Das Erwachen / Indigo Bd.1
Sie sind unsere Zukunft wenn sie lange genug überleben.
Der packende Auftakt der neuen Fantasy-Serie von Erfolgsautorin Jordan Dane!
"Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich. Du darfst nicht nach mir suchen. Versprich es mir."
Als Rayne Darby die...
Der packende Auftakt der neuen Fantasy-Serie von Erfolgsautorin Jordan Dane!
"Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich. Du darfst nicht nach mir suchen. Versprich es mir."
Als Rayne Darby die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Erwachen / Indigo Bd.1 “
Klappentext zu „Das Erwachen / Indigo Bd.1 “
Sie sind unsere Zukunft wenn sie lange genug überleben.Der packende Auftakt der neuen Fantasy-Serie von Erfolgsautorin Jordan Dane!
"Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich. Du darfst nicht nach mir suchen. Versprich es mir."
Als Rayne Darby die Nachricht ihres Bruder Luke auf ihrem Anrufbeantworter hört, ist sie völlig verwirrt. Überstürzt macht Rayne sich auf die Suche, bemerkt jedoch bald, dass sie verfolgt wird. In einem Tunnel sieht sie dann plötzlich ein blaues Licht, das von einem fremden Jungen ausgeht. Er hat die Arme ausgestreckt, die Lippen geöffnet in einem stummen Schrei und ihre Verfolger ergreifen die Flucht.
Ihr Retter heißt Gabe, mehr gibt er nicht von sich preis. Er scheint jedoch zu wissen, wo Luke steckt
Lese-Probe zu „Das Erwachen / Indigo Bd.1 “
Indigo - Das Erwachen von Jordan Dane1. KAPITEL
Sunset Boulevard - Los Angeles, Kalifornien
Sommer - nach Einbruch der Dunkelheit
Lucas Darby stolperte durch die wabernden Lichter von Neonreklamen und vorbeiziehende Schatten und versuchte verzweifelt, den Sinn des dumpfen Geflüsters zu erfassen, das er hörte. Die Medikamente hatten ihm eine endlose Stille aufgezwungen, die selbst die Musik in seinem Kopf zum Verstummen gebracht hatte. Doch jetzt waren die Stimmen aufgetaucht und stillten den gewaltigen Durst in seiner Seele. Er verstand zwar nicht, was sie ihm sagen wollten, doch sie zu hören reichte aus, um Licht in das Dunkel in seinem Inneren zu bringen.
Es gelang ihm nicht, seinen Blick zu fokussieren, und so ignorierte er die verschwommenen Bilder vor seinen Augen und konzentrierte sich auf das, was er in seinem Kopf hörte. Die meisten Worte waren zu verzerrt, um sie zu verstehen. Einige wenige Botschaften kamen aus einem tieferen Teil von ihm, Worte, die sich anfühlten, als wären sie seine eigenen Gedanken, doch sie wurden von Stimmen geflüstert, die ihm unbekannt waren.
Ich kann dich jetzt hören. Bleib nicht stehen.
Selbst wenn er seine Gedanken ausschickte, hatte er keine Ahnung, wer „die anderen" waren oder ob sie ihn hörten. Jetzt, wo sein Gehirn nicht mehr von den Medikamenten umnebelt war, waren die Stimmen zurückgekehrt, und auch die Farben sah er nun mit neuen Augen. Wunderschöne Prismen aus fließendem Licht, die von gesichtslosen Geistern ausgingen. Körper, die vor ihm schwebten, in Farben, die wie Hitze über heißem Asphalt flimmerten.
„Pass doch auf, wo du hinläufst, Junge!"
... mehr
Jemand schubste Lucas. Das Gesicht eines alten Mannes schälte sich aus dem Dunkel, dann wurde es wieder von dem schimmernden Nebel verschluckt, der die Welt durchdrang.
Entschuldigung.
Er wusste nicht, ob er das Wort laut gesagt hatte. Trotz seiner fünfzehn Jahre fiel ihm das Sprechen noch immer nicht leicht. Von seiner Mutter wusste, er, dass er noch vor seinem ersten Wort eine seltsame Melodie gesummt hatte. Eines Tages war die Musik dann verstummt, und er hatte sich gefühlt, als hätte er einen Arm verloren.
Er vermisste die Musik. Ohne sie fühlte sich nichts mehr richtig an.
Mit den Jahren hatten die Medikamente wie ein Gift jede Pore seines Körpers durchdrungen. Doch jetzt, wo sie nach und nach abgebaut wurden, lernte Lucas ganz neue Sinneseindrücke kennen. Starkes Parfüm, vermengt mit Körpergeruch und dem Gestank von Alkohol, Frittierfett und Hotdogs waberte durch die Nachtluft. Vor ihm verzerrten sich die Bilder zu einem spiralförmigen Farbrausch, aus dem sich die Umrisse von Menschen lösten, die zu schattenartigen Hindernissen wurden. Lucas lief durch sie hindurch immer weiter den nicht enden wollenden Gehweg entlang.
Bleib nicht stehen. Wenn du es tust, werden die Believers dich finden.
Lucas wusste nicht, ob diese Gedanken seine eigenen waren. Er wusste nur, dass er gehorchen musste.
The Copperhead Club - West Hollywood
Rayne Darby gönnte sich einen entspannten Abend in der Bar. Sie trank alleine, knabberte gefüllte Oliven und nippte an einer Ananasschorle mit extra Kirschen und einer Orangenscheibe. Sie schnorrte Essen, wann immer sie konnte. Nicht, weil sie es musste. Drei anständige Mahlzeiten am Tag und die Nahrungsmittelpyramide waren noch nie ihr Ding gewesen. Aber das kärgliche Mahl, das sie als Abendessen bezeichnete, weckte Erinnerungen an ihre Mutter. Ihre Eltern wären entsetzt darüber gewesen, wie sie lebte, besonders, wenn sie gewusst hätten, dass sich ihr siebzehnjähriger Hintern gerade in einer Bar befand.
Aber da sie beide tot waren - umgekommen bei einem Absturz ihres Privatjets vor fünf Jahren -, hatten sie niemals erfahren, was aus Rayne geworden war. Manche Leute in ihrem Alter waren vermutlich neidisch, dass zu Hause keiner auf sie wartete und ihre Entscheidungen kritisierte. Die letzten sechs Monate hatte sie allein gelebt, hatte getan, was sie wollte und wann sie wollte. Es gab Augenblicke, in denen sie den Geschmack der Freiheit genoss.
Das hier war keiner davon.
Grünes Scheinwerferlicht verfing sich in den Schnapsflaschen, die auf verspiegelten Regalen standen. Nur die Schatten der zwei Barkeeper verdunkelten hin und wieder das gespenstische Glühen. Rayne hatte ihren Barhocker in die Schatten neben einem Lagerraum verrückt. Solange sie das Licht mied, fühlte sie sich unsichtbar. Mit gesenktem Kopf kauerte sie über ihrem Drink. Sie trug noch immer dasselbe wie am Morgen, weil sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte, sich umzuziehen - ausgeblichene Jeans, ihr Lieblings-T-Shirt von Led Zeppelin und eine alte braune Lederjacke, die ihr zu groß war. Ein Erbstück von ihrem Vater.
Alles an ihr sagte: Leg dich bloß nicht mit mir an.
Sie war hier, weil sie mit der Band abhängen wollte, aber dann hatte sich plötzlich ein dunkler Nebel um ihre Stimmung gelegt, und sie hatte keine Lust mehr gehabt, einen auf freundlich zu machen. Also hatte sie sich die nächste dunkle Ecke gesucht und war mit den Schatten verschmolzen. Seit sie Sommerferien hatte und tagsüber Jobs nachging, die nicht weiter erwähnenswert waren, war das Copperhead zu einem Lichtblick geworden ... jedenfalls an den meisten Abenden.
Sie hob einen Finger, um die Aufmerksamkeit ihres Lieblingsbarkeepers Sam zu erregen, und fischte einen Geldschein aus ihrer Jackentasche. Bis er sich letztes Jahr ihren Ausweis hatte zeigen lassen, hatte Sam sie immer mit diesem „Du erzählst doch nur Scheiße"-Blick bedacht. Jetzt hatte er sie akzeptiert. Ihr Ausweis sah ja auch wirklich echt aus. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, dass er sich als totaler Vollidiot entpuppen und sie trotzdem per Arschtritt vor die Tür verfrachten würde. Aber nachdem er festgestellt hatte, dass sie ihr Privileg nicht missbrauchte, indem sie Alkohol bestellte, ließ er sie in Frieden.
