche anfangs ertragen. Nach einer Weile wurde Trulla ihre Ruhlosigkeit zum Verhängnis: sie wußte alles, was in der Gegend und unter Leuten vorging. Sie erzählte es weiter, putzte die Anekdoten auf, verfeinerte und vergröberte sie nach eigener Lust. Mitunter wußte sie die Wirklichkeit nicht von ihren Sprachlustgebilden zu unterscheiden. Manch Neuwelter sah sich verraten, in ein Licht gestellt, das er nicht kannte, das ihm Angst machte. Krähen ließen sich auf dem Dach des Spinnhauses nieder.
Vor allem die Weibsn fürchteten Trullas Märchen und Gemeinheiten und sammelten heimlich Indizien gegen sie. Mit vierzehn Jahren redete Trulla gegen die Zeit.
Sie hatte Augen und Ohren überall:
Das Geschrei der Mädchen auf dem Platz vor der Emmauskirche, Blaskapellen, die Burschen in Uniform, Gewehre Blumen Krieg Kirmes, die Lockrufe der Generäle und des Friedhofes, oben, wo der Wald anfängt. Trulla bekam keinen ab.
Hatten alle jungen Weibsn bei Kriegsbeginn noch schnell einen Liebsten unter ihre Schürzen gelockt, so blieb Trulla allein sitzen.
"Die redt wie e Entnarschloch", sagte man, aber Trulla konnte nichts dagegen tun. Es gefiel ihr nicht, was vor sich ging.
Sie wollte auch keinen Soldaten. Vier Brüder im Feld.
Einer fiel vor Riga, einer bei Hermannstadt, einer ertrank in der Donau, den vierten zerriß es bei Verdun. Klöppeln Deutsches Frauenwerk.
Trulla verklöppelte ihren Haß. Eisern kreuzweis zählte sie die Toten auf. Laut. Hörbar.
Halbschlag Ganzschlag Galgenknoten.
Die Kaufladentür schloß sich vor ihr. Die Kirchentür schloß sich vor ihr.
Die Tür der Klöppelstube. Nur das Spinnhaus war für sie offen.
Die Neuwelter Frauen wollten nichts mehr hören von Uhlig-Trulla. Sie redete mit sich.
Klöppelte erzählte klöppelte labbte klöppelte schwafelte. Uhlig-Trulla war Meisterin geworden. Ihre Spitzen Litzen Borten fanden begeisterte Käufer. Sie war unermüdlich im Handwerk. Sie vergaß mitunter Essen und Trinken. Ihre Geschichten rankten sich um den Hunger des Lebens. Ihre Haare waren lang und schwarz. Bis sie das dreißigste Jahr erreicht hatte.
Niemand hat Uhlig-Trulla jemals nackt gesehen.
Die Dorfweibsn behaupteten, sie litte unter einer auszehrenden Krankheit, die von Gott geschickt worden sei und sich als erstes im Haar zeige.
Als Trulla an ihrem dreißigsten Geburtstag die strenge Dressur des zum Knoten gebundenen Haares auflöste, um es über dem Küchenausguß zu waschen, stieß sie auf Silber. Es fiel aus ihrem Haar: gediegen drahtig gekrümmt fein in sich gewunden. An manchen Stellen, an den Spitzen vor allem, schien es, wie man es im Gebirge finden kann: gelbbraun und schwärzlich. Wenn Trulla das Haar wusch, spülte sie kleine bleiglänzende Kristalle heraus. Abermals redete sie gegen die Zeit.
Einen zweiten Weltkrieg lang, in dem sie das Sonnenradmuster erfand, aber so schnell und viel gar nicht nachklöppeln konnte, wie von ihr verlangt wurde. Uhlig-Trulla klöppelte sich kaputt.
Für den Ausputz des Krieges.
Die innere Front der Kultur: Sonnenradmuster, Spitzen Borten Deckchen von Böhmen bis Sudetenland, von Schlesien bis nach Mähren.
