In Stahlgewittern
Ernst Jüngers berühmt-berüchtigtes Tagebuch von der Front des Ersten Weltkrieges. Mit einem Vorwort des Journalisten und Redakteurs Markus Günther.
"In Stahlgewittern" - schon der Titel klingt nach Kugelhagel und...
"In Stahlgewittern" - schon der Titel klingt nach Kugelhagel und...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Weltbild Ausgabe
16.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „In Stahlgewittern “
Ernst Jüngers berühmt-berüchtigtes Tagebuch von der Front des Ersten Weltkrieges. Mit einem Vorwort des Journalisten und Redakteurs Markus Günther.
"In Stahlgewittern" - schon der Titel klingt nach Kugelhagel und Materialschlacht, nach Kanonendonner und Trommelfeuer. Ernst Jüngers berühmt-berüchtigtes Tagebuch von der Front hat auch 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges nichts von seiner packenden Nähe zum Geschehen verloren. Und bis heute schwebt sein Bericht auf prekäre Weise zwischen Verherrlichung und Ablehnung des Krieges, zwischen einer heroischen Verklärung der großen Schlacht und einer schonungslosen Bilanz sinnloser Grausamkeit.
"In Stahlgewittern" - schon der Titel klingt nach Kugelhagel und Materialschlacht, nach Kanonendonner und Trommelfeuer. Ernst Jüngers berühmt-berüchtigtes Tagebuch von der Front hat auch 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges nichts von seiner packenden Nähe zum Geschehen verloren. Und bis heute schwebt sein Bericht auf prekäre Weise zwischen Verherrlichung und Ablehnung des Krieges, zwischen einer heroischen Verklärung der großen Schlacht und einer schonungslosen Bilanz sinnloser Grausamkeit.
Lese-Probe zu „In Stahlgewittern “
In Stahlgewittern von Ernst Jünger Vorwort: Das Gesicht des Krieges
Was ist das für ein Buch? Ein gutes, ein schlechtes, ein gefährliches Buch? Wird hier der Krieg verherrlicht oder verdammt, glorifiziert oder demaskiert? Ist es ein Buch der Verführung oder der Aufklärung? Ist Ernst Jünger ein glaubwürdiger Zeuge des Geschehens oder ein tendenziöser Berichterstatter, der klammheimlich etwas ganz anderes im Schilde führt, als einfach nur zu berichten, wie es war? Zu sagen, dass die Meinungen über die Stahlgewitter auseinandergehen, wäre ein Understatement. Es bleibt schlechterdings verblüffend, wie radikal unterschiedlich dieses Buch zu jedem Zeitpunkt seit seinem ersten Erscheinen vor knapp 100 Jahren beurteilt worden ist.
Dass Goebbels es mit Begeisterung gelesen hat und in seinem Tagebuch notierte, hier werde endlich »Schwung, nationale Leidenschaft, Elan« gepredigt, scheint zweifelsfrei den Vorwurf zu bestätigen, Jünger habe den Nazis in die Hände gespielt. Doch die Sache ist komplizierter, wie sich schnell zeigt, wenn man andere Stimmen hört. Erich Maria- Remarque, dessen Kriegs- und Antikriegsbuch Im Westen nichts Neues knapp zehn Jahre nach den Stahlgewittern 1929 erschien, las Jüngers Erstlingswerk mit uneingeschränkter Zustimmung, weil er darin genau die realistische Schonungslosigkeit entdeckte, die sein eigenes Buch zum Klassiker der Antikriegsliteratur machen sollte: Die Stahlgewitter, so Remarque, seien »von einer wohltuenden Sachlichkeit, präzise, ernst, stark und gewaltig, sich immer weiter steigernd, bis in ihnen das wahre Antlitz des Krieges, das Grauen der Materialschlacht und die ungeheure, alles überwindende Kraft der Vitalität und des Herzens Ausdruck gewinnen.
... mehr
Den Ablauf der Geschehnisse zeichnen die Stahlgewitter mit der ganzen Macht der Fronterfahrung am stärksten, ohne jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum des Soldaten wieder, aufgezeichnet von einem Menschen, der wie ein Seismograph alle Schwingungen der Schlacht auffängt«. Sachlichkeit? Grauen? Das wahre Antlitz des Krieges? Wird das Buch damit treffend charakterisiert und richtig verstanden? Vielleicht. Es gibt neben Remarque durchaus andere, ähnlich unverdächtige Bewunderer Jüngers, die die Stahlgewitter als tendenziell pazifistisches, jedenfalls aber desillusionierendes Antikriegsbuch und nicht etwa als kriegsverherrlichend oder nationalistisch gelesen haben, darunter André Gide, der das Buch wegen der »Aufrichtigkeit« als die beste Darstellung des Krieges überhaupt lobte, oder auch Johannes R. Becher, Kommunist, Gründer des »Bundes der proletarisch-revolutionären Schriftsteller« und Autor der späteren DDR-Nationalhymne, der die Stahlgewitter als das »unbarmherzigste, brutalste und nackteste Kriegsbuch« rühmte.
Die Stahlgewitter also ein Buch schonungsloser Authentizität, ein Buch, das über die Grausamkeit des Krieges aufklärt und die Leser zu einer den Krieg ablehnenden, pazifistischen Haltung führt? Gegen eine solche Sichtweise lassen sich ebenso gewichtige Zeugen anführen, die das Buch völlig anders gelesen haben. Thomas Mann nannte Jünger einen »eiskalten Genüßling des Barbarismus«, Klaus Mann warf Jünger vor, dass er »mit seiner Blutsromantik die Knaben verführt«, Ernst Bloch schrieb über Jünger, er verbreite »die gleiche Demagogie im Kommandoton, die Rosenberg in Blut und Waberlohe vorgeführt hat«. Dazu passt, dass sich Adolf Hitler (von Jünger Anfang der zwanziger Jahre mit einem Widmungsexemplar bedacht) beim Autor mit einem persönlichen Brief bedankte und ihn als »einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses« pries.
Wie aber erklären sich so radikal verschiedene, sich in der Stoßrichtung völlig widersprechende Urteile? Wer hat den Autor richtig und wer hat ihn völlig falsch verstanden?
Zunächst wird man sich vor Augen halten müssen, wie dieses Buch entstanden ist. Anders als Remarques Im Westen nichts Neues, das mit einem zeitlichen Abstand von einigen Jahren zum Kriegsgeschehen als Roman konzipiert wurde und eine rein fiktive Handlung in den Mittelpunkt stellt (Remarque war selbst nicht, wie sein Protagonist Paul Bäumer, Kriegsfreiwilliger gewesen), basieren die Stahlgewitter ganz unmittelbar auf dem eigenen Erleben des Soldaten und Offiziers Ernst Jünger, der mit seinen an der Front geführten Kriegstagebüchern die Grundlage für das spätere Buch schuf. Auf etwa 1500 Seiten hatte Jünger die Kriegsjahre hindurch detaillierte Notizen gemacht, die er - teils recht genau übernommen, teils mit dichterischer Freiheit erheblich erweitert und verändert - nicht als Kriegsroman, sondern als persönliche Chronik des Frontgeschehens veröffentlichen wollte. Als es 1920 so weit war und mit Unterstützung seines Vaters eine erste Ausgabe im Selbstverlag mit 2000 Exemplaren erscheinen konnte, hieß das Buch noch im Untertitel Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Dieser Doppeltitel, also das poetische, expressionistische In Stahlgewittern und der Authentizität versprechende Hinweis auf die Tagebücher, umreißen das Spannungsfeld zwischen nüchterner Berichterstattung und romanhafter Umdeutung, das für die Stahlgewitter so charakteristisch ist. Später wurde der Untertitel vereinfacht: Ein Kriegstagebuch. Und 1961 - über 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen - ließ der Autor den Untertitel endgültig fallen. Der nicht nur im Titel, sondern auch im Buch selbst allenthalben spürbare Konflikt zwischen akkuratem Augenzeugenbericht und ambitioniertem Roman erklärt, wenigstens zu einem Teil, warum die Stahlgewitter so unterschiedlich wahrgenommen wurden und werden, war um die einen hier das wahre Gesicht des Krieges rücksichtslos enthüllt sehen, während andere Jünger vorwerfen, dieses wahre Gesicht, also die grausame Wirklichkeit des Krieges verschleiert oder doch in ein allzu heroisches, maskulines, nationalstolzes Licht getaucht zu haben.
Der Untertitel ist aber nicht die einzige Änderung, die das Buch im Laufe der Zeit erfahren hat. Die heute vorliegende Fassung von 1978 steht am Ende einer wechselvollen Editions geschichte, die ihrerseits die Wechselfälle der Geschichte und die veränderten Intentionen des Autors dokumentiert. Zwar sind die Veränderungen in den ersten Fassungen vor allem stilistischer Natur, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass Jünger bei der Erstveröffentlichung 1920 noch keinerlei schriftstellerische Erfahrung hatte und zunächst weiterhin Soldat in der Reichswehr blieb. Doch gibt es im Laufe der Zeit auch Eingriffe in den Ursprungstext, die auf politische Intentionen hindeuten. Das gilt vor allem für die Fassung von 1924, in der die nationalistischen Töne verstärkt wurden und der Text mit der an Stefan George erinnernden Beschwörungsformel endet: »Deutschland lebt und Deutschland soll nicht untergehen!« Doch schon Anfang der dreißiger Jahre ging Jünger auf Distanz zur nationalistischen Publizistik und den aufstrebenden Köpfen der NS- Bewegung. 1932 unterzog er die Stahlgewitter einer weiteren, besonders folgenreichen Revision, strich Dutzende von Passagen und fügte ganz neue Abschnitte ein; nationalistische Akzente und die Beschwörungsformel am Schluss fielen wieder heraus. Mit einem Wort: Unterschiedliche Urteile haben bisweilen auch damit zu tun, welche Fassung der Stahlgewitter jeweils gemeint ist.
Doch solche Erklärungen, so wichtig sie sind, reichen nicht aus, um die krassen Widersprüche der Rezeption zu verstehen. Das Widersprüchliche liegt vielmehr im Buch selbst. Es ist keinesfalls einfach das Tagebuch eines Soldaten, es ist aber auch nicht einfach ein Roman, sondern eine komplexe und eigenwillige Mischform, in der minutiöse Protokolle und drastische Realitätsschilderungen ebenso Platz finden wie Stilisierungen, Anekdoten, Aphorismen, Reflexionen, Heldengeschichten und Männlichkeitsbeschwörungen. Der Autor - oder besser: der Erzähler - ist hier mal der Chronist und mal der Held selbst, mal ein Ritter edelster Haltung und dann auch wieder ein verkommenes Frontschwein, das keine Gnade mehr kennt, ein willenloses Rädchen im Getriebe der Kriegsmaschine, aber auch ein Mann und Krieger mit eigenem Sinn und Verstand. Es versteht sich von selbst, dass der Versuch, dem deutschen Weltkriegssoldaten und sich selbst ein Denkmal zu setzen, hier Hand in Hand gehen. Andererseits kann man bei aller augenfälligen Stilisierung und Ästhetisierung Jünger nicht ganz absprechen, dass er die Grausamkeit des Krieges in schonungsloser Deutlichkeit schildert: »Aus den Böschungen starrten Arme, Beine und Köpfe: vor unseren Erdlöchern lagen abgerissene Gliedmaßen und Tote.« Und an anderer Stelle: »... die gelbliche Vorfarbe des Todes auf seinen Zügen; unsere Blicke schienen ihm unangenehm; mit einer gleichgültigen Bewegung zog er sich den Mantel über den Kopf und wurde still.« Solche Sätze, meint man, könnten auch von Remarque stammen und erklären vermutlich, wie die Stahlgewitter als Anklage des Krieges gelesen werden können. Doch stehen unweit entfernt Sätze, die eher das Gegenteil, nämlich die naive Verherrlichung des Krieges andeuten: »Wie schön war doch das Land, wohl wert dafür zu bluten und zu sterben.« Und wenn man einmal nicht auf die Details, sondern auf das Ganze schaut: Liegt nicht schon darin eine Verführungskraft, dass hier eine Geschichte mit Kriegsbegeisterung beginnt (»›Kein schöner Tod ist auf der Welt...‹ Ach, nur nicht zu Hause bleiben, nur mitmachen dürfen!«) und nach 14 Verwundungen mit dem höchsten Orden, dem »Pour le mérite« gleichsam in einem Happy End mündet?
