In Brasilien geht`s ohne Textilien
Ein Deutscher in Rio de Janeiro. Originalausgabe
Witzige und wahre Geschichten aus dem Sehnsuchtsland Brasilien
Als Gringo an die Copacabana: Südamerika-Korrespondent Andreas Wunn zieht nach Rio de Janeiro. Dort wird er zwar herzlich empfangen, doch schnell kommt es zu zuckerhutgroßen...
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Produktinformationen zu „In Brasilien geht`s ohne Textilien “
Witzige und wahre Geschichten aus dem Sehnsuchtsland Brasilien
Als Gringo an die Copacabana: Südamerika-Korrespondent Andreas Wunn zieht nach Rio de Janeiro. Dort wird er zwar herzlich empfangen, doch schnell kommt es zu zuckerhutgroßen Missverständnissen: Ein Handtuch mit an den Strand zu nehmen verstößt gegen die heiligen Strandregeln, nachts an roten Ampeln zu halten ist nicht vorgesehen, und deutsche Arbeitsmoral, deutscher Winter, deutscher Fußball - all das löst bei einem Brasilianer sowieso nur Mitleid aus. Mit viel Witz, Sympathie und Augenzwinkern erzählt Andreas Wunn vom Leben im Sehnsuchtsland Brasilien.
Klappentext zu „In Brasilien geht`s ohne Textilien “
Witzige und wahre Geschichten aus dem Sehnsuchtsland BrasilienAls Gringo an die Copacabana: Südamerika-Korrespondent Andreas Wunn zieht nach Rio de Janeiro. Dort wird er zwar herzlich empfangen, doch schnell kommt es zu zuckerhutgroßen Missverständnissen: Ein Handtuch mit an den Strand zu nehmen verstößt gegen die heiligen Strandregeln, nachts an roten Ampeln zu halten ist nicht vorgesehen, und deutsche Arbeitsmoral, deutscher Winter, deutscher Fußball - all das löst bei einem Brasilianer sowieso nur Mitleid aus. Mit viel Witz, Sympathie und Augenzwinkern erzählt Andreas Wunn vom Leben im Sehnsuchtsland Brasilien.
Lese-Probe zu „In Brasilien geht`s ohne Textilien “
In Brasilien geht's ohne Textilien von Andreas WunnNein, mein Hemd ausziehen kann ich jetzt nicht. Obwohl ich es gerne würde. Es klebt klatschnass an meinem Rücken. Bis eben spürte ich noch den Schweiß, wie er zwischen Hemd und Rücken langsam meine Wirbelsäule herunterlief. Jetzt nicht mehr. Das Hemd ist komplett durchgeschwitzt, wie ein Feuchtverband klebt es an mir. Und ein zweites habe ich leider nicht dabei.
Es ist heiß. Unglaublich heiß. Weit über 30 Grad müssen es sein, die Schwüle liegt schwer in der Luft. Und das, obwohl es schon spät ist. So gegen zehn, ich weiß es nicht genau. Ich habe das Gefühl, dass ich bereits seit Stunden hier bin. Meine Beine schmerzen. Ich bin die Bewegungen nicht gewohnt, die Sambaschritte. Ich schwitze. Sehr. Zum Glück ist mein Hemd dunkel. Wäre es hellblau, würde man unter meinen Armen große Schweißflecke erkennen können. Allerdings würde das außer mir wohl keinen stören.
Es ist nicht nur heiß, sondern auch laut. Trommelschläge wummern durch die Halle. Ich werde sie bestimmt noch in meinen Ohren dröhnen hören, wenn ich später längst im Bett liege. Um mich herum überall Menschen. Alte, junge, dicke, dünne, schwarze, weiße. Sie tanzen, sie singen, und sie strecken die Arme in die Höhe. Manche fast wie in Trance, einer glücklichen Trance. Das hier ist Lebensfreude pur, schießt es mir durch den Kopf. Und dass ich Durst habe. Ich brauche etwas zu trinken. Ein Wasser. Oder doch lieber einen Schluck Bier, estupidamente gelada, wie sie hier in Brasilien sagen. Kalt wie blöd. Egal wo man hinkommt in Brasilien, eiskaltes Bier gibt es immer.
... mehr
Auch wenn sich das jetzt nicht so anhört, ich bin bei der Arbeit. Eine Kamera kreist um mich herum. Philippe, mein Kameramann, schwitzt nicht weniger als ich. Claus, mein Producer, steht daneben und schwitzt ebenfalls. Wir drehen gerade, wie ich Samba tanzen lerne. Mehr oder weniger. Die Halle ist voll. Es dürften ein paar Hundert Leute sein. Das hier sieht aus wie eine riesige Party, ist aber eine Probe. Die sonntägliche Probe der Sambaschule »Leopoldinense Imperatriz«. Sie üben für Karneval.
Wir dürfen dabei sein, und ich soll bei verschiedenen Gruppen mitmachen. Ich habe schon an der großen Trommel gestanden und die bateria, die Trommlergruppe, dirigiert - sie kam eigentlich ganz gut ohne mich klar. Dann mit der Fahnenträgerin getanzt und die Fahne geküsst. Wir wollen darüber berichten, wie sich eine Sambaschule auf die große Parade im Sambodrom vorbereitet. Und wie ein Gringo, also ich, sich dabei anstellt. Jetzt tanze ich mitten in der Menge und versuche, meine Füße fliegen zu lassen. Vor und zurück. Meine Hüfte bewegt sich immer schneller, probiert es zumindest. Die Arme nicht vergessen. Die Schultern locker.
Seit mehr als zwei Jahren lebe ich nun in Rio de Janeiro. Ich berichte als Korrespondent aus Brasilien und ganz Südamerika. Rio verändert sich gerade rasant.
Eine Stadt, in der in den nächsten Jahren das Endspiel der FußballWM und die Olympischen Spiele stattfinden werden. Und Brasilien ist ein Land, dessen viel beschworene Zukunft allmählich Gegenwart wird. Alles befindet sich im Aufbruch.
Rio de Janeiro besuchte ich zum ersten Mal als Zwanzigjähriger. Ich stand auf dem CorcovadoBerg, am Fuße der Christusstatue, war fasziniert von dem Panorama und dachte damals: Rio muss die schönste Stadt der Welt sein. Heute denke ich das immer noch. Eine natürliche Schönheit. Rio macht es einem Fremden leicht, sich in diese Stadt zu verlieben. Und es ist sehr schwer, hier nicht glücklich zu werden.
Ich werde in Brasilien eigentlich überall mit offenen Armen empfangen. Vor allem von den Cariocas, den Einwohnern von Rio. Tudo bem? Tudo bem! Alles klar? Alles klar! Und das, obwohl ich ein Gringo bin. Man sieht es mir von Weitem an und hört es, sobald ich den Mund aufmache. Gut, ich bin nicht aus den USA, das wäre schlimmer. Ich komme aus Deutschland. Deutscher Fußball, deutsche Arbeitsmoral, deutscher Winter, deutsche Regeln - all das löst bei einem Brasilianer sowohl Unbehagen als auch Mitleid aus. Und dass ich ein Gringo bin, erkennt man nicht nur an meinem Aussehen - meine Haare sind dunkelblond - und meinem Verhalten, sondern auch an meinen Bewegungen. Vor allem wenn ich tanze. Doch hier lässt sich niemand etwas anmerken. Manchmal schaut jemand zu mir herüber und nickt mir aufmunternd zu. Hier darf jeder mitmachen.
