Inselzauber
Als Lissy und Nele sich auf Sylt kennenlernen, können sie sich nicht besonders gut ausstehen. Doch bald merken sie: Sie haben eigentlich einiges gemeinsam, denn beide müssen gerade einen Tiefschlag in ihrem Leben wegstecken. Und das geht zu zweit...
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Produktinformationen zu „Inselzauber “
Als Lissy und Nele sich auf Sylt kennenlernen, können sie sich nicht besonders gut ausstehen. Doch bald merken sie: Sie haben eigentlich einiges gemeinsam, denn beide müssen gerade einen Tiefschlag in ihrem Leben wegstecken. Und das geht zu zweit viel besser. Außerdem sind sie auf dem zauberhaften Sylt. Da können schon mal Träume wahr werden oder die Liebe vorbeifliegen.
"Mal eine Runde träumen?"
Für Sie
"Mal eine Runde träumen?"
Für Sie
Lese-Probe zu „Inselzauber “
Inselzauber von Gabriella Engelmann1. Kapitel
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Gerade noch geschafft, den Zug zu erwischen, doch Sie haben noch kein Ticket? Dann begeben Sie sich bitte umgehend auf die Suche nach einem Zugbegleiter, um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Sollten Sie dies nicht tun, kann das als versuchtes Schwarzfahren gewertet werden«, reißt mich die Stimme der Zugansage der NOB, der Nord-Ostsee-Bahn, brutal aus meinen Gedanken.
Nein, ich fühle mich von der barschen Aufforderung nicht angesprochen, denn meine Reise ist von längerer Hand geplant, weshalb ich nicht nur im Besitz eines gültigen Schleswig-Holstein- Tickets bin (allerdings ohne Rückfahrkarte), sondern auch einen Sitzplatz reserviert habe. Denn es steht seit einem halben Jahr fest, dass ich heute, kurz vor Weihnachten, zu meiner Tante Bea nach Sylt reisen werde, um sie für drei Monate in ihrer Buchhandlung zu vertreten.
Was danach mit mir passiert - keine Ahnung! Dafür weiß ich seit genau zwei Wochen, dass Stefan, der Mann, den ich heiraten wollte, jetzt eine andere Frau liebt, die ein Kind von ihm erwartet. Melanie, Sprechstundenhilfe in Stefans kardiologischer Praxis und der Grund dafür, dass ich gerade versuche, ein neues Leben zu beginnen. Abseits von Stefan, abseits von Hamburg kehre ich nun zurück zu meinen Sylter Wurzeln.
Doch so traurig mich diese Fahrt ins Ungewisse auch stimmt, so sehr muss ich beim Gedanken an meine Tante Bea lächeln, weil ich mich wahnsinnig auf sie freue. Ich habe sie lange, viel zu lange, nicht gesehen und weiß, dass wir beide einiges nachzuholen haben. Während ich die Landschaft betrachte, die an mir vorbeigleitet, denke ich ein wenig ängstlich, aber auch neugierig an die Zeit, die nun vor mir liegt. Eine Zeit der Entscheidungen, das spüre ich deutlich.
Vor meinem inneren Auge lasse ich Revue passieren, was ich in Hamburg zurückgelassen habe: eine Liebe, ein Heim, einen festen Job in einem renommierten Hotel. Ein überschaubares Leben. Eines, das mir Sicherheit geboten hat und nun vorbei ist. Aller Trauer zum Trotz freue ich mich darauf, meiner Tante den langgehegten Traum zu ermöglichen, mit ihrer besten Freundin Veronika, genannt Vero, auf einem Kreuzfahrtschiff auf Weltreise zu gehen.
Nachdenklich betrachte ich die unzähligen Windräder, welche die Bahnstrecke säumen. Ihre Arme bohren sich in den Winterhimmel und drehen sich so synchron, als wären sie Teil einer Ballettchoreographie. Kurz schießt mir ein Bild aus Kinder tagen durch den Kopf: ich, die siebenjährige Larissa, im roséfarbenen Tüllröckchen, wie ich aufgeregt die Hand meines Vaters halte, eingehüllt in meinen Wintermantel, auf dem Weg zur Ballettstunde.