Auch knapp 100 Jahre nach dem ersten Erscheinen entzieht sich dieses berühmte und berüchtigte Buch allen konventionellen Urteilen und allen politischen und literarischen Kategorien. Völlig zu Recht sprach Thomas Amos mit Blick auf die Stahlgewitter von der »Unmöglichkeit, die Haltung des Autors zum Krieg eindeutig herauszulesen«. Aber genau das, eine Haltung zum Krieg, hat Ernst Jünger nicht im Sinn gehabt, als er die Stahlgewitter schrieb. Zwar muss man ihm, dem damals 24-jährigen Kriegshelden, nicht abnehmen, dass er einfach beschreiben wollte, »wie es war«. Doch man wird akzeptieren müssen, daß die politischen Interpretationen viel stärker von außen an dieses Buch herangetragen wurden als sie aus dem Text selbst abzulesen sind. Wie Jünger in seinem ganzen Leben ein politischer und literarischer Außenseiter blieb, der zu so widersprüchlichen Dingen wie seinen nationalistischen Texten der zwanziger Jahre und dem gegen die NS-Diktatur gerichteten Widerstandsroman Auf den Marmorklippen 1939 fähig war, so ist auch in seinem Erstlings- werk, das seinen nationalen und internationalen Ruhm begründete, der Blick eines in vielerlei Hinsicht untypischen Einzelgängers der Geschichte dokumentiert.
Wie sehr aber auch Jünger, der durch sein erstes Buch schon in den zwanziger Jahren selbst zu einem der prominentesten Gesichter des Krieges wurde, zeitlebens traumatisiert blieb von diesem Krieg und ihn die bisweilen allzu lässig dargestellten Erlebnisse des Frontoffiziers im späteren Leben wieder einholten, zeigt eine kleine Passage aus den Stahlgewittern, die sich schon in den ursprünglichen Tagebüchern findet und die er im Laufe der Jahre immer wieder geändert hat. In der letzten Fassung heißt es: »Davor lag mein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, dem das Geschoß quer durch den Schädel gefahren war. Es lag da mit entspanntem Gesicht. Ich zwang mich, ihn zu betrachten, ihm ins Auge zu sehen. Nun hieß es nicht mehr: ›Du oder ich.‹ Oft habe ich später an ihn zurückgedacht, und mit den Jahren häufiger. Der Staat, der uns die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir müssen sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab.« In früheren Fassungen hatte sich Jünger noch auf die lapidare Bemerkung beschränkt, es sei schon ein »merkwürdiges Gefühl«, einem Menschen ins Gesicht zu sehen, den man selbst erschossen hat. Doch die vereinfachte und nur vordergründig selbstreflexive Haltung gegenüber den unschuldigen Opfern des Krieges hielt der Vielschichtigkeit und psychischen Problematik der eigenen Kriegserfahrung auf Dauer nicht stand. 1961 ergänzte Jünger die Passage um die Hinweise auf Trauer und Träume.
Markus Günther
Den Gefallenen
In den Kreidegräben der Champagne
Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner - der eine früher, der andere später?
Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. »Kein schönrer Tod ist auf der Welt ...« Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!
»In Gruppenkolonne antreten!« Die erhitzte Phantasie beruhigte sich beim Marsch durch den schweren Lehmboden der Champagne. Tornister, Patronen und Gewehr drückten wie Blei. »Kurztreten! Aufbleiben dahinten!«
Endlich erreichten wir das Dorf Orainville, den Ruheort des Füsilierregiments 73, eins der ärmlichen Nester jener Gegend, gebildet durch fünfzig Häuschen aus Ziegel- oder Kreidestein um einen parkumschlossenen Herrensitz.
Das Treiben auf der Dorfstraße bot den an die Ordnung der Städte gewöhnten Augen einen fremden Anblick dar. Man sah nur wenige, scheue und zerlumpte Zivilisten; überall Soldaten in abgetragenen, zerschlissenen Röcken mit wettergegerbten, meist von großen Bärten umrahmten Gesichtern, die langsamen Schrittes dahinschlenderten oder in kleinen Gruppen vor den Türen der Häuser standen und uns Neulinge mit Scherzrufen empfingen. In einem Torweg glühte eine nach Erbsensuppe duftende Feldküche, von kochgeschirrklappernden Essenholern umringt. Es schien, als triebe das Leben hier ein wenig dumpfer und langsamer. Der Eindruck wurde durch den beginnenden Verfall des Dorfes noch vertieft.
Nachdem wir die erste Nacht in einer gewaltigen Scheune verbracht hatten, wurden wir im Hofe des Schlosses vom Regimentsadjutanten, dem Oberleutnant von Brixen, eingeteilt. Ich kam zur neunten Kompanie.
Unser erster Kriegstag sollte nicht vorübergehen, ohne uns einen entscheidenden Eindruck zu hinterlassen. Wir saßen in der uns zur Unterkunft angewiesenen Schule und frühstückten. Plötzlich dröhnte eine Reihe dumpfer Erschütterungen in der Nähe, während aus allen Häusern Soldaten dem Dorfeingang zustürzten. Wir folgten ihrem Beispiel, ohne recht zu wissen, warum. Wieder ertönte ein eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen über uns und ertrank in polterndem Krachen. Ich wunderte mich, daß die Leute um mich her sich mitten im Lauf wie unter einer furchtbaren Drohung zusammenduckten. Das Ganze erschien mir etwas lächerlich; etwa so, als ob man Menschen Dinge treiben sähe, die man nicht recht versteht.
Gleich darauf erschienen dunkle Gruppen auf der menschenleeren Dorfstraße, in Zeltbahnen oder auf den verschränkten Händen schwarze Bündel schleppend. Mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit starrte ich auf eine blutüberströmte Gestalt mit lose am Körper herabhängendem und seltsam abgeknicktem Bein, die unaufhörlich ein heiseres »Zu Hilfe!« hervorstieß, als ob ihr der jähe Tod noch an der Kehle säße. Sie wurde in ein Haus getragen, von dessen Eingang die Rote-Kreuz-Flagge herabwehte.
Was war das nur? Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung im hellen Mittagslicht.
Eine Granate war oben am Portal des Schlosses krepiert und hatte eine Wolke von Steinen und Sprengstücken in den Eingang geschleudert, gerade als die durch die ersten Schüsse aufgeschreckten Insassen aus dem Torweg strömten. Sie erschlug dreizehn Opfer, darunter den Musikmeister Gebhard , eine mir von den hannoverschen Promenadekonzerten her wohlbekannte Gestalt. Ein angebundenes Pferd witterte die Gefahr eher als die Menschen, riß sich wenige Sekunden vorher los und galoppierte, ohne verletzt zu werden, in den Schloßhof hinein.
Obwohl die Beschießung sich in jedem Augenblick wiederholen konnte, zog mich das Gefühl einer zwingenden Neugier an den Unglücksort. Neben der Stelle, die die Granate getroffen hatte, baumelte ein Schildchen, auf das die Hand eines Spaßvogels die Worte »Zur Granatecke« geschrieben hatte. Das Schloß war also wohl schon als gefährlicher Ort bekannt. Die Straße war von großen Blutlachen gerötet; durchlöcherte Helme und Koppel lagen umher. Die schwere Eisentür des Portals war zerfetzt und von Sprengstücken durchsiebt, der Prellstein mit Blut bespritzt. Ich fühlte meine Augen wie durch einen Magneten an diesen Anblick geheftet; gleichzeitig ging eine tiefe Veränderung in mir vor.
Im Gespräch mit meinen Kameraden merkte ich, daß dieser Zwischenfall manchem die Kriegsbegeisterung bereits sehr gedämpft hatte. Daß er auch auf mich stark gewirkt hatte, bewiesen zahlreiche Gehörtäuschungen, die mir das Rollen jedes vorüberfahrenden Wagens in das fatale Flattern der Unglücksgranate verwandelten.
Das sollte uns übrigens durch den ganzen Krieg begleiten, dieses Zusammenfahren bei jedem plötzlichen und unerwarteten Geräusch. Ob ein Zug vorüberrasselte, ein Buch zu Boden fiel, ein nächtlicher Schrei erscholl - immer stockte der Herzschlag für einen Augenblick unter dem Gefühl einer großen und unbekannten Gefahr. Es war ein Zeichen dafür, daß man vier Jahre lang im Schlagschatten des Todes stand. So tief wirkte das Erlebnis in dem dunklen Land, das hinter dem Bewußtsein liegt, daß bei jeder Störung des Gewöhnlichen der Tod als mahnender Pförtner in die Tore sprang wie bei jenen Uhren, über deren Zifferblatt er zu jeder Stunde mit Sandglas und Hippe erscheint.
Am Abend desselben Tages kam der langersehnte Augenblick, in dem wir, schwer bepackt, zur Kampfstellung aufbrachen. Durch die phantastisch aus dem Halbdunkel ragenden Ruinen des Dorfes Betricourt führte unser Weg nach einem einsamen, in Tannenwaldungen versteckten Forsthause, der »Fasanerie«, wo die Regimentsreserve lag, der bis zu dieser Nacht auch die neunte Kompanie zugeteilt war. Ihr Führer war der Leutnant Brahms.
Wir wurden in Empfang genommen, auf die Gruppen verteilt und befanden uns bald im Kreise bärtiger, lehmbekrusteter Gesellen, die uns mit einem gewissen ironischen Wohlwollen begrüßten. Wir wurden gefragt, wie es in Hannover aussähe und ob der Krieg denn noch nicht bald zu Ende gehen sollte. Dann drehte sich das Gespräch, dem wir gierig lauschten, in eintöniger Kürze um Schanzen, Feldküche, Grabenstücke, Granatbeschuß und andere Angelegenheiten des Stellungskrieges.
Nach einiger Zeit erscholl vor der Tür unserer hüttenartigen Unterkunft der Ruf: »Heraustreten!« Wir traten bei unseren Gruppen an und stießen auf das Kommando: »Laden und Sichern!« mit geheimer Wollust einen Rahmen scharfer Patronen ins Magazin.
Dann ging es schweigend, Mann hinter Mann, querbeet durch die nächtliche, mit dunklen Waldstücken besäte Landschaft nach vorn. Ab und zu verhallte ein einsamer Schuß, oder eine Rakete strahlte zischend auf, um nach kurzer, geisterhafter Beleuchtung eine noch tiefere Dunkelheit zu hinterlassen. Eintöniges Klappern von Gewehr und Schanzzeug, durch den Warnruf: »Achtung, Draht!« unterbrochen.
Dann plötzlich ein klirrender Sturz und ein Fluch: »Verdammt, reiß doch das Maul auf, wenn ein Trichter kommt!« Ein Korporal mischt sich ein: »Ruhe, zum Donnerwetter, Sie glauben wohl, der Franzmann hat Dreck in den Ohren?« Es geht schneller voran. Die Ungewißheit der Nacht, das Flimmern der Leuchtkugeln und das langsame Flackern des Gewehrfeuers rufen eine Erregung hervor, die seltsam wach erhält. Zuweilen singt kühl und dünn ein blindlings abgefeuertes Geschoß vorbei, um sich im Fernen zu verlieren. Wie oft bin ich nach diesem ersten Male in halb melancholischer, halb erregter Stimmung durch ausgestorbene Landschaften zur vorderen Linie geschritten!
Endlich verschwanden wir in einem der Laufgräben, die sich wie weiße Schlangen durch die Nacht zur Stellung wanden. Dort fand ich mich einsam und fröstelnd zwischen zwei Schulterwehren wieder, angestrengt in eine vorm Graben liegende Tannenreihe starrend, in der meine Phantasie mir allerhand Schattengestalten vorgaukelte, während ab und zu eine verirrte Kugel durchs Geäst klatschte und sich trillernd überschlug. Die einzige Abwechslung in dieser schier endlosen Zeit bestand darin, daß ich von einem älteren Kameraden abgeholt wurde und mit ihm durch einen langen, schmalen Gang zu einem vorgeschobenen Postenloch trottete, in dem wir wiederum damit beschäftigt waren, das Vorgelände zu betrachten. Zwei Stunden durfte ich in einem kahlen Kreideloch versuchen, den Schlaf der Erschöpfung zu finden. Als der Morgen graute, war ich bleich und lehmbeschmiert wie die anderen; es war mir, als hätte ich dieses Maulwurfsleben schon monatelang geführt.
Die Stellung des Regiments wand sich durch den Kreideboden der Champagne gegenüber dem Dorfe Le Godat. Sie lehnte sich rechts an ein zerhacktes Waldstück, den Granatwald, lief dann im Zickzack durch riesige Zuckerrübenfelder, aus denen die roten Hosen gefallener Stürmer leuchteten, und endete in einem Bachgrund, über den die Verbindung mit dem Regiment 74 durch nächtliche Streifen aufrechterhalten wurde. Der Bach rauschte über das Wehr einer zerstörten, von finsteren Bäumen umringten Mühle. Seine Wasser bespülten seit Monaten Tote eines französischen Kolonialregiments mit Gesichtern wie aus schwarzem Pergament. Ein unheimlicher Aufenthalt, wenn nachts der Mond durch zerrissene Wolken wechselnde Schatten warf und seltsame Laute in das Murmeln des Wassers und das Rascheln des Schilfes sich zu mischen schienen.