Jetzt kommt João auf mich zu, ein Mitarbeiter der Imperatritz, der uns während der Dreharbeiten betreut.
Er ist den ganzen Abend nicht von unserer Seite gewichen. Eine Sambaschule ist bestens organisiert, und es ist nicht einfach, eine Drehgenehmigung zu bekommen. Aber wie so oft in Brasilien erscheint erst alles ganz schwierig und wird plötzlich ganz leicht. Auf einmal geht alles. Wir haben inzwischen schon mehr als genug gedreht. Mehr als erwartet. Doch was jetzt kommt, darauf war ich wirklich nicht vorbereitet.
Vorne tanzen die passistas, eine Art Vortänzerinnen. Die schönsten Frauen der Sambaschule. Schlank, halb nackt, mit fantasievollen Kostümen und üppigem Federschmuck wirbeln sie jedes Jahr bei der großen Parade durch das Sambodrom. Zur Probe heute haben sie noch kein Kostüm angelegt. Sie tragen ein uniformiertes Outfit in der grünlichen Farbe der Imperatritz: enges, schulterfreies Top, Minirock und hochhackige Schuhe. Mit unglaublicher Energie und Schnelligkeit feuern sie ihre Sambaschritte in den Boden. João gibt ihnen ein Zeichen, breitet die Arme aus und zeigt auf mich. Sie verstehen sofort.
Mit schnellen Schritten gleiten sie auf mich zu und nehmen mich in ihre Mitte. Ein halbes Dutzend brasilianischer Schönheiten hat es auf mich abgesehen. Sie tanzen mich an und lassen ihre Hüften kreisen. Manchmal werden sie einen Tick langsamer, gehen leicht in die Knie und wiegen ihre Oberkörper nach innen und wieder nach außen. Ihre Arme schweben nach oben und nach unten, dunkle Locken fliegen umher. Wohin ich mich auch drehe, ich sehe nur noch braun gebrannte, durchtrainierte Körper. Auf ihren Dekolletés liegt ein dünner Schweißfilm. Alle sind schön. Ich tanze mit, so gut es geht, fühle mich wie im Rausch. Mir ist heiß,mein Herz klopft, ich bin außer Atem. Sie fixieren mich mit herausforderndem Blick. Die Sambamusik wird immer lauter. Wir tanzen immer enger. Ohne uns auch nur ein einziges Mal zu berühren.
João gibt ihnen ein weiteres Zeichen, und sie driften wieder auseinander. Zum Abschied sehen mich alle noch einmal flirtend an. »Impressionante«, rufe ich ihnen zu, bedanke mich lachend und applaudiere ihnen. Sie tanzen von mir weg.
Und ich denke nur: Besser kann es eigentlich nicht werden. Das ist mein brasilianischster Moment. Von jetzt an geht's bergab.
Mein erster Tag in Brasilien, ein Sonntagmorgen Ende September. Regen statt Sonne. Ich war in Frankfurt am Main in den Flieger gestiegen und kam zwölf Stunden später übernächtigt im Morgengrauen in Rio de Janeiro an. Präsentierte bei der Passkontrolle mein frisch ausgestelltes Journalistenvisum, nahm meine Koffer vom Gepäckband und ärgerte mich zum ersten Mal - wie später regelmäßig bei Abflug und Ankunft - über die kaum funktionstüchtigen Gepäckwagen am internationalen Flughafen Galeão, die sich kaum schieben lassen, schon gar nicht um die Kurve.
Abgeholt wurde ich von Fernando, unserem Fahrer im ZDFStudio, dessen Auto allerdings eine Viertelstunde lang nicht ansprang. Als wir endlich das Flughafenparkhaus verlassen konnten, flogen auf dem Weg Richtung Südzone links und rechts die Betonleitplanken der Schnellstraßen an mir vorbei. Dahinter endlose Favelas, denen der starke Regen zusetzte. Hoch oben rechts vor mir tauchte aus den Nebelschwaden kurz die Christusfigur auf. Alles wirkte grau und nass und schwül. Fernando sagte: »Es ist schlimm, wenn es in Rio regnet.«
Mein erster Eindruck von Rio de Janeiro. Bei Regen schien die Stadt wie gelähmt. Wie eine Sommerkulisse hinter Glas. Verschwommen, mit Regentropfen auf der Scheibe. Niemand war auf der Straße. Nur ein paar Autos peitschten durch die Pfützen. Cariocas, die Einwohner von Rio de Janeiro, sehen keinen Sinn darin, bei solchem Wetter aus dem Haus zu gehen. Immer wenn es regnet, nimmt die Stadt sich eine Auszeit.
Damals wusste ich das allerdings noch nicht, hatte auch keine Zeit, über die leeren Straßen nachzudenken. Wichtigeres stand an. Zuerst musste ich in meine angemietete Wohnung in Leme, einem kleinen Stadtviertel direkt neben Copacabana. Strandnähe. Außer einer Matratze und einem Einbauschrank gab es dort keine Möbel. Der Container mit meinen Sachen schipperte noch irgendwo auf dem Atlantik herum. Kurz rein in die Wohnung, einen Blick darauf werfen. Ich schaute aus dem Fenster und sah statt Strand nur tief hängende Regenwolken. Eilig packte ich meine Sachen um, stieß mir dabei den Kopf an der Tür des Schlafzimmerschranks und hetzte mit Beule und Koffer runter zu Fernando, um mich von ihm zum ZDFStudio fahren zu lassen.
Dort setzte ich mich kurz mit meinen neuen Mitarbeitern zusammen, besprach mit ihnen das Notwendigste, und dann ging es schon wieder los. Wir flogen nach Chile, um über die dreiunddreißig eingeschlossenen Bergarbeiter in der Atacama Wüste und die Rettungsmaßnahmen zu berichten. Das sollte mich die kommenden Wochen beschäftigen. Erst danach begann mein Abenteuer Rio de Janeiro. Mein neues Leben in Brasilien.
»Wie? Du hattest in Deutschland keine Haushälterin?« Rosangela war ernsthaft erstaunt und fragte sich wohl für einen Moment, ob ich einen Scherz gemacht hatte.
»Nein, keine Haushälterin«, sagte ich, »nur eine Putzfrau. Die kam aber bloß alle zwei Wochen für ein paar Stunden. Sie putzte und bügelte, und das war's.«
»Und den Rest hast du selbst gemacht?«
»Mehr oder weniger.«
»Und wer hat für dich gekocht?«
»Niemand.«
Rosangela war verwirrt. Wir standen auf meinem Balkon, die Sonne schien. Gerade hatten wir besprochen, was sie mir heute und für die nächsten Tage kochen würde. Sie bereitet immer mehrere Gerichte zu, die ich mir entweder abends zu Hause aufwärme oder zum Mittagessen mit ins Studio nehme. Fisch ist problemlos bei ihr, auch Fleisch und Bohnen. Beim Salat hingegen muss man schon genau sagen, was man sich da vorstellt.
Eine Haushälterin zu haben ist - offen gesagt - ein Luxus, an den ich mich erst mal gewöhnen musste. Rosangela, Mitte fünfzig, mit stämmiger Figur und kurzem, leicht gelocktem dunklen Haar, in dem sich erste graue Strähnen zeigen, kommt zweimal in der Woche zu mir nach Hause. Sie wohnt auf der anderen Seite der Guanabara Bucht in der Nähe von Niterói. Morgens, kurz vor fünf, nimmt sie den Bus nach Rio de Janeiro, trifft dann gegen halb sieben bei mir ein. Da sie einen Schlüssel hat, werkelt sie schon in der Küche herum, wenn ich aufstehe. Sie bleibt immer bis zum frühen Nachmittag und erledigt alles, was in der Wohnung so anfällt. Und da ich im ersten Moment gar nicht wusste, was das alles sein könnte, bekam ich von Rosangela ein wenig Nachhilfe.