Uhlig-Trulla alterte auf unaufhaltsame Weise: schneller, unerbittlicher, als es üblich war. Sie ahnte, was für einen Wahnwitz sie herstellte. Ließ die Klöppel hängen.
Zerriß das Garn.
Sie aß kaum etwas, dörrte vor sich hin, sah hörte wußte was geschah, listete abermals die Toten auf, erzählte die Geschichte jedem, der sie nicht hören wollte.
An einem Maitag 1943 besuchte Reichsstatthalter und sächsischer Gauleiter, der Mutschmann-Martin, den Neuwelter Kirchplatz. Trulla schaffte es unter Vortäuschung hysterischer Verehrung, den Mann zur Seite zu ziehen und ihm aus ihrer Kenntnis der Annalen ein Anekdötchen vom Mutschmannschen Stammbaum zu offenbaren:
"Vor genau zweihundert Jahren", flüsterte sie dem Gauleiter ins Ohr, "hat auf dem Boden, wo heute das Spinnhaus steht, das Weib des Mutschmann-Curt eine tote Tochter ohne Hirnschale geboren. Mit offenem Mund war sie zur Welt gekommen und der Zeigefinger in die rechte Hand gewachsen. An der Stirn hatte sie zwei große offene Kalbsaugen und hinten am Kopf Haarzöpfe von Fleisch mit hölzernen Kunkeln durchzogen."
Der Gauleiter war blaß geworden, aber da kamen schon andere Männer in Uniformen, stießen die Sperrgusche zur Seite und retteten Mutschmann-Martin vor dem Herztod.
Der Pfarrer bezichtigte Trulla der Zügellosigkeit im Umgang mit Wahrheit und Glauben.
Sie mußte im Steinbruch, der sich an der rechten Seite des Geringsberges entlang erstreckte, arbeiten. Es war die Hölle.
Mitunter stieß sie beim Brechen des Gesteins auf Silber und Zinn, wie es in der Schwarzenberger Gegend oft vorkam. Mitunter aber fand sie auch pechglänzendes Mineral, dessen Strahlen ihr Körper aufnahm, Tag um Tag, wie die anderen Steinbrucharbeiter. Unten toste das Schwarzwasser.
Mit fünfundvierzig Jahren hatte Trulla den Buckel einer Hexe und Hände wie Krallen.
Sie wohnte allein in einer kleinen Küche im Spinnhaus. Umgeben vom eisernen Herd Tisch Spind Ausguß Küchenbank. Der Klöppelsack war geplatzt, Stroh drang heraus. Trulla wollte ihn auf den Dachboden verfrachten, aber sie schaffte es nicht. Abends breitete sie Decken auf der Bank aus und rollte sich darunter zusammen. Wenn der Herd erkaltet war, überfiel Trulla der Schlaf. Sie dachte selten daran, daß ihr etwas fehlte.
Der Steinbruch war geschlossen worden, als der Frieden nach Neuwelt kam. Am 8. Mai 1945. In aller Stille.
Sechs Wochen lang der ungewöhnliche Frieden im Landkreis Aue-Schwarzenberg, in dem nichts zu hören war, kein Schuß, kein Motorradknattern, keine fremden Befehle. Auch Uhlig-Trulla schwieg.
Auf ihrer Haut wuchsen seltsame pechblendenschwarze Punkte.
Wenige Tage später und wenige Kilometer vom Spinnhaus entfernt, in einer Pfarrstube, wurde die Republik Schwarzenberg ausgerufen.
Trulla, wie auf überirdischen Strahlen in Gedanken dahingetragen, erfuhr, was vor sich ging. Sie fand ihre Sprache wieder und erzählte am nächsten Tag den Weibsn des Dorfes, was die Zukunft bringen sollte.
Aus den Trümmern des Dritten Reiches entsteht eine freie deutsche Republik. Die Zukunft gestalten wir selbst.
