Später Frost / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.1
Ein Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss. Originalausgabe
Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss
Die junge Deutsch-Schwedin Stina Forss verlässt Freund und Berlin und tritt eine Stelle in Växjö an, im schwedischen Småland. Kaum hat sie ihre neue Chefin, die gerade frisch beförderte Ingrid Nyström,...
Die junge Deutsch-Schwedin Stina Forss verlässt Freund und Berlin und tritt eine Stelle in Växjö an, im schwedischen Småland. Kaum hat sie ihre neue Chefin, die gerade frisch beförderte Ingrid Nyström,...
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Produktinformationen zu „Später Frost / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.1 “
Klappentext zu „Später Frost / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.1 “
Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina ForssDie junge Deutsch-Schwedin Stina Forss verlässt Freund und Berlin und tritt eine Stelle in Växjö an, im schwedischen Småland. Kaum hat sie ihre neue Chefin, die gerade frisch beförderte Ingrid Nyström, kennengelernt, wird der greise Engländer Balthasar Frost grausam verätzt und verstümmelt in seinem Gewächshaus aufgefunden. Wer tötet einen hochbetagten Insektenforscher? Und warum?
Als die besonnene und erfahrene Nyström und ihre impulsive junge Kollegin die Ermittlungen aufnehmen, ahnen sie nicht, wie weit diese sie führen werden: tief hinein in die bewegte schwedische Geschichte, in die höchsten Stockholmer Kreise und Forss sogar bis nach Jerusalem. Die beiden Frauen erkennen, dass in ihrer Heimat nichts so ist, wie es scheint - und dass der Fall mehr mit ihnen zu tun hat, als ihnen lieb ist. Zwei ungewöhnliche Kommissarinnen, eigenwillige Kollegen, eine vom langen Winter gezeichnete Provinzstadt und ein hochspannender, psychologisch komplexer und gesellschaftlich brisanter Fall: Der erste Kriminalroman des deutsch-schwedischen Autorenpaars ist ein großer Wurf.
Lese-Probe zu „Später Frost / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.1 “
Später Frost von Kerstin Signe DanielssonJerusalem, 1948
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Langsam bewegte sich der Konvoi entlang der sandgelben Häuser. Der diesige Horizont Katamons begann im Schein der aufgehenden Sonne zu glühen. Henrik blinzelte verschlafen aus dem Autofenster. Sie waren hastig und ohne Frühstück aufgebrochen, nun war er hungrig und schälte eine der Orangen, die er in der Lobby eingesteckt hatte.
Dort, wo er herkam, gab es die exotischen Früchte nur am Weihnachtsabend, vorausgesetzt, man kam aus einer Familie, die es sich leisten konnte. Winter für Winter hatte er sich die Nase am Schaufenster von Karlssons Feinkostladen platt gedrückt, bevor er zum ersten Mal einen Spalt der Frucht hatte kosten dürfen. Das war lange her. In einem anderen Leben, in einem anderen Land. Hier dagegen gab es Orangen wie Sand am Strand von Sunnanö. Und in dem großen Hotel, in dem sie wohnten, wurden die Früchte sogar zu Saft gepresst und den Gästen als Getränk serviert. Hatte man so etwas Verrücktes schon erlebt? Aber andererseits: Was war überhaupt normal in diesem seltsamen, fremden Landstrich, der sich gerade neu zu ordnen begann? Er sah vom Beifahrersitz in den Rückspiegel. Im Fond saß Wennerberg und sprach mit einem französischen Offizier. Auch wenn er selbst kein Wort verstand, wusste er, dass es um Politik ging. Das ging es immer. Verträge, Verhandlungen, Linien in der Wüste. Israel, Palästina, Jordanien. Die Engländer und die Vereinten Nationen. Er gab sich Mühe, alles zu begreifen, aber manchmal rauchte ihm einfach nur der Schädel.
Der Wagen rumste durch ein Schlagloch. Henrik stieß sich den Kopf, Ferdinand, der Fahrer, fluchte. Am Straßenrand zogen Palmen und Kiefern vorbei. Die Kiefern mochte er, die gab es auch dort, wo er herkam. Dann wieder gelbe Gebäude, Sandstein, die ganze Stadt schien daraus gemacht zu sein, sogar die Grotte in Bethlehem, in der Jesus zur Welt gekommen war und die er am zweiten Tag nach seiner Ankunft hatte besichtigen dürfen. Drei Monate war das jetzt her.
Die Sonne goss ihr Licht großzügig auf die staubige Straße, auf Dächer und die Fassaden der Häuser. Plötzlich hielt der Wagen an, die Fahrzeuge vor ihnen waren ebenfalls zum Stehen gekommen. »Militärkontrolle«, sagte Ferdinand, zuckte mit den Schultern und griff nach seinen Zigaretten. Nun sah Henrik es auch. Eine Gruppe uniformierter Männer hatte den Konvoi gestoppt. Sie gingen die Reihe der Fahrzeuge ab und schauten in die Autos hinein, Schattenrisse in gleißendem Gegenlicht. Ferdinand zündete sich eine Zigarette an. Henrik kannte die Marke, Ferdinand rauchte sie ständig. Auf der orangefarbenen Schachtel stand zwischen hebräischen Buchstaben das englische Wort »Sport«, dahinter war ein athletisch gebauter Läufer abgebildet. Er mochte das Aussehen der Zigarettenpackung, obwohl er selber nicht rauchte. Das Gespräch der beiden Männer im Fond war verstummt. Einer der Soldaten trat direkt neben ihren Wagen. In seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie eine Fotografie. Er beugte sich vor, um in das Wageninnere sehen zu können. Reflexionen auf der Scheibe blendeten ihn. Aber dann erkannte er doch etwas. Seine Augen weiteten sich. Er rief etwas auf Hebräisch, aufgeregt.
Henrik sah, wie er eine Waffe zog, danach krachte es, ohrenbetäubend. Im Fond des Wagens explodierte etwas. Dann noch einmal. Und noch einmal. Die letzte Explosion war ganz nah, beinahe so, als wäre etwas in ihm explodiert. Er spürte einen Blitz in seinem Arm. Das Letzte, das er wahrnahm, war das Blut, das aus ihm herauslief. Alles verschwand in Dunkelheit.
Schweden, Heute
1
Wie ein Raumschiff schwebte der Bahnhof von Växjö in der feuchten Kälte des späten Februarnachmittags. Scheinwerferkegel hoben das holzverkleidete Gebäude aus der Dämmerung, und nur eine Treppe aus Beton, die vom Bahnhofsvorplatz auf den Gleisübergang führte, schien den halbrunden, ufoförmigen Bau am Abheben zu hindern. Vor der Treppe stand Stina Forss und sah über den unwirtlichen Bahnhofsvorplatz hinweg in eine menschenleere Fußgängerzone. Außer ihr waren lediglich drei andere Reisende dem Zug entstiegen, vermummte Gestalten, die schnell in verschiedene Richtungen verschwunden waren. Sie fror und vergrub ihre Hände tiefer in den Taschen ihres Lodenmantels.