Bier schmeckte sowieso nach Pferdepisse. Nicht, dass sie jemals welche probiert hätte. Sie wusste nur, dass sie kein Bier mochte. Seit sie in einer anderen Bar eine ganze Nacht lang die Toilette vollgekotzt hatte, war sie von dem Wunsch nach einer Wiederholung kuriert. Danach hatte sie ihr Kurzzeitvisum für die Hauptstadt von Würgistan wieder abgegeben und sich eine neue Location gesucht. Im Copperhead fühlte sie sich zu Hause, besonders, weil Sam auf sie aufpasste wie ein großer Bruder. Der Typ hatte sich als echt cool entpuppt.
„Bei all dem Obstsaft, den du in dich reinkippst, müsstest du langsam immun gegen Skorbut sein. Ganz schön praktisch. Jedenfalls, wenn du Piratin wärst." Sam warf ihr einen seiner typischen ausdruckslosen Blicke zu.
„Ich werd dran denken, wenn ich Johnny Depp über den Weg laufe."
„Na, willst du's mal so richtig krachen lassen und auf Orangensaft umsteigen?", fragte Sam, während er den Tresen polierte und ihr eine neue Serviette hinlegte.
„Ich denke, ich mache gleich mit dem Hauptgang weiter. Eine Dosis Tomatensaft bitte, ohne Eis."
„Auch wenn ich damit das Risiko eingehe, dass du mich für einen Stalker hältst: Möchtest du ein bisschen Sellerie extra?" Sam verzog die Lippen zu einem Lächeln.
„Haha, ich lach mir gleich den Arsch ab", erwiderte sie mit ernster Miene. „Aber okay, mach mich platt mit der vollen Gemüsedröhnung. Danke."
„Schon unterwegs, Täubchen."
Sam akzeptierte sie einfach und fragte nie, warum sie im Copperhead Vielfliegermeilen sammelte. Selbst während des Schuljahres hing sie ständig hier ab. Die Wahrheit lautete, dass sie es hasste, allein in ihrer Wohnung zu sein. Sie brauchte den Lärm der Bar - und heute Abend gab es einen ganz besonders guten Grund für ihren Besuch: Sie kannte die Band, die gerade spielte.
Archimedes, Watch Out war eine texanische Pop-Punk-Band, der Rayne schon länger auf MySpace und Twitter folgte. Austin, der Typ am Keyboard, hatte auf den Bildern im Netz einen wilden Blick, der ihn interessant machte, aber in Person war er sanft wie ein Lämmchen. Der Leadsänger Dalton hatte eine sensationelle Stimme, die die Band noch weit bringen würde, und Tommy spielte zuckersüße Gitarrenriffs, die zu seinem bildhübschen Aussehen passten. Die Jungs sahen allesamt total heiß aus, was Rayne ziemlich gelegen kam. Sie brauchte das Jungs-Buffet, bei dessen Anblick einem das Wasser im Mund zusammenlief, als Ablenkung. Außerdem gab es nichts Besseres als Typen, die wussten, wie man eine dicke Portion Dezibel auftischte.
Nachdem Sam den Tomatensaft und praktisch eine ganze Selleriestange vor ihr abgeladen hatte, warf Rayne als Trinkgeld einen Geldschein auf den Tresen. Dabei bemerkte sie, dass ihr Handy zu leuchten und zu summen begann. Die Nummer war ihr bekannt. Mit zusammengebissenen Zähnen überlegte sie, ob sie rangehen sollte oder nicht. Wider besseres Wissen bedeutete sie Sam mit einem Kopfnicken, dass sie in den Lagerraum gehen würde, den einzigen ruhigen Ort hier, an dem sie den Anruf entgegennehmen konnte. Als Stammgast hatte man Privilegien.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sie die Musik nur noch als leises Wummern wahr. „Was gibt's?", fragte sie, nachdem sie abgehoben hatte.
Ihre ältere Schwester legte ohne weitere Umstände mit ihrem üblichen Gezicke los. „Was ist das für ein Lärm, Rayne? Wo bist du?"
„Das ist meine Stereoanlage. Ich hab sie auf Herzinfarktlautstärke hochgedreht." Rayne besaß gar keine Anlage. „Warum rufst du an, Mia?"
„Wo ist Lucas? Ist er bei dir?" Mit der Hardcore-Elternmasche sicherte sich Mia ihre volle Aufmerksamkeit. In Sachen Hysterie hätte keine echte Mutter mit Raynes Schwester mithalten können.
„Wovon redest du? Warum sollte er bei mir sein? Du hast ihn doch sicher hinter Schloss und Riegel gebracht, liebstes Schwesterherz." Als aus dem Hörer nur ein tiefes Seufzen zu hören war, legte Rayne das Klugscheißergehabe ab und fragte: „Was ist los, Mia?"
„Ich habe einen Anruf aus Haven Hills bekommen. Er ist nicht auf dem Gelände. Sie können ihn nicht finden."
„Was?" Rayne ließ sich gegen das Metallregal sinken. „Das kann nicht sein."
„Offensichtlich schon." Mias Stimme hatte einen rasiermesserscharfen Beiklang. Typisch. „Das kann er nicht machen. Ich bin für ihn verantwortlich. Wenn du ihn versteckst, finde ich es heraus, das schwöre ich."
„Verdammt, Mia, warum musst du immer ..."
Es hatte keinen Zweck zu streiten. Ihre Schwester war so flexibel wie Beton. Das hatte Rayne auf die harte Tour gelernt. Die Therapieeinrichtung Haven Hills auf dem Sunset Boulevard war die letzten drei Jahre lang das Zuhause ihres jüngeren Bruders Lucas gewesen. Was für ein Freudenfest für den armen Luke. Mia hatte nach dem Tod ihrer Eltern die ganze Verantwortung an sich gerissen, und die private Nervenklinik hatte Verbindungen zu Mias Arbeitgeber, einer Kirche, die sich „Church of Spiritual Freedom" nannte.
Als Rayne ihren kleinen Bruder an die Typen in den weißen Kitteln verloren hatte, war etwas in ihr zerbrochen. Obwohl Lucas wirklich dringend Hilfe brauchte. Aber Mias übereilte Entscheidung, ihn einzuweisen, hatte das zerstört, was von ihrer Familie noch übrig gewesen war. Rayne hatte den Verrat ihrer Schwester damals nicht mal ansatzweise kommen sehen. Sie kam sich blöd vor, und, was noch schlimmer war: Sie hatte ihren Bruder im Stich gelassen. Und zwar in einem Ausmaß, das sie niemals wiedergutmachen konnte. Jedenfalls nicht, solange Mia weiter ihr Besuchsrecht bei Lucas beschränkte. Wobei sein Zustand sowieso so schlecht war, dass man kaum mit ihm sprechen konnte.
Das war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und dazu geführt hatte, dass Rayne zu Hause ausgezogen war. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie kein Problem damit, dass ihre Schwester Lucas als Schachfigur gegen sie einsetzte. Er war der Hauptgrund dafür, dass Rayne das Gefühl hatte, auf der Stelle zu treten. Wie konnte sie ihr Leben weiterleben, solange er in dieser beschissenen Anstalt festsaß? Luke hatte sonst niemanden, der sich wirklich um ihn kümmerte. Er konnte sich nicht um sich selbst kümmern.
Sie war die Einzige, die ihn so liebte, wie er war.
„Rufst du mich an, wenn sie ihn finden?" Rayne verzog das Gesicht, weil sie nicht glauben konnte, dass sie diese Frage überhaupt stellen musste. Anstatt zu antworten, stellte Mia selbst eine Frage.
„Kontaktierst du mich, wenn er dich kontaktiert?" Als Rayne schwieg, seufzte ihre Schwester. „Klar, hätte ich auch nicht gedacht."
Die Stille zwischen ihnen wurde immer lauter, und Rayne schob störrisch das Kinn vor.
„Mia, er ist auch mein Bruder. Bitte."
Diesmal hatte ihre Schwester etwas zu sagen.
„Wenn du festgenommen wirst, weil du Alkohol trinkst, brauchst du dir nicht einzubilden, dass ich die Kaution zahle."
Als die Leitung tot war, musste Rayne den Drang unterdrücken, um sich zu schlagen. Nett, echt nett. Ihr einziger Anruf aus dem Kittchen würde garantiert sowieso nicht Schwester Spaßbremse gelten. Mia schaffte es zwar immer wieder, Rayne zur Weißglut zu bringen, aber Wut würde Luke auch nicht helfen. Sie stopfte ihr Handy in die Jackentasche und verließ den Lagerraum. Sie musste nach Hause, für den Fall, dass er anrief, aber was, wenn er es nicht tat?