Es war ein Gekrächz und Gezänk, das Uhlig-Trulla umschwirrte. Warum wollte sie die Leute mit ihrem Gerede nicht in Ruhe lassen? Was für giftige Lust trieb sie, die wildesten Gerüchte zu verbreiten, zumal eine Krankheit an ihrer Haut fraß? Vielleicht war es ja ansteckend.
Das Schwarzwasser trug ihre Träume durchs Gebirg. Die freie Republik.
Ende Juni war sie vergessen.
Ende Juni kam der Russe nach Schwarzenberg.
Ende Juni spann Trulla die irrwitzigsten Märchen.
Sie erzählte die Märchen viele Jahre lang. Mal den Waschweibsn, dem Pfarrer, den Kindern auf dem Schulhof. Man lachte Trulla aus.
Die schwarzen Flecken auf ihrer Haut vermehrten sich. Sie schmerzten nicht, begannen aber zu bluten und verwuchsen zu Geschwülsten. Mäuse hatten sich über den alten Klöppelsack hergemacht.
Die Gemeinde gab Trulla ein paar Groschen für Brot und Erdäpfel. Trulla aß noch weniger als sonst.
Milchmann Stülpnagel riet ihr zum Knollenblätterpilzragout. Der Pfarrer empfahl einen Arzt. Uhlig-Trulla brauchte keinen Arzt.
An ihrem neunundfünfzigsten Geburtstag, als ihr morgens ein Pfund gediegenes Silber aus dem Haar in die Küchenspüle fiel, beschloß sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Mit nassen Haaren verließ sie das Spinnhaus.
Es war Herbst.
Zu beiden Seiten des Weges wuchs Engelwurz in holzigen Dolden. Auch Fingerhut und Schierling lockten die Kranke. Doch jene Gifte, in denen sie sich auskannte und die ewige Heilung versprachen, wollte sie nicht gebrauchen. Trulla trieb es ins Wasser.
In den Griesebach, der hinter Neuwelt durchs Lauterer Förstel floß und sich in den Hüttenstauden bis zur Morgenleithe hin verzweigte. Trulla zog sich nackt aus.
Kein Mensch hat sie jemals nackt gesehen.
Trulla stieg in den Bach. Ritzte sich die Füße am Glimmersteingrund. Dann tauchte sie ins Wasser. Eiskalt umspülte es Haut und Knochen. Aus Boden und Felsen gelöste Energie strömte durch die Badende.
Als sie wieder aus dem Bach geklettert war, sang Uhlig-Trulla. Frisch fühlte sie sich, erlöst von allem Druck und der Verrottung ihrer Haut.
Sie lief nach Hause, indem sie federnden Schrittes über Wurzeln und Buschwerk sprang.
Kurz vorm Danelchristelgut, in einer herbstbunten Wiese, warf sich Trulla nieder. Ihr war, als würde ihr das Glück den Verstand entreißen. Ebereschenrotes Licht sah sie über den Wald steigen, dann verdunkelte es sich, wurde warm, etwas kam näher, eine Gestalt, warm, brummend, Trulla raffte ihr Kleid über dem Bauch und schob sich dem Fremden entgegen.
Es geschah etwas, das Trulla nur vom Hörensagen kannte. Worüber sie selbst nie zu erzählen vermochte, was sie aus allem Wissen und Begehren verdrängt hatte. Etwas, das für sie nicht vorgesehen war. Sie spürte alles und nichts.
Wer es gewesen war, der die alte Sperrgusche dick gemacht hatte, war nie in Erfahrung zu bringen. Trulla selbst wußte nichts, wollte auch nichts wissen. Sie pflegte nur ihren Bauch, zeigte ihn stolz vor und ließ sich von niemandem eine Gefahr einreden. Die Gemeinde betete für sie.
Nach dem Gottesdienst warfen ihr die Weibsn Tannenzapfen und Kienäpfel nach.
