Im Wald der stummen Schreie
Thriller
Drei Frauenleichen wurden makaber in Szene gesetzt und teilweise verspeist. Die Suche nach der Wahrheit führt die Pariser Untersuchungsrichterin Jeanne bis in den Dschungel Argentiniens. Was sie dort entdeckt, übersteigt ihre schlimmsten Phantasien.
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
7.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Wald der stummen Schreie “
Drei Frauenleichen wurden makaber in Szene gesetzt und teilweise verspeist. Die Suche nach der Wahrheit führt die Pariser Untersuchungsrichterin Jeanne bis in den Dschungel Argentiniens. Was sie dort entdeckt, übersteigt ihre schlimmsten Phantasien.
Klappentext zu „Im Wald der stummen Schreie “
Jeanne Korowa, eine erfolgreiche Untersuchungsrichterin in Paris, wird mit ihrem Kollegen François Taine auf eine besonders grausame Mordserie angesetzt: Drei Frauen wurden brutal ausgeweidet, ihre Leichen makaber in Szene gesetzt und Teile ihrer Körper offenbar vom Täter verspeist. Im Zuge der Ermittlungen stößt Jeanne auf einen besorgten Vater, der von den unverständlichen Taten seines autistischen Sohnes berichtet. Er ahnt, dass dieser zu unglaublichen Verbrechen in der Lage ist. Könnte der junge Mann der Täter sein? Die Suche nach der Wahrheit führt Jeanne bis in den Dschungel Argentiniens. Was sie dort entdeckt, hätte sie sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können -
Lese-Probe zu „Im Wald der stummen Schreie “
Im Wald der stummen Schreie von Jean-Christophe Grangé1. Die Opfer
1
... mehr
Das war's. Genau das.
Die Prada-Pumps, die sie in der Vogue vom letzten Monat entdeckt hatte. Die diskrete, entscheidende Note, die das Ensemble abrunden würde. Mit dem Kleid, das ihr vorschwebte - ein kleines Schwarzes, das sie supergünstig in der Rue du Dragon erstanden hatte. Ganz einfach schräg. Lächeln. Jeanne Korowa rekelte sich hinter ihrem Schreibtisch. Endlich hatte sie die passende Garderobe für den Abend beisammen. Sowohl was die Form als auch was den Geist anlangte.
Sie überprüfte ihr Handy. Keine Nachricht. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, stärker noch als die bisherigen Male. Weshalb rief er nicht an? Es war schon nach vier. War es nicht zu spät, um die Verabredung zum Abendessen zu bestätigen?
Sie wischte ihre Zweifel beiseite und rief bei der Prada-Boutique in der Avenue Montaigne an. Ob sie Schuhe in 39 hätten? Sie würde vor sieben vorbeischauen. Kurze Erleichterung, auf die sogleich eine neue Sorge folgte: Sie hatte ihr Konto bereits um 800 Euro überzogen. Nach diesem Einkauf würde sie mit mehr als 1300 Euro in der Kreide stehen.
Aber heute war der 29. Mai. Ihr Gehalt würde in zwei Tagen überwiesen. 4 000 Euro. Kein Cent mehr, Prämien eingeschlossen. Den nächsten Monat würde sie also ein weiteres Mal mit einem Drittel weniger von ihrem Gehalt auskommen müssen. Sie war es gewohnt. Schon lange hatte sie ein gewisses Geschick darin, mit überzogenem Konto zu leben.
Sie schloss die Augen. Sie sah sich in ihren Lackschuhen. Heute Abend würde sie eine andere sein. Nicht wiederzuerkennen. Strahlend. Unwiderstehlich. Der Rest war nur ein Kinderspiel. Annäherung. Versöhnung. Erneutes Auseinandergehen ...
Aber wieso rief er nicht an? Dabei hatte er am Vorabend den Kontakt wiederaufgenommen. Zum hundertsten Mal öffnete sie an diesem Tag ihre Mailbox und checkte ihre E-Mails.
»Die Worte lassen uns irgendetwas daherreden. Ich glaubte selbstverständlich keines davon. Wie wär's, morgen ein Abendessen zu zweit? Ich ruf dich an und hol dich am Gericht ab. Ich werde dein König sein, und du wirst meine Königin sein ... «
Die letzten Wörter waren natürlich eine Anspielung auf Heroes, einen Song von David Bowie. Ein Sammlerstück, wo der Rockstar mehrere Strophen auf Französisch singt. Sie sah die Szene wieder vor sich - der Tag, an dem sie die Schallplatte in einem Spezialgeschäft im Pariser Hallenviertel entdeckt hatten. Die Freude in seinen Augen. Sein Lächeln ... In diesem Moment wünschte sie sich nichts weiter, als immer wieder dieses Leuchten in seinen Augen hervorrufen zu können oder es einfach nur zu bewahren. Wie die Vestalinnen im antiken Rom das heilige Feuer im Tempel hüten mussten.
Das Telefon klingelte. Nicht ihr Handy. Das stationäre. »Hallo?«
»Violet.«
In einem Sekundenbruchteil schlüpfte Jeanne wieder in ihre offizielle Rolle.