Der Dienst war anstrengend. Das Leben begann mit dem Einbruch der Dämmerung, während der die ganze Besatzung im Graben stehen mußte. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens durften dann je zwei Mann von jeder Gruppe schlafen, so daß man einen Nachtschlaf von zwei Stunden genoß, der jedoch durch früheres Wecken, Strohholen und andere Beschäftigungen meist auf wenige Minuten zusammenschmolz.
Entweder hatte man Wache im Graben, oder man zog in eins der zahlreichen Postenlöcher, die mit der Stellung durch lange, ausgehobene Verbindungswege zusammenhingen; eine Art der Sicherung, die wegen der gefährdeten Lage der Posten im Laufe des Stellungskrieges bald aufgegeben wurde.
Diese endlosen, ermüdenden Nachtwachen waren bei klarem Wetter und selbst bei Frost noch erträglich; sie wurden jedoch qualvoll, wenn es, wie meist im Januar, regnete. Wenn die Feuchtigkeit erst die über den Kopf gezogene Zeltbahn, dann Mantel und Uniform durchdrang und stundenlang am Körper herunterrieselte, geriet man in eine Stimmung, die selbst durch das Rauschen der heranwatenden Ablösung nicht erhellt werden konnte. Die Morgendämmerung beleuchtete erschöpfte, kreidebeschmierte Gestalten, die sich zähneklappernd mit bleichen Gesichtern auf das faule Stroh der tropfenden Unterstände warfen.
Diese Unterstände! Es waren nach dem Graben zu offene, in die Kreide gehauene Löcher, mit einer Lage von Brettern und einigen Schaufeln Erde bedeckt. Hatte es geregnet, so tropften sie noch tagelang nachher; ein gewisser Galgenhumor hatte sie deshalb mit entsprechenden Schildern wie »Tropfsteinhöhle«, »Zum Männerbad« und ähnlichen gekennzeichnet. Wollten mehrere darin der Ruhe pflegen, so waren sie gezwungen, ihre Beine als unfehlbare Fußangeln für jeden Vorübergehenden in den Graben zu legen. Unter diesen Umständen konnte auch tagsüber von Schlaf wenig die Rede sein. Außerdem mußten wir noch zwei Stunden Tagesposten stehen, den Graben reinigen, Essen, Kaffee, Wasser holen und anderes mehr.
Man wird begreifen, daß dieses ungewohnte Leben uns sehr hart ankam, besonders da den meisten von uns wirkliche Arbeit bislang nur dem Namen nach bekannt gewesen war. Dazu kam, daß wir hier draußen keineswegs mit der Freude empfangen wurden, die wir erwartet hatten. Die alten Leute nahmen vielmehr jede Gelegenheit wahr, uns ordentlich »hochzunehmen«, und jeder lästige oder unerwartete Auftrag wurde selbstverständlich den »Kriegsmutwilligen« zugeteilt. Dieser noch aus den Kasernen in den Krieg mitgenommene Brauch, der nicht dazu beitrug, unsere Laune zu verbessern, verlor sich übrigens nach der ersten gemeinsam bestandenen Schlacht, nach der wir uns nun selbst als »alte Männer« betrachteten.
Die Zeit, in der die Kompanie in Reserve lag, war nicht viel gemütlicher. Wir hausten dann bei der Fasanerie oder im Hiller wäldchen in tannenzweiggedeckten Erdhütten, deren mistbepackter Boden wenigstens eine angenehme Gärungswärme ausstrahlte. Manchmal erwachte man in einer zolltiefen Wasserpfütze. Obwohl ich den »Reißmichtüchtig« bislang nur dem Namen nach gekannt hatte, spürte ich schon nach wenigen Tagen dieser dauernden Durchnässung Schmerzen in allen Gelenken. Im Traume hatte ich ein Gefühl. als ob eiserne Kugeln in den Gliedern auf- und abwanderten. Die Nächte dienten auch hier nicht dem Schlaf, sondern wurden dazu benutzt, die zahlreichen Annäherungsgräben zu vertiefen. In der völligen Finsternis mußte man sich, wenn der Franzmann nicht gerade leuchtete, mit nachtwandlerischer Sicherheit an die Fersen des Vordermannes heften, wenn man nicht den Anschluß verlieren und stundenlang im Grabengewirr umherirren wollte. Der Boden war übrigens leicht zu bearbeiten; nur eine dünne Lehm- und Humusdecke verbarg die mächtige Kreideschicht, deren weiches Gefüge die Beilpicke mühelos durchschnitt. Zuweilen sprühten grüne Funken auf, wenn der Stahl auf einen der im Gestein verstreuten faustgroßen Eisenkieskristalle traf. Sie bestanden aus vielen zu einer Kugel zusammengeballten Würfeln und wiesen, aufgeschlagen, einen strahligen Goldglanz auf.
Ein Lichtblick in diesem öden Einerlei war die allabendliche Ankunft der Feldküche an der Ecke des Hillerwäldchens, wo sich bei der Öffnung des Kessels ein köstlicher Duft nach Erbsen mit Speck oder anderen herrlichen Sachen verbreitete. Aber auch hier gab es einen dunklen Punkt: das Dörrgemüse, von enttäuschten Feinschmeckern »Drahtverhau « oder »Flurschaden« geschmäht.
Unter dem 6. Januar finde ich sogar in meinem Tagebuch die erboste Bemerkung: »Abends kam die Feldküche angewackelt und brachte einen Saufraß, wahrscheinlich aus erfrorenen Schweinerüben zusammengekocht.« Dagegen steht unter dem 14. der begeisterte Ausruf: »Köstliche Erbsensuppe, köstliche vier Portionen, Qualen der Sättigung. Wir machten Preisessen und stritten uns darüber, in welcher Lage man am meisten verdrücken könne. Ich war für die stehende.«
Reichlich verteilt wurde ein blaßroter Schnaps, der in Kochgeschirrdeckeln empfangen wurde und stark nach Spiritus schmeckte, doch bei der kalten und feuchten Witterung nicht zu verachten war. Ebenso kam Tabak nur in den kräftigeren Sorten, aber in Mengen zur Ausgabe. Das Bild des Soldaten, wie es aus diesen Tagen im Gedächtnis haftet, ist das des Postens, der mit dem spitzen, graubezogenen Helm, die Fäuste in die Taschen des langen Mantels vergraben, hinter der Schießscharte steht und den Rauch seiner Pfeife über den Gewehrkolben bläst.
Am angenehmsten waren die Ruhetage in Orainville, die mit Ausschlafen, Reinigen der Sachen und Exerzieren verbracht wurden. Die Kompanie hauste in einer gewaltigen Scheune, die nur zwei hühnerleiterartige Treppen als Ein- und Ausgang hatte. Obwohl das Gebäude noch mit Stroh gefüllt war, standen Öfen darin. Eines Nachts rollte ich gegen den einen und erwachte erst infolge der Bemühungen einiger Kameraden, die mich kräftigen Löschversuchen unterzogen. Mit Schrecken gewahrte ich, daß meine Uniform am Rücken arg verkohlt war, so daß ich längere Zeit in einem frackartigen Anzug umherlaufen mußte.
Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment hatten wir gründlich die Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren. Statt der erhofften Gefahren hatten wir Schmutz, Arbeit und schlaflose Nächte vorgefunden, deren Bezwingung ein uns wenig liegendes Heldentum erforderte. Schlimmer noch war die Langeweile, die für den Soldaten entnervender als die Nähe des Todes ist.
Wir hofften auf einen Angriff; allein wir hatten für unser Erscheinen jene ungünstigste Zeit gewählt, in der jede Bewegung zum Erstarren gekommen war. Auch die kleinen taktischen Unternehmungen waren in demselben Maße eingestellt, in dem der Ausbau der Gräben sich gefestigt und das Feuer des Verteidigers an vernichtender Kraft gewonnen hatte. Einige Wochen vor unserem Eintreffen hatte noch eine einzelne Kompanie nach schwacher Artillerievorbereitung einen dieser Teilangriffe über einen Streifen von wenigen hundert Metern hinweg gewagt. Die Franzosen hatten die Angreifer, von denen nur einzelne bis an ihre Drähte kamen, wie auf einem Schießplatz zur Strecke gebracht; die wenigen Überlebenden erwarteten, in Löchern verborgen, die Nacht, um unter dem Schutze der Dunkelheit in die Ausgangsstellung zurückzukriechen.
Die dauernde Überanstrengung der Mannschaft beruhte auch darauf, daß der Führung der Stellungskrieg, in dem es galt, mit den Kräften in anderer Weise hauszuhalten, noch eine neuartige und unerwartete Erscheinung war. Die ungeheure Postenzahl und die ununterbrochene Schanzarbeit waren zum größten Teil unnötig und sogar schädlich. Nicht auf gewaltige Verschanzungen kommt es an, sondern auf den Mut und die Frische der Männer, die dahinterstehen. Die immer tiefere Führung der Gräben ersparte vielleicht manchen Kopfschuß, bildete aber zugleich jenes Haften an den Verteidigungsanlagen und einen Anspruch auf Sicherheit aus, auf den man später nur ungern verzichtete. Auch wurden die Anstrengungen, die man auf die Erhaltung der Werke zu richten hatte, immer umfassender. Der unangenehmste Fall, der eintreten konnte, bestand im Einsetzen von Tauwetter, das die durch den Frost aufgesprengten Kreidewände der Gräben zu breiartigen Massen zusammensinken ließ.
Wohl hörten wir im Graben Geschosse pfeifen, bekamen auch ab und zu einige Granaten von den Reimser Forts, aber diese kleinen kriegerischen Ereignisse blieben weit hinter unseren Erwartungen zurück. Trotzdem wurden wir manchmal an den blutigen Ernst gemahnt, der hinter diesem scheinbar absichtslosen Geschehen lauerte. So schlug am 8. Januar eine Granate in die Fasanerie und tötete unseren Bataillonsadjutanten, den Leutnant Schmidt. Es hieß übrigens, daß der französische Artilleriekommandeur, der die Beschießung leitete, der Besitzer dieses Jagdhauses sei.
Die Artillerie stand noch dicht hinter den Stellungen; sogar in die vordere Linie war ein Feldgeschütz eingebaut und notdürftig unter Zeltbahnen versteckt. Während einer Unterhaltung, die ich mit den »Pulverköpfen« führte, hörte ich zu meiner Verwunderung, daß das Pfeifen der Gewehrgeschosse sie weit stärker als der Einschlag von Granaten beunruhigte. So ist es überall; die Gefahren des eigenen Berufes kommen uns sinnvoller und weniger schrecklich vor.
Zu Beginn des 27. Januar, um Mitternacht, brachten wir dem Kaiser zu Ehren drei Hurras aus und stimmten auf der langen Front ein »Heil dir im Siegerkranz« an. Die Franzosen antworteten mit Gewehrfeuer.
In diesen Tagen hatte ich ein unangenehmes Erlebnis, das meine militärische Laufbahn fast zu einem vorzeitigen und unrühmlichen Abschluß gebracht hätte. Die Kompanie lag am linken Flügel, und ich mußte gegen Morgen nach durchwachter Nacht mit einem Kameraden in den Bachgrund auf Doppelposten ziehen. Ich hatte der Kälte wegen verbotenerweise meine Decke um den Kopf geschlagen und lehnte an einem Baum, nachdem ich mein Gewehr neben mich in einen Busch gestellt hatte. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, griff nach der Waffe - sie war verschwunden! Der Offizier vom Dienst hatte sich an mich herangeschlichen und sie unbemerkt an sich genommen. Um mich zu bestrafen, schickte er mich, nur mit einer Beilpicke bewaffnet, in der Richtung auf die französischen Postierungen ungefähr hundert Meter weit vor - eine Indianeridee, die mich beinahe ums Leben gebracht hätte. Während meiner merkwürdigen Strafwache schlich nämlich eine Streife von drei Kriegsfreiwilligen durch den breiten Schilfgürtel am Bachrande vor und rauschte dabei so unbekümmert in den hohen Halmen, daß sie sogleich von den Franzosen bemerkt und beschossen wurde. Einer von ihnen, namens Lang, wurde getroffen und nie wieder gesehen. Da ich ganz in der Nähe stand, bekam ich auch mein Teil von den damals so beliebten Gruppensalven ab, so daß mir die Zweige des Weidenbaumes, an dem ich stand, um die Ohren pfiffen. Ich biß die Zähne zusammen und blieb aus Trotz stehen. Bei Beginn der Dämmerung wurde ich zurückgeholt.
Wir waren alle herzlich froh, als wir hörten, daß wir diese Stellung endgültig verlassen sollten, und feierten unseren Abschied von Orainville durch einen kräftigen Bierabend in der großen Scheune. Am 4. Februar 1915 marschierten wir, von einem sächsischen Regiment abgelöst, nach Bazancourt zurück.