Sie hatte schon für mehrere Gringos in Rio de Janeiro gearbeitet und machte mir ein paar durchaus attraktive Vorschläge: putzen, Geschirr spülen, Wäsche waschen, bügeln, Staub wischen, einkaufen, kochen. All das könne ich getrost ihr überlassen, meinte sie. Nach ein paar Arbeitstagen traute sie sich auch an meine Kleiderschränke und ordnete mit geradezu preußischer Disziplin alles neu. Plötzlich sahen die Fächer und Regale aus, als habe ein Bundeswehrspieß auf Ecstasy seinen Ordnungsrausch ausgelebt. Die Hemden waren frisch gebügelt und nach Farben geordnet. Die Schuhe standen in Reih und Glied, selbst meine neuen brasilianischen Hawaianas Flipflops, sieben verschiedene Modelle, lagen akkurat im Schrank. Paarweise aufeinandergestapelt. Wie mit dem Lineal vermessen. »Ihr Gringos habt es doch gerne ordentlich«, sagte Rosangela stolz, als ich sie verwundert und anerkennend zugleich auf die exzessive Neuordnung meiner Garderobe ansprach.
Nun war es für einen Gringo wie mich anfangs keinesfalls leicht, diese Art von Rundumservice einfach zu genießen. So etwas kannte ich schließlich nicht und könnte es mir in Deutschland gar nicht leisten. Das funktioniert nur in einem Schwellenland wie Brasilien, wo Arbeitskraft billig ist. Ich profitierte also letztlich schamlos von Klassenunterschieden und sozialer Ungleichheit, sagte ich mir. Schlechtes Gewissen quälte mich. Ich wurde zum geplagten Gutmenschen, der auf einmal alle Ungerechtigkeiten dieser Welt zweimal in der Woche an seiner Spüle stehen sah.
Auf der anderen Seite mochte ich auf diesen Komfort nicht verzichten, zumal es in Brasilien durchaus üblich ist, eine Haushälterin zu haben. Selbst mit durchschnittlichem Einkommen. Deshalb beschloss ich, zumindest ein perfekter Arbeitgeber zu sein. Viel besser und netter als all die anderen ausbeuterischen Brasilianer, die ihre Hausangestellten tagein, tagaus knechten und sogar in Uniförmchen herumlaufen lassen. Bei mir darf Rosangela Shorts und TShirt tragen. Und immer wieder sage ich mir, dass sie sicherlich schon Schlimmeres erlebt hat, als meine Wohnung zu putzen. Mit elf Jahren begann sie als Hausmädchen zu arbeiten, wohnte während der Woche sogar bei ihren Arbeitgebern. Das Geld, das sie verdiente, musste sie ihrer Mutter abgeben.
So gesehen ein Aufstieg. Um mein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, brachte ich ihr von meinen Reisen kleine Geschenke mit, von meinem ersten Weihnachtsbesuch in Deutschland echte Nürnberger Lebkuchen. Ständig habe ich ihr angeboten, dass sie sich am Kühlschrank bedienen, sich zu essen und zu trinken nehmen soll, was immer sie will. Schließlich sei sie es ja auch, die das Essen koche. Doch jedes Mal lehnte sie ab. Und nie würde sie sich zu mir an den Tisch setzen. Aber wir duzten uns, wie fast alle in Brasilien.
Ich gab also alles, um anders zu sein als ein von dienstbaren Geistern verwöhnter Brasilianer. Dabei sind meine Wohnung und das ganze elfstöckige Haus komplett für Hausangestellte und ein Zweiklassensystem ausgelegt. Das beginnt schon mit den Aufzügen, deren Benutzung streng geregelt ist. Vorne gibt es den elevador social, den offiziellen Aufzug, für die Bessergestellten, also für die Bewohner des Hauses und deren Gäste, während die Dienstboten sowie Lieferanten und Handwerker den hinteren Aufzug, den elevador de serviço, benutzen müssen. Und jede der rund zwanzig Wohnungen hat einen Vorder- und einen Hintereingang, der direkt zu den passenden Aufzügen führt.
Da ich im obersten Stock wohne, enden die Aufzüge direkt in meiner Wohnung. Der Serviceaufzug landet quasi in meiner Küche. Durchquert man die schlauchartige Küche, steht man vor einer Tür, die in einen winzigen Flur führt, von dem wiederum zwei noch winzigere Kämmerchen abgehen. Eigentlich bloß Verschläge mit einer eingebauten Holzpritsche, siebzig Zentimeter breit und einen Meter neunzig lang, und einem kleinen Einbauschrank. Fertig. Mehr Platz ist nicht, denn insgesamt misst dieser Miniraum kaum drei Quadratmeter. Hier wohnten und schliefen früher die Hausangestellten. Apartheid in Architektur gegossen. Ich ziehe eine andere Nutzung vor und lagere dort meine beiden Strandklappstühle, einen alten Sonnenschirm und ein Beachballspiel. Außerdem befindet sich zwischen Küche und Hinterausgang eine Dienstbotentoilette mit karger Dusche. Rosangela benutzt nur diese - nie käme sie auf die Idee, das Bad vorne aufzusuchen. Und nie würde sie mit dem »falschen« Aufzug fahren.
Das Zweiklassendenken ist tief verwurzelt im brasilianischen Alltag. Das lernte ich gleich zu Beginn, als ich mir in einem Möbelgeschäft in Rio de Janeiro ein Sofa bestellte. Zwar war der Container mit meinen Möbeln und Umzugskisten aus Deutschland nach wochenlangem Hin und Her endlich vom brasilianischen Zoll freigegeben worden - was letztlich nur deshalb so lange dauerte, weil ich kein Schmiergeld zahlte -, aber ein Sofa fehlte mir noch. Mein altes hatte ich in Deutschland gelassen. Die Lieferung des neuen erfolgte an einem meiner Haushälterinnentage.
»Andreas, das Sofa kommt«, rief Rosangela.
Es war noch früh am Morgen, und Rosangela hatte über das Haustelefon den Anruf des Portiers entgegengenommen. Der Möbelwagen sei vorgefahren, zwei Männer würden das Sofa jetzt hochtragen. Insofern kein Problem, als es geradeso hochkant in den hinteren Aufzug passte. Sie bekamen es oben auch wieder heraus und durch den Hintereingang, doch in der Küche begann das Problem. Das gute Stück ging nicht durch die Tür zum vorderen Teil der Wohnung. »Nichts zu machen«, sagte fachmännisch einer der Möbelpacker.
Also alles wieder zurück. Aus der Küche in den Flur und zum Aufzug. Aufzugtür auf, Sofa rein, Aufzugtür zu. Als Sofa und Träger wieder auf dem Weg nach unten waren, meinte Rosangela: »Durchs Treppenhaus passt es bestimmt.« Ich wohne im elften Stock, es war drückend heiß an jenem Morgen, in den Gängen und Fluren stand die Luft. »Wieso durchs Treppenhaus?«, fragte ich. »Die sollen es einfach mit dem anderen Aufzug probieren. Ist doch einfacher, und vorne sind die Türen breit genug.«
»Das geht nicht, Andreas, den dürfen sie nicht benutzen. « Rosangela stemmte die Hände in die Hüften und sah mich tadelnd an.