Beim Milchmann Stülpnagel wurde gemunkelt, der Russe sei es gewesen.
Im Sägewerk sprach man dagegen vom verrückten Meder-Andreas, der selbst vor Verstorbenen nicht haltmache. Es war der Bär, knarrten die Krähen.
Im Spinnhaus war klar: es würde niemals eine Antwort auf die Frage geben, wer Uhlig-Trulla geschwängert hatte.
Nach neun Monaten hatte Trullas Bauch die Größe eines Gartenkürbisses.
Der Bär blieb sieben Wochen im Waschkeller des Spinnhauses, bevor er seine Winterruhe unterbrach und eines Nachts davonschlich. Die Spur führte deutlich zum Ort seiner Herkunft. Das Spinnhaus
Es wurde um 1860 herum erbaut: ein dreistöckiges Gebäude mit schiefergedecktem Spitzdach. Das Fundament aus Steinen, die von den Granitmassiven des Erzgebirges geschlagen worden waren.
In der unteren Etage befand sich die Fabrik. Dutzende moderne Kämm- und Ringspinnmaschinen, Wollschläger und Klettenwölfe versprachen dem Besitzer Reichtum, etwas, das dem Leben im Erzgebirge nie zugedacht war.
An die hundert Spinner und Spinnerinnen schleppten sortierten wolften mischten schmälzten lösten wogen krempelten nitschelten und spannen Wolle Baumwolle Garn, zwölf Stunden am Tag, faserhustend, traumversponnen des Nachts. In den oberen Stockwerken hausten sie mit ihren Familien.
Seit jener Zeit war das Haus hinter dem Geringsberg verschrien als Hort der Ausbeutung, Armut und Krankheit, der größte Elendspunkt des westlichen Erzgebirges. Der Profit sächsischer Textilindustrie ließ die Städte stark werden. Die Neuwelter Spinnfabrik war ihr nicht gewachsen.
Nachdem vierzig Jahre vergangen waren, standen die Maschinen still.
Der Pleite folgte das neue Jahrhundert. Es versprach, anders zu werden.
Die Leute vernahmen es als Rumoren, das aus Gräben und Tälern drang. Oder es glimmerte unter den Schuttdecken der Berge, vielversprechend wie Edelmetall. Eberesche und Engelwurz nährten sich aus Säften des Miriquidiwaldes, wuchsen gegen die neue lichtungschlagende Zeit, behaupteten sich auf Waldwegen und Wiesen: urtümliche Rispen Dolden, knallrot bitter. Man sagte dem Spinnhaus Unheimliches nach.
Eine Sammelstelle wurde es für wilde Tiere, Anlaufpunkt für Leute, die dem normalen Leben entsagen wollten.
Es brachte Gerüchte zustande, zumal sich die Menschen, die das Haus nach dem Bankrott der Spinnfabrik bewohnten, in erstaunlicher Vielzahl vermehrten. Es war nicht ungewöhnlich, daß eine Familie zwölf Kinder besaß, die in höchstens zwei Zimmern miteinander auskamen.
Jeder Familie im Spinnhaus war von Gott auch mindestens eine Mißgeburt zugedacht. Sperrgusche Trulla
Mit sechzig Jahren ließ sich die alte Uhligen endlich schwängern.
Ein Wunder, daß ihr Leib noch den Saft eines Mannes hatte aufnehmen können, da sie doch seit ihrer Jugend nicht einmal richtig zu essen vermochte und nur aus Vernunft täglich ein bißchen Brot und Kompott zu sich nahm. Immer stand sie ganz schmal auf den Beinen, die Knochen von lederner Haut umgeben. Im Dorf sagte man bei ihrem Anblick:
"Su e dirrs Geprassl."
Geboren im November 1900 als Tochter eines Schindelmachers und einer Strumpfstrickerin, wurde sie mit Eltern und acht Geschwistern von der Gemeinde aus einer Schwarzenberger Hinterhofkammer ins Spinnhaus verfrachtet.