»Was haben wir in der Hand?«
»Nichts.«
»Hat er gestanden?«
»Nein.«
»Hat er sie nun vergewaltigt - ja oder nein?«
»Er sagt, dass er sie nicht kennt.«
»Ist sie denn nicht die Tochter seiner Geliebten?«
»Er sagt, dass er die Mutter auch nicht kennt.«
»Wir können doch leicht das Gegenteil beweisen, oder?« »In diesem Fall ist nichts leicht.«
»Wie viele Stunden haben wir noch?«
»Sechs. Also so gut wie nichts. In achtzehn Stunden hat er nicht einmal mit der Wimper gezuckt.«
»Mist!«
»Kannst du laut sagen. Ich werde ihn mir nochmals vorknöpfen und ihn etwas härter rannehmen. Aber wenn kein Wunder geschieht ... «
Sie legte auf und wurde sich ihrer Gleichgültigkeit bewusst. Zwischen der Schwere der Vorwürfe in diesem Fall - Vergewaltigung und Körperverletzung bei einer Minderjährigen - und der Bagatelle, um die es in ihrem Privatleben ging - mit ihm zu Abend essen oder nicht -, klaffte ein Abgrund. Trotzdem konnte sie an nichts anderes denken als an ihre Verabredung.
Auf der Nationalen Hochschule für das Richteramt hatte man ihnen gleich zu Beginn der Ausbildung eine Videosequenz gezeigt: Ein Täter wurde beim Begehen einer Straftat von einer Überwachungskamera gefilmt. Anschließend wurde jeder angehende Richter aufgefordert, zu erzählen, was er gesehen hatte. Jeder berichtete etwas anderes. Die Marke und die Farbe des aufgebrochenen Autos änderten sich. Die Zahl der Täter schwankte. Die Abfolge der Ereignisse war nie gleich. Die Lektion dieser Übung war klar: Es gibt keine objektive Wahrheit. Die Gerechtigkeit ist eine menschliche Angelegenheit. Unvollkommen, Schwankungen unterworfen, subjektiv.
Unwillkürlich betrachtete Jeanne noch einmal das Display ihres Handys. Nichts. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Schon seit dem Morgen konnte sie den Anruf kaum erwarten. Sie hatte nicht aufgehört, in Phantasien zu schwelgen, immer wieder dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen wiederzukäuen, um schon in der nächsten Sekunde in totaler Verzweiflung zu versinken. Mehrmals stand sie kurz davor, selbst anzurufen. Aber nein. Niemals. Sie musste durchhalten ...
Halb sechs. Plötzlich wurde sie von Panik ergriffen. Alles war vorbei. Dieses vage Versprechen, gemeinsam zu Abend zu essen, war das letzte Zucken des Leichnams. Er würde nicht zurückkommen. Sie musste es sich eingestehen. »Abtrauern.« »Wieder zu Kräften kommen.« »Sich um sich selbst kümmern.« Dumme Sprüche, mit denen sich vom Pech verfolgte junge Frauen wie sie über ihre Verzweiflung hinwegzutrösten suchten. Die ewig Sitzengelassenen und Zukurzgekommenen. Sie warf ihren Stabilo auf den Schreibtisch und stand auf.
Ihr Büro befand sich im dritten Stock des Gebäudes, in dem das Landgericht von Nanterre seinen Sitz hatte. Zehn Quadratmeter, vollgestopft mit Akten, die nach Staub und Druckertinte rochen - zehn Quadratmeter, auf denen sich zwei Schreibtische drängten: ihrer und der ihrer Mitarbeiterin Claire. Sie hatte Claire um vier freigegeben, um ungestört vor sich hin zu träumen.
Sie stellte sich ans Fenster und betrachtete den Park von Nanterre. Sanft geschwungene Hügel, die von kümmerlichem Rasen überzogen waren. Siedlungen in Regenbogentönen rechter Hand und, weiter weg, die »Wolkenkratzer« von Émile Aillaud, dem Architekten, der sagte: »Der Fertigbau ist eine ökonomische Notwendigkeit, aber er darf den Menschen nicht den Eindruck vermitteln, dass sie selbst vorgefertigt sind.« Jeanne gefiel dieses Zitat. Aber sie war sich nicht sicher, ob das Ergebnis den Hoffnungen des Architekten entsprach. Tag für Tag landeten die »Produkte« dieser heruntergekommenen Viertel auf ihrem Schreibtisch: Diebstahl, Vergewaltigung, Körperverletzung, Drogenkriminalität ... Nichts Vorgefertigtes, das war sicher.
Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Ihr war übel. Sie fragte sich, wie lange sie wohl noch ohne eine Lexotanil durchhalten würde. Ihr Blick fiel auf einen Block Briefpapier. Berufungsgericht Versailles. Landgericht Nanterre. Dienststelle von Frau Jeanne Korowa. Ermittlungsrichterin beim Landgericht Nanterre. In ihrem Geist hörte sie die Formeln widerhallen, mit denen sie gewöhnlich charakterisiert wurde. Die jüngste Absolventin ihres Jahrgangs. Die »aufstrebende junge Richterin«, der eine große Karriere bevorstehe. Das war die offizielle Version.