Eine Erinnerung an glückliche Kindertage, als meine Eltern noch lebten. Bevor ein Autounfall drei Jahre später mit einem Schlag ihrem jungen Leben ein viel zu frühes und gewaltsames Ende setzte.
Nun kehre ich zurück auf die Insel Sylt, zu meiner Tante, die mich als Zehnjährige zu sich genommen und mich großgezogen hat. Zusammen mit ihrem Mann Knut, einem Seefahrer, der naturgemäß die meiste Zeit seines Lebens auf dem Meer verbracht hat. Die beiden wohnten in einem alten Kapitänshaus, das mir damals Sicherheit und Geborgenheit gab, ebenso wie die Arme meiner Tante, die mich umschlungen hielten, als meine Kinderwelt in Trümmern lag.
»In wenigen Minuten erreichen wir Westerland Hauptbahnhof«, ertönt erneut die Zugansage, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Rasch sammle ich meine Gepäckstücke zusammen, die ich um mich herum verteilt habe, denn für diesen langen Aufenthalt auf Sylt ist es mit einer kleinen Tasche wahrlich nicht getan.
Nach dem bezaubernden Anblick der schier endlos weiten norddeutschen Landschaft, den die Überfahrt auf dem Hindenburgdamm geboten hat, versetzt mir die Stadt Westerland nahezu einen Schock. Die Betonbauten und Hochhäuser stehen in absolutem Kontrast zu den Deichlämmern, die ihre bunt bemalten Hintern in die Luft recken und in harmonischem Einklang nebeneinander grasen, und ebenso wenig zum Bild des gurgelnden Meeres, das seine grauen Schaumkronen in die Ausläufer um den Bahndamm herum spült.
Die Kälte des Ferienorts steht auch in völligem Kontrast zu dem heimelig wirkenden Turm der Keitumer Kirche, der alle Sylt- Besucher willkommen heißt und sie aufzufordern scheint, das Gotteshaus in aller Stille aufzusuchen, um der umtriebigen Welt den Rücken zu kehren und ein wenig durchzuatmen. Genau das werde ich tun. Nach den Turbulenzen der letzten Wochen kann ich wahrlich Ruhe gebrauchen, denke ich, während der Zug auf dem Bahnsteig einfährt und ich Bea und Veronika winken sehe.
Ein Bild, wie Pat und Patachon: Bea ist groß und hager und trägt ihre grauen Haare kurz. Veronika hingegen ist klein, leicht untersetzt und hat ihre silberblonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt.
Dass es so eine Frisur überhaupt noch gibt, überlege ich schmunzelnd, während ich meine Koffer aus der Tür ins Freie wuchte. Ein älterer Herr ist mir freundlicherweise behilflich und wechselt dabei kurz einen Blick mit Bea, während Veronika eine rote Rose schwenkt. Ja, meine Tante hat schon immer eine große Wirkung auf Männer gehabt, obwohl sie auf den ersten Blick kein femininer Typ ist und auch im Alter noch viel Unabhängigkeit ausstrahlt.
Viel zu viel für den Geschmack der meisten Herren. Veronika hingegen ist ein absolutes Weibchen, eine Herzensgute, im Gegensatz zu Bea, die zunächst erst einmal skeptisch in die Welt schaut. Wenn ich meine Tante so sehe, mit ihrer schwarzen Lederjacke, die langen Beine in eine Cargohose gehüllt, wundere ich mich wieder einmal, wie es eine solche Frau überhaupt auf diese Insel verschlagen konnte, noch dazu an der Seite eines Seemanns, der auf den ersten Blick so gar nichts mit ihr gemeinsam hat.
»Moin, min Deern«, unterbricht Veronika meine Gedanken und zieht mich an ihre Brust, während die Rose die ersten Blätter verliert.