Oh, Gott. Weiß er überhaupt, wie er mich erreichen kann? Hat er meine Nummer behalten?
Bei der Vorstellung, wie Lucas völlig verwirrt und alleine durch die Straßen von L.A. irrte, wurde ihr ganz anders. In ihrer Vorstellung war er immer noch ein Kind - ein Kind, das in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wie hatte er es nur geschafft, in seinem Zustand aus Haven Hills zu entkommen? Doch es gab noch eine Frage, die ihr weitaus größere Sorgen bereitete.
Wo zum Teufel will er hin?
Sunset Boulevard
Als Lucas in einem Restaurantfenster sein Spiegelbild ansah, starrte das Gesicht eines Fremden zurück. Der Hunger hatte ihn dem Geruch von Hamburgern und Pommes frites folgen lassen, aber nachdem er einen Blick in die Fensterscheibe geworfen hatte, war er wie vom Blitz getroffen stehen geblieben. Blutunterlaufene dunkle Flecken untermalten seine grauen Augen, und sein Haar war völlig verklettet. Er erkannte sein eigenes Gesicht kaum wieder. Aber er entdeckte noch etwas anderes in seinem Spiegelbild. Bald würde er zum ersten Mal seit Jahren frei von Medikamenten sein, und das leuchtend blaue Schimmern, das von seinem Körper ausging, war zurückgekehrt - und es war kräftiger als zuvor.
Mächtiger.
Du bist der Eine, nicht wahr? Eine Mädchenstimme, die aus dem Nichts kam.
Bei ihrem Klang sträubten sich seine Nackenhaare, und ein eiskalter Schauer überlief seine Arme. Sie schien ihm direkt ins Ohr zu flüstern. Er fuhr herum, glaubte, das Mädchen neben sich stehen zu sehen. Die Stimme klang auf seiner Haut nach wie sanfter Atem - wie etwas Intimes und Reines -, aber neben ihm stand niemand.
Der Eine? Wovon redest du?
Er konzentrierte sich, lauschte, aber nichts kam. Beim Klang der Stimme des Mädchens hatte er sich noch stärker gefühlt, verbunden mit etwas Größerem. Das gedämpfte Gemurmel im Hintergrund erinnerte ihn an ein Orchester beim Stimmen der Instrumente. Doch das Mädchen war deutlicher zu hören gewesen als die anderen, wie ein eindringliches Geigensolo. Er spürte sie in seinem Kopf. In seinem Körper. Bis in seine Haarspitzen.
Warum kannst du mich nicht hören? Seine Gedanken streckten sich nach ihr aus, er bettelte um eine Antwort. Als alle Stimmen verstummten, war er sicher, dass sie ihn bestrafte.
Bitte hör nicht auf. Ich höre zu. Du kannst mit mir reden, sagte er.
Das tröstliche Gemurmel kehrte zurück, aber das Mädchen blieb stumm, obwohl er es noch bei sich spüren konnte. Lucas wandte sich wieder der Glasscheibe zu. Er musste sein Spiegelbild nicht sehen, um zu wissen, was passiert war.
Er konnte es fühlen.
Blendend weiße Lichtblitze schossen durch das Kobaltblau und verstärkten die Energie in Lucas. Als er das perlende Glimmen des pulsierenden Lichts sah, wollte er lächeln, doch er tat es nicht. Denn die immer stärker werdenden Farben waren nichts weiter als eine tickende Zeitbombe. Die Medikamente hatten dazu gedient, sie zu unterdrücken, um Lucas kontrollieren zu können.
Ein Countdown hatte eingesetzt - und das Mädchen spürte es genauso wie er.
Weil du bist, was du bist, werden dich die Believers jagen.
„Aber ... was bin ich denn genau?" Er sagte die Worte laut, diesmal nicht zu ihr.
Es würde nicht lange dauern, bis die Believers merkten, dass er verschwunden war. Sobald sie es herausgefunden hatten, würden sie ihn suchen. Wenn sie ihn fingen, würden sie ihn kein zweites Mal entkommen lassen. Seine Flucht war nicht mehr als ein dummer Zufall gewesen. Vor einigen Stunden hatte er die Augen geöffnet und sich versteckt in einem Lieferwagen wiedergefunden, der gerade das Klinikgelände verließ. Wegen der Medikamente konnte er sich nicht genau erinnern, wie er dorthin gekommen war. Er war ohne Plan aus Haven Hills getürmt, er hatte nur Slippers und den Kittel getragen, den man ihm im Krankenhaus gegeben hatte. Als der Lieferwagen an einer Ampel anhielt, war er ausgestiegen und hatte keinen Blick mehr zurück geworfen.
Nachdem er klar genug im Kopf geworden war, um nachzudenken, hatte er begriffen, dass er zunächst etwas anderes zum Anziehen finden musste. Als ein betrunkener obdachloser Typ kurz sein Lager aus den Augen ließ, stahl Lucas ein paar von seinen Klamotten und griff nach einer Handvoll Münzen, die der Mann erbettelt hatte und in einem Becher mit Deckel aufbewahrte. Alles, was Lucas jetzt trug, stank. Er hasste es, aber so fiel er nicht auf zwischen den Unsichtbaren, die durch die Straßen von L.A. geisterten.
Lucas wusste, dass er seine Flucht nur dem Glück der Dummen zu verdanken hatte oder einer günstigen Planetenkonstellation oder irgendeiner anderen abgefahrenen Anomalie. Es würde schwierig werden, seine Freiheit zu bewahren. Die Believers hatten Geld. Viel Geld.
Vertrau niemandem. Auch nicht den Cops. Die Stimme des Mädchens spiegelte seine eigenen Gedanken wider. Bis auf einen Punkt.
Lucas musste ein Telefon finden.
Vor einer 7-Eleven-Filiale fand er, wonach er suchte. Er fummelte in seinen Taschen nach Wechselgeld und dem verknitterten Papierfetzen, den er aus Haven Hills mitgenommen hatte - dem mit der Telefonnummer seiner Schwester Rayne darauf. Als er das Klingeln hörte, schloss er die Augen und versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen. Er gab sich Mühe, sie glücklich aussehen zu lassen, aber es funktionierte nicht.
Komm schon, Rayne, heb ab.
Während das Telefon klingelte, versuchte er sich zu erinnern, ob die Nummer, die sie ihm gegeben hatte, zu ihrem Handy oder ihrer Wohnung gehörte. Bald würde der Anrufbeantworter anspringen. Eine Nachricht. Er würde richtig sprechen, etwas sagen müssen. Aber was sollte er ihr nur sagen, so verkorkst, wie alles war? Verdammt.
Vertrau niemandem. Die Worte des Mädchens hallten in seinem Kopf nach, aber er musste diesen Anruf machen. Danach würde Rayne zwar die Nummer haben, von der aus er angerufen hatte, aber Lucas wusste, dass er nicht auf ihren Rückruf warten durfte. Die Believers kannten zu viele Wege, um ihn aufzuspüren. Sein Instinkt zwang ihn, in Bewegung zu bleiben. Er wollte Rayne nicht in Gefahr bringen, aber er konnte sie auch nicht aus seinem Leben löschen, ohne ihr wenigstens Auf Wiedersehen zu sagen.
Auf Wiedersehen. Auch wenn es für ihn kein Wiedersehen mit der einzigen Person, die er sehen wollte, geben würde.
Als er ihren Ansagetext hörte, traf ihn die Enttäuschung wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr es ihn berührte, die Stimme seiner Schwester zu hören, bis er eine Träne seine Wange herabrollen spürte. Als der Piepton erklang, wischte er sich mit dem Handrücken übers Gesicht und atmete tief durch.
„Rayne, ich bin's. Es tut mir leid. Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Dieser Ort ... irgendetwas stimmt dort nicht, und ich kann Mia nicht vertrauen. Sie wollte, dass sie mich auf Station 8 verlegen. Das konnte ich nicht zulassen. Du bist die Einzige, die jemals ..." Er unterbrach sich und umklammerte den Hörer fester, versuchte, nicht so erbärmlich zu klingen. „Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich."
Er stieß seine Stirn gegen das Münztelefon. Station 8. Warum hatte er das nur gesagt? Er konnte nicht beschreiben, was der Gedanke an seine Verlegung in ihm auslöste, nicht am Telefon. Seine Nachricht klang lahm, und die Uhr in seinem Kopf tickte unerbittlich weiter. Er fühlte sich ausgeliefert, besonders, nachdem er die Sicherheitskamera vor dem Laden entdeckt hatte, die direkt auf ihn gerichtet war.