Die zweitägige Zugreise von Berlin über Fehmarn durch Dänemark bis in die südschwedische Stadt Växjö war eine einzige Aneinanderreihung von Ärgernissen gewesen: Um den Fehmarnsund zwischen Deutschland und Dänemark zu überqueren, war der gesamte Zug auf eine Fähre gefahren, wo alle Passagiere hatten aussteigen müssen. Auf dem Deck war es viel zu kalt und zu windig gewesen, und sie war in den Duty-free-Shop gegangen, wo sie sich Parfüm und eine Flasche Wodka gekauft hatte. Alkohol war in Schweden teuer. Dann hatte sie einen Kaffee getrunken, einen Hotdog gegessen und war eingenickt. Als ein Lautsprecher plötzlich die Passagiere zurück in den Zug beordert hatte, war sie hochgeschreckt und zurück an ihren Platz geeilt. Ihre Handtasche, in der sich auch ihr Handy befand, hatte sie dabei unter dem Tisch des Bordrestaurants stehen lassen. obendrein war es wegen der stürmischen See zu einer Verspätung gekommen, sodass der Anschlusszug in Kopenhagen ohne sie losgefahren war. Also hatte sie eine Stunde in einem McDonald's verbracht, auf den nächsten Zug gewartet und mit dem Ketchup Muster auf den Tisch gemalt, bis sie von einer Angestellten gebeten worden war, das Restaurant zu verlassen. Wenn man aus einem McDonald's geworfen wird, kann es kaum mehr schlimmer kommen, hatte sie gedacht. Als sie endlich mit dem nächsten Zug den Öresund überquert und Schweden erreicht hatte, war es bereits spät am Abend gewesen. Zu allem Überfluss hatte der Zug wegen eines technischen Defekts in Malmö ausgesetzt werden müssen, und ein Bahnangestellter hatte ihr seelenruhig erklärt, dass damit die letzte Verbindung Richtung Växjö ersatzlos gestrichen worden war. Notgedrungen hatte sie also die Nacht in einem Hotel in Bahnhofsnähe verbracht, lange geschlafen und war erst am Mittag weitergefahren. Nun war sie endlich an ihrem Ziel angekommen, aber wo zum Teufel war sie hier nur gelandet?
Sie trat mit ihrem Rollkoffer auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. In einem Ständer rosteten einige verlassene Fahrräder vor sich hin, bei einem war der Bezug des Sattels aufgeplatzt, sodass die Schaumstofffüllung herausquoll. Um den Bahnhof herum befanden sich ein Post Gebäude, ein Restaurant, ein Fahrrad- und ein Hi-fi-Geschäft, in keinem der Fenster brannte Licht. es kam ihr vor, als befände sich die Stadt in einem Winterschlaf, in einer Art kollektiver Kältestarre, deren Sinn sie angesichts des anhaltenden Schneeregens nicht einen Moment infrage stellte. Das einzige Anzeichen von Leben war ein VW-taxibus mit beschlagenen Scheiben, der in einer Haltebucht stand und im Leerlauf vor sich hin tuckerte. Noch nicht einmal ein Volvo, dachte sie. War das hier wirklich noch das Land, in dem sie aufgewachsen war? Ihr Schweden sah anders aus als ein vergessener Bahnhof an einem Sonntagnachmittag im Winter. Ihr Schweden war warm und sonnig und roch nach Kiefernharz und Walderdbeeren. Arme Stina, hier hast du deinen Wald. Gleich hinter dem Bahnhof fängt er an. er ist nass und kalt und riesengroß. Und irgendwo da drin wohnt Pippi Langstrumpf mit ihrem Pferd und dem dummen Affen und bekommt eine Blasenentzündung.
Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? oder war das alles falsch? eine übereilte Flucht? oder, noch schlimmer, eine sentimentale Dummheit? Die Kälte schüttelte sie. trotzdem entschied sie sich gegen das Taxi und machte sich zu Fuß auf den Weg durch die Fußgängerzone.
Das Hotel, das sie von Berlin aus gebucht hatte, lag ihrem zukünftigen Arbeitsplatz direkt gegenüber. es machte einen nüchternen Eindruck. Der Mann an der Rezeption betrachtete ihren Personalausweis. Sein Blick verriet, dass er die deutschen Papiere mit ihrem akzentfreien Schwedisch in Einklang zu bringen versuchte. er selbst hatte einen nordschwedischen Zungenschlag. Als er ihre Anschrift in den Computer eingab, wurde ihr bewusst, dass die Adresse bereits nicht mehr stimmte. Berlin lag hinter ihr. Bis auf Weiteres war dieses Hotel ihr Zuhause. Der Mann reichte ihr den Zimmerschlüssel.
»Willkommen, Stina Forss!«
Fosch hatte er gesagt. Wie Frosch ohne r. Irgendwie klang es schwedisch ausgesprochen viel kraftvoller als auf Deutsch: Fosch. ein Name wie ein Wasserschwall.
Sie hatte vorher nie darüber nachgedacht.
Im Zimmer packte sie ihre Sachen aus; ein weiterer, größerer Koffer würde in den nächsten tagen mit der Post kommen, ebenso ihre Handtasche, das hatte ihr eine Mitarbeiterin der Fährgesellschaft zumindest am Telefon versichert. Dann rief sie ihre Cousine Maj an, die mit ihrer Familie unweit von Växjö auf dem Land wohnte. Sie hatte versprochen, sich nach ihrer Ankunft zu melden. Sie fand Majs Nummer in dem Telefonbuch, das auf ihrem Nachttisch lag. Maj war auch einmal eine Fosch gewesen, doch nun war sie seit Langem verheiratet und hieß Lundin.
Ihre Cousine freute sich, von ihr zu hören. Sie hatten sich zum letzten Mal vor drei Jahren auf einer Geburtstagsfeier getroffen. Forss schlug ein gemeinsames Abendessen in der Stadt vor. Maj lachte.
»Wir haben Sonntag!«
»Ja, eben. Bring doch die Kinder mit. Und Mathias möchte ich natürlich auch treffen.«
»Aber sonntags hat doch in Växjö kein Restaurant geöffnet. «
Die Lundins wohnten in Moheda, einem Dorf, das eine knappe halbe Stunde Autofahrt nordwestlich von Växjö lag. Die Straße zog sich wie eine nasse Schnur durch Nadelwald, einmal schimmerte rechts der Fahrbahn die Eisfläche eines großen Gewässers in der Abenddämmerung.