Von Bazancourt bis Hattonchâtel
In Bazancourt, einem öden Champagnestädtchen, wurde die Kompanie in der Schule einquartiert, die infolge des erstaunlichen Ordnungssinnes unserer Leute in kurzer Zeit das Aussehen einer Friedenskaserne gewann. Da gab es einen Unteroffizier vom Dienst, der morgens pünktlich weckte, Stubendienst und allabendliche Appelle durch die Korporalschaftsführer. Jeden Morgen rückten die Kompanien aus, um auf den umliegenden Ödfeldern einige Stunden stramm zu exerzieren. Diesem Dienstbetrieb wurde ich nach wenigen Tagen entzogen; mein Regiment entsandte mich zu einem Ausbildungslehrgang nach Recouvrence.
Recouvrence war ein entlegenes, in lieblichen Kreidehügeln verstecktes Dörfchen, in dem sich aus allen Regimentern unserer Division eine Anzahl von jungen Leuten versammelte, um unter Führung ausgesuchter Offiziere und Unteroffiziere in den militärischen Dingen gründlich geschult zu werden. Wir 73er hatten in dieser Beziehung, und nicht nur in ihr, dem Leutnant Hoppe viel zu verdanken.
Das Leben in diesem weltabgeschiedenen Neste setzte sich aus einer merkwürdigen Mischung von Kasernendrill und akademischer Freiheit zusammen, die sich daraus erklärte, daß der überwiegende Teil der Mannschaft noch vor wenigen Monaten die Hörsäle und Institute der deutschen Universitäten bevölkert hatte. Tagsüber wurden die Zöglinge nach allen Regeln der Kunst zu Soldaten geschliffen, abends versammelten sie sich mit ihren Lehrern um riesige, aus der Marketenderei Montcornet herbeigeschaffte Fässer, um in ebenso gründlicher Weise zu zechen. Wenn in den Morgenstunden die verschiedenen Abteilungen aus ihren Kneiplokalen strömten, hatten die kleinen Kreidesteinhäuser den ungewohnten Anblick eines studentischen Walpurgistreibens. Unser Kursusleiter, ein Hauptmann, hatte übrigens die erzieherische Gewohnheit, den Dienst an den darauffolgenden Vormittagen mit doppeltem Eifer zu handhaben.
Einmal blieben wir sogar gleich achtundvierzig Stunden im Gang, und zwar aus folgendem Grunde. Wir hatten die respektvolle Gewohnheit, unserem Hauptmann nach Beendigung der Kneipe ein sicheres Geleit zu seinem Quartier zu stellen. Eines Abends nun wurde ein gottlos versoffener Geselle, der mich an den Magister Laukhard erinnerte, mit dieser wichtigen Aufgabe betraut. Er kam bald wieder und meldete freudestrahlend, daß er den »Alten« statt im Bett im Kuhstall abgeladen habe.
Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Als wir gerade in den Quartieren angekommen waren und uns hinlegen wollten, wurde vor der Ortswache Alarm getrommelt. Fluchend schnallten wir um und rannten zum Alarmplatze. Dort stand schon der Alte in denkbar schlechter Laune und entfaltete eine ungemeine Tätigkeit. Er begrüßte uns mit dem Zuruf: »Feueralarm, die Wache brennt!«
Vor den Augen der erstaunten Ortsbewohner wurde die Feuerspritze aus dem Spritzenhause gerollt, der Schlauch angeschraubt und die Wache mit kunstvollen Strahlenwürfen überschwemmt. Auf einer Steintreppe stand der Alte mit ständig wachsendem Grimm, leitete die Übung und spornte durch Zurufe von oben zu ununterbrochener Tätigkeit an. Zuweilen verdonnerte er irgendeinen Soldaten oder Zivilisten, der seinen Zorn besonders erregte, und gab Befehl, ihn auf der Stelle abzuführen. Die Unglücklichen wurden schleunigst hinter das Haus geschleppt und so seinen Blicken entzogen. Als der Morgen graute, standen wir noch immer mit wankenden Knien hinter den Pumpenarmen. Endlich durften wir wegtreten, um uns zum Exerzieren fertigzumachen.
Als wir den Exerzierplatz erreichten, war der Alte bereits zur Stelle, rasiert, munter und frisch, um sich mit ganz besonderer Inbrunst unserer Ausbildung zu widmen.
Unser Verkehr untereinander war sehr kameradschaftlich. Hier knüpfte ich eine enge Freundschaft, die sich auf vielen Schlachtfeldern befestigen sollte, mit so manchem hervorragenden jungen Menschen an, so mit Clement, der bei Monchy, mit dem Maler Tebbe, der bei Cambrai, mit den Brüdern Steinforth, die an der Somme fallen sollten. Wir wohnten zu dritt oder viert zusammen und führten gemeinsame Wirtschaft. Besonders ist mir noch unser regelmäßiges Abendessen von Rührei und Bratkartoffeln in guter Erinnerung. Sonntags leisteten wir uns landesübliche Kaninchen oder einen Hahn. Da ich den Einkauf für den Abendtisch besorgte, legte mir unsere Wirtin einmal eine Anzahl von Bons vor, die sie von requirierenden Soldaten erhalten hatte; eine Blütenlese des Volkshumors, meist des Inhalts, daß der Füsilier
N. N. der Tochter des Hauses Liebenswürdigkeiten erwiesen und zur Stärkung zwölf Eier requiriert habe. Die Einwohner wunderten sich sehr, daß wir als einfache Soldaten alle mehr oder minder geläufig französisch sprachen. Manchmal ergaben sich daraus ganz witzige Zwischenfälle. So saß ich eines Morgens mit Clement beim Dorfbarbier, als einer von den Wartenden dem Barbier, der Clement gerade unter dem Messer hatte, im dumpfen Dialekt der Champagnebauern zurief: »Eh, coupe la gorge avec!« und sich dabei mit der gestreckten Handkante über den Hals strich.
Zu seinem Entsetzen antwortete Clement gleichmütig: »Quant à moi, j'aimerais mieux la garder«, und bewies so jene Ruhe, die dem Krieger wohl ansteht.
Mitte Februar wurden wir 73er durch die Nachricht der großen Verluste unseres Regiments bei Perthes überrascht und waren betrübt darüber, daß wir diese Tage fern von unseren Kameraden verbracht hatten. Die erbitterte Verteidigung des Regimentsabschnitts im »Hexenkessel« trug uns den Ehrennamen der »Löwen von Perthes« ein, der uns an alle Abschnitte der Westfront begleitete. Außerdem waren wir bekannt als »Les Gibraltars«, wegen der blauen Gibraltarbinde, die wir zur Erinnerung an unser Stammregiment, das Hannoversche Garderegiment, trugen, das diese Festung von 1779 bis 1783 gegen die Franzosen und Spanier verteidigte.
Die Unglücksbotschaft erreichte uns mitten in der Nacht, als wir unter dem Vorsitz des Leutnants Hoppe die übliche Tafel hielten. Einer der Zechgenossen, der lange Behrens, eben jener, der den Alten im Stall abgeliefert hatte, wollte sich nach dem ersten Schrecken, »weil ihm das Bier nicht mehr schmecke«, verabschieden. Hoppe hielt ihn jedoch zurück mit der Bemerkung, daß dies soldatischem Brauche nicht angemessen sei. Hoppe hatte recht; er selbst fiel einige Wochen später bei Les Eparges vor der Schützenlinie seiner Kompanie.
Am 21. März kamen wir nach einem kleinen Examen zum Regiment zurück, das wieder in Bazancourt lag. Es schied in diesen Tagen nach einer großen Parade und einer Abschiedsansprache des Generals von Emmich aus dem Verbande des Zehnten Korps. Wir wurden am 24. März verladen und fuhren bis in die Gegend von Brüssel, wo wir mit den Regimentern 76 und 164 zur 111. Infanterie-Division zusammengestellt wurden, in deren Verbande wir den Krieg bis zum Ende erleben sollten.
Unser Bataillon wurde in dem Städtchen Hérinnes untergebracht, inmitten einer Landschaft von flämischer Behaglichkeit. Am 29. März verlebte ich hier recht glücklich meinen zwanzigsten Geburtstag.
Obwohl die Belgier in ihren Häusern genügend Platz hatten, wurde unsere Kompanie in eine große zugige Scheune gesteckt, durch die während der kalten Märznächte der rauhe Seewind jener Gegend pfiff. Sonst bot uns der Aufenthalt in Hérinnes eine gute Erholung dar; es wurde zwar viel exerziert, doch gab es auch gute Verpflegung, und Lebensmittel für geringes Geld.
Die halb aus Flamen, halb aus Wallonen bestehende Bevölkerung war sehr freundlich zu uns. Ich unterhielt mich oft mit dem Besitzer eines Estaminets, einem eifrigen Sozialisten und Freigeist, von denen es in Belgien eine ganz besondere Sorte gibt. Er lud mich am Ostersonntag zum Festmahl ein und ließ sich nicht einmal bewegen, für seine Getränke Geld anzunehmen. Wir hatten alle bald unsere Bekanntschaften geschlossen und schlenderten an den freien Nachmittagen nach diesem oder jenem der weit in der Landschaft verstreuten Gehöfte, um uns in den blitzblank gescheuerten Küchen um einen der niedrigen Öfen zu setzen, auf deren kreisförmiger Platte der große Kaffeetopf stand. Die gemütliche Unterhaltung wurde auf flämisch und niedersächsisch geführt.
Gegen Ende unseres Aufenthalts wurde das Wetter schön und lud zu Spaziergängen in der lieblichen, wasserreichen Umgebung ein. Die Landschaft, in der sich über Nacht die gelben Sumpfdotterblumen entfaltet hatten, war malerisch verziert durch die vielen entkleideten Kriegsleute, die, ihre Wäsche auf dem Schoß, längs der pappelumsäumten Bachufer eifrig der Läusejagd oblagen. Von dieser Plage bislang ziemlich verschont geblieben, war ich indessen meinem Kriegskameraden Priepke, einem Hamburger Exportkaufmann, behilflich, in seine wollene Weste, die bevölkert war wie weiland das Habit des Abenteuerlichen Simplizissimus, zur gründlichen Abtötung einen schweren Stein zu wickeln und sie in einen Bach zu versenken. Da unser Aufbruch von Hérinnes sehr plötzlich erfolgte, wird sie dort wohl in ungestörter Ruhe vermodert sein.
Am 12. April 1915 wurden wir in Hal verladen und fuhren, um Spione zu täuschen, auf einem weiten Umweg über den Nordflügel der Front in die Gegend des Schlachtfeldes von Mars-la-Tour. Die Kompanie bezog ihr gewohntes Scheunenquartier im Dorfe Tronville, einem der üblichen langweiligen, aus flachdächrigen, fensterlosen Steinkästen zusammengewürfelten lothringischen Drecknester. Der Flieger wegen mußten wir uns meist in dem überfüllten Ort aufhalten; wir besuchten jedoch einige Male die berühmten, ganz in der Nähe liegenden Stätten von Mars-la-Tour und Grave lotte. Wenige hundert Meter vom Dorfe wurde die Straße nach Gravelotte von der Grenze geschnitten, an der der französische Grenzpfahl zerschmettert am Boden lag. Abends machten wir uns oft das wehmütige Vergnügen eines Spazierganges nach Deutschland.
Unsere Scheune war so baufällig, daß man balancieren mußte, um nicht durch die morschen Bretter auf die Tenne zu stürzen. An einem Abend, als unsere Gruppe gerade unter Vorsitz ihres biederen Korporals Kerkhoff beschäftigt war, auf einer Krippe die Portionen zu teilen, löste sich ein ungeheurer Eichklotz aus dem Gebälk und stürzte krachend herunter. Zum Glück klemmte er sich dicht über unseren Köpfen zwischen zwei Lehmwände. Wir kamen mit dem Schrecken davon, nur unsere schöne Fleischportion lag unter dem aufgewirbelten Schutt. Kaum waren wir nach diesem bösen Vorzeichen ins Stroh gekrochen, als an das Tor gedonnert wurde und die alarmierende Stimme des Feldwebels uns vom Lager trieb. Zuerst, wie immer bei solchen Überraschungen, ein Augenblick der Stille, dann wirres Durcheinander und Gepolter: »Mein Helm!« »Wo ist mein Brotbeutel? « »Ich kriege meine Stiefel nicht an!« »Du hast meine Patronen geklaut!« »Hol't Mul, du August!«
Zuletzt war doch alles fertig, und wir marschierten zum Bahnhof von Chamblay, von wo wir in einigen Minuten mit der Bahn bis Pagny-sur-Moselle fuhren. In den Morgenstunden erklommen wir die Moselhöhen und blieben in Preny, einem zauberhaften, von einer Burgruine überragten Bergdorfe. Diesmal stellte sich unsere Scheune als ein mit duftendem Bergheu gefüllter Steinbau heraus, durch dessen Luken wir auf die weinbepflanzten Moselberge und das im Tal gelegene Städtchen Pagny blicken konnten, das oft mit Granaten und Fliegerbomben belegt wurde. Einige Male schlugen turmhohe Wassersäulen hochschleudernde Geschosse in die Mosel ein.