Dort, hoffte man, würde der Teufel die Sippschaft dezimieren, denn sämtliche Mitglieder der Familie Uhlig hatten etwas Unheimliches an sich: sie waren stumm. Es war ein Stummsein der Seele.
Weder Vater Mutter noch Kinder gaben je einen Laut von sich, der der Verständigung mit anderen diente. Sie redeten nicht, wie es die Leute sonst taten - die Uhligs pflegten nach außen hin erzene Tonlosigkeit. Untereinander sprachen sie das Nötigste.
Uhlig-Vater schlug Jahr um Jahr Schiefer und ergraute bis ins Weiße der Augäpfel hinein. Mutter Uhligs nadelklappernde Finger krümmten sich unter Rheuma. Immer öfter lösten sich Maschen, zerdröselten die Strümpfe. Bis Mutter das Stricken aufgeben mußte.
Als Trulla, die Jüngste, zur Welt kam, konnte Uhlig-Muttern ihr Kind schon nicht mehr festhalten. Trulla war anders.
Von Geburt an schrie sie aus kräftigem Guschel, bläkte quäkte brüllte gegen jede Familientradition an.
Als sie ein halbes Jahr alt war, starb Vater an Schieferstaublunge. Die ersten Worte, die Trulla zwei Monate später von sich gab, begleiteten Mutter ins Grab.
Trulla, genannt Sperrgusche, redete, was zehn Uhligs ihr Leben lang nicht gesprochen hatten. Unablässig sprudelten Worte aus ihr heraus. Mit großem Spaß ließ sie Töne steigen, quietschte heitere Reime, brachte Spinnhäusler und Dörfler zum Lachen.
Redete redete redete. Gehörtes spann sie zu Geschichten, Vermutetes zu Märchen. Sie versetzte die mürrischen Gebirgler in den Zauber fröhlicher Träume. Die ganze Kindheit widmete sie ihrer Kunst.
Mit zwölf Jahren besuchte Uhlig-Trulla die Klöppelschule in Schneeberg.
Sie besaß die Fähigkeit, auch beim Kreuzen der Klöppel zu erzählen. Nach Vorgaben des Musterbriefes entstanden Zierden und Ornamente nicht nur in weißer Kattunspitze. Uhlig-Trulla fädelte hunderte kuriose Geschichten in ihre Arbeit hinein. Das Garn um den Stengel geschlungen, paarweis aufgedreht, halbe Schläge, ganze Schläge, Kreuzschläge, Doppelschläge, Zipfel-, Rosen-, Raupenborten, Schnällchen Schlänglein Morgensonne, Herrenwurst und Pfaffenhut; kreuzquer schossen Klöppel, wurden Nadeln ins strohgestopfte Kissen gesteckt, kreuzquer Fäden auf Dudel geschoben, kreuzquer Zaubersprüche Sagen Geschichten verflochten.
Die anderen Klöpplerinnen mochten die Sperrgusche anfangs ertragen. Nach einer Weile wurde Trulla ihre Ruhlosigkeit zum Verhängnis: sie wußte alles, was in der Gegend und unter Leuten vorging. Sie erzählte es weiter, putzte die Anekdoten auf, verfeinerte und vergröberte sie nach eigener Lust. Mitunter wußte sie die Wirklichkeit nicht von ihren Sprachlustgebilden zu unterscheiden. Manch Neuwelter sah sich verraten, in ein Licht gestellt, das er nicht kannte, das ihm Angst machte. Krähen ließen sich auf dem Dach des Spinnhauses nieder.
Vor allem die Weibsn fürchteten Trullas Märchen und Gemeinheiten und sammelten heimlich Indizien gegen sie. Mit vierzehn Jahren redete Trulla gegen die Zeit.