»Das ist der Helgasee«, sagte Maj. »Im Sommer haben wir da ein Motorboot liegen. Du musst unbedingt mit uns hinauskommen! Wenn du willst, kannst du Wasserski fahren. Die Kinder lieben es.« Maj lachte. Sie lachte oft, fand Forss. Bestimmt war sie eine fröhliche Mutter und eine gute Krankenschwester. Alles an der kräftigen Frau strahlte Lebensmut und pragmatismus aus.
»Und du fährst die Strecke in die Stadt jeden tag mit dem Auto?«
»Wir alle vier, seit die Mädchen auf dem Gymnasium sind. Mathias muss ins Büro und ich ins Hospital. Wer nicht gerne Auto fährt, bekommt hier probleme. Natürlich gibt es einen Bus, aber der fährt nicht häufig und ist im Winter oft unpünktlich. Mit dem Auto muss man allerdings aufpassen, gerade auf der Landstraße, wegen der elche und anderer tiere. Berlin ist ja ebenfalls nicht gerade klein, dort warst du bestimmt auch viel von A nach B unterwegs, oder?«
So hatte es Forss noch nie betrachtet.
»Man fährt schon lange Strecken«, sagte sie.
Lea und tuva hatten die gleichen braunen Zöpfe und trugen die gleichen rosafarbenen plastikclogs wie ihre Mutter. Mathias Lundin war ein dünner Mann mit festem Händedruck. Sie hatte ihn auf Familienfesten getroffen, damals mit langem Haar, eine ewigkeit schien das her zu sein, jetzt trug er sein Haar kurz, was seine hohe Stirn betonte. Maj hatte Brot aufgedeckt, Butter und Käse, ein Abendessen wie aus Bullerbü, dachte sie, es steckte sogar ein kleines Holzmesserchen in der Butter. Zum Nachtisch gab es eingelegte pflaumen mit Vanillesoße.
»Du machst das alles für ihn, oder?«
Maj sah sie an. obwohl Forss auf die Frage gewartet hatte, fiel es ihr schwer zu antworten. Sie stach mit ihrem Löffel in eine pflaume. Das Fruchtfleisch war ganz weich.
»Stina, es ist gut, dass du kommst, dass du das alles auf dich nimmst. Deine Nähe wird ihm guttun. er hat dich vermisst, weißt du? Und jetzt mit der Krankheit wird es auch nicht gerade leichter für ihn.«
Forss spürte, wie sich etwas in ihr spannte.
»Wann warst du denn bei ihm?«
»Das letzte Mal vor zwei Wochen. er ist in einer guten einrichtung. Man kümmert sich. Aber trotzdem. er ... er hat sich verändert. Und er verändert sich noch.«
Forss sah, dass eine Fliege auf der Schüssel mit den pflaumen gelandet war. Dabei war doch Februar. Mathias hatte ihren Blick bemerkt. Mit einer Handbewegung scheuchte er das Insekt weg.
»Der Nachbar, er hat Kühe. Sie locken die Fliegen an.«
es klang wie eine entschuldigung.
»Wir haben dem Großonkel etwas gebastelt«, sagte Lea. Sie war das ältere der beiden Mädchen. »einen traumfänger. Der hängt jetzt im Krankenhaus an der Wand neben seinem Bett.«
»Wie bei einem alten Indianer«, sagte tuva. »Wenn du willst, machen wir dir auch einen.«
Später saßen sie im Wohnzimmer, die Kinder hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Maj goss ihnen tee in große, bunte Becher ein. Forss sah sich um.
»Schön habt ihr es hier. Das ganze Holz. Und so viel platz.«
»Das ist der Vorteil, wenn man auf dem Land lebt. Warte erst auf den Sommer. Dann ist Schweden ein anderes Land.«
»Wenigstens für eine Woche«, sagte Mathias.
Sie lachten. Dann sprachen sie über andere Verwandte. Majs eltern, Kurt und Karin, hatten im letzten Jahr endlich das Sägewerk verkauft und waren nach oskarshamn gezogen, Majs Bruder erik hatte sich scheiden lassen und lebte mittlerweile in Göteborg, ihre Schwester Mona bildete Jagdhunde aus, in Mittelschweden. »Und deine Mutter?«, fragte Maj. »Gut. Ja, es geht ihr richtig gut.«
es klang kühler, als sie es beabsichtigt hatte. obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren, fiel es ihr noch immer schwer, mit dem väterlichen teil ihrer Familie über ihre Mutter zu sprechen.
»Das freut mich. ehrlich, Stina, das freut mich sehr.«
Maj lächelte. Forss beschloss, ihr zu glauben. Sie tranken von ihrem tee. Irgendwann war das Gespräch an seinem natürlichen ende angelangt. Mathias bot an, sie in die Stadt zurückzubringen. Zum Abschied nahm Maj sie in den Arm. Länger, als sie es erwartet hatte.
»Willkommen zu Hause«, sagte sie.
2
»Diese verdammten Biester«, sagte Gunnar Berg und lachte. Ingrid Nyström war erleichtert. Wenigstens lachen konnte er also noch. Das Bild, das der massige Mann mit dem zotteligen Stofftier auf dem Schoß abgab, brachte auch sie zum Lächeln. »Ich hatte Angst, du könntest es geschmacklos finden.« »Ach was, du kennst mich doch. Wenn ich erst wieder zu Hause bin, schneide ich mir ein schönes Steak aus dem Ding. Falls ich nicht vorher von meinem Enkelkind enteignet werde. tobias hat einen ganzen Plüschtierzoo in seinem Kinderzimmer, und so was hier könnte seiner Sammlung noch fehlen.«
Gunnar Berg richtete seinen schweren Oberkörper auf und drückte einen der Knöpfe, die am Kopfende seines Bettes in die Wand eingelassen waren.
»Die Schwester soll eine Vase für deine schönen Blumen bringen. Möchtest du einen Kaffee oder so etwas? Die haben hier alles da. Der Segen einer privaten Zusatzkrankenversicherung. Ich sage nur Einzelzimmer, Ingrid!«
»Und ich dachte, du wärst Sozialdemokrat.«
»Bin ich auch. Aber das heißt nicht, dass ich ein bisschen Luxus nicht zu schätzen weiß. olof palme würde sich natürlich im Grab umdrehen, aber es hat seine Vorteile: Chefarztbehandlung, optimale Nachversorgung, Zimmer mit Kabelfernsehen. Wusstest du, dass es Sender gibt, die den ganzen tag nichts als Golf oder Angelsport zeigen? Du solltest wirklich darüber nachdenken, schließlich bist du ebenfalls nicht mehr die Jüngste.«
»Danke, Gunnar. Sehr charmant.«
»Gern geschehen.«
Ingrid Nyström fühlte, wie eine Last von ihr abfiel. Gunnar Berg gab sich Mühe, so lebensfroh wie immer zu wirken. Zehn tage war es her, dass er auf der Landstraße nach tingsryd verunglückt war. Nachdem man seinen bewusstlosen Körper aus dem völlig zerstörten Auto geschnitten hatte, hatte Berg sechs tage im Koma gelegen. Jetzt war sein Zustand stabil, aber er hatte eine Niere verloren und Trümmerbruche in beiden Beinen. Die Prellungen, Schnittwunden und Abschürfungen würden verheilen, aber noch war völlig unklar, ob er jemals wieder würde laufen können.