„Ich muss jetzt auflegen, aber ..." Er schluckte schwer. „Du darfst nicht nach mir suchen. Versprich mir, dass du es nicht tust. Es ist nicht sicher. Du würdest alles nur noch schlimmer für uns beide machen, und ..."
Als der Anrufbeantworter piepte und ihn abwürgte, schloss er die Augen und atmete tief durch, um den Medikamentennebel um sein Gehirn aufzulösen. Dann rief er ein zweites Mal bei Rayne an. Diesmal musste er schneller reden und sagen, worum es ihm wirklich ging.
„Hey, ich bin's wieder. Eigentlich hab ich angerufen, um zu sagen ... Ich liebe dich, Rayne. Ich werde dich immer lieben."
Als er auflegte, fühlte er sich total beschissen. Er hatte geklungen wie ein Loser auf Drogen - und paranoid obendrein. Wenn Mia es geschafft hatte, Rayne davon zu überzeugen, dass er psychisch instabil war, hatte er mit seiner Nachricht Öl ins Feuer gegossen. Er würde niemals Rayne die Schuld dafür geben, wie die Dinge gelaufen waren. Dennoch senkte sich bei dem Gedanken ein Gewicht auf sein Herz. Er hatte die Bande zu der einzigen Person durchtrennt, auf die er zählen konnte, weil er sie liebte. Was auch immer als Nächstes kam - er war jetzt ganz auf sich gestellt.
Ihm blieb keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Eine Energiewelle durchdrang ihn wie ein übersinnlicher Stoß.
Sie kommen.
Sein Inneres begann zu vibrieren, dann verwandelte sich das Gefühl in schmerzhafte Nadelstiche. Gefahr drohte. Er musste ihre Schritte nicht hören, um zu wissen, dass die Believers kamen, um ihn zu holen. Er konnte es spüren. Nein. Es ist zu früh. Ich bin nicht ... stark genug. Er stahl sich in die Schatten einer Seitengasse, um seine Gedanken und seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Als er einen erneuten Energieschub spürte, wusste er, dass sie ihm bedrohlich nahe gekommen waren. Diesmal machte er sich keine Gedanken darüber, ob er Aufmerksamkeit erregte.
Lucas rannte los.
West Hollywood
Dreißig Minuten später
Gleich als sie die Wohnungstür öffnete, sah Rayne das blinkende Licht, das ihr verriet, dass sie eine Nachricht erhalten hatte, und hastete zu ihrem Telefon. Sie betete, dass der Anruf von Lucas gekommen war. Doch nachdem sie seine Nachricht gehört hatte, war sie noch besorgter als vorher. Sie schaltete eine Lampe ein und ließ sich auf einen Barhocker an der Küchenanrichte sinken, um die Nachricht ihres Bruders ein zweites und drittes Mal anzuhören.
„Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Dieser Ort ... irgendetwas stimmt dort nicht."
Seine Stimme hatte zittrig geklungen, war kaum wiederzuerkennen gewesen, besonders mit dem Verkehrslärm im Hintergrund. Trotzdem, er hatte sie angerufen. Das war doch ein Anfang, oder? Aber was hatte ihn so sehr verängstigt, dass er trotz seines Zustands aus Haven Hills geflohen war?
„... ich kann Mia nicht vertrauen."
Seine Worte machten ihr Angst. Rayne vertraute Mia auch nicht, aber Lucas hatte selbst unter Medikamentenfluss gespürt, dass ihre ältere Schwester ein Ziel verfolgte. Etwas in seiner Stimme gab ihr das Gefühl, dass er wirklich Angst vor Mia hatte.
Und was war Station 8?
Was an Mia und diesem Krankenhaus hat dich so erschreckt, Lucas?
Rayne wählte die Nummer, von der er angerufen hatte, und lauschte dem Läuten des Telefons. Als niemand dranging, wählte sie die Nummer erneut, dann noch mal und noch mal. Beim dritten Mal nahm jemand ab.
„Hallo?" Die Stimme einer älteren Frau.
„Ich habe einen Anruf von dieser Nummer erhalten. Können Sie mir sagen, ob Sie irgendwo in Ihrer Nähe einen großen Jungen sehen? Er ist mein Bruder, und ich muss mit ihm sprechen."
„Hier steht niemand, Schätzchen. Ich bin hier, weil ich Bier holen wollte, und da hab ich das Telefon klingeln hören. Dachte, ich geh mal ran."
Rayne schloss die Augen. Sie hatte ihn verpasst.
„Okay, könnten Sie mir dann bitte sagen, wo Sie sind? Ich muss ihn finden."
„Klar." Nachdem die Frau ihr die nächste größere Kreuzung genannt hatte, sagte sie: „Ich hoffe, du findest deinen Bruder, Schätzchen. Und nur, dass du's weißt: Ich trinke nur in Maßen."
„Ähm, klar. Danke, Ma'am. Für alles."
Rayne kannte die Gegend, aus der ihr Bruder angerufen hatte. Sie legte auf und streifte ihre Jacke ab, dann spielte sie die Nachricht noch einmal ab. Als sie sich Lucas alleine auf der Straße vorstellte, brannten ihr Tränen in den Augen. Fast sein ganzes Leben lang hatte sich jemand um ihn gekümmert, hatte er unter ärztlicher Beobachtung gestanden. Was würde passieren, wenn er seine Medikamente nicht mehr bekam?
„Verdammt, Mia, was hast du ihm angetan?"
Lucas musste verzweifelt gewesen sein, wenn er sich Mias Kontrolle entzogen hatte und aus dem Krankenhaus und vor dieser ominösen Station 8 geflohen war.
Rayne war sich sicher, dass ihre Schwester ganz genau wusste, wovor er Angst hatte. Aber das hätte Mia niemals zugegeben, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Seit das juristische Chaos aus Vormundschaft und Treuhandfonds geordnet worden war, verhielt sich Mia distanziert und verließ sich auf die Ratschläge ihrer Anwälte. Sie hatte aufgehört, mit Rayne über Lucas zu sprechen, über alles. Die Distanz zwischen ihnen war immer größer geworden, sie hatten mehr und mehr gestritten, aber richtig hässlich war es erst geworden, als Mia die Besuche bei Lucas benutzt hatte, um ihre jüngeren Geschwister zu kontrollieren.
Das war der Augenblick gewesen, in dem Rayne klar geworden war, dass sie alles verloren hatte. Sie hatte keine Kontrolle. Keine Macht, etwas zu ändern. Und jetzt hatte sie auch Lucas verloren.
„Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich ... Du darfst nicht nach mir suchen. Es ist nicht sicher. Du würdest alles nur noch schlimmer für uns beide machen ..."
Rayne wusste nicht, was sie denken sollte. Was konnte gefährlich daran sein, ihren Bruder zu sehen? Und was konnte so schlimm daran sein, dass sie sich um ihn kümmern wollte? Er klang verängstigt und total paranoid. Was, wenn Mia recht gehabt hatte, was seinen Zustand betraf? Dass er das Krankenhaus wirklich brauchte? Rayne wollte tun, was das Beste für ihn war, aber ...
„Was ist das Beste für dich, Luke?" Sie wischte sich über die Augen.
War Mia damals genauso unsicher gewesen? Und hatte sie Rayne nur deswegen nicht um Rat gefragt, weil sie noch ein Kind gewesen war? Hätte Rayne die Entscheidungen, die ihre Schwester für Lucas getroffen hatte, dann vielleicht akzeptiert? Sollte sie Mia jetzt helfen, ihn zu finden, weil es letztlich das Einzige war, das sie tun konnte?
Mit seiner Flucht aus der Nervenheilanstalt zwang Lucas sie zum Handeln. Er hatte angerufen, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, aber sie konnte sich nicht einfach zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen. Vielleicht war das hier ihre letzte Chance, alles in Ordnung zu bringen - das zu tun, wofür sie beim letzten Mal zu jung gewesen war.
Alles ist völlig durcheinander. Sie wollte, dass sich ihre Schwester irrte. Es muss einfach so sein.
Immer, wenn Rayne nervös wurde oder Angst bekam, spielte sich schräges Zeug in ihrem Kopf ab, das meistens mit ihrer Schwester zu tun hatte. Manchmal tat es ihr gut, sich Miss Perfect mit einem dicken, zum Ausdrücken reifen Pickel mitten auf der Stirn vorzustellen.
Aber wenn sie sich in ihrer Schwester geirrt hatte, bedeutete das, dass ihr Bruder wirklich krank war.