Sie hatte Augen und Ohren überall:
Das Geschrei der Mädchen auf dem Platz vor der Emmauskirche, Blaskapellen, die Burschen in Uniform, Gewehre Blumen Krieg Kirmes, die Lockrufe der Generäle und des Friedhofes, oben, wo der Wald anfängt. Trulla bekam keinen ab.
Hatten alle jungen Weibsn bei Kriegsbeginn noch schnell einen Liebsten unter ihre Schürzen gelockt, so blieb Trulla allein sitzen.
"Die redt wie e Entnarschloch", sagte man, aber Trulla konnte nichts dagegen tun. Es gefiel ihr nicht, was vor sich ging.
Sie wollte auch keinen Soldaten. Vier Brüder im Feld.
Einer fiel vor Riga, einer bei Hermannstadt, einer ertrank in der Donau, den vierten zerriß es bei Verdun. Klöppeln Deutsches Frauenwerk.
Trulla verklöppelte ihren Haß. Eisern kreuzweis zählte sie die Toten auf. Laut. Hörbar.
Halbschlag Ganzschlag Galgenknoten.
Die Kaufladentür schloß sich vor ihr. Die Kirchentür schloß sich vor ihr.
Die Tür der Klöppelstube. Nur das Spinnhaus war für sie offen.
Die Neuwelter Frauen wollten nichts mehr hören von Uhlig-Trulla. Sie redete mit sich.
Klöppelte erzählte klöppelte labbte klöppelte schwafelte. Uhlig-Trulla war Meisterin geworden. Ihre Spitzen Litzen Borten fanden begeisterte Käufer. Sie war unermüdlich im Handwerk. Sie vergaß mitunter Essen und Trinken. Ihre Geschichten rankten sich um den Hunger des Lebens. Ihre Haare waren lang und schwarz. Bis sie das dreißigste Jahr erreicht hatte.
Niemand hat Uhlig-Trulla jemals nackt gesehen.
Die Dorfweibsn behaupteten, sie litte unter einer auszehrenden Krankheit, die von Gott geschickt worden sei und sich als erstes im Haar zeige.
Als Trulla an ihrem dreißigsten Geburtstag die strenge Dressur des zum Knoten gebundenen Haares auflöste, um es über dem Küchenausguß zu waschen, stieß sie auf Silber. Es fiel aus ihrem Haar: gediegen drahtig gekrümmt fein in sich gewunden. An manchen Stellen, an den Spitzen vor allem, schien es, wie man es im Gebirge finden kann: gelbbraun und schwärzlich. Wenn Trulla das Haar wusch, spülte sie kleine bleiglänzende Kristalle heraus. Abermals redete sie gegen die Zeit.
Einen zweiten Weltkrieg lang, in dem sie das Sonnenradmuster erfand, aber so schnell und viel gar nicht nachklöppeln konnte, wie von ihr verlangt wurde. Uhlig-Trulla klöppelte sich kaputt.
Für den Ausputz des Krieges.
Die innere Front der Kultur: Sonnenradmuster, Spitzen Borten Deckchen von Böhmen bis Sudetenland, von Schlesien bis nach Mähren.
Uhlig-Trulla alterte auf unaufhaltsame Weise: schneller, unerbittlicher, als es üblich war. Sie ahnte, was für einen Wahnwitz sie herstellte. Ließ die Klöppel hängen.
Zerriß das Garn.
Sie aß kaum etwas, dörrte vor sich hin, sah hörte wußte was geschah, listete abermals die Toten auf, erzählte die Geschichte jedem, der sie nicht hören wollte.
An einem Maitag 1943 besuchte Reichsstatthalter und sächsischer Gauleiter, der Mutschmann-Martin, den Neuwelter Kirchplatz. Trulla schaffte es unter Vortäuschung hysterischer Verehrung, den Mann zur Seite zu ziehen und ihm aus ihrer Kenntnis der Annalen ein Anekdötchen vom Mutschmannschen Stammbaum zu offenbaren:
"Vor genau zweihundert Jahren", flüsterte sie dem Gauleiter ins Ohr, "hat auf dem Boden, wo heute das Spinnhaus steht, das Weib des Mutschmann-Curt eine tote Tochter ohne Hirnschale geboren. Mit offenem Mund war sie zur Welt gekommen und der Zeigefinger in die rechte Hand gewachsen. An der Stirn hatte sie zwei große offene Kalbsaugen und hinten am Kopf Haarzöpfe von Fleisch mit hölzernen Kunkeln durchzogen."