»Vero, schön dich zu sehen!«, rufe ich und drücke ihr links und rechts herzhafte Küsse auf ihre mittlerweile leicht erschlafften Wangen, die sich zart und weich anfühlen. »Hattest du denn eine gute Reise, Kind?«, fragt Veronika und schnappt sich sofort den schwersten meiner Koffer. Sie ist es gewohnt, zuzupacken, so kennt sie es von dem Hof, auf dem sie lebt.
»Lissy«, meldet sich nun endlich auch Bea zu Wort, die ihrer Freundin energisch den Koffer aus der Hand nimmt und ihn auf einen Gepäckwagen wuchtet. Rasch werfe ich die restlichen Sachen hinterher und stürze mich in die Arme meiner Tante. Auch wenn sie rein physisch so gar nichts Kuscheliges an sich hat, fühle ich mich dennoch in ihrer Nähe so geborgen wie bei sonst niemandem auf der Welt. Selbst bei Stefan habe ich nicht so viel Wärme und Behaglichkeit empfunden. Ihr Parfüm - sie trägt seit ich sie kenne dasselbe - umhüllt mich wie ein Seidentuch, und ich fühle mich sofort zu Hause. Zu Hause bei ihr und auf dieser Insel, die zwar lange meine Heimat war, die ich aber in den letzten Jahren fast komplett aus den Augen verloren habe.
»Gut siehst du aus«, plappert Veronika drauflos, während wir gemeinsam zum Parkplatz laufen.
Bea und ich gehen Arm in Arm und lösen uns erst voneinander, als meine Tante hinter dem Steuer Platz nimmt, um ihren Wagen - einen alten, wackeligen Jeep - zu starten. Ich öffne die hintere Tür und werde in Sekundenschnelle von Timo abgeschlabbert.
Beas Berner Sennhund erkennt mich auch nach so langer Zeit wieder und ist offensichtlich begeistert, mich zu sehen.
»Hallo, Süßer«, begrüße ich ihn, streichle ihm über den Kopf und stecke meine Nase in seinen Hundepelz. Während der Fahrt nach Keitum betrachte ich schweigend die Landschaft und lausche den Worten der beiden Freundinnen, die vorne im Wagen plaudern. Genauer gesagt plaudert vor allem Veronika. Bea hört ihr aufmerksam zu und wirft ab und zu einen Blick in den Rückspiegel, um mit mir Blickkontakt aufzunehmen. Nachdem wir die hässlichen Neubauten Westerlands hinter uns gelassen haben, fahren wir an Tinnum vorbei
Richtung Keitum.
Wie jedes Mal, wenn ich auf der Insel bin, amüsiere ich mich über die Namen, die, wie es scheint, allesamt auf »um« enden. Natürlich ist das nicht wirklich so, denn Westerland, Kampen, List, Wenningstedt oder Braderup machen ja die andere Hälfte der Orte aus, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das wahre Sylt in den Dörfern stattfi ndet, die auf »um« enden. Schon allein diese Silbe klingt irgendwie kuscheliger als das ruppige »rup« von Braderup, oder als das scheinbar listige »List«.
Morsum, Archsum, Hörnum, Keitum, Rantum - das sind die Orte, die ich mag, zu denen ich mich hingezogen fühle. Während wir uns Keitum nähern, sehe ich Pferde, Kühe und Schafe auf den Weiden, beschienen von der kalten Dezembersonne, die alles in klares, gleißendes Licht taucht und die Konturen schärft.
Dann - ganz allmählich - vollzieht sich eine Wandlung: Die Weiden werden weniger, die freien Flächen verschwinden, und in meinem Blickfeld tauchen die ersten typischen Friesenhäuser auf, für die ich diesen Ort so liebe.
An dieser Stelle ist Sylt besonders lieblich, besonders hübsch und beinahe puppenhaft. »Timo, Lissy raus mit euch!«, ruft Bea, scheucht ihren riesigen Hund von der Rückbank, reißt die Wagentür neben mir auf und lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit des Träumens und Betrachtens vorbei ist, denn jetzt sind wir da.