Rayne wünschte sich von ganzem Herzen, dass er noch immer das niedliche, schüchterne Kind war, an das sie sich erinnerte - ein freundlicher Junge, der von Geburt an anders gewesen war als die anderen. Aber was, wenn er das gar nicht mehr war? Was, wenn die Stimmen in seinem Kopf bösartig geworden waren? Wenn Mia sie vor ihm hatte beschützen wollen? Sich auf Lukes Seite zu schlagen würde so oder so nicht leicht werden. Wenn sie ihm den Rücken deckte - gegen Mias Geld und die Ärzte und ihren schrägen Arbeitgeber, diese Church of Spiritual Freedom -, dann mussten sie zu zweit dem Krankenhaus, den Gerichten und Gott die Stirn bieten. Das Gesetz und Gott würden auf Mias Seite sein. Der reinste Klacks. So einen Krieg würden sie niemals gewinnen. Nicht, ohne ordentlich Federn zu lassen.
Sie wollte gerade auf Abspielen drücken, um seine Stimme noch einmal zu hören, da ließ sie ein hartes Klopfen an der Tür zusammenfahren. Als sie durch das Guckloch sah, zog sich ihr Magen zusammen und ihr wurde schlecht. Ihre Schwester starrte sie an, als hätte sie einen Röntgenblick und könne durch die Tür sehen.
Aber das Schlimmste war, dass sie einen Polizisten in Uniform bei sich hatte.
„Verdammt, Mia. Was jetzt?"
© Mira Taschenbuch im Cora Verlag
Jemand schubste Lucas. Das Gesicht eines alten Mannes schälte sich aus dem Dunkel, dann wurde es wieder von dem schimmernden Nebel verschluckt, der die Welt durchdrang.
Entschuldigung.
Er wusste nicht, ob er das Wort laut gesagt hatte. Trotz seiner fünfzehn Jahre fiel ihm das Sprechen noch immer nicht leicht. Von seiner Mutter wusste, er, dass er noch vor seinem ersten Wort eine seltsame Melodie gesummt hatte. Eines Tages war die Musik dann verstummt, und er hatte sich gefühlt, als hätte er einen Arm verloren.
Er vermisste die Musik. Ohne sie fühlte sich nichts mehr richtig an.
Mit den Jahren hatten die Medikamente wie ein Gift jede Pore seines Körpers durchdrungen. Doch jetzt, wo sie nach und nach abgebaut wurden, lernte Lucas ganz neue Sinneseindrücke kennen. Starkes Parfüm, vermengt mit Körpergeruch und dem Gestank von Alkohol, Frittierfett und Hotdogs waberte durch die Nachtluft. Vor ihm verzerrten sich die Bilder zu einem spiralförmigen Farbrausch, aus dem sich die Umrisse von Menschen lösten, die zu schattenartigen Hindernissen wurden. Lucas lief durch sie hindurch immer weiter den nicht enden wollenden Gehweg entlang.
Bleib nicht stehen. Wenn du es tust, werden die Believers dich finden.
Lucas wusste nicht, ob diese Gedanken seine eigenen waren. Er wusste nur, dass er gehorchen musste.
The Copperhead Club - West Hollywood
Rayne Darby gönnte sich einen entspannten Abend in der Bar. Sie trank alleine, knabberte gefüllte Oliven und nippte an einer Ananasschorle mit extra Kirschen und einer Orangenscheibe. Sie schnorrte Essen, wann immer sie konnte. Nicht, weil sie es musste. Drei anständige Mahlzeiten am Tag und die Nahrungsmittelpyramide waren noch nie ihr Ding gewesen. Aber das kärgliche Mahl, das sie als Abendessen bezeichnete, weckte Erinnerungen an ihre Mutter. Ihre Eltern wären entsetzt darüber gewesen, wie sie lebte, besonders, wenn sie gewusst hätten, dass sich ihr siebzehnjähriger Hintern gerade in einer Bar befand.
Aber da sie beide tot waren - umgekommen bei einem Absturz ihres Privatjets vor fünf Jahren -, hatten sie niemals erfahren, was aus Rayne geworden war. Manche Leute in ihrem Alter waren vermutlich neidisch, dass zu Hause keiner auf sie wartete und ihre Entscheidungen kritisierte. Die letzten sechs Monate hatte sie allein gelebt, hatte getan, was sie wollte und wann sie wollte. Es gab Augenblicke, in denen sie den Geschmack der Freiheit genoss.
Das hier war keiner davon.
Grünes Scheinwerferlicht verfing sich in den Schnapsflaschen, die auf verspiegelten Regalen standen. Nur die Schatten der zwei Barkeeper verdunkelten hin und wieder das gespenstische Glühen. Rayne hatte ihren Barhocker in die Schatten neben einem Lagerraum verrückt. Solange sie das Licht mied, fühlte sie sich unsichtbar. Mit gesenktem Kopf kauerte sie über ihrem Drink. Sie trug noch immer dasselbe wie am Morgen, weil sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte, sich umzuziehen - ausgeblichene Jeans, ihr Lieblings-T-Shirt von Led Zeppelin und eine alte braune Lederjacke, die ihr zu groß war. Ein Erbstück von ihrem Vater.
Alles an ihr sagte: Leg dich bloß nicht mit mir an.
Sie war hier, weil sie mit der Band abhängen wollte, aber dann hatte sich plötzlich ein dunkler Nebel um ihre Stimmung gelegt, und sie hatte keine Lust mehr gehabt, einen auf freundlich zu machen. Also hatte sie sich die nächste dunkle Ecke gesucht und war mit den Schatten verschmolzen. Seit sie Sommerferien hatte und tagsüber Jobs nachging, die nicht weiter erwähnenswert waren, war das Copperhead zu einem Lichtblick geworden ... jedenfalls an den meisten Abenden.
Sie hob einen Finger, um die Aufmerksamkeit ihres Lieblingsbarkeepers Sam zu erregen, und fischte einen Geldschein aus ihrer Jackentasche. Bis er sich letztes Jahr ihren Ausweis hatte zeigen lassen, hatte Sam sie immer mit diesem „Du erzählst doch nur Scheiße"-Blick bedacht. Jetzt hatte er sie akzeptiert. Ihr Ausweis sah ja auch wirklich echt aus. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, dass er sich als totaler Vollidiot entpuppen und sie trotzdem per Arschtritt vor die Tür verfrachten würde. Aber nachdem er festgestellt hatte, dass sie ihr Privileg nicht missbrauchte, indem sie Alkohol bestellte, ließ er sie in Frieden.
Bier schmeckte sowieso nach Pferdepisse. Nicht, dass sie jemals welche probiert hätte. Sie wusste nur, dass sie kein Bier mochte. Seit sie in einer anderen Bar eine ganze Nacht lang die Toilette vollgekotzt hatte, war sie von dem Wunsch nach einer Wiederholung kuriert. Danach hatte sie ihr Kurzzeitvisum für die Hauptstadt von Würgistan wieder abgegeben und sich eine neue Location gesucht. Im Copperhead fühlte sie sich zu Hause, besonders, weil Sam auf sie aufpasste wie ein großer Bruder. Der Typ hatte sich als echt cool entpuppt.
„Bei all dem Obstsaft, den du in dich reinkippst, müsstest du langsam immun gegen Skorbut sein. Ganz schön praktisch. Jedenfalls, wenn du Piratin wärst." Sam warf ihr einen seiner typischen ausdruckslosen Blicke zu.
„Ich werd dran denken, wenn ich Johnny Depp über den Weg laufe."
„Na, willst du's mal so richtig krachen lassen und auf Orangensaft umsteigen?", fragte Sam, während er den Tresen polierte und ihr eine neue Serviette hinlegte.
„Ich denke, ich mache gleich mit dem Hauptgang weiter. Eine Dosis Tomatensaft bitte, ohne Eis."
„Auch wenn ich damit das Risiko eingehe, dass du mich für einen Stalker hältst: Möchtest du ein bisschen Sellerie extra?" Sam verzog die Lippen zu einem Lächeln.
„Haha, ich lach mir gleich den Arsch ab", erwiderte sie mit ernster Miene. „Aber okay, mach mich platt mit der vollen Gemüsedröhnung. Danke."
„Schon unterwegs, Täubchen."
Sam akzeptierte sie einfach und fragte nie, warum sie im Copperhead Vielfliegermeilen sammelte. Selbst während des Schuljahres hing sie ständig hier ab. Die Wahrheit lautete, dass sie es hasste, allein in ihrer Wohnung zu sein. Sie brauchte den Lärm der Bar - und heute Abend gab es einen ganz besonders guten Grund für ihren Besuch: Sie kannte die Band, die gerade spielte.