Hauptkommissar Gunnar Berg war als Leiter der Kriminalpolizei seit vielen Jahren ihr Vorgesetzter, und sein schwerer Unfall hatte nicht nur sie, sondern die ganze Abteilung erschüttert. Der intelligente und großherzige Mann war ein Chef, an dem sie sich zeit ihres Berufslebens orientiert hatte. ein Lotse, der die Abteilung immer wieder an Untiefen und Klippen vorbei in sichere Wasser geführt hatte. ein Leuchtturm, an dem man sich orientieren konnte. Sie biss sich auf die Zunge. Lotse? Leuchtturm? Was für einen Quatsch sie dachte. Berg stellte das Stofftier auf den Nachttisch. er sah sie lange an. Sie kannte diesen Blick. es war der Blick, mit dem er überzeugen konnte.
»Ich habe mit Edman gesprochen«, sagte er. »er ist einverstanden. Die stellvertretende Landespolizeichefin ebenso. es ist an der Zeit.«
er machte eine Pause, strich mit den Händen die Bettdecke vor sich glatt. Dann fuhr er fort.
»Sehen wir den Dingen ins Auge. Das, was von meinen Beinen übrig ist, fühlt sich wie Griesbrei an, von der Niere ganz zu schweigen. Die Ärzte sind alles andere als optimistisch, genaue Prognosen gibt niemand, trotz Chefarztbehandlung. Und selbst wenn ich keine Dialyse brauche und eines Tages wieder gehen können sollte: es sind jetzt noch etwas mehr als drei Jahre bis zu meiner Pensionierung. Wozu soll ich mir das antun? ein Chefermittler mit Krücken? oder einem Pissbeutel an der Seite? entschuldige bitte, aber es ist doch wahr! Die Blicke und das Mitleid? Und erst die Treppen, wenn der Fahrstuhl mal wieder streikt?«
Berg versuchte sich an einem Grinsen. Sie wich seinem Blick aus. es war ruhig im Raum, zu hören war nur das tickern einer Maschine, aus der Schläuche unter Bergs Bettdecke verschwanden. Sie wollte das nicht hören. Weder die Maschine noch das, was Berg sagte. Das, was er sagen würde.
Eine Minute verging, dann eine zweite. Die Sonnenstrahlen, die durch die Lamellen ins Zimmer drangen, spielten mit dem Staub, der in der Luft flimmerte. Dabei sollte es hier doch sauber sein, dachte sie, gerade in einem Krankenhaus.
»Ich habe auch mit meiner Frau geredet«, fuhr er schließlich fort, »sie sieht es genauso. Und Edman hat bereits mit Stockholm telefoniert. Die Signale sind so, dass ich wohl ohne Abzüge in Frühpension gehen kann. Edman ist ein miserabler Polizist und ein noch schlechterer Chef, aber kein schlechter Politiker, mit dem ganzen Verwaltungsmist kennt er sich wirklich aus.«
er seufzte. Dann wieder ein missglückter Versuch zu grinsen.
»Ich stelle mir das so vor: Ich habe bei per Enquist vom Bauamt noch etwas gut. Wenn ich eine Genehmigung bekomme, baue ich das Sommerhaus am Helgasee zu unserem Wohnhaus um, Elsa plant schon seit Jahren den Garten. Meine Pension werde ich in eine erstklassige Anglerausrüstung investieren. Wusstest du, dass man für eine gute Rolle mehr als 3000 Kronen hinlegen muss? Und erst die Ruten ...«
»Hör auf mit dem Blödsinn!«, rief sie.
»Ingrid, ich versuche nur, es leichter zu machen.«
»Ich weiß. entschuldige.«
Wieder suchte er ihren Blick, und wieder wich sie ihm aus. Stattdessen beobachtete sie weiterhin die Staubstrahlen, die im Raum standen.
»Du wirst übernehmen, Ingrid.«
Sie entgegnete nichts.
»Du bist die einzige, die infrage kommt, niemand weiß das besser als du selbst. Du hast die Erfahrung, die Kompetenz, jeder im Team akzeptiert dich. Früher oder später wäre es sowieso darauf hinausgelaufen. Jetzt ist es halt früher geworden. «
Die tür öffnete sich, und ein pfleger kam mit Kaffee und einer Vase für die Blumen herein. Sie wartete, bis der junge Mann den Raum verlassen hatte. Draußen hatte sich das Licht verändert. Die Wintersonne warf jetzt blasse Muster auf die Wände des Zimmers, der Staub war verschwunden. Der Kaffee schmeckte wässrig, trotz privater Krankenzusatzversicherung; vielleicht war ihr aber auch einfach nicht nach Kaffee.
»Was ist mit Anette? Ich weiß, dass sie sich auf die Stelle bewerben wollte. perspektivisch.«
Berg schnaubte.
»Sie hätte keine Chance gehabt. Weder gegen dich noch gegen externe Bewerber. Ihr fehlt die erfahrung, und sie neigt zum Jähzorn. Du nimmst niemandem etwas weg, Ingrid. Nicht mir und erst recht nicht Anette Hultin.«
Die Muster waberten an der Wand. endlich sah sie ihn an.
»Ich habe es mir immer anders vorgestellt, weißt du? Deinen Ruhestand. Irgendwie als etwas Fröhliches, Nettes. eine Art Feier, auf der wir alle Hütchen tragen und singen und Scherze machen. Weiter habe ich nie gedacht. Und jetzt ... ganz vorne stehen ... Ich weiß nicht, ob ich das so plötzlich kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt will.«
Sie war aufgestanden und ans Fenster getreten. Von hier oben konnte man über den Växjösee hinweg bis zur Schwimmhalle sehen. obwohl die Temperatur seit tagen über null lag, war die Eisdecke auf dem See noch geschlossen. ein einsamer Schlittschuhläufer zog seine Bahnen, seine Arme pendelten regelmäßig wie ein Metronom. Mit einem Mal fröstelte es sie. Der Winter war noch lange nicht vorbei.
Sie drehte sich um und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Bergs Bett.