»Schon klar, aber wenn man das Sofa nur so nach oben kriegt ...« »Trotzdem. Das geht nicht.«
»Das heißt, die tragen das Sofa jetzt die Treppe hoch?« Ich konnte es kaum glauben.
»Ja, es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Das darf wohl nicht wahr sein!«
Mein Pragmatismus fühlte sich ebenso herausgefordert wie meine frisch entdeckte Gutmenschmentalität. Ich wusste, dass ich jetzt mit dem einen Mann sprechen musste, der Macht über beide Aufzüge hatte: mit unserem Chefportier.
Antonio ist einer der nettesten Brasilianer, die ich kenne. Etwa Mitte vierzig, mit einem runden, freundlichen Gesicht und vollem schwarzen Haar. Seine Portiersuniform trägt er stets akkurat und frisch gebügelt, schwarze Hose und dunkelblaues Hemd, das am Bauch ein wenig spannt. Am Revers ist der Name unseres Hauses, »Tupi«, aufgestickt.
Ich halte Antonio für einen sehr sentimentalen Menschen, denn seine Augen werden schnell feucht. Wenn man ihm morgens zum Abschied einen schönen Tag wünscht, wirkt er fast gerührt. Fahre ich mit meinem Wagen aus der Tiefgarage, tritt er auf die Straße, hält den Verkehr an, winkt mich erst raus und mir dann zum Abschied nach. Abends bei der Heimkehr hupe ich kurz, damit mir Antonio das Tor aufmacht und ich das Auto in die Tiefgarage fahren kann. Sie ist ungefähr so groß wie anderthalb Tennisplätze. Für siebzehn Autos, die zum Glück nie alle auf einmal drinstehen.
Aber auch so sind die Portiers einen Großteil des Tages damit beschäftigt, die Wagen zentimetergenau hin und her zu rangieren. Oft müssen zwei Autos auf die Straße gefahren werden, damit ein drittes überhaupt aus der Garage rauskommt. Der Mieter muss sich damit nicht aufhalten. Nur reinfahren, den Schlüssel stecken lassen und aussteigen. Dann übernimmt der Portier, fährt den Wagen wieder raus, wendet und setzt schließlich rückwärts rein. Damit das Auto später richtig steht.
Antonio ist, wie gesagt, der Chefportier. Auf sein Kommando hören zwei Kollegen, Sebastião und Manuel. Die drei wechseln sich ab. Tag und Nacht, einer hat immer Dienst. Als Bewohner braucht man keinen Haustürschlüssel. Ich klingele einfach und warte, bis mir die Tür geöffnet wird. Einer von den dreien sitzt auf jeden Fall im Foyer unterhalb der Flurtreppe an einem schmalen Tisch mit kleinem Fernseher, auf dem meistens Fußball läuft. Ein Haus ohne Portier? Für sie einfach undenkbar.
»Hey, Sebastião«, rief Antonio einmal seinem Kollegen zu, »komm mal schnell her.« Wir standen vor der Garageneinfahrt auf der Rückseite des Gebäudes und quatschten. »Andreas hat gerade erzählt, dass es in Deutschland so gut wie keine Portiers gibt.«
Sebastião stützte sich auf seinen Schrubber und schaute verwirrt: »Keine Portiers?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe in Frankfurt in einem Haus gewohnt, da gab es fünf Stockwerke und vielleicht zehn Wohnungen. Aber keinen Portier.«
Antonio und Sebastião warfen sich ratlose Blicke zu. Antonio sagte: »Andreas, wie soll das denn funktionieren? «
»Na ja«, sagte ich, »man muss sich halt um vieles selbst kümmern.« »Moment mal«, sagte Antonio, mehr zu sich selbst als zu mir oder zu seinem Kollegen. »Stell dir mal vor, hier gäbe es keine Portiers. Andreas, dann würdest du von der Arbeit kommen und müsstest aus dem Auto steigen und dir selbst die Garagentür aufmachen. Dann würdest du nach oben in deine Wohnung fahren, müde von der Arbeit, und vielleicht noch das Treppenhaus putzen. Das wäre aber sehr hart. Das kann man sich ja gar nicht vorstellen.«
Zwei Welten, doch in diesem Moment kam mir das ebenfalls unglaublich hart vor. Antonio schüttelte nachdenklich den Kopf, und Sebastião zog mit seinem Putzeimer weiter.
In einem brasilianischen Wohnhaus ist jedenfalls der Portier ein mächtiger Player, die allwissende Instanz, der diskrete Helfer in der Not. Er sieht, wer ein und aus geht. Wer mit wem um wie viel Uhr nach Hause kommt. Per Haustelefon wird er gerufen, wenn Not am Mann ist. Er repariert tropfende Wasserhähne und ist zur Stelle, wenn der verwöhnte Mieter es nicht schafft, eigenhändig eine Glühbirne auszuwechseln. Er kümmert sich um das Auto und sorgt dafür, dass Treppenhaus und Aufzüge sauber sind. Wenn ein Mieter sich über einen anderen Bewohner beschweren will, klopft er oft nicht an dessen Wohnungstür, sondern ruft den Portier an. Mit diplomatischem Geschick ist es dann an ihm, zwischen beiden Parteien zu vermitteln. Der Portier hält Kontakt zu den anderen Portiers der Straße und ist immer gut informiert über die Ereignisse in der Nachbarschaft. Er hilft sogar betrunkenen Mietern ins Bett - alles schon passiert, versicherte mir Antonio. Ein guter Portier sieht alles und verrät nichts.
Fast alle Wohnhäuser in Rio de Janeiros Südzone haben einen Portier. Und der kontrolliert natürlich auch, wer welchen Aufzug benutzt. Bei uns ist das, wie gesagt, Antonio. Ein paar Wochen nach meinem Einzug nahm er mich freundlich diskret, aber bestimmt zur Seite.
»Andreas, du weißt ja, wie das in Brasilien ist mit den Aufzügen?«
»Klar«, antwortete ich, »der hintere Aufzug ist für die Hausangestellten, der vordere für die Bewohner und deren Besucher.«
»Das stimmt. Aber es gibt da noch ein paar Feinheiten. «
»Aha. Und die wären?«
»Nun, du bist gestern vom Strand gekommen, in Shorts und Hawaianas und einem Rest Sand an den Füßen. Dann musst du den Serviceaufzug nehmen.
»Verstehe.«
»Ja, weil deine Shorts nass sind und du sandige Füße hast.« »Als ich auf dem Weg zum Strand mit dem vorderen Aufzug gefahren bin, hast du nichts gesagt.«
»Da warst du ja noch nicht nass und hattest keinen Sand an den Füßen. Dann kannst du ruhig den vorderen Aufzug nehmen.«
»Okay, alles klar.«
»Allerdings nur wenn du keine Strandstühle dabeihast. « »Wie jetzt?« »Wenn du Strandstühle mitnimmst, musst du den
Serviceaufzug nehmen, weil du dann ja was transportierst. « »Also runter, auf dem Weg zum Strand, ohne Stühle mit dem vorderen Aufzug, runter zum Strand mit Stühlen im hinteren und nach dem Strand rauf, egal ob mit oder ohne Stühle, im Serviceaufzug?«
»Genau.«
»Das ist aber sehr kompliziert, Antonio.«
»Ja«, sagte Antonio entschuldigend, »doch das ist noch nicht alles. Wenn du zum Beispiel einkaufen warst und hast nur eine Tüte dabei, dann kannst du mit dem Vorderaufzug fahren - hast du allerdings mehrere Tüten dabei, solltest du den hinteren nehmen. Oder wenn du zum Beispiel joggen gehst, kannst du zwar zur Not den vorderen Aufzug benutzen, besser wäre eigentlich der hintere wegen der Sportkleidung. Nach dem Joggen musst du auf jeden Fall den Personalaufzug nehmen, weil du ja mit Sicherheit verschwitzt bist.«
Es gab also einen kleinen Unterschied zwischen Strand und Sportkleidung. Aber ich fragte nicht weiter nach, denn Antonio hörte gar nicht mehr auf: »Mit Haustieren auch immer den hinteren Aufzug nehmen, egal ob hoch oder runter.«
»Ich hab keine Haustiere.« Jetzt wusste ich wenigstens, warum es hinten oft nach Hund stank.