Das warme Frühlingswetter wirkte belebend auf uns und reizte in den Freistunden zu langen Spaziergängen in das prächtige Hügelland. Wir waren so übermütig, daß wir abends noch einige Zeit unsere Späße trieben, bevor alles zur Ruhe kam. Unter anderem war es ein beliebter Scherz, Schnarchern aus einer Feldflasche Wasser oder Kaffee in den Mund zu gießen.
Am Abend des 22. April marschierten wir von Preny ab, legten über dreißig Kilometer bis zum Dorfe Hattonchâtel zurück, ohne trotz dem schweren Gepäck einen Marschkranken zu haben, und schlugen rechts von der berühmten Grande Tranchée mitten im Walde Zelte auf. Aus allen Anzeichen war zu ersehen, daß wir am nächsten Tag ins Gefecht kommen würden. Wir empfingen Verbandpäckchen, zweite Fleischbüchsen und Signalflaggen für die Artillerie.
Am Abend saß ich noch lange in jener ahnungsvollen Stimmung, von der die Krieger aller Zeiten zu erzählen wissen, auf einem von blauen Anemonen umwucherten Baumstumpf, ehe ich über die Reihen der Kameraden an meinen Zeltplatz kroch, und in der Nacht träumte ich ein wirres Zeug zusammen, in dem ein Totenkopf die Hauptrolle spielte.
Priepke, dem ich am Morgen davon erzählte, hoffte, daß es ein Franzosenschädel gewesen sei.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Den Ablauf der Geschehnisse zeichnen die Stahlgewitter mit der ganzen Macht der Fronterfahrung am stärksten, ohne jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum des Soldaten wieder, aufgezeichnet von einem Menschen, der wie ein Seismograph alle Schwingungen der Schlacht auffängt«. Sachlichkeit? Grauen? Das wahre Antlitz des Krieges? Wird das Buch damit treffend charakterisiert und richtig verstanden? Vielleicht. Es gibt neben Remarque durchaus andere, ähnlich unverdächtige Bewunderer Jüngers, die die Stahlgewitter als tendenziell pazifistisches, jedenfalls aber desillusionierendes Antikriegsbuch und nicht etwa als kriegsverherrlichend oder nationalistisch gelesen haben, darunter André Gide, der das Buch wegen der »Aufrichtigkeit« als die beste Darstellung des Krieges überhaupt lobte, oder auch Johannes R. Becher, Kommunist, Gründer des »Bundes der proletarisch-revolutionären Schriftsteller« und Autor der späteren DDR-Nationalhymne, der die Stahlgewitter als das »unbarmherzigste, brutalste und nackteste Kriegsbuch« rühmte.
Die Stahlgewitter also ein Buch schonungsloser Authentizität, ein Buch, das über die Grausamkeit des Krieges aufklärt und die Leser zu einer den Krieg ablehnenden, pazifistischen Haltung führt? Gegen eine solche Sichtweise lassen sich ebenso gewichtige Zeugen anführen, die das Buch völlig anders gelesen haben. Thomas Mann nannte Jünger einen »eiskalten Genüßling des Barbarismus«, Klaus Mann warf Jünger vor, dass er »mit seiner Blutsromantik die Knaben verführt«, Ernst Bloch schrieb über Jünger, er verbreite »die gleiche Demagogie im Kommandoton, die Rosenberg in Blut und Waberlohe vorgeführt hat«. Dazu passt, dass sich Adolf Hitler (von Jünger Anfang der zwanziger Jahre mit einem Widmungsexemplar bedacht) beim Autor mit einem persönlichen Brief bedankte und ihn als »einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses« pries.
Wie aber erklären sich so radikal verschiedene, sich in der Stoßrichtung völlig widersprechende Urteile? Wer hat den Autor richtig und wer hat ihn völlig falsch verstanden?
Zunächst wird man sich vor Augen halten müssen, wie dieses Buch entstanden ist. Anders als Remarques Im Westen nichts Neues, das mit einem zeitlichen Abstand von einigen Jahren zum Kriegsgeschehen als Roman konzipiert wurde und eine rein fiktive Handlung in den Mittelpunkt stellt (Remarque war selbst nicht, wie sein Protagonist Paul Bäumer, Kriegsfreiwilliger gewesen), basieren die Stahlgewitter ganz unmittelbar auf dem eigenen Erleben des Soldaten und Offiziers Ernst Jünger, der mit seinen an der Front geführten Kriegstagebüchern die Grundlage für das spätere Buch schuf. Auf etwa 1500 Seiten hatte Jünger die Kriegsjahre hindurch detaillierte Notizen gemacht, die er - teils recht genau übernommen, teils mit dichterischer Freiheit erheblich erweitert und verändert - nicht als Kriegsroman, sondern als persönliche Chronik des Frontgeschehens veröffentlichen wollte. Als es 1920 so weit war und mit Unterstützung seines Vaters eine erste Ausgabe im Selbstverlag mit 2000 Exemplaren erscheinen konnte, hieß das Buch noch im Untertitel Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Dieser Doppeltitel, also das poetische, expressionistische In Stahlgewittern und der Authentizität versprechende Hinweis auf die Tagebücher, umreißen das Spannungsfeld zwischen nüchterner Berichterstattung und romanhafter Umdeutung, das für die Stahlgewitter so charakteristisch ist. Später wurde der Untertitel vereinfacht: Ein Kriegstagebuch. Und 1961 - über 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen - ließ der Autor den Untertitel endgültig fallen. Der nicht nur im Titel, sondern auch im Buch selbst allenthalben spürbare Konflikt zwischen akkuratem Augenzeugenbericht und ambitioniertem Roman erklärt, wenigstens zu einem Teil, warum die Stahlgewitter so unterschiedlich wahrgenommen wurden und werden, war um die einen hier das wahre Gesicht des Krieges rücksichtslos enthüllt sehen, während andere Jünger vorwerfen, dieses wahre Gesicht, also die grausame Wirklichkeit des Krieges verschleiert oder doch in ein allzu heroisches, maskulines, nationalstolzes Licht getaucht zu haben.
Der Untertitel ist aber nicht die einzige Änderung, die das Buch im Laufe der Zeit erfahren hat. Die heute vorliegende Fassung von 1978 steht am Ende einer wechselvollen Editions geschichte, die ihrerseits die Wechselfälle der Geschichte und die veränderten Intentionen des Autors dokumentiert. Zwar sind die Veränderungen in den ersten Fassungen vor allem stilistischer Natur, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass Jünger bei der Erstveröffentlichung 1920 noch keinerlei schriftstellerische Erfahrung hatte und zunächst weiterhin Soldat in der Reichswehr blieb. Doch gibt es im Laufe der Zeit auch Eingriffe in den Ursprungstext, die auf politische Intentionen hindeuten. Das gilt vor allem für die Fassung von 1924, in der die nationalistischen Töne verstärkt wurden und der Text mit der an Stefan George erinnernden Beschwörungsformel endet: »Deutschland lebt und Deutschland soll nicht untergehen!« Doch schon Anfang der dreißiger Jahre ging Jünger auf Distanz zur nationalistischen Publizistik und den aufstrebenden Köpfen der NS- Bewegung. 1932 unterzog er die Stahlgewitter einer weiteren, besonders folgenreichen Revision, strich Dutzende von Passagen und fügte ganz neue Abschnitte ein; nationalistische Akzente und die Beschwörungsformel am Schluss fielen wieder heraus. Mit einem Wort: Unterschiedliche Urteile haben bisweilen auch damit zu tun, welche Fassung der Stahlgewitter jeweils gemeint ist.
Doch solche Erklärungen, so wichtig sie sind, reichen nicht aus, um die krassen Widersprüche der Rezeption zu verstehen. Das Widersprüchliche liegt vielmehr im Buch selbst. Es ist keinesfalls einfach das Tagebuch eines Soldaten, es ist aber auch nicht einfach ein Roman, sondern eine komplexe und eigenwillige Mischform, in der minutiöse Protokolle und drastische Realitätsschilderungen ebenso Platz finden wie Stilisierungen, Anekdoten, Aphorismen, Reflexionen, Heldengeschichten und Männlichkeitsbeschwörungen. Der Autor - oder besser: der Erzähler - ist hier mal der Chronist und mal der Held selbst, mal ein Ritter edelster Haltung und dann auch wieder ein verkommenes Frontschwein, das keine Gnade mehr kennt, ein willenloses Rädchen im Getriebe der Kriegsmaschine, aber auch ein Mann und Krieger mit eigenem Sinn und Verstand. Es versteht sich von selbst, dass der Versuch, dem deutschen Weltkriegssoldaten und sich selbst ein Denkmal zu setzen, hier Hand in Hand gehen. Andererseits kann man bei aller augenfälligen Stilisierung und Ästhetisierung Jünger nicht ganz absprechen, dass er die Grausamkeit des Krieges in schonungsloser Deutlichkeit schildert: »Aus den Böschungen starrten Arme, Beine und Köpfe: vor unseren Erdlöchern lagen abgerissene Gliedmaßen und Tote.« Und an anderer Stelle: »... die gelbliche Vorfarbe des Todes auf seinen Zügen; unsere Blicke schienen ihm unangenehm; mit einer gleichgültigen Bewegung zog er sich den Mantel über den Kopf und wurde still.« Solche Sätze, meint man, könnten auch von Remarque stammen und erklären vermutlich, wie die Stahlgewitter als Anklage des Krieges gelesen werden können. Doch stehen unweit entfernt Sätze, die eher das Gegenteil, nämlich die naive Verherrlichung des Krieges andeuten: »Wie schön war doch das Land, wohl wert dafür zu bluten und zu sterben.« Und wenn man einmal nicht auf die Details, sondern auf das Ganze schaut: Liegt nicht schon darin eine Verführungskraft, dass hier eine Geschichte mit Kriegsbegeisterung beginnt (»›Kein schöner Tod ist auf der Welt...‹ Ach, nur nicht zu Hause bleiben, nur mitmachen dürfen!«) und nach 14 Verwundungen mit dem höchsten Orden, dem »Pour le mérite« gleichsam in einem Happy End mündet?
Auch knapp 100 Jahre nach dem ersten Erscheinen entzieht sich dieses berühmte und berüchtigte Buch allen konventionellen Urteilen und allen politischen und literarischen Kategorien. Völlig zu Recht sprach Thomas Amos mit Blick auf die Stahlgewitter von der »Unmöglichkeit, die Haltung des Autors zum Krieg eindeutig herauszulesen«. Aber genau das, eine Haltung zum Krieg, hat Ernst Jünger nicht im Sinn gehabt, als er die Stahlgewitter schrieb. Zwar muss man ihm, dem damals 24-jährigen Kriegshelden, nicht abnehmen, dass er einfach beschreiben wollte, »wie es war«. Doch man wird akzeptieren müssen, daß die politischen Interpretationen viel stärker von außen an dieses Buch herangetragen wurden als sie aus dem Text selbst abzulesen sind. Wie Jünger in seinem ganzen Leben ein politischer und literarischer Außenseiter blieb, der zu so widersprüchlichen Dingen wie seinen nationalistischen Texten der zwanziger Jahre und dem gegen die NS-Diktatur gerichteten Widerstandsroman Auf den Marmorklippen 1939 fähig war, so ist auch in seinem Erstlings- werk, das seinen nationalen und internationalen Ruhm begründete, der Blick eines in vielerlei Hinsicht untypischen Einzelgängers der Geschichte dokumentiert.
Wie sehr aber auch Jünger, der durch sein erstes Buch schon in den zwanziger Jahren selbst zu einem der prominentesten Gesichter des Krieges wurde, zeitlebens traumatisiert blieb von diesem Krieg und ihn die bisweilen allzu lässig dargestellten Erlebnisse des Frontoffiziers im späteren Leben wieder einholten, zeigt eine kleine Passage aus den Stahlgewittern, die sich schon in den ursprünglichen Tagebüchern findet und die er im Laufe der Jahre immer wieder geändert hat. In der letzten Fassung heißt es: »Davor lag mein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, dem das Geschoß quer durch den Schädel gefahren war. Es lag da mit entspanntem Gesicht. Ich zwang mich, ihn zu betrachten, ihm ins Auge zu sehen. Nun hieß es nicht mehr: ›Du oder ich.‹ Oft habe ich später an ihn zurückgedacht, und mit den Jahren häufiger. Der Staat, der uns die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir müssen sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab.« In früheren Fassungen hatte sich Jünger noch auf die lapidare Bemerkung beschränkt, es sei schon ein »merkwürdiges Gefühl«, einem Menschen ins Gesicht zu sehen, den man selbst erschossen hat. Doch die vereinfachte und nur vordergründig selbstreflexive Haltung gegenüber den unschuldigen Opfern des Krieges hielt der Vielschichtigkeit und psychischen Problematik der eigenen Kriegserfahrung auf Dauer nicht stand. 1961 ergänzte Jünger die Passage um die Hinweise auf Trauer und Träume.