Eine halbe Stunde später sitzen wir vor dampfendem Tee und Friesenwaffeln, bestäubt mit jeder Menge Puderzucker, der wie Schnee auf dem Gebäck liegt, heißen Kirschen und Vanilleeis. »Autsch«, entfährt es mir, während mich ein gemeiner Schmerz durchzuckt. Heiß und kalt ist eine Kombination, die ich überhaupt nicht vertrage. Bei diesem Vergleich fällt mir umgehend Stefan ein, der mich am Bahnhof Altona in Hamburg ziemlich unterkühlt verabschiedet hat. Genau wie ich ihn auch.
Wie aufs Stichwort fragt Veronika, von der die leckeren Waffeln sind, im nächsten Moment: »Wie geht's eigentlich Stefan? Wann heiratet ihr denn nun?«, und sieht mich erwartungsvoll an. Vermutlich bastelt sie im Geiste bereits an der Menüfolge und der Hochzeitstorte, schließlich ist es schon eine Weile her, dass sie dergleichen für ihre Kinder tun konnte, und nun fühlt sie sich wohl nicht ausgelastet. So gern, wie sie die Gastgeberin spielt.
Vero ist nun mal ein echtes Familientier. Seit nunmehr fast vierzig Jahren ist sie mit ihrem Mann Hinrich verheiratet, einem eher wortkargen Bauern - und das allem Anschein nach glücklich, auch wenn ich nicht viel über diese Ehe weiß. Die beiden haben sich in der Schule kennen- und liebengelernt. Mit zwanzig bekam Vero ihre Tochter Friederike, auf die später die Zwillinge Lars und Ole folgten.
Offensichtlich hat Bea ihre Freundin noch nicht über den neuesten Stand der Dinge informiert, was meine Familienplanung betrifft.
»Vero, lass mal«, bekomme ich Schützenhilfe von meiner Tante, die an ihrem Tee nippt und die Augen rollt. »Als ob es für Lissy nichts Wichtigeres gäbe, als diesen Stefan zu heiraten.«
Veronika sieht mich kurz irritiert an, blickt dann unsicher zu Bea, und ich fühle mich bemüßigt, die Freundin meiner Tante selbst aufzuklären.
»Ich werde diesen Stefan wohl nicht heiraten, denn er wird in vier Monaten Vater.«
An dieser Stelle wird Vero noch unruhiger, und ich sehe kurz die Hoffnung in ihren Augen aufglimmen, ich sei schwanger und es gäbe bald wieder ein Baby im Haus.
»Die glückliche Mutter bin allerdings nicht ich«, fahre ich fort, während sich Veros Gesichtszüge in Sekundenschnelle enttäuscht verfi nstern, »sondern eine gewisse Melanie Immendorf. Melanie ist Sprechstundenhilfe in Stefans Praxis, zwanzig, blond, vollbusig und meines Wissens ein bisschen doof. Allerdings nicht zu doof, um sich auf diesem Wege einen gut situierten Kardiologen zu angeln, der die Praxis, in der sie arbeitet, unter anderem meiner fi nanziellen Unterstützung verdankt«, vervollständige ich den Bericht über meine private Situation. Dabei versuche ich zu ignorieren, wie sich mein Herz verkrampft.
Das alles tut immer noch weh - viel zu weh! Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen schießen, und bin dankbar, dass Timo mir in diesem Moment die Hand leckt, vermutlich als verspätetes Zeichen seines Dankes für die Leckerli, die ich ihm mitgebracht habe.
»Oh, so ist das also«, murmelt Veronika bedrückt und schafft es kaum, mich anzusehen. »Das tut mir leid. Ihr wart so ein schönes Paar.« Damit ist dann auch alles gesagt.
Wir waren ein schönes Paar, und nun sind wir es eben nicht mehr.
»Ich gehe dann mal nach oben, um meine Sachen auszupacken«, sage ich und stelle mein Geschirr in die Spüle.