»Ach ja, genau. Dann ist das ja für dich kein Problem «, sagte Antonio. Er lächelte freundlich, tätschelte mir die Schulter und tat so, als würde er mir zuprosten.
Ich war verwirrt und versuchte mir Antonios Ausführungen zu merken. All die vielen Ausnahmen von der Regel, zarte Zwischentöne brasilianischer Wohnhauskultur und Etikette, all die Kombinationen aus Supermarkttüten oder Strandliegen mit Vordertür und Serviceaufzug. Wann was passend war für den normalen Aufzug und wann nicht.
© 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München
Auch wenn sich das jetzt nicht so anhört, ich bin bei der Arbeit. Eine Kamera kreist um mich herum. Philippe, mein Kameramann, schwitzt nicht weniger als ich. Claus, mein Producer, steht daneben und schwitzt ebenfalls. Wir drehen gerade, wie ich Samba tanzen lerne. Mehr oder weniger. Die Halle ist voll. Es dürften ein paar Hundert Leute sein. Das hier sieht aus wie eine riesige Party, ist aber eine Probe. Die sonntägliche Probe der Sambaschule »Leopoldinense Imperatriz«. Sie üben für Karneval.
Wir dürfen dabei sein, und ich soll bei verschiedenen Gruppen mitmachen. Ich habe schon an der großen Trommel gestanden und die bateria, die Trommlergruppe, dirigiert - sie kam eigentlich ganz gut ohne mich klar. Dann mit der Fahnenträgerin getanzt und die Fahne geküsst. Wir wollen darüber berichten, wie sich eine Sambaschule auf die große Parade im Sambodrom vorbereitet. Und wie ein Gringo, also ich, sich dabei anstellt. Jetzt tanze ich mitten in der Menge und versuche, meine Füße fliegen zu lassen. Vor und zurück. Meine Hüfte bewegt sich immer schneller, probiert es zumindest. Die Arme nicht vergessen. Die Schultern locker.
Seit mehr als zwei Jahren lebe ich nun in Rio de Janeiro. Ich berichte als Korrespondent aus Brasilien und ganz Südamerika. Rio verändert sich gerade rasant.
Eine Stadt, in der in den nächsten Jahren das Endspiel der FußballWM und die Olympischen Spiele stattfinden werden. Und Brasilien ist ein Land, dessen viel beschworene Zukunft allmählich Gegenwart wird. Alles befindet sich im Aufbruch.
Rio de Janeiro besuchte ich zum ersten Mal als Zwanzigjähriger. Ich stand auf dem CorcovadoBerg, am Fuße der Christusstatue, war fasziniert von dem Panorama und dachte damals: Rio muss die schönste Stadt der Welt sein. Heute denke ich das immer noch. Eine natürliche Schönheit. Rio macht es einem Fremden leicht, sich in diese Stadt zu verlieben. Und es ist sehr schwer, hier nicht glücklich zu werden.
Ich werde in Brasilien eigentlich überall mit offenen Armen empfangen. Vor allem von den Cariocas, den Einwohnern von Rio. Tudo bem? Tudo bem! Alles klar? Alles klar! Und das, obwohl ich ein Gringo bin. Man sieht es mir von Weitem an und hört es, sobald ich den Mund aufmache. Gut, ich bin nicht aus den USA, das wäre schlimmer. Ich komme aus Deutschland. Deutscher Fußball, deutsche Arbeitsmoral, deutscher Winter, deutsche Regeln - all das löst bei einem Brasilianer sowohl Unbehagen als auch Mitleid aus. Und dass ich ein Gringo bin, erkennt man nicht nur an meinem Aussehen - meine Haare sind dunkelblond - und meinem Verhalten, sondern auch an meinen Bewegungen. Vor allem wenn ich tanze. Doch hier lässt sich niemand etwas anmerken. Manchmal schaut jemand zu mir herüber und nickt mir aufmunternd zu. Hier darf jeder mitmachen.
Jetzt kommt João auf mich zu, ein Mitarbeiter der Imperatritz, der uns während der Dreharbeiten betreut.
Er ist den ganzen Abend nicht von unserer Seite gewichen. Eine Sambaschule ist bestens organisiert, und es ist nicht einfach, eine Drehgenehmigung zu bekommen. Aber wie so oft in Brasilien erscheint erst alles ganz schwierig und wird plötzlich ganz leicht. Auf einmal geht alles. Wir haben inzwischen schon mehr als genug gedreht. Mehr als erwartet. Doch was jetzt kommt, darauf war ich wirklich nicht vorbereitet.
Vorne tanzen die passistas, eine Art Vortänzerinnen. Die schönsten Frauen der Sambaschule. Schlank, halb nackt, mit fantasievollen Kostümen und üppigem Federschmuck wirbeln sie jedes Jahr bei der großen Parade durch das Sambodrom. Zur Probe heute haben sie noch kein Kostüm angelegt. Sie tragen ein uniformiertes Outfit in der grünlichen Farbe der Imperatritz: enges, schulterfreies Top, Minirock und hochhackige Schuhe. Mit unglaublicher Energie und Schnelligkeit feuern sie ihre Sambaschritte in den Boden. João gibt ihnen ein Zeichen, breitet die Arme aus und zeigt auf mich. Sie verstehen sofort.
Mit schnellen Schritten gleiten sie auf mich zu und nehmen mich in ihre Mitte. Ein halbes Dutzend brasilianischer Schönheiten hat es auf mich abgesehen. Sie tanzen mich an und lassen ihre Hüften kreisen. Manchmal werden sie einen Tick langsamer, gehen leicht in die Knie und wiegen ihre Oberkörper nach innen und wieder nach außen. Ihre Arme schweben nach oben und nach unten, dunkle Locken fliegen umher. Wohin ich mich auch drehe, ich sehe nur noch braun gebrannte, durchtrainierte Körper. Auf ihren Dekolletés liegt ein dünner Schweißfilm. Alle sind schön. Ich tanze mit, so gut es geht, fühle mich wie im Rausch. Mir ist heiß,mein Herz klopft, ich bin außer Atem. Sie fixieren mich mit herausforderndem Blick. Die Sambamusik wird immer lauter. Wir tanzen immer enger. Ohne uns auch nur ein einziges Mal zu berühren.
João gibt ihnen ein weiteres Zeichen, und sie driften wieder auseinander. Zum Abschied sehen mich alle noch einmal flirtend an. »Impressionante«, rufe ich ihnen zu, bedanke mich lachend und applaudiere ihnen. Sie tanzen von mir weg.
Und ich denke nur: Besser kann es eigentlich nicht werden. Das ist mein brasilianischster Moment. Von jetzt an geht's bergab.