Markus Günther
Den Gefallenen
In den Kreidegräben der Champagne
Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner - der eine früher, der andere später?
Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. »Kein schönrer Tod ist auf der Welt ...« Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!
»In Gruppenkolonne antreten!« Die erhitzte Phantasie beruhigte sich beim Marsch durch den schweren Lehmboden der Champagne. Tornister, Patronen und Gewehr drückten wie Blei. »Kurztreten! Aufbleiben dahinten!«
Endlich erreichten wir das Dorf Orainville, den Ruheort des Füsilierregiments 73, eins der ärmlichen Nester jener Gegend, gebildet durch fünfzig Häuschen aus Ziegel- oder Kreidestein um einen parkumschlossenen Herrensitz.
Das Treiben auf der Dorfstraße bot den an die Ordnung der Städte gewöhnten Augen einen fremden Anblick dar. Man sah nur wenige, scheue und zerlumpte Zivilisten; überall Soldaten in abgetragenen, zerschlissenen Röcken mit wettergegerbten, meist von großen Bärten umrahmten Gesichtern, die langsamen Schrittes dahinschlenderten oder in kleinen Gruppen vor den Türen der Häuser standen und uns Neulinge mit Scherzrufen empfingen. In einem Torweg glühte eine nach Erbsensuppe duftende Feldküche, von kochgeschirrklappernden Essenholern umringt. Es schien, als triebe das Leben hier ein wenig dumpfer und langsamer. Der Eindruck wurde durch den beginnenden Verfall des Dorfes noch vertieft.
Nachdem wir die erste Nacht in einer gewaltigen Scheune verbracht hatten, wurden wir im Hofe des Schlosses vom Regimentsadjutanten, dem Oberleutnant von Brixen, eingeteilt. Ich kam zur neunten Kompanie.
Unser erster Kriegstag sollte nicht vorübergehen, ohne uns einen entscheidenden Eindruck zu hinterlassen. Wir saßen in der uns zur Unterkunft angewiesenen Schule und frühstückten. Plötzlich dröhnte eine Reihe dumpfer Erschütterungen in der Nähe, während aus allen Häusern Soldaten dem Dorfeingang zustürzten. Wir folgten ihrem Beispiel, ohne recht zu wissen, warum. Wieder ertönte ein eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen über uns und ertrank in polterndem Krachen. Ich wunderte mich, daß die Leute um mich her sich mitten im Lauf wie unter einer furchtbaren Drohung zusammenduckten. Das Ganze erschien mir etwas lächerlich; etwa so, als ob man Menschen Dinge treiben sähe, die man nicht recht versteht.
Gleich darauf erschienen dunkle Gruppen auf der menschenleeren Dorfstraße, in Zeltbahnen oder auf den verschränkten Händen schwarze Bündel schleppend. Mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit starrte ich auf eine blutüberströmte Gestalt mit lose am Körper herabhängendem und seltsam abgeknicktem Bein, die unaufhörlich ein heiseres »Zu Hilfe!« hervorstieß, als ob ihr der jähe Tod noch an der Kehle säße. Sie wurde in ein Haus getragen, von dessen Eingang die Rote-Kreuz-Flagge herabwehte.
Was war das nur? Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung im hellen Mittagslicht.
Eine Granate war oben am Portal des Schlosses krepiert und hatte eine Wolke von Steinen und Sprengstücken in den Eingang geschleudert, gerade als die durch die ersten Schüsse aufgeschreckten Insassen aus dem Torweg strömten. Sie erschlug dreizehn Opfer, darunter den Musikmeister Gebhard , eine mir von den hannoverschen Promenadekonzerten her wohlbekannte Gestalt. Ein angebundenes Pferd witterte die Gefahr eher als die Menschen, riß sich wenige Sekunden vorher los und galoppierte, ohne verletzt zu werden, in den Schloßhof hinein.
Obwohl die Beschießung sich in jedem Augenblick wiederholen konnte, zog mich das Gefühl einer zwingenden Neugier an den Unglücksort. Neben der Stelle, die die Granate getroffen hatte, baumelte ein Schildchen, auf das die Hand eines Spaßvogels die Worte »Zur Granatecke« geschrieben hatte. Das Schloß war also wohl schon als gefährlicher Ort bekannt. Die Straße war von großen Blutlachen gerötet; durchlöcherte Helme und Koppel lagen umher. Die schwere Eisentür des Portals war zerfetzt und von Sprengstücken durchsiebt, der Prellstein mit Blut bespritzt. Ich fühlte meine Augen wie durch einen Magneten an diesen Anblick geheftet; gleichzeitig ging eine tiefe Veränderung in mir vor.
Im Gespräch mit meinen Kameraden merkte ich, daß dieser Zwischenfall manchem die Kriegsbegeisterung bereits sehr gedämpft hatte. Daß er auch auf mich stark gewirkt hatte, bewiesen zahlreiche Gehörtäuschungen, die mir das Rollen jedes vorüberfahrenden Wagens in das fatale Flattern der Unglücksgranate verwandelten.
Das sollte uns übrigens durch den ganzen Krieg begleiten, dieses Zusammenfahren bei jedem plötzlichen und unerwarteten Geräusch. Ob ein Zug vorüberrasselte, ein Buch zu Boden fiel, ein nächtlicher Schrei erscholl - immer stockte der Herzschlag für einen Augenblick unter dem Gefühl einer großen und unbekannten Gefahr. Es war ein Zeichen dafür, daß man vier Jahre lang im Schlagschatten des Todes stand. So tief wirkte das Erlebnis in dem dunklen Land, das hinter dem Bewußtsein liegt, daß bei jeder Störung des Gewöhnlichen der Tod als mahnender Pförtner in die Tore sprang wie bei jenen Uhren, über deren Zifferblatt er zu jeder Stunde mit Sandglas und Hippe erscheint.
Am Abend desselben Tages kam der langersehnte Augenblick, in dem wir, schwer bepackt, zur Kampfstellung aufbrachen. Durch die phantastisch aus dem Halbdunkel ragenden Ruinen des Dorfes Betricourt führte unser Weg nach einem einsamen, in Tannenwaldungen versteckten Forsthause, der »Fasanerie«, wo die Regimentsreserve lag, der bis zu dieser Nacht auch die neunte Kompanie zugeteilt war. Ihr Führer war der Leutnant Brahms.
Wir wurden in Empfang genommen, auf die Gruppen verteilt und befanden uns bald im Kreise bärtiger, lehmbekrusteter Gesellen, die uns mit einem gewissen ironischen Wohlwollen begrüßten. Wir wurden gefragt, wie es in Hannover aussähe und ob der Krieg denn noch nicht bald zu Ende gehen sollte. Dann drehte sich das Gespräch, dem wir gierig lauschten, in eintöniger Kürze um Schanzen, Feldküche, Grabenstücke, Granatbeschuß und andere Angelegenheiten des Stellungskrieges.
Nach einiger Zeit erscholl vor der Tür unserer hüttenartigen Unterkunft der Ruf: »Heraustreten!« Wir traten bei unseren Gruppen an und stießen auf das Kommando: »Laden und Sichern!« mit geheimer Wollust einen Rahmen scharfer Patronen ins Magazin.
Dann ging es schweigend, Mann hinter Mann, querbeet durch die nächtliche, mit dunklen Waldstücken besäte Landschaft nach vorn. Ab und zu verhallte ein einsamer Schuß, oder eine Rakete strahlte zischend auf, um nach kurzer, geisterhafter Beleuchtung eine noch tiefere Dunkelheit zu hinterlassen. Eintöniges Klappern von Gewehr und Schanzzeug, durch den Warnruf: »Achtung, Draht!« unterbrochen.
Dann plötzlich ein klirrender Sturz und ein Fluch: »Verdammt, reiß doch das Maul auf, wenn ein Trichter kommt!« Ein Korporal mischt sich ein: »Ruhe, zum Donnerwetter, Sie glauben wohl, der Franzmann hat Dreck in den Ohren?« Es geht schneller voran. Die Ungewißheit der Nacht, das Flimmern der Leuchtkugeln und das langsame Flackern des Gewehrfeuers rufen eine Erregung hervor, die seltsam wach erhält. Zuweilen singt kühl und dünn ein blindlings abgefeuertes Geschoß vorbei, um sich im Fernen zu verlieren. Wie oft bin ich nach diesem ersten Male in halb melancholischer, halb erregter Stimmung durch ausgestorbene Landschaften zur vorderen Linie geschritten!
Endlich verschwanden wir in einem der Laufgräben, die sich wie weiße Schlangen durch die Nacht zur Stellung wanden. Dort fand ich mich einsam und fröstelnd zwischen zwei Schulterwehren wieder, angestrengt in eine vorm Graben liegende Tannenreihe starrend, in der meine Phantasie mir allerhand Schattengestalten vorgaukelte, während ab und zu eine verirrte Kugel durchs Geäst klatschte und sich trillernd überschlug. Die einzige Abwechslung in dieser schier endlosen Zeit bestand darin, daß ich von einem älteren Kameraden abgeholt wurde und mit ihm durch einen langen, schmalen Gang zu einem vorgeschobenen Postenloch trottete, in dem wir wiederum damit beschäftigt waren, das Vorgelände zu betrachten. Zwei Stunden durfte ich in einem kahlen Kreideloch versuchen, den Schlaf der Erschöpfung zu finden. Als der Morgen graute, war ich bleich und lehmbeschmiert wie die anderen; es war mir, als hätte ich dieses Maulwurfsleben schon monatelang geführt.
Die Stellung des Regiments wand sich durch den Kreideboden der Champagne gegenüber dem Dorfe Le Godat. Sie lehnte sich rechts an ein zerhacktes Waldstück, den Granatwald, lief dann im Zickzack durch riesige Zuckerrübenfelder, aus denen die roten Hosen gefallener Stürmer leuchteten, und endete in einem Bachgrund, über den die Verbindung mit dem Regiment 74 durch nächtliche Streifen aufrechterhalten wurde. Der Bach rauschte über das Wehr einer zerstörten, von finsteren Bäumen umringten Mühle. Seine Wasser bespülten seit Monaten Tote eines französischen Kolonialregiments mit Gesichtern wie aus schwarzem Pergament. Ein unheimlicher Aufenthalt, wenn nachts der Mond durch zerrissene Wolken wechselnde Schatten warf und seltsame Laute in das Murmeln des Wassers und das Rascheln des Schilfes sich zu mischen schienen.
Der Dienst war anstrengend. Das Leben begann mit dem Einbruch der Dämmerung, während der die ganze Besatzung im Graben stehen mußte. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens durften dann je zwei Mann von jeder Gruppe schlafen, so daß man einen Nachtschlaf von zwei Stunden genoß, der jedoch durch früheres Wecken, Strohholen und andere Beschäftigungen meist auf wenige Minuten zusammenschmolz.
Entweder hatte man Wache im Graben, oder man zog in eins der zahlreichen Postenlöcher, die mit der Stellung durch lange, ausgehobene Verbindungswege zusammenhingen; eine Art der Sicherung, die wegen der gefährdeten Lage der Posten im Laufe des Stellungskrieges bald aufgegeben wurde.
Diese endlosen, ermüdenden Nachtwachen waren bei klarem Wetter und selbst bei Frost noch erträglich; sie wurden jedoch qualvoll, wenn es, wie meist im Januar, regnete. Wenn die Feuchtigkeit erst die über den Kopf gezogene Zeltbahn, dann Mantel und Uniform durchdrang und stundenlang am Körper herunterrieselte, geriet man in eine Stimmung, die selbst durch das Rauschen der heranwatenden Ablösung nicht erhellt werden konnte. Die Morgendämmerung beleuchtete erschöpfte, kreidebeschmierte Gestalten, die sich zähneklappernd mit bleichen Gesichtern auf das faule Stroh der tropfenden Unterstände warfen.
Diese Unterstände! Es waren nach dem Graben zu offene, in die Kreide gehauene Löcher, mit einer Lage von Brettern und einigen Schaufeln Erde bedeckt. Hatte es geregnet, so tropften sie noch tagelang nachher; ein gewisser Galgenhumor hatte sie deshalb mit entsprechenden Schildern wie »Tropfsteinhöhle«, »Zum Männerbad« und ähnlichen gekennzeichnet. Wollten mehrere darin der Ruhe pflegen, so waren sie gezwungen, ihre Beine als unfehlbare Fußangeln für jeden Vorübergehenden in den Graben zu legen. Unter diesen Umständen konnte auch tagsüber von Schlaf wenig die Rede sein. Außerdem mußten wir noch zwei Stunden Tagesposten stehen, den Graben reinigen, Essen, Kaffee, Wasser holen und anderes mehr.