»es ist nur, dass es so plötzlich kommt. es fühlt sich falsch an. Dass ich auf deinen platz rücke, während du hier liegst. Weil du hier liegst.«
Sie hatte nach seiner Hand gegriffen.
»Wegen eines verdammten Wildschweins«, flüsterte sie.
»es sind verdammte Biester«, sagte er leise und drückte ihre schmale Hand. Seine Haut fühlte sich an wie Sandpapier.
1. Auflage 2012 © 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden
Langsam bewegte sich der Konvoi entlang der sandgelben Häuser. Der diesige Horizont Katamons begann im Schein der aufgehenden Sonne zu glühen. Henrik blinzelte verschlafen aus dem Autofenster. Sie waren hastig und ohne Frühstück aufgebrochen, nun war er hungrig und schälte eine der Orangen, die er in der Lobby eingesteckt hatte.
Dort, wo er herkam, gab es die exotischen Früchte nur am Weihnachtsabend, vorausgesetzt, man kam aus einer Familie, die es sich leisten konnte. Winter für Winter hatte er sich die Nase am Schaufenster von Karlssons Feinkostladen platt gedrückt, bevor er zum ersten Mal einen Spalt der Frucht hatte kosten dürfen. Das war lange her. In einem anderen Leben, in einem anderen Land. Hier dagegen gab es Orangen wie Sand am Strand von Sunnanö. Und in dem großen Hotel, in dem sie wohnten, wurden die Früchte sogar zu Saft gepresst und den Gästen als Getränk serviert. Hatte man so etwas Verrücktes schon erlebt? Aber andererseits: Was war überhaupt normal in diesem seltsamen, fremden Landstrich, der sich gerade neu zu ordnen begann? Er sah vom Beifahrersitz in den Rückspiegel. Im Fond saß Wennerberg und sprach mit einem französischen Offizier. Auch wenn er selbst kein Wort verstand, wusste er, dass es um Politik ging. Das ging es immer. Verträge, Verhandlungen, Linien in der Wüste. Israel, Palästina, Jordanien. Die Engländer und die Vereinten Nationen. Er gab sich Mühe, alles zu begreifen, aber manchmal rauchte ihm einfach nur der Schädel.
Der Wagen rumste durch ein Schlagloch. Henrik stieß sich den Kopf, Ferdinand, der Fahrer, fluchte. Am Straßenrand zogen Palmen und Kiefern vorbei. Die Kiefern mochte er, die gab es auch dort, wo er herkam. Dann wieder gelbe Gebäude, Sandstein, die ganze Stadt schien daraus gemacht zu sein, sogar die Grotte in Bethlehem, in der Jesus zur Welt gekommen war und die er am zweiten Tag nach seiner Ankunft hatte besichtigen dürfen. Drei Monate war das jetzt her.
Die Sonne goss ihr Licht großzügig auf die staubige Straße, auf Dächer und die Fassaden der Häuser. Plötzlich hielt der Wagen an, die Fahrzeuge vor ihnen waren ebenfalls zum Stehen gekommen. »Militärkontrolle«, sagte Ferdinand, zuckte mit den Schultern und griff nach seinen Zigaretten. Nun sah Henrik es auch. Eine Gruppe uniformierter Männer hatte den Konvoi gestoppt. Sie gingen die Reihe der Fahrzeuge ab und schauten in die Autos hinein, Schattenrisse in gleißendem Gegenlicht. Ferdinand zündete sich eine Zigarette an. Henrik kannte die Marke, Ferdinand rauchte sie ständig. Auf der orangefarbenen Schachtel stand zwischen hebräischen Buchstaben das englische Wort »Sport«, dahinter war ein athletisch gebauter Läufer abgebildet. Er mochte das Aussehen der Zigarettenpackung, obwohl er selber nicht rauchte. Das Gespräch der beiden Männer im Fond war verstummt. Einer der Soldaten trat direkt neben ihren Wagen. In seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie eine Fotografie. Er beugte sich vor, um in das Wageninnere sehen zu können. Reflexionen auf der Scheibe blendeten ihn. Aber dann erkannte er doch etwas. Seine Augen weiteten sich. Er rief etwas auf Hebräisch, aufgeregt.
Henrik sah, wie er eine Waffe zog, danach krachte es, ohrenbetäubend. Im Fond des Wagens explodierte etwas. Dann noch einmal. Und noch einmal. Die letzte Explosion war ganz nah, beinahe so, als wäre etwas in ihm explodiert. Er spürte einen Blitz in seinem Arm. Das Letzte, das er wahrnahm, war das Blut, das aus ihm herauslief. Alles verschwand in Dunkelheit.
Schweden, Heute
1
Wie ein Raumschiff schwebte der Bahnhof von Växjö in der feuchten Kälte des späten Februarnachmittags. Scheinwerferkegel hoben das holzverkleidete Gebäude aus der Dämmerung, und nur eine Treppe aus Beton, die vom Bahnhofsvorplatz auf den Gleisübergang führte, schien den halbrunden, ufoförmigen Bau am Abheben zu hindern. Vor der Treppe stand Stina Forss und sah über den unwirtlichen Bahnhofsvorplatz hinweg in eine menschenleere Fußgängerzone. Außer ihr waren lediglich drei andere Reisende dem Zug entstiegen, vermummte Gestalten, die schnell in verschiedene Richtungen verschwunden waren. Sie fror und vergrub ihre Hände tiefer in den Taschen ihres Lodenmantels.
Die zweitägige Zugreise von Berlin über Fehmarn durch Dänemark bis in die südschwedische Stadt Växjö war eine einzige Aneinanderreihung von Ärgernissen gewesen: Um den Fehmarnsund zwischen Deutschland und Dänemark zu überqueren, war der gesamte Zug auf eine Fähre gefahren, wo alle Passagiere hatten aussteigen müssen. Auf dem Deck war es viel zu kalt und zu windig gewesen, und sie war in den Duty-free-Shop gegangen, wo sie sich Parfüm und eine Flasche Wodka gekauft hatte. Alkohol war in Schweden teuer. Dann hatte sie einen Kaffee getrunken, einen Hotdog gegessen und war eingenickt. Als ein Lautsprecher plötzlich die Passagiere zurück in den Zug beordert hatte, war sie hochgeschreckt und zurück an ihren Platz geeilt. Ihre Handtasche, in der sich auch ihr Handy befand, hatte sie dabei unter dem Tisch des Bordrestaurants stehen lassen. obendrein war es wegen der stürmischen See zu einer Verspätung gekommen, sodass der Anschlusszug in Kopenhagen ohne sie losgefahren war. Also hatte sie eine Stunde in einem McDonald's verbracht, auf den nächsten Zug gewartet und mit dem Ketchup Muster auf den Tisch gemalt, bis sie von einer Angestellten gebeten worden war, das Restaurant zu verlassen. Wenn man aus einem McDonald's geworfen wird, kann es kaum mehr schlimmer kommen, hatte sie gedacht. Als sie endlich mit dem nächsten Zug den Öresund überquert und Schweden erreicht hatte, war es bereits spät am Abend gewesen. Zu allem Überfluss hatte der Zug wegen eines technischen Defekts in Malmö ausgesetzt werden müssen, und ein Bahnangestellter hatte ihr seelenruhig erklärt, dass damit die letzte Verbindung Richtung Växjö ersatzlos gestrichen worden war. Notgedrungen hatte sie also die Nacht in einem Hotel in Bahnhofsnähe verbracht, lange geschlafen und war erst am Mittag weitergefahren. Nun war sie endlich an ihrem Ziel angekommen, aber wo zum Teufel war sie hier nur gelandet?