Mein erster Tag in Brasilien, ein Sonntagmorgen Ende September. Regen statt Sonne. Ich war in Frankfurt am Main in den Flieger gestiegen und kam zwölf Stunden später übernächtigt im Morgengrauen in Rio de Janeiro an. Präsentierte bei der Passkontrolle mein frisch ausgestelltes Journalistenvisum, nahm meine Koffer vom Gepäckband und ärgerte mich zum ersten Mal - wie später regelmäßig bei Abflug und Ankunft - über die kaum funktionstüchtigen Gepäckwagen am internationalen Flughafen Galeão, die sich kaum schieben lassen, schon gar nicht um die Kurve.
Abgeholt wurde ich von Fernando, unserem Fahrer im ZDFStudio, dessen Auto allerdings eine Viertelstunde lang nicht ansprang. Als wir endlich das Flughafenparkhaus verlassen konnten, flogen auf dem Weg Richtung Südzone links und rechts die Betonleitplanken der Schnellstraßen an mir vorbei. Dahinter endlose Favelas, denen der starke Regen zusetzte. Hoch oben rechts vor mir tauchte aus den Nebelschwaden kurz die Christusfigur auf. Alles wirkte grau und nass und schwül. Fernando sagte: »Es ist schlimm, wenn es in Rio regnet.«
Mein erster Eindruck von Rio de Janeiro. Bei Regen schien die Stadt wie gelähmt. Wie eine Sommerkulisse hinter Glas. Verschwommen, mit Regentropfen auf der Scheibe. Niemand war auf der Straße. Nur ein paar Autos peitschten durch die Pfützen. Cariocas, die Einwohner von Rio de Janeiro, sehen keinen Sinn darin, bei solchem Wetter aus dem Haus zu gehen. Immer wenn es regnet, nimmt die Stadt sich eine Auszeit.
Damals wusste ich das allerdings noch nicht, hatte auch keine Zeit, über die leeren Straßen nachzudenken. Wichtigeres stand an. Zuerst musste ich in meine angemietete Wohnung in Leme, einem kleinen Stadtviertel direkt neben Copacabana. Strandnähe. Außer einer Matratze und einem Einbauschrank gab es dort keine Möbel. Der Container mit meinen Sachen schipperte noch irgendwo auf dem Atlantik herum. Kurz rein in die Wohnung, einen Blick darauf werfen. Ich schaute aus dem Fenster und sah statt Strand nur tief hängende Regenwolken. Eilig packte ich meine Sachen um, stieß mir dabei den Kopf an der Tür des Schlafzimmerschranks und hetzte mit Beule und Koffer runter zu Fernando, um mich von ihm zum ZDFStudio fahren zu lassen.
Dort setzte ich mich kurz mit meinen neuen Mitarbeitern zusammen, besprach mit ihnen das Notwendigste, und dann ging es schon wieder los. Wir flogen nach Chile, um über die dreiunddreißig eingeschlossenen Bergarbeiter in der Atacama Wüste und die Rettungsmaßnahmen zu berichten. Das sollte mich die kommenden Wochen beschäftigen. Erst danach begann mein Abenteuer Rio de Janeiro. Mein neues Leben in Brasilien.
»Wie? Du hattest in Deutschland keine Haushälterin?« Rosangela war ernsthaft erstaunt und fragte sich wohl für einen Moment, ob ich einen Scherz gemacht hatte.
»Nein, keine Haushälterin«, sagte ich, »nur eine Putzfrau. Die kam aber bloß alle zwei Wochen für ein paar Stunden. Sie putzte und bügelte, und das war's.«
»Und den Rest hast du selbst gemacht?«
»Mehr oder weniger.«
»Und wer hat für dich gekocht?«
»Niemand.«
Rosangela war verwirrt. Wir standen auf meinem Balkon, die Sonne schien. Gerade hatten wir besprochen, was sie mir heute und für die nächsten Tage kochen würde. Sie bereitet immer mehrere Gerichte zu, die ich mir entweder abends zu Hause aufwärme oder zum Mittagessen mit ins Studio nehme. Fisch ist problemlos bei ihr, auch Fleisch und Bohnen. Beim Salat hingegen muss man schon genau sagen, was man sich da vorstellt.
Eine Haushälterin zu haben ist - offen gesagt - ein Luxus, an den ich mich erst mal gewöhnen musste. Rosangela, Mitte fünfzig, mit stämmiger Figur und kurzem, leicht gelocktem dunklen Haar, in dem sich erste graue Strähnen zeigen, kommt zweimal in der Woche zu mir nach Hause. Sie wohnt auf der anderen Seite der Guanabara Bucht in der Nähe von Niterói. Morgens, kurz vor fünf, nimmt sie den Bus nach Rio de Janeiro, trifft dann gegen halb sieben bei mir ein. Da sie einen Schlüssel hat, werkelt sie schon in der Küche herum, wenn ich aufstehe. Sie bleibt immer bis zum frühen Nachmittag und erledigt alles, was in der Wohnung so anfällt. Und da ich im ersten Moment gar nicht wusste, was das alles sein könnte, bekam ich von Rosangela ein wenig Nachhilfe.
Sie hatte schon für mehrere Gringos in Rio de Janeiro gearbeitet und machte mir ein paar durchaus attraktive Vorschläge: putzen, Geschirr spülen, Wäsche waschen, bügeln, Staub wischen, einkaufen, kochen. All das könne ich getrost ihr überlassen, meinte sie. Nach ein paar Arbeitstagen traute sie sich auch an meine Kleiderschränke und ordnete mit geradezu preußischer Disziplin alles neu. Plötzlich sahen die Fächer und Regale aus, als habe ein Bundeswehrspieß auf Ecstasy seinen Ordnungsrausch ausgelebt. Die Hemden waren frisch gebügelt und nach Farben geordnet. Die Schuhe standen in Reih und Glied, selbst meine neuen brasilianischen Hawaianas Flipflops, sieben verschiedene Modelle, lagen akkurat im Schrank. Paarweise aufeinandergestapelt. Wie mit dem Lineal vermessen. »Ihr Gringos habt es doch gerne ordentlich«, sagte Rosangela stolz, als ich sie verwundert und anerkennend zugleich auf die exzessive Neuordnung meiner Garderobe ansprach.
Nun war es für einen Gringo wie mich anfangs keinesfalls leicht, diese Art von Rundumservice einfach zu genießen. So etwas kannte ich schließlich nicht und könnte es mir in Deutschland gar nicht leisten. Das funktioniert nur in einem Schwellenland wie Brasilien, wo Arbeitskraft billig ist. Ich profitierte also letztlich schamlos von Klassenunterschieden und sozialer Ungleichheit, sagte ich mir. Schlechtes Gewissen quälte mich. Ich wurde zum geplagten Gutmenschen, der auf einmal alle Ungerechtigkeiten dieser Welt zweimal in der Woche an seiner Spüle stehen sah.
Auf der anderen Seite mochte ich auf diesen Komfort nicht verzichten, zumal es in Brasilien durchaus üblich ist, eine Haushälterin zu haben. Selbst mit durchschnittlichem Einkommen. Deshalb beschloss ich, zumindest ein perfekter Arbeitgeber zu sein. Viel besser und netter als all die anderen ausbeuterischen Brasilianer, die ihre Hausangestellten tagein, tagaus knechten und sogar in Uniförmchen herumlaufen lassen. Bei mir darf Rosangela Shorts und TShirt tragen. Und immer wieder sage ich mir, dass sie sicherlich schon Schlimmeres erlebt hat, als meine Wohnung zu putzen. Mit elf Jahren begann sie als Hausmädchen zu arbeiten, wohnte während der Woche sogar bei ihren Arbeitgebern. Das Geld, das sie verdiente, musste sie ihrer Mutter abgeben.