Wie gemütlich diese alte Friesenküche ist. Alles ist wunderhübsch gekachelt, in traditionellem Blau-Weiß, mit Motiven der hiesigen Region. Wie sehr ich das alles genießen könnte, wenn ich mich nur besser fühlte.
»Komm einfach runter, wenn dir nach Gesellschaft ist. Ansonsten gibt es um acht Uhr Abendessen«, ruft Bea mir nach, während ich die knarrende Treppe nach oben gehe und Timo mir hinterhertrottet.
In meinem alten Zimmer angekommen, werfe ich mich überwältigt von Schmerz aufs Bett. Dabei versinke ich fast in den flauschigen Daunen und atme den Duft von Sandelholz ein, der
sich im Stoff der Tagesdecke verfangen hat. Timo legt sich artig auf den Bettvorleger, nimmt den Kopf zwischen die Pfoten und sieht mich, wie ich finde, besorgt an.
Dann kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Tränen, die ich in Hamburg nicht hatte vergießen können, weil ich nicht wusste, wo ich dies ungestört hätte tun sollen, ohne in dieser Wohnung zu sein, die nun nicht länger mein Zuhause ist. Die Wohnung, in der nun wohl bald Melanie Einzug halten und triumphierend ihren schwangeren Bauch vor sich hertragen wird. Vermutlich verteilt sie bereits überall Ultraschallaufnahmen.
Eine Frau wie sie pinnt sicher das erste Bild ihres Kindes an die Kühlschranktür, stolz auf das, was die Natur da in ihr hervorbringt, weil sie sonst nichts anderes hat, worauf sie blicken kann.
Aber wie ist das mit mir? Was kann ich eigentlich?, frage ich mich plötzlich und rolle mich in Embryohaltung auf der Decke zusammen. Wie war es eigentlich bislang, mein Leben, auf das ich vor kurzem noch so stolz war? War ich nicht total auf Stefan fixiert? Habe ich mich nicht komplett über IHN defi niert? SEINE Pläne unterstützt? Sie sogar FINANZIERT? Mich mit SEINEN Interessen identifi ziert? Mit SEINEN Freunden Umgang gepfl egt? Nichts EIGENES gehabt, außer einem Job, der mir keinen Spaß macht und mich auch nicht erfüllt?
Ich habe ja noch nicht einmal eine beste Freundin, denke ich nun und schnüffl e in mein Taschentuch, das ich, seit es Melanie gibt, immer griffbereit bei mir trage. Wie sehr ich Bea und Veronika beneide! Auch wenn die beiden auf den ersten Blick eine etwas skurrile Kombination sind - und zwar nicht nur äußerlich.
Bea ist die Kluge, die Strenge, die alles Hinterfragende. Vero die ewig Gutgelaunte, Weiche, Warmherzige, manchmal aber auch ein wenig einfach Gestrickte. Sie weiß nicht viel von der Welt. Ihr Kosmos ist diese Insel, ihre Familie, der Hof. Und Bea. Vero ist das totale Gegenteil zu meiner mutigen, starken und abenteuerlustigen Tante: übervorsichtig, ängstlich, stets auf Sicherheit bedacht.
Mir ist überhaupt nicht klar, wie Bea es geschafft hat, ihre Freundin, die außer Kiel und Hamburg nichts weiter von Deutschland, geschweige denn von Europa gesehen hat, zu überreden, eine Weltreise mit ihr zu unternehmen. Das muss ich Bea unbedingt fragen, nehme ich mir fest vor, während mich eine Welle des Selbstmitleids unerbittlich überrollt.
Wie schön wäre es, jetzt eine gute Freundin zu haben, denke ich. Denn Bea und Vero sind in ein paar Tagen auf hoher See und kommen erst in drei Monaten wieder. Wir können kaum telefonieren, allerhöchstens mal mailen oder uns mit ein paar knappen SMS auf den neuesten Informationsstand bringen. Wer wird mich trösten, wenn ich nachts weinend im Bett liege, weil es mir vor Sehnsucht nach Stefan fast das Herz zerreißt und ich die Bilder von ihm und Melanie nicht aus dem Kopf bekomme?