Archimedes, Watch Out war eine texanische Pop-Punk-Band, der Rayne schon länger auf MySpace und Twitter folgte. Austin, der Typ am Keyboard, hatte auf den Bildern im Netz einen wilden Blick, der ihn interessant machte, aber in Person war er sanft wie ein Lämmchen. Der Leadsänger Dalton hatte eine sensationelle Stimme, die die Band noch weit bringen würde, und Tommy spielte zuckersüße Gitarrenriffs, die zu seinem bildhübschen Aussehen passten. Die Jungs sahen allesamt total heiß aus, was Rayne ziemlich gelegen kam. Sie brauchte das Jungs-Buffet, bei dessen Anblick einem das Wasser im Mund zusammenlief, als Ablenkung. Außerdem gab es nichts Besseres als Typen, die wussten, wie man eine dicke Portion Dezibel auftischte.
Nachdem Sam den Tomatensaft und praktisch eine ganze Selleriestange vor ihr abgeladen hatte, warf Rayne als Trinkgeld einen Geldschein auf den Tresen. Dabei bemerkte sie, dass ihr Handy zu leuchten und zu summen begann. Die Nummer war ihr bekannt. Mit zusammengebissenen Zähnen überlegte sie, ob sie rangehen sollte oder nicht. Wider besseres Wissen bedeutete sie Sam mit einem Kopfnicken, dass sie in den Lagerraum gehen würde, den einzigen ruhigen Ort hier, an dem sie den Anruf entgegennehmen konnte. Als Stammgast hatte man Privilegien.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sie die Musik nur noch als leises Wummern wahr. „Was gibt's?", fragte sie, nachdem sie abgehoben hatte.
Ihre ältere Schwester legte ohne weitere Umstände mit ihrem üblichen Gezicke los. „Was ist das für ein Lärm, Rayne? Wo bist du?"
„Das ist meine Stereoanlage. Ich hab sie auf Herzinfarktlautstärke hochgedreht." Rayne besaß gar keine Anlage. „Warum rufst du an, Mia?"
„Wo ist Lucas? Ist er bei dir?" Mit der Hardcore-Elternmasche sicherte sich Mia ihre volle Aufmerksamkeit. In Sachen Hysterie hätte keine echte Mutter mit Raynes Schwester mithalten können.
„Wovon redest du? Warum sollte er bei mir sein? Du hast ihn doch sicher hinter Schloss und Riegel gebracht, liebstes Schwesterherz." Als aus dem Hörer nur ein tiefes Seufzen zu hören war, legte Rayne das Klugscheißergehabe ab und fragte: „Was ist los, Mia?"
„Ich habe einen Anruf aus Haven Hills bekommen. Er ist nicht auf dem Gelände. Sie können ihn nicht finden."
„Was?" Rayne ließ sich gegen das Metallregal sinken. „Das kann nicht sein."
„Offensichtlich schon." Mias Stimme hatte einen rasiermesserscharfen Beiklang. Typisch. „Das kann er nicht machen. Ich bin für ihn verantwortlich. Wenn du ihn versteckst, finde ich es heraus, das schwöre ich."
„Verdammt, Mia, warum musst du immer ..."
Es hatte keinen Zweck zu streiten. Ihre Schwester war so flexibel wie Beton. Das hatte Rayne auf die harte Tour gelernt. Die Therapieeinrichtung Haven Hills auf dem Sunset Boulevard war die letzten drei Jahre lang das Zuhause ihres jüngeren Bruders Lucas gewesen. Was für ein Freudenfest für den armen Luke. Mia hatte nach dem Tod ihrer Eltern die ganze Verantwortung an sich gerissen, und die private Nervenklinik hatte Verbindungen zu Mias Arbeitgeber, einer Kirche, die sich „Church of Spiritual Freedom" nannte.
Als Rayne ihren kleinen Bruder an die Typen in den weißen Kitteln verloren hatte, war etwas in ihr zerbrochen. Obwohl Lucas wirklich dringend Hilfe brauchte. Aber Mias übereilte Entscheidung, ihn einzuweisen, hatte das zerstört, was von ihrer Familie noch übrig gewesen war. Rayne hatte den Verrat ihrer Schwester damals nicht mal ansatzweise kommen sehen. Sie kam sich blöd vor, und, was noch schlimmer war: Sie hatte ihren Bruder im Stich gelassen. Und zwar in einem Ausmaß, das sie niemals wiedergutmachen konnte. Jedenfalls nicht, solange Mia weiter ihr Besuchsrecht bei Lucas beschränkte. Wobei sein Zustand sowieso so schlecht war, dass man kaum mit ihm sprechen konnte.
Das war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und dazu geführt hatte, dass Rayne zu Hause ausgezogen war. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie kein Problem damit, dass ihre Schwester Lucas als Schachfigur gegen sie einsetzte. Er war der Hauptgrund dafür, dass Rayne das Gefühl hatte, auf der Stelle zu treten. Wie konnte sie ihr Leben weiterleben, solange er in dieser beschissenen Anstalt festsaß? Luke hatte sonst niemanden, der sich wirklich um ihn kümmerte. Er konnte sich nicht um sich selbst kümmern.
Sie war die Einzige, die ihn so liebte, wie er war.
„Rufst du mich an, wenn sie ihn finden?" Rayne verzog das Gesicht, weil sie nicht glauben konnte, dass sie diese Frage überhaupt stellen musste. Anstatt zu antworten, stellte Mia selbst eine Frage.
„Kontaktierst du mich, wenn er dich kontaktiert?" Als Rayne schwieg, seufzte ihre Schwester. „Klar, hätte ich auch nicht gedacht."
Die Stille zwischen ihnen wurde immer lauter, und Rayne schob störrisch das Kinn vor.
„Mia, er ist auch mein Bruder. Bitte."
Diesmal hatte ihre Schwester etwas zu sagen.
„Wenn du festgenommen wirst, weil du Alkohol trinkst, brauchst du dir nicht einzubilden, dass ich die Kaution zahle."
Als die Leitung tot war, musste Rayne den Drang unterdrücken, um sich zu schlagen. Nett, echt nett. Ihr einziger Anruf aus dem Kittchen würde garantiert sowieso nicht Schwester Spaßbremse gelten. Mia schaffte es zwar immer wieder, Rayne zur Weißglut zu bringen, aber Wut würde Luke auch nicht helfen. Sie stopfte ihr Handy in die Jackentasche und verließ den Lagerraum. Sie musste nach Hause, für den Fall, dass er anrief, aber was, wenn er es nicht tat?
Oh, Gott. Weiß er überhaupt, wie er mich erreichen kann? Hat er meine Nummer behalten?
Bei der Vorstellung, wie Lucas völlig verwirrt und alleine durch die Straßen von L.A. irrte, wurde ihr ganz anders. In ihrer Vorstellung war er immer noch ein Kind - ein Kind, das in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wie hatte er es nur geschafft, in seinem Zustand aus Haven Hills zu entkommen? Doch es gab noch eine Frage, die ihr weitaus größere Sorgen bereitete.
Wo zum Teufel will er hin?
Sunset Boulevard
Als Lucas in einem Restaurantfenster sein Spiegelbild ansah, starrte das Gesicht eines Fremden zurück. Der Hunger hatte ihn dem Geruch von Hamburgern und Pommes frites folgen lassen, aber nachdem er einen Blick in die Fensterscheibe geworfen hatte, war er wie vom Blitz getroffen stehen geblieben. Blutunterlaufene dunkle Flecken untermalten seine grauen Augen, und sein Haar war völlig verklettet. Er erkannte sein eigenes Gesicht kaum wieder. Aber er entdeckte noch etwas anderes in seinem Spiegelbild. Bald würde er zum ersten Mal seit Jahren frei von Medikamenten sein, und das leuchtend blaue Schimmern, das von seinem Körper ausging, war zurückgekehrt - und es war kräftiger als zuvor.
Mächtiger.
Du bist der Eine, nicht wahr? Eine Mädchenstimme, die aus dem Nichts kam.
Bei ihrem Klang sträubten sich seine Nackenhaare, und ein eiskalter Schauer überlief seine Arme. Sie schien ihm direkt ins Ohr zu flüstern. Er fuhr herum, glaubte, das Mädchen neben sich stehen zu sehen. Die Stimme klang auf seiner Haut nach wie sanfter Atem - wie etwas Intimes und Reines -, aber neben ihm stand niemand.
Der Eine? Wovon redest du?