Die private Version war eine Katastrophe. Fünfunddreißig Jahre alt, unverheiratet, kinderlos. Einige Freundinnen, ebenfalls Singles. Eine gemietete Dreizimmerwohnung im 6. Arrondissement. Keine Rücklagen. Kein Vermögen. Keine Perspektive. Das Leben war ihr wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen. Und im Restaurant begann man sie »Madame« und nicht mehr »Mademoiselle« zu nennen. Mist.
Vor zwei Jahren hatte sie den Boden unter den Füßen verloren. Das Leben, das bereits einen bitteren Geschmack hatte, machte ihr schließlich gar keine Freude mehr. Depression. Krankenhausaufenthalt. Damals vegetierte sie nur noch vor sich hin. Leben war für sie gleichbedeutend mit »Leiden«. Seltsamerweise behielt sie ihren Aufenthalt in der Psychiatrie in guter Erinnerung. Drei Wochen Schlaf, mit Medikamenten und Gläschen Babynahrung gefüttert. Eine behutsame Rückkehr in die Realität. Antidepressiva. Psychoanalyse ... Die damaligen Erlebnisse hinterließen ein unsichtbares schwarzes Loch in ihr, das sie im Alltag mit Hilfe von Psychotherapie, Medikamenten und Ausgehen zu umschiffen versuchte. Aber das schwarze Loch war immer sehr nah, und es übte fast eine magnetische Anziehungskraft aus.
Sie kramte in ihrer Tasche nach ihren Lexotanil und legte eine ganze Tablette unter ihre Zunge. Früher hatte sie nur ein Viertel genommen, aber aufgrund der Macht der Gewohnheit zog sie sich jetzt immer eine ganze rein. Sie ließ sich in ihren Sessel sinken und wartete. Sehr rasch löste sich die Anspannung in ihrer Brust. Ihr Atem ging wieder regelmäßiger. Ihre Gedanken wurden verschwommener ...
Jemand klopfte an die Tür. Sie schreckte auf. Sie war eingeschlafen.
Stéphane Reinhardt stand in seinem Jackett mit Hahnentrittmuster in der Tür - mit zerzaustem Haar, zerknitterter Miene, unrasiert. Einer der sieben Ermittlungsrichter am Landgericht. Man nannte sie die »sieben Söldner«. Reinhardt besaß bei weitem den meisten Sexappeal. Vom Typ her eher Steve McQueen als Yul Brynner.
»Hast du Bereitschaftsdienst für Steuerstrafsachen?«
»Gewissermaßen.«
Vor drei Wochen hatte man ihr dieses Sachgebiet übertragen, auf dem sie keine Expertin war. Genauso gut hätte sie die Zuständigkeit für Schwerkriminalität oder Terrorismus bekommen können.
»Ja oder nein?«
»Ja!«
Reinhardt schwenkte eine Mappe aus grünem Karton.
»Die Staatsanwaltschaft hat sich vertan. Sie haben mir diesen Antrag auf Einleitung des Ermittlungsverfahrens zugesandt.«
Ein Antrag auf Einleitung des Ermittlungsverfahrens wird von einem Staatsanwalt nach der ersten Prüfung eines Falles gestellt. Ein amtliches Dokument, das an die ersten Unterlagen der Akte angetackert ist: Protokolle der Polizisten, Bericht des Finanzamtes, anonyme Briefe ... Alles, was die ersten Verdachtsmomente erhärten kann.
»Ich habe eine Kopie für dich gemacht«, fuhr er fort. »Du kannst sie sofort durcharbeiten. Ich schicke ihnen das Original noch heute Abend zurück. Sie werden dir die Sache morgen übertragen. Oder ich warte ein paar Tage und übergebe die Akte dem nächsten Richter, der Bereitschaftsdienst hat. Willst du, oder nicht?«
»Worum handelt es sich?«
»Ein anonymer Bericht. Ein schöner kleiner politischer Skandal, wie es scheint.«
»Welches Lager?«
Er führte die rechte Hand an seine Schläfe und tat so, als würde er salutieren.
»Ganz rechts, Herr General!«
Binnen einer Sekunde hatte Jeanne Feuer gefangen. Denn ihr Beruf war tatsächlich ihre Berufung. Sie war erfüllt von ihrer Aufgabe. Dem Bewusstsein ihrer Macht. Ihrer Stellung als Richterin kraft präsidialem Dekret.
Sie streckte den Arm über ihren Schreibtisch aus.
»Gib her.«
2
Sie hatte Thomas auf einer Vernissage kennengelernt. Sie erinnerte sich noch an das genaue Datum: 12. Mai 2006. An den Ort: ein weitläufiges Appartement auf dem linken Seineufer, in dem damals eine Fotoausstellung gezeigt wurde. Ihr typischer Look: indischer Kasack, graumoirierte Jeans, Stiefel mit Silberschnallen nach Art von Motorradfahrerstiefeln. Jeanne hatte keine Augen für die Fotos an den Wänden gehabt. Sie hatte sich auf ihr Ziel konzentriert: den Fotografen selbst.