Man wird begreifen, daß dieses ungewohnte Leben uns sehr hart ankam, besonders da den meisten von uns wirkliche Arbeit bislang nur dem Namen nach bekannt gewesen war. Dazu kam, daß wir hier draußen keineswegs mit der Freude empfangen wurden, die wir erwartet hatten. Die alten Leute nahmen vielmehr jede Gelegenheit wahr, uns ordentlich »hochzunehmen«, und jeder lästige oder unerwartete Auftrag wurde selbstverständlich den »Kriegsmutwilligen« zugeteilt. Dieser noch aus den Kasernen in den Krieg mitgenommene Brauch, der nicht dazu beitrug, unsere Laune zu verbessern, verlor sich übrigens nach der ersten gemeinsam bestandenen Schlacht, nach der wir uns nun selbst als »alte Männer« betrachteten.
Die Zeit, in der die Kompanie in Reserve lag, war nicht viel gemütlicher. Wir hausten dann bei der Fasanerie oder im Hiller wäldchen in tannenzweiggedeckten Erdhütten, deren mistbepackter Boden wenigstens eine angenehme Gärungswärme ausstrahlte. Manchmal erwachte man in einer zolltiefen Wasserpfütze. Obwohl ich den »Reißmichtüchtig« bislang nur dem Namen nach gekannt hatte, spürte ich schon nach wenigen Tagen dieser dauernden Durchnässung Schmerzen in allen Gelenken. Im Traume hatte ich ein Gefühl. als ob eiserne Kugeln in den Gliedern auf- und abwanderten. Die Nächte dienten auch hier nicht dem Schlaf, sondern wurden dazu benutzt, die zahlreichen Annäherungsgräben zu vertiefen. In der völligen Finsternis mußte man sich, wenn der Franzmann nicht gerade leuchtete, mit nachtwandlerischer Sicherheit an die Fersen des Vordermannes heften, wenn man nicht den Anschluß verlieren und stundenlang im Grabengewirr umherirren wollte. Der Boden war übrigens leicht zu bearbeiten; nur eine dünne Lehm- und Humusdecke verbarg die mächtige Kreideschicht, deren weiches Gefüge die Beilpicke mühelos durchschnitt. Zuweilen sprühten grüne Funken auf, wenn der Stahl auf einen der im Gestein verstreuten faustgroßen Eisenkieskristalle traf. Sie bestanden aus vielen zu einer Kugel zusammengeballten Würfeln und wiesen, aufgeschlagen, einen strahligen Goldglanz auf.
Ein Lichtblick in diesem öden Einerlei war die allabendliche Ankunft der Feldküche an der Ecke des Hillerwäldchens, wo sich bei der Öffnung des Kessels ein köstlicher Duft nach Erbsen mit Speck oder anderen herrlichen Sachen verbreitete. Aber auch hier gab es einen dunklen Punkt: das Dörrgemüse, von enttäuschten Feinschmeckern »Drahtverhau « oder »Flurschaden« geschmäht.
Unter dem 6. Januar finde ich sogar in meinem Tagebuch die erboste Bemerkung: »Abends kam die Feldküche angewackelt und brachte einen Saufraß, wahrscheinlich aus erfrorenen Schweinerüben zusammengekocht.« Dagegen steht unter dem 14. der begeisterte Ausruf: »Köstliche Erbsensuppe, köstliche vier Portionen, Qualen der Sättigung. Wir machten Preisessen und stritten uns darüber, in welcher Lage man am meisten verdrücken könne. Ich war für die stehende.«
Reichlich verteilt wurde ein blaßroter Schnaps, der in Kochgeschirrdeckeln empfangen wurde und stark nach Spiritus schmeckte, doch bei der kalten und feuchten Witterung nicht zu verachten war. Ebenso kam Tabak nur in den kräftigeren Sorten, aber in Mengen zur Ausgabe. Das Bild des Soldaten, wie es aus diesen Tagen im Gedächtnis haftet, ist das des Postens, der mit dem spitzen, graubezogenen Helm, die Fäuste in die Taschen des langen Mantels vergraben, hinter der Schießscharte steht und den Rauch seiner Pfeife über den Gewehrkolben bläst.
Am angenehmsten waren die Ruhetage in Orainville, die mit Ausschlafen, Reinigen der Sachen und Exerzieren verbracht wurden. Die Kompanie hauste in einer gewaltigen Scheune, die nur zwei hühnerleiterartige Treppen als Ein- und Ausgang hatte. Obwohl das Gebäude noch mit Stroh gefüllt war, standen Öfen darin. Eines Nachts rollte ich gegen den einen und erwachte erst infolge der Bemühungen einiger Kameraden, die mich kräftigen Löschversuchen unterzogen. Mit Schrecken gewahrte ich, daß meine Uniform am Rücken arg verkohlt war, so daß ich längere Zeit in einem frackartigen Anzug umherlaufen mußte.
Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment hatten wir gründlich die Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren. Statt der erhofften Gefahren hatten wir Schmutz, Arbeit und schlaflose Nächte vorgefunden, deren Bezwingung ein uns wenig liegendes Heldentum erforderte. Schlimmer noch war die Langeweile, die für den Soldaten entnervender als die Nähe des Todes ist.
Wir hofften auf einen Angriff; allein wir hatten für unser Erscheinen jene ungünstigste Zeit gewählt, in der jede Bewegung zum Erstarren gekommen war. Auch die kleinen taktischen Unternehmungen waren in demselben Maße eingestellt, in dem der Ausbau der Gräben sich gefestigt und das Feuer des Verteidigers an vernichtender Kraft gewonnen hatte. Einige Wochen vor unserem Eintreffen hatte noch eine einzelne Kompanie nach schwacher Artillerievorbereitung einen dieser Teilangriffe über einen Streifen von wenigen hundert Metern hinweg gewagt. Die Franzosen hatten die Angreifer, von denen nur einzelne bis an ihre Drähte kamen, wie auf einem Schießplatz zur Strecke gebracht; die wenigen Überlebenden erwarteten, in Löchern verborgen, die Nacht, um unter dem Schutze der Dunkelheit in die Ausgangsstellung zurückzukriechen.
Die dauernde Überanstrengung der Mannschaft beruhte auch darauf, daß der Führung der Stellungskrieg, in dem es galt, mit den Kräften in anderer Weise hauszuhalten, noch eine neuartige und unerwartete Erscheinung war. Die ungeheure Postenzahl und die ununterbrochene Schanzarbeit waren zum größten Teil unnötig und sogar schädlich. Nicht auf gewaltige Verschanzungen kommt es an, sondern auf den Mut und die Frische der Männer, die dahinterstehen. Die immer tiefere Führung der Gräben ersparte vielleicht manchen Kopfschuß, bildete aber zugleich jenes Haften an den Verteidigungsanlagen und einen Anspruch auf Sicherheit aus, auf den man später nur ungern verzichtete. Auch wurden die Anstrengungen, die man auf die Erhaltung der Werke zu richten hatte, immer umfassender. Der unangenehmste Fall, der eintreten konnte, bestand im Einsetzen von Tauwetter, das die durch den Frost aufgesprengten Kreidewände der Gräben zu breiartigen Massen zusammensinken ließ.
Wohl hörten wir im Graben Geschosse pfeifen, bekamen auch ab und zu einige Granaten von den Reimser Forts, aber diese kleinen kriegerischen Ereignisse blieben weit hinter unseren Erwartungen zurück. Trotzdem wurden wir manchmal an den blutigen Ernst gemahnt, der hinter diesem scheinbar absichtslosen Geschehen lauerte. So schlug am 8. Januar eine Granate in die Fasanerie und tötete unseren Bataillonsadjutanten, den Leutnant Schmidt. Es hieß übrigens, daß der französische Artilleriekommandeur, der die Beschießung leitete, der Besitzer dieses Jagdhauses sei.
Die Artillerie stand noch dicht hinter den Stellungen; sogar in die vordere Linie war ein Feldgeschütz eingebaut und notdürftig unter Zeltbahnen versteckt. Während einer Unterhaltung, die ich mit den »Pulverköpfen« führte, hörte ich zu meiner Verwunderung, daß das Pfeifen der Gewehrgeschosse sie weit stärker als der Einschlag von Granaten beunruhigte. So ist es überall; die Gefahren des eigenen Berufes kommen uns sinnvoller und weniger schrecklich vor.
Zu Beginn des 27. Januar, um Mitternacht, brachten wir dem Kaiser zu Ehren drei Hurras aus und stimmten auf der langen Front ein »Heil dir im Siegerkranz« an. Die Franzosen antworteten mit Gewehrfeuer.
In diesen Tagen hatte ich ein unangenehmes Erlebnis, das meine militärische Laufbahn fast zu einem vorzeitigen und unrühmlichen Abschluß gebracht hätte. Die Kompanie lag am linken Flügel, und ich mußte gegen Morgen nach durchwachter Nacht mit einem Kameraden in den Bachgrund auf Doppelposten ziehen. Ich hatte der Kälte wegen verbotenerweise meine Decke um den Kopf geschlagen und lehnte an einem Baum, nachdem ich mein Gewehr neben mich in einen Busch gestellt hatte. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, griff nach der Waffe - sie war verschwunden! Der Offizier vom Dienst hatte sich an mich herangeschlichen und sie unbemerkt an sich genommen. Um mich zu bestrafen, schickte er mich, nur mit einer Beilpicke bewaffnet, in der Richtung auf die französischen Postierungen ungefähr hundert Meter weit vor - eine Indianeridee, die mich beinahe ums Leben gebracht hätte. Während meiner merkwürdigen Strafwache schlich nämlich eine Streife von drei Kriegsfreiwilligen durch den breiten Schilfgürtel am Bachrande vor und rauschte dabei so unbekümmert in den hohen Halmen, daß sie sogleich von den Franzosen bemerkt und beschossen wurde. Einer von ihnen, namens Lang, wurde getroffen und nie wieder gesehen. Da ich ganz in der Nähe stand, bekam ich auch mein Teil von den damals so beliebten Gruppensalven ab, so daß mir die Zweige des Weidenbaumes, an dem ich stand, um die Ohren pfiffen. Ich biß die Zähne zusammen und blieb aus Trotz stehen. Bei Beginn der Dämmerung wurde ich zurückgeholt.
Wir waren alle herzlich froh, als wir hörten, daß wir diese Stellung endgültig verlassen sollten, und feierten unseren Abschied von Orainville durch einen kräftigen Bierabend in der großen Scheune. Am 4. Februar 1915 marschierten wir, von einem sächsischen Regiment abgelöst, nach Bazancourt zurück.
Von Bazancourt bis Hattonchâtel
In Bazancourt, einem öden Champagnestädtchen, wurde die Kompanie in der Schule einquartiert, die infolge des erstaunlichen Ordnungssinnes unserer Leute in kurzer Zeit das Aussehen einer Friedenskaserne gewann. Da gab es einen Unteroffizier vom Dienst, der morgens pünktlich weckte, Stubendienst und allabendliche Appelle durch die Korporalschaftsführer. Jeden Morgen rückten die Kompanien aus, um auf den umliegenden Ödfeldern einige Stunden stramm zu exerzieren. Diesem Dienstbetrieb wurde ich nach wenigen Tagen entzogen; mein Regiment entsandte mich zu einem Ausbildungslehrgang nach Recouvrence.
Recouvrence war ein entlegenes, in lieblichen Kreidehügeln verstecktes Dörfchen, in dem sich aus allen Regimentern unserer Division eine Anzahl von jungen Leuten versammelte, um unter Führung ausgesuchter Offiziere und Unteroffiziere in den militärischen Dingen gründlich geschult zu werden. Wir 73er hatten in dieser Beziehung, und nicht nur in ihr, dem Leutnant Hoppe viel zu verdanken.
Das Leben in diesem weltabgeschiedenen Neste setzte sich aus einer merkwürdigen Mischung von Kasernendrill und akademischer Freiheit zusammen, die sich daraus erklärte, daß der überwiegende Teil der Mannschaft noch vor wenigen Monaten die Hörsäle und Institute der deutschen Universitäten bevölkert hatte. Tagsüber wurden die Zöglinge nach allen Regeln der Kunst zu Soldaten geschliffen, abends versammelten sie sich mit ihren Lehrern um riesige, aus der Marketenderei Montcornet herbeigeschaffte Fässer, um in ebenso gründlicher Weise zu zechen. Wenn in den Morgenstunden die verschiedenen Abteilungen aus ihren Kneiplokalen strömten, hatten die kleinen Kreidesteinhäuser den ungewohnten Anblick eines studentischen Walpurgistreibens. Unser Kursusleiter, ein Hauptmann, hatte übrigens die erzieherische Gewohnheit, den Dienst an den darauffolgenden Vormittagen mit doppeltem Eifer zu handhaben.