Sie trat mit ihrem Rollkoffer auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. In einem Ständer rosteten einige verlassene Fahrräder vor sich hin, bei einem war der Bezug des Sattels aufgeplatzt, sodass die Schaumstofffüllung herausquoll. Um den Bahnhof herum befanden sich ein Post Gebäude, ein Restaurant, ein Fahrrad- und ein Hi-fi-Geschäft, in keinem der Fenster brannte Licht. es kam ihr vor, als befände sich die Stadt in einem Winterschlaf, in einer Art kollektiver Kältestarre, deren Sinn sie angesichts des anhaltenden Schneeregens nicht einen Moment infrage stellte. Das einzige Anzeichen von Leben war ein VW-taxibus mit beschlagenen Scheiben, der in einer Haltebucht stand und im Leerlauf vor sich hin tuckerte. Noch nicht einmal ein Volvo, dachte sie. War das hier wirklich noch das Land, in dem sie aufgewachsen war? Ihr Schweden sah anders aus als ein vergessener Bahnhof an einem Sonntagnachmittag im Winter. Ihr Schweden war warm und sonnig und roch nach Kiefernharz und Walderdbeeren. Arme Stina, hier hast du deinen Wald. Gleich hinter dem Bahnhof fängt er an. er ist nass und kalt und riesengroß. Und irgendwo da drin wohnt Pippi Langstrumpf mit ihrem Pferd und dem dummen Affen und bekommt eine Blasenentzündung.
Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? oder war das alles falsch? eine übereilte Flucht? oder, noch schlimmer, eine sentimentale Dummheit? Die Kälte schüttelte sie. trotzdem entschied sie sich gegen das Taxi und machte sich zu Fuß auf den Weg durch die Fußgängerzone.
Das Hotel, das sie von Berlin aus gebucht hatte, lag ihrem zukünftigen Arbeitsplatz direkt gegenüber. es machte einen nüchternen Eindruck. Der Mann an der Rezeption betrachtete ihren Personalausweis. Sein Blick verriet, dass er die deutschen Papiere mit ihrem akzentfreien Schwedisch in Einklang zu bringen versuchte. er selbst hatte einen nordschwedischen Zungenschlag. Als er ihre Anschrift in den Computer eingab, wurde ihr bewusst, dass die Adresse bereits nicht mehr stimmte. Berlin lag hinter ihr. Bis auf Weiteres war dieses Hotel ihr Zuhause. Der Mann reichte ihr den Zimmerschlüssel.
»Willkommen, Stina Forss!«
Fosch hatte er gesagt. Wie Frosch ohne r. Irgendwie klang es schwedisch ausgesprochen viel kraftvoller als auf Deutsch: Fosch. ein Name wie ein Wasserschwall.
Sie hatte vorher nie darüber nachgedacht.
Im Zimmer packte sie ihre Sachen aus; ein weiterer, größerer Koffer würde in den nächsten tagen mit der Post kommen, ebenso ihre Handtasche, das hatte ihr eine Mitarbeiterin der Fährgesellschaft zumindest am Telefon versichert. Dann rief sie ihre Cousine Maj an, die mit ihrer Familie unweit von Växjö auf dem Land wohnte. Sie hatte versprochen, sich nach ihrer Ankunft zu melden. Sie fand Majs Nummer in dem Telefonbuch, das auf ihrem Nachttisch lag. Maj war auch einmal eine Fosch gewesen, doch nun war sie seit Langem verheiratet und hieß Lundin.
Ihre Cousine freute sich, von ihr zu hören. Sie hatten sich zum letzten Mal vor drei Jahren auf einer Geburtstagsfeier getroffen. Forss schlug ein gemeinsames Abendessen in der Stadt vor. Maj lachte.
»Wir haben Sonntag!«
»Ja, eben. Bring doch die Kinder mit. Und Mathias möchte ich natürlich auch treffen.«
»Aber sonntags hat doch in Växjö kein Restaurant geöffnet. «
Die Lundins wohnten in Moheda, einem Dorf, das eine knappe halbe Stunde Autofahrt nordwestlich von Växjö lag. Die Straße zog sich wie eine nasse Schnur durch Nadelwald, einmal schimmerte rechts der Fahrbahn die Eisfläche eines großen Gewässers in der Abenddämmerung.
»Das ist der Helgasee«, sagte Maj. »Im Sommer haben wir da ein Motorboot liegen. Du musst unbedingt mit uns hinauskommen! Wenn du willst, kannst du Wasserski fahren. Die Kinder lieben es.« Maj lachte. Sie lachte oft, fand Forss. Bestimmt war sie eine fröhliche Mutter und eine gute Krankenschwester. Alles an der kräftigen Frau strahlte Lebensmut und pragmatismus aus.
»Und du fährst die Strecke in die Stadt jeden tag mit dem Auto?«
»Wir alle vier, seit die Mädchen auf dem Gymnasium sind. Mathias muss ins Büro und ich ins Hospital. Wer nicht gerne Auto fährt, bekommt hier probleme. Natürlich gibt es einen Bus, aber der fährt nicht häufig und ist im Winter oft unpünktlich. Mit dem Auto muss man allerdings aufpassen, gerade auf der Landstraße, wegen der elche und anderer tiere. Berlin ist ja ebenfalls nicht gerade klein, dort warst du bestimmt auch viel von A nach B unterwegs, oder?«
So hatte es Forss noch nie betrachtet.
»Man fährt schon lange Strecken«, sagte sie.
Lea und tuva hatten die gleichen braunen Zöpfe und trugen die gleichen rosafarbenen plastikclogs wie ihre Mutter. Mathias Lundin war ein dünner Mann mit festem Händedruck. Sie hatte ihn auf Familienfesten getroffen, damals mit langem Haar, eine ewigkeit schien das her zu sein, jetzt trug er sein Haar kurz, was seine hohe Stirn betonte. Maj hatte Brot aufgedeckt, Butter und Käse, ein Abendessen wie aus Bullerbü, dachte sie, es steckte sogar ein kleines Holzmesserchen in der Butter. Zum Nachtisch gab es eingelegte pflaumen mit Vanillesoße.