Sie hatte so viel Champagner getrunken, bis sie völlig enthemmt war. Wenn sie ihr Opfer ausgewählt hatte, liebte sie es, sich gehen zu lassen und selbst Opfer zu werden. Killing me softly with his song. Die Version der Fugees übertönte das Stimmengewirr. Die perfekte Musik für ihren mentalen Striptease, bei dem sie sich nach und nach von ihren Ängsten, ihrer Scheu und Schamhaftigkeit befreite. All dies schwebte über ihrem Kopf wie ein Bustier oder ein String-Tanga, bis sie endlich die wahre Freiheit erreichte: die des Begehrens.
Gleichzeitig hörte Jeanne die Warnungen von Freundinnen: »Thomas? Ein Schürzenjäger. Ein Weiberheld. Ein Dreckskerl.« Sie lächelte. Es war schon zu spät. Der Champagner betäubte ihr seelisches Abwehrsystem. Er hatte sich ihr genähert. Hatte mit seiner Verführungsnummer begonnen, die im Grunde recht erbärmlich war. Aber jenseits der Scherze glühte sein Verlangen. Und in ihrem Lächeln spiegelte sich ihre Antwort wider.
Schon bei dieser Begegnung hatten die Missverständnisse angefangen. Der erste Kuss war zu schnell gekommen. Noch am selben Abend im Auto. Und wie ihre Mutter zu sagen pflegte, ehe sie durchdrehte: »Für die Frau ist der erste Kuss der Anfang einer Affäre. Für den Mann ist es der Anfang vom Ende.« Jeanne machte sich Vorwürfe, weil sie so schnell nachgegeben hatte. Weil sie es nicht verstanden hatte, die erotische Spannung langsam wachsen zu lassen.
Um das Maß voll zu machen, hatte sie sich ihm anschließend mehrere Wochen verweigert und so für unnötige Spannungen zwischen ihnen gesorgt. Ihre Rollenverteilung war klar: Er
war der Fordernde, sie die Abweisende. Vielleicht schützte sie sich bereits ... Sie wusste, dass sie mit ihrem Körper auch ihr Herz hingeben würde. Und dass damit die echte Abhängigkeit begann.
Thomas war ein guter Fotograf, keine Frage. Aber ansonsten war er eine Null. Er war weder schön noch hässlich. Bestimmt nicht sympathisch. Geizig, egoistisch und feige, wie die meisten Männer. Tatsächlich hatten Jeanne und er nur eine Gemeinsamkeit: zwei Stunden Psychotherapie pro Woche. Und ihre tiefen seelischen Wunden, die sie zu behandeln versuchten. Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sich die Tatsache, dass sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte, nur durch die äußeren Umstände erklären. Der richtige Ort. Die richtige Zeit. Sonst nichts. Sie wusste dies alles, und dennoch hob sie ihn weiterhin in den Himmel und unterzog sich in einem fort einer Selbsthypnose. Die Liebe der Frau: die einzige Domäne, wo das Ei die Henne legt ...
Das war nicht ihr erster Fehlgriff. Sie hatte eine sichere Hand für Nieten und sogar für Verrückte. Wie etwa diesen Anwalt, der jedes Mal den Boiler ausschaltete, bevor sie bei ihm übernachtete. Er hatte bemerkt, dass Jeanne nach einer heißen Dusche einschlief, ohne mit ihm zu vögeln. Oder diesen Informatiker, der sie über seine Webcam zum Striptease aufforderte. Sie hatte die Sache sofort beendet, als ihr aufging, dass er nicht der Einzige war, der ihr zusah. Oder diesen unbekannten Verleger, der bei Fahrten mit der U-Bahn weiße Filzhandschuhe trug und in Buchhandlungen Sonderangebote stahl. Es hatte noch andere gegeben. So viele andere ... Womit hatte sie nur all diese Typen mit durchgebrannter Sicherung verdient? All diesen Fehlgriffen lag eine einfache Wahrheit zugrunde: Jeanne war in die Liebe verliebt.
Als Mädchen hatte sich Jeanne an einem Lied nicht satt-hören können: »Lass sie nicht fallen / sie ist so zerbrechlich / eine emanzipierte Frau / hat es nicht leicht ... « Damals hatte sie die verborgene Ironie dieser Worte nicht verstanden, doch sie ahnte, dass dieses Lied auf geheimnisvolle Weise ihre Zukunft besiegeln würde. Sie hatte Recht behalten. Heute war die Pariserin Jeanne Korowa eine unabhängige, emanzipierte Frau. Und ja ... es war nicht leicht.
Sie eilte von Prozess zu Prozess, von Haussuchung zu Zeugenvernehmung und fragte sich dabei immer, ob sie auf dem richtigen Weg war. Ob dies das Leben war, von dem sie geträumt hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, einem riesigen Betrug aufgesessen zu sein. Man hatte ihr eingeredet, sie müsse den Männern ebenbürtig sein. Bei der Arbeit ihr Bestes geben. Mit ihren Gefühlen zurückstecken. Aber war das auch wirklich das, was sie wollte?