Einmal blieben wir sogar gleich achtundvierzig Stunden im Gang, und zwar aus folgendem Grunde. Wir hatten die respektvolle Gewohnheit, unserem Hauptmann nach Beendigung der Kneipe ein sicheres Geleit zu seinem Quartier zu stellen. Eines Abends nun wurde ein gottlos versoffener Geselle, der mich an den Magister Laukhard erinnerte, mit dieser wichtigen Aufgabe betraut. Er kam bald wieder und meldete freudestrahlend, daß er den »Alten« statt im Bett im Kuhstall abgeladen habe.
Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Als wir gerade in den Quartieren angekommen waren und uns hinlegen wollten, wurde vor der Ortswache Alarm getrommelt. Fluchend schnallten wir um und rannten zum Alarmplatze. Dort stand schon der Alte in denkbar schlechter Laune und entfaltete eine ungemeine Tätigkeit. Er begrüßte uns mit dem Zuruf: »Feueralarm, die Wache brennt!«
Vor den Augen der erstaunten Ortsbewohner wurde die Feuerspritze aus dem Spritzenhause gerollt, der Schlauch angeschraubt und die Wache mit kunstvollen Strahlenwürfen überschwemmt. Auf einer Steintreppe stand der Alte mit ständig wachsendem Grimm, leitete die Übung und spornte durch Zurufe von oben zu ununterbrochener Tätigkeit an. Zuweilen verdonnerte er irgendeinen Soldaten oder Zivilisten, der seinen Zorn besonders erregte, und gab Befehl, ihn auf der Stelle abzuführen. Die Unglücklichen wurden schleunigst hinter das Haus geschleppt und so seinen Blicken entzogen. Als der Morgen graute, standen wir noch immer mit wankenden Knien hinter den Pumpenarmen. Endlich durften wir wegtreten, um uns zum Exerzieren fertigzumachen.
Als wir den Exerzierplatz erreichten, war der Alte bereits zur Stelle, rasiert, munter und frisch, um sich mit ganz besonderer Inbrunst unserer Ausbildung zu widmen.
Unser Verkehr untereinander war sehr kameradschaftlich. Hier knüpfte ich eine enge Freundschaft, die sich auf vielen Schlachtfeldern befestigen sollte, mit so manchem hervorragenden jungen Menschen an, so mit Clement, der bei Monchy, mit dem Maler Tebbe, der bei Cambrai, mit den Brüdern Steinforth, die an der Somme fallen sollten. Wir wohnten zu dritt oder viert zusammen und führten gemeinsame Wirtschaft. Besonders ist mir noch unser regelmäßiges Abendessen von Rührei und Bratkartoffeln in guter Erinnerung. Sonntags leisteten wir uns landesübliche Kaninchen oder einen Hahn. Da ich den Einkauf für den Abendtisch besorgte, legte mir unsere Wirtin einmal eine Anzahl von Bons vor, die sie von requirierenden Soldaten erhalten hatte; eine Blütenlese des Volkshumors, meist des Inhalts, daß der Füsilier
N. N. der Tochter des Hauses Liebenswürdigkeiten erwiesen und zur Stärkung zwölf Eier requiriert habe. Die Einwohner wunderten sich sehr, daß wir als einfache Soldaten alle mehr oder minder geläufig französisch sprachen. Manchmal ergaben sich daraus ganz witzige Zwischenfälle. So saß ich eines Morgens mit Clement beim Dorfbarbier, als einer von den Wartenden dem Barbier, der Clement gerade unter dem Messer hatte, im dumpfen Dialekt der Champagnebauern zurief: »Eh, coupe la gorge avec!« und sich dabei mit der gestreckten Handkante über den Hals strich.
Zu seinem Entsetzen antwortete Clement gleichmütig: »Quant à moi, j'aimerais mieux la garder«, und bewies so jene Ruhe, die dem Krieger wohl ansteht.
Mitte Februar wurden wir 73er durch die Nachricht der großen Verluste unseres Regiments bei Perthes überrascht und waren betrübt darüber, daß wir diese Tage fern von unseren Kameraden verbracht hatten. Die erbitterte Verteidigung des Regimentsabschnitts im »Hexenkessel« trug uns den Ehrennamen der »Löwen von Perthes« ein, der uns an alle Abschnitte der Westfront begleitete. Außerdem waren wir bekannt als »Les Gibraltars«, wegen der blauen Gibraltarbinde, die wir zur Erinnerung an unser Stammregiment, das Hannoversche Garderegiment, trugen, das diese Festung von 1779 bis 1783 gegen die Franzosen und Spanier verteidigte.
Die Unglücksbotschaft erreichte uns mitten in der Nacht, als wir unter dem Vorsitz des Leutnants Hoppe die übliche Tafel hielten. Einer der Zechgenossen, der lange Behrens, eben jener, der den Alten im Stall abgeliefert hatte, wollte sich nach dem ersten Schrecken, »weil ihm das Bier nicht mehr schmecke«, verabschieden. Hoppe hielt ihn jedoch zurück mit der Bemerkung, daß dies soldatischem Brauche nicht angemessen sei. Hoppe hatte recht; er selbst fiel einige Wochen später bei Les Eparges vor der Schützenlinie seiner Kompanie.
Am 21. März kamen wir nach einem kleinen Examen zum Regiment zurück, das wieder in Bazancourt lag. Es schied in diesen Tagen nach einer großen Parade und einer Abschiedsansprache des Generals von Emmich aus dem Verbande des Zehnten Korps. Wir wurden am 24. März verladen und fuhren bis in die Gegend von Brüssel, wo wir mit den Regimentern 76 und 164 zur 111. Infanterie-Division zusammengestellt wurden, in deren Verbande wir den Krieg bis zum Ende erleben sollten.
Unser Bataillon wurde in dem Städtchen Hérinnes untergebracht, inmitten einer Landschaft von flämischer Behaglichkeit. Am 29. März verlebte ich hier recht glücklich meinen zwanzigsten Geburtstag.
Obwohl die Belgier in ihren Häusern genügend Platz hatten, wurde unsere Kompanie in eine große zugige Scheune gesteckt, durch die während der kalten Märznächte der rauhe Seewind jener Gegend pfiff. Sonst bot uns der Aufenthalt in Hérinnes eine gute Erholung dar; es wurde zwar viel exerziert, doch gab es auch gute Verpflegung, und Lebensmittel für geringes Geld.
Die halb aus Flamen, halb aus Wallonen bestehende Bevölkerung war sehr freundlich zu uns. Ich unterhielt mich oft mit dem Besitzer eines Estaminets, einem eifrigen Sozialisten und Freigeist, von denen es in Belgien eine ganz besondere Sorte gibt. Er lud mich am Ostersonntag zum Festmahl ein und ließ sich nicht einmal bewegen, für seine Getränke Geld anzunehmen. Wir hatten alle bald unsere Bekanntschaften geschlossen und schlenderten an den freien Nachmittagen nach diesem oder jenem der weit in der Landschaft verstreuten Gehöfte, um uns in den blitzblank gescheuerten Küchen um einen der niedrigen Öfen zu setzen, auf deren kreisförmiger Platte der große Kaffeetopf stand. Die gemütliche Unterhaltung wurde auf flämisch und niedersächsisch geführt.
Gegen Ende unseres Aufenthalts wurde das Wetter schön und lud zu Spaziergängen in der lieblichen, wasserreichen Umgebung ein. Die Landschaft, in der sich über Nacht die gelben Sumpfdotterblumen entfaltet hatten, war malerisch verziert durch die vielen entkleideten Kriegsleute, die, ihre Wäsche auf dem Schoß, längs der pappelumsäumten Bachufer eifrig der Läusejagd oblagen. Von dieser Plage bislang ziemlich verschont geblieben, war ich indessen meinem Kriegskameraden Priepke, einem Hamburger Exportkaufmann, behilflich, in seine wollene Weste, die bevölkert war wie weiland das Habit des Abenteuerlichen Simplizissimus, zur gründlichen Abtötung einen schweren Stein zu wickeln und sie in einen Bach zu versenken. Da unser Aufbruch von Hérinnes sehr plötzlich erfolgte, wird sie dort wohl in ungestörter Ruhe vermodert sein.
Am 12. April 1915 wurden wir in Hal verladen und fuhren, um Spione zu täuschen, auf einem weiten Umweg über den Nordflügel der Front in die Gegend des Schlachtfeldes von Mars-la-Tour. Die Kompanie bezog ihr gewohntes Scheunenquartier im Dorfe Tronville, einem der üblichen langweiligen, aus flachdächrigen, fensterlosen Steinkästen zusammengewürfelten lothringischen Drecknester. Der Flieger wegen mußten wir uns meist in dem überfüllten Ort aufhalten; wir besuchten jedoch einige Male die berühmten, ganz in der Nähe liegenden Stätten von Mars-la-Tour und Grave lotte. Wenige hundert Meter vom Dorfe wurde die Straße nach Gravelotte von der Grenze geschnitten, an der der französische Grenzpfahl zerschmettert am Boden lag. Abends machten wir uns oft das wehmütige Vergnügen eines Spazierganges nach Deutschland.
Unsere Scheune war so baufällig, daß man balancieren mußte, um nicht durch die morschen Bretter auf die Tenne zu stürzen. An einem Abend, als unsere Gruppe gerade unter Vorsitz ihres biederen Korporals Kerkhoff beschäftigt war, auf einer Krippe die Portionen zu teilen, löste sich ein ungeheurer Eichklotz aus dem Gebälk und stürzte krachend herunter. Zum Glück klemmte er sich dicht über unseren Köpfen zwischen zwei Lehmwände. Wir kamen mit dem Schrecken davon, nur unsere schöne Fleischportion lag unter dem aufgewirbelten Schutt. Kaum waren wir nach diesem bösen Vorzeichen ins Stroh gekrochen, als an das Tor gedonnert wurde und die alarmierende Stimme des Feldwebels uns vom Lager trieb. Zuerst, wie immer bei solchen Überraschungen, ein Augenblick der Stille, dann wirres Durcheinander und Gepolter: »Mein Helm!« »Wo ist mein Brotbeutel? « »Ich kriege meine Stiefel nicht an!« »Du hast meine Patronen geklaut!« »Hol't Mul, du August!«
Zuletzt war doch alles fertig, und wir marschierten zum Bahnhof von Chamblay, von wo wir in einigen Minuten mit der Bahn bis Pagny-sur-Moselle fuhren. In den Morgenstunden erklommen wir die Moselhöhen und blieben in Preny, einem zauberhaften, von einer Burgruine überragten Bergdorfe. Diesmal stellte sich unsere Scheune als ein mit duftendem Bergheu gefüllter Steinbau heraus, durch dessen Luken wir auf die weinbepflanzten Moselberge und das im Tal gelegene Städtchen Pagny blicken konnten, das oft mit Granaten und Fliegerbomben belegt wurde. Einige Male schlugen turmhohe Wassersäulen hochschleudernde Geschosse in die Mosel ein.
Das warme Frühlingswetter wirkte belebend auf uns und reizte in den Freistunden zu langen Spaziergängen in das prächtige Hügelland. Wir waren so übermütig, daß wir abends noch einige Zeit unsere Späße trieben, bevor alles zur Ruhe kam. Unter anderem war es ein beliebter Scherz, Schnarchern aus einer Feldflasche Wasser oder Kaffee in den Mund zu gießen.
Am Abend des 22. April marschierten wir von Preny ab, legten über dreißig Kilometer bis zum Dorfe Hattonchâtel zurück, ohne trotz dem schweren Gepäck einen Marschkranken zu haben, und schlugen rechts von der berühmten Grande Tranchée mitten im Walde Zelte auf. Aus allen Anzeichen war zu ersehen, daß wir am nächsten Tag ins Gefecht kommen würden. Wir empfingen Verbandpäckchen, zweite Fleischbüchsen und Signalflaggen für die Artillerie.
Am Abend saß ich noch lange in jener ahnungsvollen Stimmung, von der die Krieger aller Zeiten zu erzählen wissen, auf einem von blauen Anemonen umwucherten Baumstumpf, ehe ich über die Reihen der Kameraden an meinen Zeltplatz kroch, und in der Nacht träumte ich ein wirres Zeug zusammen, in dem ein Totenkopf die Hauptrolle spielte.
Priepke, dem ich am Morgen davon erzählte, hoffte, daß es ein Franzosenschädel gewesen sei.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Ernst Jünger
- 336 Seiten, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828957838
- ISBN-13: 9783828957831
Kommentar zu "In Stahlgewittern"
0 Gebrauchte Artikel zu „In Stahlgewittern“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "In Stahlgewittern".
Kommentar verfassen