Der Gauleiter war blaß geworden, aber da kamen schon andere Männer in Uniformen, stießen die Sperrgusche zur Seite und retteten Mutschmann-Martin vor dem Herztod.
Der Pfarrer bezichtigte Trulla der Zügellosigkeit im Umgang mit Wahrheit und Glauben.
Sie mußte im Steinbruch, der sich an der rechten Seite des Geringsberges entlang erstreckte, arbeiten. Es war die Hölle.
Mitunter stieß sie beim Brechen des Gesteins auf Silber und Zinn, wie es in der Schwarzenberger Gegend oft vorkam. Mitunter aber fand sie auch pechglänzendes Mineral, dessen Strahlen ihr Körper aufnahm, Tag um Tag, wie die anderen Steinbrucharbeiter. Unten toste das Schwarzwasser.
Mit fünfundvierzig Jahren hatte Trulla den Buckel einer Hexe und Hände wie Krallen.
Sie wohnte allein in einer kleinen Küche im Spinnhaus. Umgeben vom eisernen Herd Tisch Spind Ausguß Küchenbank. Der Klöppelsack war geplatzt, Stroh drang heraus. Trulla wollte ihn auf den Dachboden verfrachten, aber sie schaffte es nicht. Abends breitete sie Decken auf der Bank aus und rollte sich darunter zusammen. Wenn der Herd erkaltet war, überfiel Trulla der Schlaf. Sie dachte selten daran, daß ihr etwas fehlte.
Der Steinbruch war geschlossen worden, als der Frieden nach Neuwelt kam. Am 8. Mai 1945. In aller Stille.
Sechs Wochen lang der ungewöhnliche Frieden im Landkreis Aue-Schwarzenberg, in dem nichts zu hören war, kein Schuß, kein Motorradknattern, keine fremden Befehle. Auch Uhlig-Trulla schwieg.
Auf ihrer Haut wuchsen seltsame pechblendenschwarze Punkte.
Wenige Tage später und wenige Kilometer vom Spinnhaus entfernt, in einer Pfarrstube, wurde die Republik Schwarzenberg ausgerufen.
Trulla, wie auf überirdischen Strahlen in Gedanken dahingetragen, erfuhr, was vor sich ging. Sie fand ihre Sprache wieder und erzählte am nächsten Tag den Weibsn des Dorfes, was die Zukunft bringen sollte.
Aus den Trümmern des Dritten Reiches entsteht eine freie deutsche Republik. Die Zukunft gestalten wir selbst.
Es war ein Gekrächz und Gezänk, das Uhlig-Trulla umschwirrte. Warum wollte sie die Leute mit ihrem Gerede nicht in Ruhe lassen? Was für giftige Lust trieb sie, die wildesten Gerüchte zu verbreiten, zumal eine Krankheit an ihrer Haut fraß? Vielleicht war es ja ansteckend.
Das Schwarzwasser trug ihre Träume durchs Gebirg. Die freie Republik.
Ende Juni war sie vergessen.
Ende Juni kam der Russe nach Schwarzenberg.
Ende Juni spann Trulla die irrwitzigsten Märchen.
Sie erzählte die Märchen viele Jahre lang. Mal den Waschweibsn, dem Pfarrer, den Kindern auf dem Schulhof. Man lachte Trulla aus.
Die schwarzen Flecken auf ihrer Haut vermehrten sich. Sie schmerzten nicht, begannen aber zu bluten und verwuchsen zu Geschwülsten. Mäuse hatten sich über den alten Klöppelsack hergemacht.