Was sie wütend machte, war die Tatsache, dass diese Situation von Männern diktiert worden war. Die Männer in den Städten hatten die Ernüchterung in Sachen Liebe so weit getrieben, dass sich die Frauen gezwungen sahen, ihren Traum von der großen Liebe und ihren Kinderwunsch aufzugeben. Und wozu dies alles? Um im Berufsleben zu bestehen und abends vor der Glotze ihren Träumen nachzuhängen, während sie ihr Lexotanil mit einem Glas Wein hinunterspülten. Das nannte man dann Fortschritt.
Übersetzung: Thorsten Schmidt
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Das war's. Genau das.
Die Prada-Pumps, die sie in der Vogue vom letzten Monat entdeckt hatte. Die diskrete, entscheidende Note, die das Ensemble abrunden würde. Mit dem Kleid, das ihr vorschwebte - ein kleines Schwarzes, das sie supergünstig in der Rue du Dragon erstanden hatte. Ganz einfach schräg. Lächeln. Jeanne Korowa rekelte sich hinter ihrem Schreibtisch. Endlich hatte sie die passende Garderobe für den Abend beisammen. Sowohl was die Form als auch was den Geist anlangte.
Sie überprüfte ihr Handy. Keine Nachricht. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, stärker noch als die bisherigen Male. Weshalb rief er nicht an? Es war schon nach vier. War es nicht zu spät, um die Verabredung zum Abendessen zu bestätigen?
Sie wischte ihre Zweifel beiseite und rief bei der Prada-Boutique in der Avenue Montaigne an. Ob sie Schuhe in 39 hätten? Sie würde vor sieben vorbeischauen. Kurze Erleichterung, auf die sogleich eine neue Sorge folgte: Sie hatte ihr Konto bereits um 800 Euro überzogen. Nach diesem Einkauf würde sie mit mehr als 1300 Euro in der Kreide stehen.
Aber heute war der 29. Mai. Ihr Gehalt würde in zwei Tagen überwiesen. 4 000 Euro. Kein Cent mehr, Prämien eingeschlossen. Den nächsten Monat würde sie also ein weiteres Mal mit einem Drittel weniger von ihrem Gehalt auskommen müssen. Sie war es gewohnt. Schon lange hatte sie ein gewisses Geschick darin, mit überzogenem Konto zu leben.
Sie schloss die Augen. Sie sah sich in ihren Lackschuhen. Heute Abend würde sie eine andere sein. Nicht wiederzuerkennen. Strahlend. Unwiderstehlich. Der Rest war nur ein Kinderspiel. Annäherung. Versöhnung. Erneutes Auseinandergehen ...
Aber wieso rief er nicht an? Dabei hatte er am Vorabend den Kontakt wiederaufgenommen. Zum hundertsten Mal öffnete sie an diesem Tag ihre Mailbox und checkte ihre E-Mails.
»Die Worte lassen uns irgendetwas daherreden. Ich glaubte selbstverständlich keines davon. Wie wär's, morgen ein Abendessen zu zweit? Ich ruf dich an und hol dich am Gericht ab. Ich werde dein König sein, und du wirst meine Königin sein ... «
Die letzten Wörter waren natürlich eine Anspielung auf Heroes, einen Song von David Bowie. Ein Sammlerstück, wo der Rockstar mehrere Strophen auf Französisch singt. Sie sah die Szene wieder vor sich - der Tag, an dem sie die Schallplatte in einem Spezialgeschäft im Pariser Hallenviertel entdeckt hatten. Die Freude in seinen Augen. Sein Lächeln ... In diesem Moment wünschte sie sich nichts weiter, als immer wieder dieses Leuchten in seinen Augen hervorrufen zu können oder es einfach nur zu bewahren. Wie die Vestalinnen im antiken Rom das heilige Feuer im Tempel hüten mussten.
Das Telefon klingelte. Nicht ihr Handy. Das stationäre. »Hallo?«
»Violet.«
In einem Sekundenbruchteil schlüpfte Jeanne wieder in ihre offizielle Rolle.
»Was haben wir in der Hand?«
»Nichts.«
»Hat er gestanden?«
»Nein.«
»Hat er sie nun vergewaltigt - ja oder nein?«
»Er sagt, dass er sie nicht kennt.«
»Ist sie denn nicht die Tochter seiner Geliebten?«
»Er sagt, dass er die Mutter auch nicht kennt.«
»Wir können doch leicht das Gegenteil beweisen, oder?« »In diesem Fall ist nichts leicht.«
»Wie viele Stunden haben wir noch?«
»Sechs. Also so gut wie nichts. In achtzehn Stunden hat er nicht einmal mit der Wimper gezuckt.«
»Mist!«
»Kannst du laut sagen. Ich werde ihn mir nochmals vorknöpfen und ihn etwas härter rannehmen. Aber wenn kein Wunder geschieht ... «
Sie legte auf und wurde sich ihrer Gleichgültigkeit bewusst. Zwischen der Schwere der Vorwürfe in diesem Fall - Vergewaltigung und Körperverletzung bei einer Minderjährigen - und der Bagatelle, um die es in ihrem Privatleben ging - mit ihm zu Abend essen oder nicht -, klaffte ein Abgrund. Trotzdem konnte sie an nichts anderes denken als an ihre Verabredung.