Er konzentrierte sich, lauschte, aber nichts kam. Beim Klang der Stimme des Mädchens hatte er sich noch stärker gefühlt, verbunden mit etwas Größerem. Das gedämpfte Gemurmel im Hintergrund erinnerte ihn an ein Orchester beim Stimmen der Instrumente. Doch das Mädchen war deutlicher zu hören gewesen als die anderen, wie ein eindringliches Geigensolo. Er spürte sie in seinem Kopf. In seinem Körper. Bis in seine Haarspitzen.
Warum kannst du mich nicht hören? Seine Gedanken streckten sich nach ihr aus, er bettelte um eine Antwort. Als alle Stimmen verstummten, war er sicher, dass sie ihn bestrafte.
Bitte hör nicht auf. Ich höre zu. Du kannst mit mir reden, sagte er.
Das tröstliche Gemurmel kehrte zurück, aber das Mädchen blieb stumm, obwohl er es noch bei sich spüren konnte. Lucas wandte sich wieder der Glasscheibe zu. Er musste sein Spiegelbild nicht sehen, um zu wissen, was passiert war.
Er konnte es fühlen.
Blendend weiße Lichtblitze schossen durch das Kobaltblau und verstärkten die Energie in Lucas. Als er das perlende Glimmen des pulsierenden Lichts sah, wollte er lächeln, doch er tat es nicht. Denn die immer stärker werdenden Farben waren nichts weiter als eine tickende Zeitbombe. Die Medikamente hatten dazu gedient, sie zu unterdrücken, um Lucas kontrollieren zu können.
Ein Countdown hatte eingesetzt - und das Mädchen spürte es genauso wie er.
Weil du bist, was du bist, werden dich die Believers jagen.
„Aber ... was bin ich denn genau?" Er sagte die Worte laut, diesmal nicht zu ihr.
Es würde nicht lange dauern, bis die Believers merkten, dass er verschwunden war. Sobald sie es herausgefunden hatten, würden sie ihn suchen. Wenn sie ihn fingen, würden sie ihn kein zweites Mal entkommen lassen. Seine Flucht war nicht mehr als ein dummer Zufall gewesen. Vor einigen Stunden hatte er die Augen geöffnet und sich versteckt in einem Lieferwagen wiedergefunden, der gerade das Klinikgelände verließ. Wegen der Medikamente konnte er sich nicht genau erinnern, wie er dorthin gekommen war. Er war ohne Plan aus Haven Hills getürmt, er hatte nur Slippers und den Kittel getragen, den man ihm im Krankenhaus gegeben hatte. Als der Lieferwagen an einer Ampel anhielt, war er ausgestiegen und hatte keinen Blick mehr zurück geworfen.
Nachdem er klar genug im Kopf geworden war, um nachzudenken, hatte er begriffen, dass er zunächst etwas anderes zum Anziehen finden musste. Als ein betrunkener obdachloser Typ kurz sein Lager aus den Augen ließ, stahl Lucas ein paar von seinen Klamotten und griff nach einer Handvoll Münzen, die der Mann erbettelt hatte und in einem Becher mit Deckel aufbewahrte. Alles, was Lucas jetzt trug, stank. Er hasste es, aber so fiel er nicht auf zwischen den Unsichtbaren, die durch die Straßen von L.A. geisterten.
Lucas wusste, dass er seine Flucht nur dem Glück der Dummen zu verdanken hatte oder einer günstigen Planetenkonstellation oder irgendeiner anderen abgefahrenen Anomalie. Es würde schwierig werden, seine Freiheit zu bewahren. Die Believers hatten Geld. Viel Geld.
Vertrau niemandem. Auch nicht den Cops. Die Stimme des Mädchens spiegelte seine eigenen Gedanken wider. Bis auf einen Punkt.
Lucas musste ein Telefon finden.
Vor einer 7-Eleven-Filiale fand er, wonach er suchte. Er fummelte in seinen Taschen nach Wechselgeld und dem verknitterten Papierfetzen, den er aus Haven Hills mitgenommen hatte - dem mit der Telefonnummer seiner Schwester Rayne darauf. Als er das Klingeln hörte, schloss er die Augen und versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen. Er gab sich Mühe, sie glücklich aussehen zu lassen, aber es funktionierte nicht.
Komm schon, Rayne, heb ab.
Während das Telefon klingelte, versuchte er sich zu erinnern, ob die Nummer, die sie ihm gegeben hatte, zu ihrem Handy oder ihrer Wohnung gehörte. Bald würde der Anrufbeantworter anspringen. Eine Nachricht. Er würde richtig sprechen, etwas sagen müssen. Aber was sollte er ihr nur sagen, so verkorkst, wie alles war? Verdammt.
Vertrau niemandem. Die Worte des Mädchens hallten in seinem Kopf nach, aber er musste diesen Anruf machen. Danach würde Rayne zwar die Nummer haben, von der aus er angerufen hatte, aber Lucas wusste, dass er nicht auf ihren Rückruf warten durfte. Die Believers kannten zu viele Wege, um ihn aufzuspüren. Sein Instinkt zwang ihn, in Bewegung zu bleiben. Er wollte Rayne nicht in Gefahr bringen, aber er konnte sie auch nicht aus seinem Leben löschen, ohne ihr wenigstens Auf Wiedersehen zu sagen.
Auf Wiedersehen. Auch wenn es für ihn kein Wiedersehen mit der einzigen Person, die er sehen wollte, geben würde.
Als er ihren Ansagetext hörte, traf ihn die Enttäuschung wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr es ihn berührte, die Stimme seiner Schwester zu hören, bis er eine Träne seine Wange herabrollen spürte. Als der Piepton erklang, wischte er sich mit dem Handrücken übers Gesicht und atmete tief durch.
„Rayne, ich bin's. Es tut mir leid. Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Dieser Ort ... irgendetwas stimmt dort nicht, und ich kann Mia nicht vertrauen. Sie wollte, dass sie mich auf Station 8 verlegen. Das konnte ich nicht zulassen. Du bist die Einzige, die jemals ..." Er unterbrach sich und umklammerte den Hörer fester, versuchte, nicht so erbärmlich zu klingen. „Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich."
Er stieß seine Stirn gegen das Münztelefon. Station 8. Warum hatte er das nur gesagt? Er konnte nicht beschreiben, was der Gedanke an seine Verlegung in ihm auslöste, nicht am Telefon. Seine Nachricht klang lahm, und die Uhr in seinem Kopf tickte unerbittlich weiter. Er fühlte sich ausgeliefert, besonders, nachdem er die Sicherheitskamera vor dem Laden entdeckt hatte, die direkt auf ihn gerichtet war.
„Ich muss jetzt auflegen, aber ..." Er schluckte schwer. „Du darfst nicht nach mir suchen. Versprich mir, dass du es nicht tust. Es ist nicht sicher. Du würdest alles nur noch schlimmer für uns beide machen, und ..."
Als der Anrufbeantworter piepte und ihn abwürgte, schloss er die Augen und atmete tief durch, um den Medikamentennebel um sein Gehirn aufzulösen. Dann rief er ein zweites Mal bei Rayne an. Diesmal musste er schneller reden und sagen, worum es ihm wirklich ging.
„Hey, ich bin's wieder. Eigentlich hab ich angerufen, um zu sagen ... Ich liebe dich, Rayne. Ich werde dich immer lieben."
Als er auflegte, fühlte er sich total beschissen. Er hatte geklungen wie ein Loser auf Drogen - und paranoid obendrein. Wenn Mia es geschafft hatte, Rayne davon zu überzeugen, dass er psychisch instabil war, hatte er mit seiner Nachricht Öl ins Feuer gegossen. Er würde niemals Rayne die Schuld dafür geben, wie die Dinge gelaufen waren. Dennoch senkte sich bei dem Gedanken ein Gewicht auf sein Herz. Er hatte die Bande zu der einzigen Person durchtrennt, auf die er zählen konnte, weil er sie liebte. Was auch immer als Nächstes kam - er war jetzt ganz auf sich gestellt.
Ihm blieb keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Eine Energiewelle durchdrang ihn wie ein übersinnlicher Stoß.
Sie kommen.
Sein Inneres begann zu vibrieren, dann verwandelte sich das Gefühl in schmerzhafte Nadelstiche. Gefahr drohte. Er musste ihre Schritte nicht hören, um zu wissen, dass die Believers kamen, um ihn zu holen. Er konnte es spüren. Nein. Es ist zu früh. Ich bin nicht ... stark genug. Er stahl sich in die Schatten einer Seitengasse, um seine Gedanken und seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Als er einen erneuten Energieschub spürte, wusste er, dass sie ihm bedrohlich nahe gekommen waren. Diesmal machte er sich keine Gedanken darüber, ob er Aufmerksamkeit erregte.