Die Gemeinde gab Trulla ein paar Groschen für Brot und Erdäpfel. Trulla aß noch weniger als sonst.
Milchmann Stülpnagel riet ihr zum Knollenblätterpilzragout. Der Pfarrer empfahl einen Arzt. Uhlig-Trulla brauchte keinen Arzt.
An ihrem neunundfünfzigsten Geburtstag, als ihr morgens ein Pfund gediegenes Silber aus dem Haar in die Küchenspüle fiel, beschloß sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Mit nassen Haaren verließ sie das Spinnhaus.
Es war Herbst.
Zu beiden Seiten des Weges wuchs Engelwurz in holzigen Dolden. Auch Fingerhut und Schierling lockten die Kranke. Doch jene Gifte, in denen sie sich auskannte und die ewige Heilung versprachen, wollte sie nicht gebrauchen. Trulla trieb es ins Wasser.
In den Griesebach, der hinter Neuwelt durchs Lauterer Förstel floß und sich in den Hüttenstauden bis zur Morgenleithe hin verzweigte. Trulla zog sich nackt aus.
Kein Mensch hat sie jemals nackt gesehen.
Trulla stieg in den Bach. Ritzte sich die Füße am Glimmersteingrund. Dann tauchte sie ins Wasser. Eiskalt umspülte es Haut und Knochen. Aus Boden und Felsen gelöste Energie strömte durch die Badende.
Als sie wieder aus dem Bach geklettert war, sang Uhlig-Trulla. Frisch fühlte sie sich, erlöst von allem Druck und der Verrottung ihrer Haut.
Sie lief nach Hause, indem sie federnden Schrittes über Wurzeln und Buschwerk sprang.
Kurz vorm Danelchristelgut, in einer herbstbunten Wiese, warf sich Trulla nieder. Ihr war, als würde ihr das Glück den Verstand entreißen. Ebereschenrotes Licht sah sie über den Wald steigen, dann verdunkelte es sich, wurde warm, etwas kam näher, eine Gestalt, warm, brummend, Trulla raffte ihr Kleid über dem Bauch und schob sich dem Fremden entgegen.
Es geschah etwas, das Trulla nur vom Hörensagen kannte. Worüber sie selbst nie zu erzählen vermochte, was sie aus allem Wissen und Begehren verdrängt hatte. Etwas, das für sie nicht vorgesehen war. Sie spürte alles und nichts.
Wer es gewesen war, der die alte Sperrgusche dick gemacht hatte, war nie in Erfahrung zu bringen. Trulla selbst wußte nichts, wollte auch nichts wissen. Sie pflegte nur ihren Bauch, zeigte ihn stolz vor und ließ sich von niemandem eine Gefahr einreden. Die Gemeinde betete für sie.
Nach dem Gottesdienst warfen ihr die Weibsn Tannenzapfen und Kienäpfel nach.
Beim Milchmann Stülpnagel wurde gemunkelt, der Russe sei es gewesen.
Im Sägewerk sprach man dagegen vom verrückten Meder-Andreas, der selbst vor Verstorbenen nicht haltmache. Es war der Bär, knarrten die Krähen.
Im Spinnhaus war klar: es würde niemals eine Antwort auf die Frage geben, wer Uhlig-Trulla geschwängert hatte.
Nach neun Monaten hatte Trullas Bauch die Größe eines Gartenkürbisses.
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Autoren-Porträt von Kerstin Hensel
Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Arbeitete als Krankenschwester, studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Ausgezeichnet für ihre Werke mit u. a. dem Anna-Seghers-Preis, dem Förderpreis des Lessing-Preises des Freistaats Sachsen und dem Gerrit-Engelke-Literaturpreis der Stadt Hannover sowie dem Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt 2008. Die Autorin lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kerstin Hensel
- 2003, 250 Seiten, Maße: 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630871453
- ISBN-13: 9783630871455
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