Auf der Nationalen Hochschule für das Richteramt hatte man ihnen gleich zu Beginn der Ausbildung eine Videosequenz gezeigt: Ein Täter wurde beim Begehen einer Straftat von einer Überwachungskamera gefilmt. Anschließend wurde jeder angehende Richter aufgefordert, zu erzählen, was er gesehen hatte. Jeder berichtete etwas anderes. Die Marke und die Farbe des aufgebrochenen Autos änderten sich. Die Zahl der Täter schwankte. Die Abfolge der Ereignisse war nie gleich. Die Lektion dieser Übung war klar: Es gibt keine objektive Wahrheit. Die Gerechtigkeit ist eine menschliche Angelegenheit. Unvollkommen, Schwankungen unterworfen, subjektiv.
Unwillkürlich betrachtete Jeanne noch einmal das Display ihres Handys. Nichts. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Schon seit dem Morgen konnte sie den Anruf kaum erwarten. Sie hatte nicht aufgehört, in Phantasien zu schwelgen, immer wieder dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen wiederzukäuen, um schon in der nächsten Sekunde in totaler Verzweiflung zu versinken. Mehrmals stand sie kurz davor, selbst anzurufen. Aber nein. Niemals. Sie musste durchhalten ...
Halb sechs. Plötzlich wurde sie von Panik ergriffen. Alles war vorbei. Dieses vage Versprechen, gemeinsam zu Abend zu essen, war das letzte Zucken des Leichnams. Er würde nicht zurückkommen. Sie musste es sich eingestehen. »Abtrauern.« »Wieder zu Kräften kommen.« »Sich um sich selbst kümmern.« Dumme Sprüche, mit denen sich vom Pech verfolgte junge Frauen wie sie über ihre Verzweiflung hinwegzutrösten suchten. Die ewig Sitzengelassenen und Zukurzgekommenen. Sie warf ihren Stabilo auf den Schreibtisch und stand auf.
Ihr Büro befand sich im dritten Stock des Gebäudes, in dem das Landgericht von Nanterre seinen Sitz hatte. Zehn Quadratmeter, vollgestopft mit Akten, die nach Staub und Druckertinte rochen - zehn Quadratmeter, auf denen sich zwei Schreibtische drängten: ihrer und der ihrer Mitarbeiterin Claire. Sie hatte Claire um vier freigegeben, um ungestört vor sich hin zu träumen.
Sie stellte sich ans Fenster und betrachtete den Park von Nanterre. Sanft geschwungene Hügel, die von kümmerlichem Rasen überzogen waren. Siedlungen in Regenbogentönen rechter Hand und, weiter weg, die »Wolkenkratzer« von Émile Aillaud, dem Architekten, der sagte: »Der Fertigbau ist eine ökonomische Notwendigkeit, aber er darf den Menschen nicht den Eindruck vermitteln, dass sie selbst vorgefertigt sind.« Jeanne gefiel dieses Zitat. Aber sie war sich nicht sicher, ob das Ergebnis den Hoffnungen des Architekten entsprach. Tag für Tag landeten die »Produkte« dieser heruntergekommenen Viertel auf ihrem Schreibtisch: Diebstahl, Vergewaltigung, Körperverletzung, Drogenkriminalität ... Nichts Vorgefertigtes, das war sicher.
Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Ihr war übel. Sie fragte sich, wie lange sie wohl noch ohne eine Lexotanil durchhalten würde. Ihr Blick fiel auf einen Block Briefpapier. Berufungsgericht Versailles. Landgericht Nanterre. Dienststelle von Frau Jeanne Korowa. Ermittlungsrichterin beim Landgericht Nanterre. In ihrem Geist hörte sie die Formeln widerhallen, mit denen sie gewöhnlich charakterisiert wurde. Die jüngste Absolventin ihres Jahrgangs. Die »aufstrebende junge Richterin«, der eine große Karriere bevorstehe. Das war die offizielle Version.
Die private Version war eine Katastrophe. Fünfunddreißig Jahre alt, unverheiratet, kinderlos. Einige Freundinnen, ebenfalls Singles. Eine gemietete Dreizimmerwohnung im 6. Arrondissement. Keine Rücklagen. Kein Vermögen. Keine Perspektive. Das Leben war ihr wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen. Und im Restaurant begann man sie »Madame« und nicht mehr »Mademoiselle« zu nennen. Mist.
Vor zwei Jahren hatte sie den Boden unter den Füßen verloren. Das Leben, das bereits einen bitteren Geschmack hatte, machte ihr schließlich gar keine Freude mehr. Depression. Krankenhausaufenthalt. Damals vegetierte sie nur noch vor sich hin. Leben war für sie gleichbedeutend mit »Leiden«. Seltsamerweise behielt sie ihren Aufenthalt in der Psychiatrie in guter Erinnerung. Drei Wochen Schlaf, mit Medikamenten und Gläschen Babynahrung gefüttert. Eine behutsame Rückkehr in die Realität. Antidepressiva. Psychoanalyse ... Die damaligen Erlebnisse hinterließen ein unsichtbares schwarzes Loch in ihr, das sie im Alltag mit Hilfe von Psychotherapie, Medikamenten und Ausgehen zu umschiffen versuchte. Aber das schwarze Loch war immer sehr nah, und es übte fast eine magnetische Anziehungskraft aus.
