Insel 34
Insel 34 von Annette Pehnt
LESEPROBE
Die Leute versuchen mit einer anwachsenden
Verzweiflung zu leben und zu etwas zu kommen, einem
Ort oder einer Person. Sie wollen eine Insel, auf welcher
die Welt endlich ein Ort umschrieben von sichtbaren
Horizonten sein wird.
Robert Creeley, Die Insel
As Kind hörte ich lange von der Insel nicht mehr als dieanderen auch. In der Schule war sie ein grauer Fleck auf der mürben Karte, weitvor der Küste. Wir redeten über Gesteinsarten und Schiffahrt, Rohstoffe undTourismus. Die Insel war aus Basalt und nicht durch Fährverkehr mit demFestland verbunden, hatte keine Rohstoffe und wenig Tourismus, genau wie diedreiunddreißig anderen Inseln vor unserer Küste, die auch alle aus Basaltwaren. Weil niemand ihnen jemals einen Namen gegeben hatte, waren sienumeriert, sehr selten ist das, sagte Herr Kohlhas, der Erdkundelehrer, dieMenschen haben für alles einen Namen, jeder Felsen in der Antarktis heißtirgendwie.
Also mußten wir für die Klassenarbeiten die Nummern derInseln in ein kleines Raster eintragen, das Herr Kohlhas auf die Arbeitsblättergezeichnet hatte. Meine Insel war Nummer vierunddreißig, weil sie am weitestenweg war. Die anderen Inseln klebten scharenweise zusammen, es war schwierig,sie auseinanderzuhalten, niemand schrieb in den Inselarbeiten gute Noten. Nummervierunddreißig lag auf der Karte gut drei Fingerbreit entfernt vom Festland,ein kleiner Vogeldreck im zerkratzten Blau. Alle konnten sich die Nummervierunddreißig merken, auch wenn sie sonst nichts wußten. Vielleicht glaubtdeswegen jeder, die Insel zu kennen.
Zanka zum Beispiel kannte jemanden, dessen Tante dort lebensollte, eine Frau in den Fünfzigern, sagte Zanka, aber stell sie dir nicht vorwie die Frauchen an der Küste, mit geraden Falten auf der Stirn und dreckigenFingernägeln und saufenden Ehemännern, die in der Fischfabrik nicht genugverdienen zum Leben und nicht genug zum Sterben, nein, so ist das nicht auf derInsel. Diese Tante, leider nicht meine, sagte Zanka, denn so eine hätte ichgerne, diese Tante hat dort drei oder vier Liebhaber und blüht wie ein Fliederim Mai, ein kleines altes Persönchen eigentlich, aber ich sag dir, die sollHaare bis auf den Hintern haben und Brüste zum Reinbeißen, und abends kommenihre Liebhaber, manchmal einer oder zwei, manchmal auch alle zusammen, diefeiern die Nacht durch, und die Tante ist nicht die einzige auf der Insel, diees sich gutgehen läßt. Zanka hatte sich heiß geredet, du wärst wohl gerne da,sagte ich, und er rieb sich die Hände, streckte die Arme über den Kopf undlehnte sich nach hinten, das kann man wohl sagen. Er stieß mit seinen gedehntenArmen gegen den Tischnachbarn. Zanka ist sehr ausladend, es wäre einfacher, ihnzu Hause zu bewirten, wo er sich ausbreiten könnte und niemanden behelligenmüßte, aber er mag Kellnerinnen, Zuckerstreuer und Speisekarten, und außerdemhat er viel Geld, das er in meiner Küche nicht ausgeben kann. Dann fahr doch, sagteich, nimm dir ein Motorboot, oder hast du nicht sogar schon eins, ich kommemit. Zanka hörte nicht zu, das ist ein kleines, feines Liebesnest dort, jedermit jedem, verstehst du, und das Beste ist, es funktioniert. Ich merkte, daßder Tischnachbar sich leicht zur Seite neigte und lauschte. Aber es sind doch Fischer,sagte ich, das habe ich in der Schule gelernt, Fischer leben so nicht. Woherwillst du wissen, wie Fischer leben, sagte Zanka.
Ich habe nie so getan, als ob ich die Insel kenne, und ichbin die einzige, die wirklich hinfahren wollte, seit ich mehr von ihr weiß. DieSeekarten hatte ich mir schon gekauft, bevor ich Zanka überhaupt kannte. MeineEltern freuten sich über das heftige Interesse, das als milde Neugier begonnenhatte und allmählich immer dringlicher Besitz von mir ergriff. Sie wartetenschon seit Jahren darauf, daß mein Herz für etwas schlug, wie mein Vater esausdrückte. Was willst du denn mal machen, fragte er alle vier bis sechsMonate, und wenn ich antwortete, Dolmetscherin oder Lehrerin, beugte er sichvor und sah mir prüfend ins Gesicht, und schlägt dein Herz dafür. Ich horchtein mich hinein und konnte mein Herz nicht hören, ich weiß nicht, sagte ich,glaube schon. (...)
© 2003 Piper Verlag GmbH, München
- Autor: Annette Pehnt
- 2004, 192 Seiten, Maße: 12,1 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492243363
- ISBN-13: 9783492243360
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Insel 34".
Kommentar verfassen