So gesehen ein Aufstieg. Um mein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, brachte ich ihr von meinen Reisen kleine Geschenke mit, von meinem ersten Weihnachtsbesuch in Deutschland echte Nürnberger Lebkuchen. Ständig habe ich ihr angeboten, dass sie sich am Kühlschrank bedienen, sich zu essen und zu trinken nehmen soll, was immer sie will. Schließlich sei sie es ja auch, die das Essen koche. Doch jedes Mal lehnte sie ab. Und nie würde sie sich zu mir an den Tisch setzen. Aber wir duzten uns, wie fast alle in Brasilien.
Ich gab also alles, um anders zu sein als ein von dienstbaren Geistern verwöhnter Brasilianer. Dabei sind meine Wohnung und das ganze elfstöckige Haus komplett für Hausangestellte und ein Zweiklassensystem ausgelegt. Das beginnt schon mit den Aufzügen, deren Benutzung streng geregelt ist. Vorne gibt es den elevador social, den offiziellen Aufzug, für die Bessergestellten, also für die Bewohner des Hauses und deren Gäste, während die Dienstboten sowie Lieferanten und Handwerker den hinteren Aufzug, den elevador de serviço, benutzen müssen. Und jede der rund zwanzig Wohnungen hat einen Vorder- und einen Hintereingang, der direkt zu den passenden Aufzügen führt.
Da ich im obersten Stock wohne, enden die Aufzüge direkt in meiner Wohnung. Der Serviceaufzug landet quasi in meiner Küche. Durchquert man die schlauchartige Küche, steht man vor einer Tür, die in einen winzigen Flur führt, von dem wiederum zwei noch winzigere Kämmerchen abgehen. Eigentlich bloß Verschläge mit einer eingebauten Holzpritsche, siebzig Zentimeter breit und einen Meter neunzig lang, und einem kleinen Einbauschrank. Fertig. Mehr Platz ist nicht, denn insgesamt misst dieser Miniraum kaum drei Quadratmeter. Hier wohnten und schliefen früher die Hausangestellten. Apartheid in Architektur gegossen. Ich ziehe eine andere Nutzung vor und lagere dort meine beiden Strandklappstühle, einen alten Sonnenschirm und ein Beachballspiel. Außerdem befindet sich zwischen Küche und Hinterausgang eine Dienstbotentoilette mit karger Dusche. Rosangela benutzt nur diese - nie käme sie auf die Idee, das Bad vorne aufzusuchen. Und nie würde sie mit dem »falschen« Aufzug fahren.
Das Zweiklassendenken ist tief verwurzelt im brasilianischen Alltag. Das lernte ich gleich zu Beginn, als ich mir in einem Möbelgeschäft in Rio de Janeiro ein Sofa bestellte. Zwar war der Container mit meinen Möbeln und Umzugskisten aus Deutschland nach wochenlangem Hin und Her endlich vom brasilianischen Zoll freigegeben worden - was letztlich nur deshalb so lange dauerte, weil ich kein Schmiergeld zahlte -, aber ein Sofa fehlte mir noch. Mein altes hatte ich in Deutschland gelassen. Die Lieferung des neuen erfolgte an einem meiner Haushälterinnentage.
»Andreas, das Sofa kommt«, rief Rosangela.
Es war noch früh am Morgen, und Rosangela hatte über das Haustelefon den Anruf des Portiers entgegengenommen. Der Möbelwagen sei vorgefahren, zwei Männer würden das Sofa jetzt hochtragen. Insofern kein Problem, als es geradeso hochkant in den hinteren Aufzug passte. Sie bekamen es oben auch wieder heraus und durch den Hintereingang, doch in der Küche begann das Problem. Das gute Stück ging nicht durch die Tür zum vorderen Teil der Wohnung. »Nichts zu machen«, sagte fachmännisch einer der Möbelpacker.
Also alles wieder zurück. Aus der Küche in den Flur und zum Aufzug. Aufzugtür auf, Sofa rein, Aufzugtür zu. Als Sofa und Träger wieder auf dem Weg nach unten waren, meinte Rosangela: »Durchs Treppenhaus passt es bestimmt.« Ich wohne im elften Stock, es war drückend heiß an jenem Morgen, in den Gängen und Fluren stand die Luft. »Wieso durchs Treppenhaus?«, fragte ich. »Die sollen es einfach mit dem anderen Aufzug probieren. Ist doch einfacher, und vorne sind die Türen breit genug.«
»Das geht nicht, Andreas, den dürfen sie nicht benutzen. « Rosangela stemmte die Hände in die Hüften und sah mich tadelnd an.
»Schon klar, aber wenn man das Sofa nur so nach oben kriegt ...« »Trotzdem. Das geht nicht.«
»Das heißt, die tragen das Sofa jetzt die Treppe hoch?« Ich konnte es kaum glauben.
»Ja, es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Das darf wohl nicht wahr sein!«
Mein Pragmatismus fühlte sich ebenso herausgefordert wie meine frisch entdeckte Gutmenschmentalität. Ich wusste, dass ich jetzt mit dem einen Mann sprechen musste, der Macht über beide Aufzüge hatte: mit unserem Chefportier.
Antonio ist einer der nettesten Brasilianer, die ich kenne. Etwa Mitte vierzig, mit einem runden, freundlichen Gesicht und vollem schwarzen Haar. Seine Portiersuniform trägt er stets akkurat und frisch gebügelt, schwarze Hose und dunkelblaues Hemd, das am Bauch ein wenig spannt. Am Revers ist der Name unseres Hauses, »Tupi«, aufgestickt.
Ich halte Antonio für einen sehr sentimentalen Menschen, denn seine Augen werden schnell feucht. Wenn man ihm morgens zum Abschied einen schönen Tag wünscht, wirkt er fast gerührt. Fahre ich mit meinem Wagen aus der Tiefgarage, tritt er auf die Straße, hält den Verkehr an, winkt mich erst raus und mir dann zum Abschied nach. Abends bei der Heimkehr hupe ich kurz, damit mir Antonio das Tor aufmacht und ich das Auto in die Tiefgarage fahren kann. Sie ist ungefähr so groß wie anderthalb Tennisplätze. Für siebzehn Autos, die zum Glück nie alle auf einmal drinstehen.
Aber auch so sind die Portiers einen Großteil des Tages damit beschäftigt, die Wagen zentimetergenau hin und her zu rangieren. Oft müssen zwei Autos auf die Straße gefahren werden, damit ein drittes überhaupt aus der Garage rauskommt. Der Mieter muss sich damit nicht aufhalten. Nur reinfahren, den Schlüssel stecken lassen und aussteigen. Dann übernimmt der Portier, fährt den Wagen wieder raus, wendet und setzt schließlich rückwärts rein. Damit das Auto später richtig steht.
Antonio ist, wie gesagt, der Chefportier. Auf sein Kommando hören zwei Kollegen, Sebastião und Manuel. Die drei wechseln sich ab. Tag und Nacht, einer hat immer Dienst. Als Bewohner braucht man keinen Haustürschlüssel. Ich klingele einfach und warte, bis mir die Tür geöffnet wird. Einer von den dreien sitzt auf jeden Fall im Foyer unterhalb der Flurtreppe an einem schmalen Tisch mit kleinem Fernseher, auf dem meistens Fußball läuft. Ein Haus ohne Portier? Für sie einfach undenkbar.