Sie kramte in ihrer Tasche nach ihren Lexotanil und legte eine ganze Tablette unter ihre Zunge. Früher hatte sie nur ein Viertel genommen, aber aufgrund der Macht der Gewohnheit zog sie sich jetzt immer eine ganze rein. Sie ließ sich in ihren Sessel sinken und wartete. Sehr rasch löste sich die Anspannung in ihrer Brust. Ihr Atem ging wieder regelmäßiger. Ihre Gedanken wurden verschwommener ...
Jemand klopfte an die Tür. Sie schreckte auf. Sie war eingeschlafen.
Stéphane Reinhardt stand in seinem Jackett mit Hahnentrittmuster in der Tür - mit zerzaustem Haar, zerknitterter Miene, unrasiert. Einer der sieben Ermittlungsrichter am Landgericht. Man nannte sie die »sieben Söldner«. Reinhardt besaß bei weitem den meisten Sexappeal. Vom Typ her eher Steve McQueen als Yul Brynner.
»Hast du Bereitschaftsdienst für Steuerstrafsachen?«
»Gewissermaßen.«
Vor drei Wochen hatte man ihr dieses Sachgebiet übertragen, auf dem sie keine Expertin war. Genauso gut hätte sie die Zuständigkeit für Schwerkriminalität oder Terrorismus bekommen können.
»Ja oder nein?«
»Ja!«
Reinhardt schwenkte eine Mappe aus grünem Karton.
»Die Staatsanwaltschaft hat sich vertan. Sie haben mir diesen Antrag auf Einleitung des Ermittlungsverfahrens zugesandt.«
Ein Antrag auf Einleitung des Ermittlungsverfahrens wird von einem Staatsanwalt nach der ersten Prüfung eines Falles gestellt. Ein amtliches Dokument, das an die ersten Unterlagen der Akte angetackert ist: Protokolle der Polizisten, Bericht des Finanzamtes, anonyme Briefe ... Alles, was die ersten Verdachtsmomente erhärten kann.
»Ich habe eine Kopie für dich gemacht«, fuhr er fort. »Du kannst sie sofort durcharbeiten. Ich schicke ihnen das Original noch heute Abend zurück. Sie werden dir die Sache morgen übertragen. Oder ich warte ein paar Tage und übergebe die Akte dem nächsten Richter, der Bereitschaftsdienst hat. Willst du, oder nicht?«
»Worum handelt es sich?«
»Ein anonymer Bericht. Ein schöner kleiner politischer Skandal, wie es scheint.«
»Welches Lager?«
Er führte die rechte Hand an seine Schläfe und tat so, als würde er salutieren.
»Ganz rechts, Herr General!«
Binnen einer Sekunde hatte Jeanne Feuer gefangen. Denn ihr Beruf war tatsächlich ihre Berufung. Sie war erfüllt von ihrer Aufgabe. Dem Bewusstsein ihrer Macht. Ihrer Stellung als Richterin kraft präsidialem Dekret.
Sie streckte den Arm über ihren Schreibtisch aus.
»Gib her.«
2
Sie hatte Thomas auf einer Vernissage kennengelernt. Sie erinnerte sich noch an das genaue Datum: 12. Mai 2006. An den Ort: ein weitläufiges Appartement auf dem linken Seineufer, in dem damals eine Fotoausstellung gezeigt wurde. Ihr typischer Look: indischer Kasack, graumoirierte Jeans, Stiefel mit Silberschnallen nach Art von Motorradfahrerstiefeln. Jeanne hatte keine Augen für die Fotos an den Wänden gehabt. Sie hatte sich auf ihr Ziel konzentriert: den Fotografen selbst.
Sie hatte so viel Champagner getrunken, bis sie völlig enthemmt war. Wenn sie ihr Opfer ausgewählt hatte, liebte sie es, sich gehen zu lassen und selbst Opfer zu werden. Killing me softly with his song. Die Version der Fugees übertönte das Stimmengewirr. Die perfekte Musik für ihren mentalen Striptease, bei dem sie sich nach und nach von ihren Ängsten, ihrer Scheu und Schamhaftigkeit befreite. All dies schwebte über ihrem Kopf wie ein Bustier oder ein String-Tanga, bis sie endlich die wahre Freiheit erreichte: die des Begehrens.
Gleichzeitig hörte Jeanne die Warnungen von Freundinnen: »Thomas? Ein Schürzenjäger. Ein Weiberheld. Ein Dreckskerl.« Sie lächelte. Es war schon zu spät. Der Champagner betäubte ihr seelisches Abwehrsystem. Er hatte sich ihr genähert. Hatte mit seiner Verführungsnummer begonnen, die im Grunde recht erbärmlich war. Aber jenseits der Scherze glühte sein Verlangen. Und in ihrem Lächeln spiegelte sich ihre Antwort wider.