»Du machst das alles für ihn, oder?«
Maj sah sie an. obwohl Forss auf die Frage gewartet hatte, fiel es ihr schwer zu antworten. Sie stach mit ihrem Löffel in eine pflaume. Das Fruchtfleisch war ganz weich.
»Stina, es ist gut, dass du kommst, dass du das alles auf dich nimmst. Deine Nähe wird ihm guttun. er hat dich vermisst, weißt du? Und jetzt mit der Krankheit wird es auch nicht gerade leichter für ihn.«
Forss spürte, wie sich etwas in ihr spannte.
»Wann warst du denn bei ihm?«
»Das letzte Mal vor zwei Wochen. er ist in einer guten einrichtung. Man kümmert sich. Aber trotzdem. er ... er hat sich verändert. Und er verändert sich noch.«
Forss sah, dass eine Fliege auf der Schüssel mit den pflaumen gelandet war. Dabei war doch Februar. Mathias hatte ihren Blick bemerkt. Mit einer Handbewegung scheuchte er das Insekt weg.
»Der Nachbar, er hat Kühe. Sie locken die Fliegen an.«
es klang wie eine entschuldigung.
»Wir haben dem Großonkel etwas gebastelt«, sagte Lea. Sie war das ältere der beiden Mädchen. »einen traumfänger. Der hängt jetzt im Krankenhaus an der Wand neben seinem Bett.«
»Wie bei einem alten Indianer«, sagte tuva. »Wenn du willst, machen wir dir auch einen.«
Später saßen sie im Wohnzimmer, die Kinder hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Maj goss ihnen tee in große, bunte Becher ein. Forss sah sich um.
»Schön habt ihr es hier. Das ganze Holz. Und so viel platz.«
»Das ist der Vorteil, wenn man auf dem Land lebt. Warte erst auf den Sommer. Dann ist Schweden ein anderes Land.«
»Wenigstens für eine Woche«, sagte Mathias.
Sie lachten. Dann sprachen sie über andere Verwandte. Majs eltern, Kurt und Karin, hatten im letzten Jahr endlich das Sägewerk verkauft und waren nach oskarshamn gezogen, Majs Bruder erik hatte sich scheiden lassen und lebte mittlerweile in Göteborg, ihre Schwester Mona bildete Jagdhunde aus, in Mittelschweden. »Und deine Mutter?«, fragte Maj. »Gut. Ja, es geht ihr richtig gut.«
es klang kühler, als sie es beabsichtigt hatte. obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren, fiel es ihr noch immer schwer, mit dem väterlichen teil ihrer Familie über ihre Mutter zu sprechen.
»Das freut mich. ehrlich, Stina, das freut mich sehr.«
Maj lächelte. Forss beschloss, ihr zu glauben. Sie tranken von ihrem tee. Irgendwann war das Gespräch an seinem natürlichen ende angelangt. Mathias bot an, sie in die Stadt zurückzubringen. Zum Abschied nahm Maj sie in den Arm. Länger, als sie es erwartet hatte.
»Willkommen zu Hause«, sagte sie.
2
»Diese verdammten Biester«, sagte Gunnar Berg und lachte. Ingrid Nyström war erleichtert. Wenigstens lachen konnte er also noch. Das Bild, das der massige Mann mit dem zotteligen Stofftier auf dem Schoß abgab, brachte auch sie zum Lächeln. »Ich hatte Angst, du könntest es geschmacklos finden.« »Ach was, du kennst mich doch. Wenn ich erst wieder zu Hause bin, schneide ich mir ein schönes Steak aus dem Ding. Falls ich nicht vorher von meinem Enkelkind enteignet werde. tobias hat einen ganzen Plüschtierzoo in seinem Kinderzimmer, und so was hier könnte seiner Sammlung noch fehlen.«
Gunnar Berg richtete seinen schweren Oberkörper auf und drückte einen der Knöpfe, die am Kopfende seines Bettes in die Wand eingelassen waren.
»Die Schwester soll eine Vase für deine schönen Blumen bringen. Möchtest du einen Kaffee oder so etwas? Die haben hier alles da. Der Segen einer privaten Zusatzkrankenversicherung. Ich sage nur Einzelzimmer, Ingrid!«
»Und ich dachte, du wärst Sozialdemokrat.«
»Bin ich auch. Aber das heißt nicht, dass ich ein bisschen Luxus nicht zu schätzen weiß. olof palme würde sich natürlich im Grab umdrehen, aber es hat seine Vorteile: Chefarztbehandlung, optimale Nachversorgung, Zimmer mit Kabelfernsehen. Wusstest du, dass es Sender gibt, die den ganzen tag nichts als Golf oder Angelsport zeigen? Du solltest wirklich darüber nachdenken, schließlich bist du ebenfalls nicht mehr die Jüngste.«
»Danke, Gunnar. Sehr charmant.«
»Gern geschehen.«
Ingrid Nyström fühlte, wie eine Last von ihr abfiel. Gunnar Berg gab sich Mühe, so lebensfroh wie immer zu wirken. Zehn tage war es her, dass er auf der Landstraße nach tingsryd verunglückt war. Nachdem man seinen bewusstlosen Körper aus dem völlig zerstörten Auto geschnitten hatte, hatte Berg sechs tage im Koma gelegen. Jetzt war sein Zustand stabil, aber er hatte eine Niere verloren und Trümmerbruche in beiden Beinen. Die Prellungen, Schnittwunden und Abschürfungen würden verheilen, aber noch war völlig unklar, ob er jemals wieder würde laufen können.
Hauptkommissar Gunnar Berg war als Leiter der Kriminalpolizei seit vielen Jahren ihr Vorgesetzter, und sein schwerer Unfall hatte nicht nur sie, sondern die ganze Abteilung erschüttert. Der intelligente und großherzige Mann war ein Chef, an dem sie sich zeit ihres Berufslebens orientiert hatte. ein Lotse, der die Abteilung immer wieder an Untiefen und Klippen vorbei in sichere Wasser geführt hatte. ein Leuchtturm, an dem man sich orientieren konnte. Sie biss sich auf die Zunge. Lotse? Leuchtturm? Was für einen Quatsch sie dachte. Berg stellte das Stofftier auf den Nachttisch. er sah sie lange an. Sie kannte diesen Blick. es war der Blick, mit dem er überzeugen konnte.
»Ich habe mit Edman gesprochen«, sagte er. »er ist einverstanden. Die stellvertretende Landespolizeichefin ebenso. es ist an der Zeit.«
er machte eine Pause, strich mit den Händen die Bettdecke vor sich glatt. Dann fuhr er fort.