Lucas rannte los.
West Hollywood
Dreißig Minuten später
Gleich als sie die Wohnungstür öffnete, sah Rayne das blinkende Licht, das ihr verriet, dass sie eine Nachricht erhalten hatte, und hastete zu ihrem Telefon. Sie betete, dass der Anruf von Lucas gekommen war. Doch nachdem sie seine Nachricht gehört hatte, war sie noch besorgter als vorher. Sie schaltete eine Lampe ein und ließ sich auf einen Barhocker an der Küchenanrichte sinken, um die Nachricht ihres Bruders ein zweites und drittes Mal anzuhören.
„Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Dieser Ort ... irgendetwas stimmt dort nicht."
Seine Stimme hatte zittrig geklungen, war kaum wiederzuerkennen gewesen, besonders mit dem Verkehrslärm im Hintergrund. Trotzdem, er hatte sie angerufen. Das war doch ein Anfang, oder? Aber was hatte ihn so sehr verängstigt, dass er trotz seines Zustands aus Haven Hills geflohen war?
„... ich kann Mia nicht vertrauen."
Seine Worte machten ihr Angst. Rayne vertraute Mia auch nicht, aber Lucas hatte selbst unter Medikamentenfluss gespürt, dass ihre ältere Schwester ein Ziel verfolgte. Etwas in seiner Stimme gab ihr das Gefühl, dass er wirklich Angst vor Mia hatte.
Und was war Station 8?
Was an Mia und diesem Krankenhaus hat dich so erschreckt, Lucas?
Rayne wählte die Nummer, von der er angerufen hatte, und lauschte dem Läuten des Telefons. Als niemand dranging, wählte sie die Nummer erneut, dann noch mal und noch mal. Beim dritten Mal nahm jemand ab.
„Hallo?" Die Stimme einer älteren Frau.
„Ich habe einen Anruf von dieser Nummer erhalten. Können Sie mir sagen, ob Sie irgendwo in Ihrer Nähe einen großen Jungen sehen? Er ist mein Bruder, und ich muss mit ihm sprechen."
„Hier steht niemand, Schätzchen. Ich bin hier, weil ich Bier holen wollte, und da hab ich das Telefon klingeln hören. Dachte, ich geh mal ran."
Rayne schloss die Augen. Sie hatte ihn verpasst.
„Okay, könnten Sie mir dann bitte sagen, wo Sie sind? Ich muss ihn finden."
„Klar." Nachdem die Frau ihr die nächste größere Kreuzung genannt hatte, sagte sie: „Ich hoffe, du findest deinen Bruder, Schätzchen. Und nur, dass du's weißt: Ich trinke nur in Maßen."
„Ähm, klar. Danke, Ma'am. Für alles."
Rayne kannte die Gegend, aus der ihr Bruder angerufen hatte. Sie legte auf und streifte ihre Jacke ab, dann spielte sie die Nachricht noch einmal ab. Als sie sich Lucas alleine auf der Straße vorstellte, brannten ihr Tränen in den Augen. Fast sein ganzes Leben lang hatte sich jemand um ihn gekümmert, hatte er unter ärztlicher Beobachtung gestanden. Was würde passieren, wenn er seine Medikamente nicht mehr bekam?
„Verdammt, Mia, was hast du ihm angetan?"
Lucas musste verzweifelt gewesen sein, wenn er sich Mias Kontrolle entzogen hatte und aus dem Krankenhaus und vor dieser ominösen Station 8 geflohen war.
Rayne war sich sicher, dass ihre Schwester ganz genau wusste, wovor er Angst hatte. Aber das hätte Mia niemals zugegeben, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Seit das juristische Chaos aus Vormundschaft und Treuhandfonds geordnet worden war, verhielt sich Mia distanziert und verließ sich auf die Ratschläge ihrer Anwälte. Sie hatte aufgehört, mit Rayne über Lucas zu sprechen, über alles. Die Distanz zwischen ihnen war immer größer geworden, sie hatten mehr und mehr gestritten, aber richtig hässlich war es erst geworden, als Mia die Besuche bei Lucas benutzt hatte, um ihre jüngeren Geschwister zu kontrollieren.
Das war der Augenblick gewesen, in dem Rayne klar geworden war, dass sie alles verloren hatte. Sie hatte keine Kontrolle. Keine Macht, etwas zu ändern. Und jetzt hatte sie auch Lucas verloren.
„Ich will dich sehen, aber es ist zu gefährlich ... Du darfst nicht nach mir suchen. Es ist nicht sicher. Du würdest alles nur noch schlimmer für uns beide machen ..."
Rayne wusste nicht, was sie denken sollte. Was konnte gefährlich daran sein, ihren Bruder zu sehen? Und was konnte so schlimm daran sein, dass sie sich um ihn kümmern wollte? Er klang verängstigt und total paranoid. Was, wenn Mia recht gehabt hatte, was seinen Zustand betraf? Dass er das Krankenhaus wirklich brauchte? Rayne wollte tun, was das Beste für ihn war, aber ...
„Was ist das Beste für dich, Luke?" Sie wischte sich über die Augen.
War Mia damals genauso unsicher gewesen? Und hatte sie Rayne nur deswegen nicht um Rat gefragt, weil sie noch ein Kind gewesen war? Hätte Rayne die Entscheidungen, die ihre Schwester für Lucas getroffen hatte, dann vielleicht akzeptiert? Sollte sie Mia jetzt helfen, ihn zu finden, weil es letztlich das Einzige war, das sie tun konnte?
Mit seiner Flucht aus der Nervenheilanstalt zwang Lucas sie zum Handeln. Er hatte angerufen, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, aber sie konnte sich nicht einfach zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen. Vielleicht war das hier ihre letzte Chance, alles in Ordnung zu bringen - das zu tun, wofür sie beim letzten Mal zu jung gewesen war.
Alles ist völlig durcheinander. Sie wollte, dass sich ihre Schwester irrte. Es muss einfach so sein.
Immer, wenn Rayne nervös wurde oder Angst bekam, spielte sich schräges Zeug in ihrem Kopf ab, das meistens mit ihrer Schwester zu tun hatte. Manchmal tat es ihr gut, sich Miss Perfect mit einem dicken, zum Ausdrücken reifen Pickel mitten auf der Stirn vorzustellen.
Aber wenn sie sich in ihrer Schwester geirrt hatte, bedeutete das, dass ihr Bruder wirklich krank war.
Rayne wünschte sich von ganzem Herzen, dass er noch immer das niedliche, schüchterne Kind war, an das sie sich erinnerte - ein freundlicher Junge, der von Geburt an anders gewesen war als die anderen. Aber was, wenn er das gar nicht mehr war? Was, wenn die Stimmen in seinem Kopf bösartig geworden waren? Wenn Mia sie vor ihm hatte beschützen wollen? Sich auf Lukes Seite zu schlagen würde so oder so nicht leicht werden. Wenn sie ihm den Rücken deckte - gegen Mias Geld und die Ärzte und ihren schrägen Arbeitgeber, diese Church of Spiritual Freedom -, dann mussten sie zu zweit dem Krankenhaus, den Gerichten und Gott die Stirn bieten. Das Gesetz und Gott würden auf Mias Seite sein. Der reinste Klacks. So einen Krieg würden sie niemals gewinnen. Nicht, ohne ordentlich Federn zu lassen.
Sie wollte gerade auf Abspielen drücken, um seine Stimme noch einmal zu hören, da ließ sie ein hartes Klopfen an der Tür zusammenfahren. Als sie durch das Guckloch sah, zog sich ihr Magen zusammen und ihr wurde schlecht. Ihre Schwester starrte sie an, als hätte sie einen Röntgenblick und könne durch die Tür sehen.
Aber das Schlimmste war, dass sie einen Polizisten in Uniform bei sich hatte.
„Verdammt, Mia. Was jetzt?"
© Mira Taschenbuch im Cora Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Jordan Dane
Mit dem Debütroman 'Shadowkiller - Und niemand hört deinen Schrei' schrieb sich die Autorin in die Herzen ihrer Kritiker: "Reinstes Dynamit!" (Publishers Weekly)
Bibliographische Angaben
- Autor: Jordan Dane
- 2014, 1. Aufl., 368 Seiten, Maße: 14,3 x 20,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Heidelberger, Sarah
- Übersetzer: Sarah Heidelberger
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3956490177
- ISBN-13: 9783956490170
- Erscheinungsdatum: 01.04.2014
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