Schon bei dieser Begegnung hatten die Missverständnisse angefangen. Der erste Kuss war zu schnell gekommen. Noch am selben Abend im Auto. Und wie ihre Mutter zu sagen pflegte, ehe sie durchdrehte: »Für die Frau ist der erste Kuss der Anfang einer Affäre. Für den Mann ist es der Anfang vom Ende.« Jeanne machte sich Vorwürfe, weil sie so schnell nachgegeben hatte. Weil sie es nicht verstanden hatte, die erotische Spannung langsam wachsen zu lassen.
Um das Maß voll zu machen, hatte sie sich ihm anschließend mehrere Wochen verweigert und so für unnötige Spannungen zwischen ihnen gesorgt. Ihre Rollenverteilung war klar: Er
war der Fordernde, sie die Abweisende. Vielleicht schützte sie sich bereits ... Sie wusste, dass sie mit ihrem Körper auch ihr Herz hingeben würde. Und dass damit die echte Abhängigkeit begann.
Thomas war ein guter Fotograf, keine Frage. Aber ansonsten war er eine Null. Er war weder schön noch hässlich. Bestimmt nicht sympathisch. Geizig, egoistisch und feige, wie die meisten Männer. Tatsächlich hatten Jeanne und er nur eine Gemeinsamkeit: zwei Stunden Psychotherapie pro Woche. Und ihre tiefen seelischen Wunden, die sie zu behandeln versuchten. Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sich die Tatsache, dass sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte, nur durch die äußeren Umstände erklären. Der richtige Ort. Die richtige Zeit. Sonst nichts. Sie wusste dies alles, und dennoch hob sie ihn weiterhin in den Himmel und unterzog sich in einem fort einer Selbsthypnose. Die Liebe der Frau: die einzige Domäne, wo das Ei die Henne legt ...
Das war nicht ihr erster Fehlgriff. Sie hatte eine sichere Hand für Nieten und sogar für Verrückte. Wie etwa diesen Anwalt, der jedes Mal den Boiler ausschaltete, bevor sie bei ihm übernachtete. Er hatte bemerkt, dass Jeanne nach einer heißen Dusche einschlief, ohne mit ihm zu vögeln. Oder diesen Informatiker, der sie über seine Webcam zum Striptease aufforderte. Sie hatte die Sache sofort beendet, als ihr aufging, dass er nicht der Einzige war, der ihr zusah. Oder diesen unbekannten Verleger, der bei Fahrten mit der U-Bahn weiße Filzhandschuhe trug und in Buchhandlungen Sonderangebote stahl. Es hatte noch andere gegeben. So viele andere ... Womit hatte sie nur all diese Typen mit durchgebrannter Sicherung verdient? All diesen Fehlgriffen lag eine einfache Wahrheit zugrunde: Jeanne war in die Liebe verliebt.
Als Mädchen hatte sich Jeanne an einem Lied nicht satt-hören können: »Lass sie nicht fallen / sie ist so zerbrechlich / eine emanzipierte Frau / hat es nicht leicht ... « Damals hatte sie die verborgene Ironie dieser Worte nicht verstanden, doch sie ahnte, dass dieses Lied auf geheimnisvolle Weise ihre Zukunft besiegeln würde. Sie hatte Recht behalten. Heute war die Pariserin Jeanne Korowa eine unabhängige, emanzipierte Frau. Und ja ... es war nicht leicht.
Sie eilte von Prozess zu Prozess, von Haussuchung zu Zeugenvernehmung und fragte sich dabei immer, ob sie auf dem richtigen Weg war. Ob dies das Leben war, von dem sie geträumt hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, einem riesigen Betrug aufgesessen zu sein. Man hatte ihr eingeredet, sie müsse den Männern ebenbürtig sein. Bei der Arbeit ihr Bestes geben. Mit ihren Gefühlen zurückstecken. Aber war das auch wirklich das, was sie wollte?
Was sie wütend machte, war die Tatsache, dass diese Situation von Männern diktiert worden war. Die Männer in den Städten hatten die Ernüchterung in Sachen Liebe so weit getrieben, dass sich die Frauen gezwungen sahen, ihren Traum von der großen Liebe und ihren Kinderwunsch aufzugeben. Und wozu dies alles? Um im Berufsleben zu bestehen und abends vor der Glotze ihren Träumen nachzuhängen, während sie ihr Lexotanil mit einem Glas Wein hinunterspülten. Das nannte man dann Fortschritt.
Übersetzung: Thorsten Schmidt
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
... weniger
Autoren-Porträt von Jean-Christophe Grangé
Jean-Christophe Grangé, 1961 in Paris geboren, arbeitet als freier Journalist für "Paris-Match", "Gala", "Sunday Times", "Observer", "El Pais", "Spiegel" und "Stern". Seine abenteuerlichen Reportagen führten Grange zu den Eskimos, den Pygmäen, den Tuareg und in die Mongolei.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jean-Christophe Grangé
- 2011, 544 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Thorsten
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3431038158
- ISBN-13: 9783431038156
Kommentar zu "Im Wald der stummen Schreie"
0 Gebrauchte Artikel zu „Im Wald der stummen Schreie“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Im Wald der stummen Schreie".
Kommentar verfassen