»Sehen wir den Dingen ins Auge. Das, was von meinen Beinen übrig ist, fühlt sich wie Griesbrei an, von der Niere ganz zu schweigen. Die Ärzte sind alles andere als optimistisch, genaue Prognosen gibt niemand, trotz Chefarztbehandlung. Und selbst wenn ich keine Dialyse brauche und eines Tages wieder gehen können sollte: es sind jetzt noch etwas mehr als drei Jahre bis zu meiner Pensionierung. Wozu soll ich mir das antun? ein Chefermittler mit Krücken? oder einem Pissbeutel an der Seite? entschuldige bitte, aber es ist doch wahr! Die Blicke und das Mitleid? Und erst die Treppen, wenn der Fahrstuhl mal wieder streikt?«
Berg versuchte sich an einem Grinsen. Sie wich seinem Blick aus. es war ruhig im Raum, zu hören war nur das tickern einer Maschine, aus der Schläuche unter Bergs Bettdecke verschwanden. Sie wollte das nicht hören. Weder die Maschine noch das, was Berg sagte. Das, was er sagen würde.
Eine Minute verging, dann eine zweite. Die Sonnenstrahlen, die durch die Lamellen ins Zimmer drangen, spielten mit dem Staub, der in der Luft flimmerte. Dabei sollte es hier doch sauber sein, dachte sie, gerade in einem Krankenhaus.
»Ich habe auch mit meiner Frau geredet«, fuhr er schließlich fort, »sie sieht es genauso. Und Edman hat bereits mit Stockholm telefoniert. Die Signale sind so, dass ich wohl ohne Abzüge in Frühpension gehen kann. Edman ist ein miserabler Polizist und ein noch schlechterer Chef, aber kein schlechter Politiker, mit dem ganzen Verwaltungsmist kennt er sich wirklich aus.«
er seufzte. Dann wieder ein missglückter Versuch zu grinsen.
»Ich stelle mir das so vor: Ich habe bei per Enquist vom Bauamt noch etwas gut. Wenn ich eine Genehmigung bekomme, baue ich das Sommerhaus am Helgasee zu unserem Wohnhaus um, Elsa plant schon seit Jahren den Garten. Meine Pension werde ich in eine erstklassige Anglerausrüstung investieren. Wusstest du, dass man für eine gute Rolle mehr als 3000 Kronen hinlegen muss? Und erst die Ruten ...«
»Hör auf mit dem Blödsinn!«, rief sie.
»Ingrid, ich versuche nur, es leichter zu machen.«
»Ich weiß. entschuldige.«
Wieder suchte er ihren Blick, und wieder wich sie ihm aus. Stattdessen beobachtete sie weiterhin die Staubstrahlen, die im Raum standen.
»Du wirst übernehmen, Ingrid.«
Sie entgegnete nichts.
»Du bist die einzige, die infrage kommt, niemand weiß das besser als du selbst. Du hast die Erfahrung, die Kompetenz, jeder im Team akzeptiert dich. Früher oder später wäre es sowieso darauf hinausgelaufen. Jetzt ist es halt früher geworden. «
Die tür öffnete sich, und ein pfleger kam mit Kaffee und einer Vase für die Blumen herein. Sie wartete, bis der junge Mann den Raum verlassen hatte. Draußen hatte sich das Licht verändert. Die Wintersonne warf jetzt blasse Muster auf die Wände des Zimmers, der Staub war verschwunden. Der Kaffee schmeckte wässrig, trotz privater Krankenzusatzversicherung; vielleicht war ihr aber auch einfach nicht nach Kaffee.
»Was ist mit Anette? Ich weiß, dass sie sich auf die Stelle bewerben wollte. perspektivisch.«
Berg schnaubte.
»Sie hätte keine Chance gehabt. Weder gegen dich noch gegen externe Bewerber. Ihr fehlt die erfahrung, und sie neigt zum Jähzorn. Du nimmst niemandem etwas weg, Ingrid. Nicht mir und erst recht nicht Anette Hultin.«
Die Muster waberten an der Wand. endlich sah sie ihn an.
»Ich habe es mir immer anders vorgestellt, weißt du? Deinen Ruhestand. Irgendwie als etwas Fröhliches, Nettes. eine Art Feier, auf der wir alle Hütchen tragen und singen und Scherze machen. Weiter habe ich nie gedacht. Und jetzt ... ganz vorne stehen ... Ich weiß nicht, ob ich das so plötzlich kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt will.«
Sie war aufgestanden und ans Fenster getreten. Von hier oben konnte man über den Växjösee hinweg bis zur Schwimmhalle sehen. obwohl die Temperatur seit tagen über null lag, war die Eisdecke auf dem See noch geschlossen. ein einsamer Schlittschuhläufer zog seine Bahnen, seine Arme pendelten regelmäßig wie ein Metronom. Mit einem Mal fröstelte es sie. Der Winter war noch lange nicht vorbei.
Sie drehte sich um und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Bergs Bett.
»es ist nur, dass es so plötzlich kommt. es fühlt sich falsch an. Dass ich auf deinen platz rücke, während du hier liegst. Weil du hier liegst.«
Sie hatte nach seiner Hand gegriffen.
»Wegen eines verdammten Wildschweins«, flüsterte sie.
»es sind verdammte Biester«, sagte er leise und drückte ihre schmale Hand. Seine Haut fühlte sich an wie Sandpapier.
1. Auflage 2012 © 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden
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Autoren-Porträt von Roman Voosen, Kerstin Signe Danielsson
Roman Voosen, 1973 in Rheinhausen geboren, wuchs im emsländischen Papenburg auf. In Bremen studierte er Kunstgeschichte und Germanistik. Er arbeitete als Rettungssanitäter, Ersatzteilsortierer, Altenpfleger, Barkeeper, Musikjournalist und Lehrer. Er lebt und arbeitet als Autor in Berg/Schweden. Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson sind seit 2013 miteinander verheiratet. Kerstin Signe Danielsson, geboren 1983 in Växjö, verbrachte ihre Kindheit im tiefen småländischen Wald. Mit 19 ging sie nach Hamburg und studierte Geschichte und Germanistik. Nachdem sie unzählige Male zwischen Hamburg, Göteborg und Växjö hin- und hergezogen ist, lebt sie jetzt in Berg/Schweden. Sie arbeitet als Autorin und Lehrerin.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Roman Voosen , Kerstin Signe Danielsson
- 2012, 17. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462044494
- ISBN-13: 9783462044492
- Erscheinungsdatum: 10.09.2012
Rezension zu „Später Frost / Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.1 “
»Bitte mehr von Stina Forss.« Express 20121209
Pressezitat
»Bitte mehr von Stina Forss.« Express 20121209
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