»Hey, Sebastião«, rief Antonio einmal seinem Kollegen zu, »komm mal schnell her.« Wir standen vor der Garageneinfahrt auf der Rückseite des Gebäudes und quatschten. »Andreas hat gerade erzählt, dass es in Deutschland so gut wie keine Portiers gibt.«
Sebastião stützte sich auf seinen Schrubber und schaute verwirrt: »Keine Portiers?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe in Frankfurt in einem Haus gewohnt, da gab es fünf Stockwerke und vielleicht zehn Wohnungen. Aber keinen Portier.«
Antonio und Sebastião warfen sich ratlose Blicke zu. Antonio sagte: »Andreas, wie soll das denn funktionieren? «
»Na ja«, sagte ich, »man muss sich halt um vieles selbst kümmern.« »Moment mal«, sagte Antonio, mehr zu sich selbst als zu mir oder zu seinem Kollegen. »Stell dir mal vor, hier gäbe es keine Portiers. Andreas, dann würdest du von der Arbeit kommen und müsstest aus dem Auto steigen und dir selbst die Garagentür aufmachen. Dann würdest du nach oben in deine Wohnung fahren, müde von der Arbeit, und vielleicht noch das Treppenhaus putzen. Das wäre aber sehr hart. Das kann man sich ja gar nicht vorstellen.«
Zwei Welten, doch in diesem Moment kam mir das ebenfalls unglaublich hart vor. Antonio schüttelte nachdenklich den Kopf, und Sebastião zog mit seinem Putzeimer weiter.
In einem brasilianischen Wohnhaus ist jedenfalls der Portier ein mächtiger Player, die allwissende Instanz, der diskrete Helfer in der Not. Er sieht, wer ein und aus geht. Wer mit wem um wie viel Uhr nach Hause kommt. Per Haustelefon wird er gerufen, wenn Not am Mann ist. Er repariert tropfende Wasserhähne und ist zur Stelle, wenn der verwöhnte Mieter es nicht schafft, eigenhändig eine Glühbirne auszuwechseln. Er kümmert sich um das Auto und sorgt dafür, dass Treppenhaus und Aufzüge sauber sind. Wenn ein Mieter sich über einen anderen Bewohner beschweren will, klopft er oft nicht an dessen Wohnungstür, sondern ruft den Portier an. Mit diplomatischem Geschick ist es dann an ihm, zwischen beiden Parteien zu vermitteln. Der Portier hält Kontakt zu den anderen Portiers der Straße und ist immer gut informiert über die Ereignisse in der Nachbarschaft. Er hilft sogar betrunkenen Mietern ins Bett - alles schon passiert, versicherte mir Antonio. Ein guter Portier sieht alles und verrät nichts.
Fast alle Wohnhäuser in Rio de Janeiros Südzone haben einen Portier. Und der kontrolliert natürlich auch, wer welchen Aufzug benutzt. Bei uns ist das, wie gesagt, Antonio. Ein paar Wochen nach meinem Einzug nahm er mich freundlich diskret, aber bestimmt zur Seite.
»Andreas, du weißt ja, wie das in Brasilien ist mit den Aufzügen?«
»Klar«, antwortete ich, »der hintere Aufzug ist für die Hausangestellten, der vordere für die Bewohner und deren Besucher.«
»Das stimmt. Aber es gibt da noch ein paar Feinheiten. «
»Aha. Und die wären?«
»Nun, du bist gestern vom Strand gekommen, in Shorts und Hawaianas und einem Rest Sand an den Füßen. Dann musst du den Serviceaufzug nehmen.
»Verstehe.«
»Ja, weil deine Shorts nass sind und du sandige Füße hast.« »Als ich auf dem Weg zum Strand mit dem vorderen Aufzug gefahren bin, hast du nichts gesagt.«
»Da warst du ja noch nicht nass und hattest keinen Sand an den Füßen. Dann kannst du ruhig den vorderen Aufzug nehmen.«
»Okay, alles klar.«
»Allerdings nur wenn du keine Strandstühle dabeihast. « »Wie jetzt?« »Wenn du Strandstühle mitnimmst, musst du den
Serviceaufzug nehmen, weil du dann ja was transportierst. « »Also runter, auf dem Weg zum Strand, ohne Stühle mit dem vorderen Aufzug, runter zum Strand mit Stühlen im hinteren und nach dem Strand rauf, egal ob mit oder ohne Stühle, im Serviceaufzug?«
»Genau.«
»Das ist aber sehr kompliziert, Antonio.«
»Ja«, sagte Antonio entschuldigend, »doch das ist noch nicht alles. Wenn du zum Beispiel einkaufen warst und hast nur eine Tüte dabei, dann kannst du mit dem Vorderaufzug fahren - hast du allerdings mehrere Tüten dabei, solltest du den hinteren nehmen. Oder wenn du zum Beispiel joggen gehst, kannst du zwar zur Not den vorderen Aufzug benutzen, besser wäre eigentlich der hintere wegen der Sportkleidung. Nach dem Joggen musst du auf jeden Fall den Personalaufzug nehmen, weil du ja mit Sicherheit verschwitzt bist.«
Es gab also einen kleinen Unterschied zwischen Strand und Sportkleidung. Aber ich fragte nicht weiter nach, denn Antonio hörte gar nicht mehr auf: »Mit Haustieren auch immer den hinteren Aufzug nehmen, egal ob hoch oder runter.«
»Ich hab keine Haustiere.« Jetzt wusste ich wenigstens, warum es hinten oft nach Hund stank.
»Ach ja, genau. Dann ist das ja für dich kein Problem «, sagte Antonio. Er lächelte freundlich, tätschelte mir die Schulter und tat so, als würde er mir zuprosten.
Ich war verwirrt und versuchte mir Antonios Ausführungen zu merken. All die vielen Ausnahmen von der Regel, zarte Zwischentöne brasilianischer Wohnhauskultur und Etikette, all die Kombinationen aus Supermarkttüten oder Strandliegen mit Vordertür und Serviceaufzug. Wann was passend war für den normalen Aufzug und wann nicht.
© 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Andreas Wunn
Andreas Wunn, Jahrgang 1975, ist der Brasilien-Korrespondent des ZDF und berichtet für den Sender aus ganz Südamerika. Er ist Autor zahlreicher TV-Dokumentationen für das ZDF, 3sat, Phoenix, zdf.info und arte. Wunn studierte Politikwissenschaften in Berlin und Tokio und lebte längere Zeit in den USA und Bolivien. 2003 begann er als außenpolitischer Reporter beim ZDF. Von 2005 bis 2007 moderierte er die Sendung "heute in Europa" und vertretungsweise das "auslandsjournal". Anschließend managte er als Chef vom Dienst der Chefredaktion das Informationsprogramm des Senders. Seit 2010 lebt Andreas Wunn in Rio de Janeiro und leitet dort das ZDF-Studio.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Wunn
- 2013, Originalausgabe, 256 Seiten, Maße: 11,8 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345360251X
- ISBN-13: 9783453602519
- Erscheinungsdatum: 11.01.2013
Rezension zu „In Brasilien geht`s ohne Textilien “
"Ein amüsanter, witziger und von ganz viel Sympathie getragener Einblick in den Alltag und in das Denken der Brasilianer."
Pressezitat
"Dieses Buch ist die optimale Einstimmung auf die Fussball WM 2014. Andreas Wunn erklärt anschaulich, was man als Deutscher in Brasilien so alles machen kann, ohne sich zu blamieren. Unter anderem möglichst nicht tanzen." Oliver Welke
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