Wie aufs Stichwort leckt Timo mir mit seiner rauhen Hundezunge die Hand, die über den Bettrand baumelt. Hund müsste man sein, überlege ich. Tiere denken angeblich nicht und haben auch keine Seele. Obwohl ich das gar nicht glauben kann ...
Wenn man Timo so betrachtet, in seine großen, dunkelbraunen Hundeaugen schaut und er den Kopf schief legt, sieht es immer so aus, als verstehe er einen. Sobald es mir wieder bessergeht, werde ich in Erfahrung bringen, wer so einen Mist über Tiere verbreitet, und gegen denjenigen vorgehen. Jawohl!
Bei dem Gedanken daran, wie ich womöglich anlässlich eines Symposiums eine flammende Rede halte, die beweisen soll, dass die Tierforschung irrt und nur ich, Larissa Wagner, die einzig Wissende bin, muss ich schon wieder ein wenig grinsen. Denn erstens bin ich nicht der Typ, der kluge Reden schwingt, schon gar nicht vor vielen Zuschauern, und zweitens wäre ich viel zu faul, um mich ernsthaft in die Materie zu vertiefen. Diese partielle Faulheit hat mich auch eine Ausbildung als Hotelkauffrau beginnen lassen, anstatt nach dem Abitur zu studieren.
Tja, fasse ich mich nun sozusagen an die eigene Nase - was unterscheidet dich an dieser Stelle eigentlich von Melanie? Die ist immerhin schwanger geworden, und das ist doch schon mal was. Zumindest wenn man zu dem Typ Frau gehört, deren Ziel es ist, eines Tages Ehefrau und Mutter zu sein. Melanie hatte wenigstens ein Ziel - ich dagegen habe momentan keines, so wie es aussieht.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Gerade noch geschafft, den Zug zu erwischen, doch Sie haben noch kein Ticket? Dann begeben Sie sich bitte umgehend auf die Suche nach einem Zugbegleiter, um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Sollten Sie dies nicht tun, kann das als versuchtes Schwarzfahren gewertet werden«, reißt mich die Stimme der Zugansage der NOB, der Nord-Ostsee-Bahn, brutal aus meinen Gedanken.
Nein, ich fühle mich von der barschen Aufforderung nicht angesprochen, denn meine Reise ist von längerer Hand geplant, weshalb ich nicht nur im Besitz eines gültigen Schleswig-Holstein- Tickets bin (allerdings ohne Rückfahrkarte), sondern auch einen Sitzplatz reserviert habe. Denn es steht seit einem halben Jahr fest, dass ich heute, kurz vor Weihnachten, zu meiner Tante Bea nach Sylt reisen werde, um sie für drei Monate in ihrer Buchhandlung zu vertreten.
Was danach mit mir passiert - keine Ahnung! Dafür weiß ich seit genau zwei Wochen, dass Stefan, der Mann, den ich heiraten wollte, jetzt eine andere Frau liebt, die ein Kind von ihm erwartet. Melanie, Sprechstundenhilfe in Stefans kardiologischer Praxis und der Grund dafür, dass ich gerade versuche, ein neues Leben zu beginnen. Abseits von Stefan, abseits von Hamburg kehre ich nun zurück zu meinen Sylter Wurzeln.
Doch so traurig mich diese Fahrt ins Ungewisse auch stimmt, so sehr muss ich beim Gedanken an meine Tante Bea lächeln, weil ich mich wahnsinnig auf sie freue. Ich habe sie lange, viel zu lange, nicht gesehen und weiß, dass wir beide einiges nachzuholen haben. Während ich die Landschaft betrachte, die an mir vorbeigleitet, denke ich ein wenig ängstlich, aber auch neugierig an die Zeit, die nun vor mir liegt. Eine Zeit der Entscheidungen, das spüre ich deutlich.
Vor meinem inneren Auge lasse ich Revue passieren, was ich in Hamburg zurückgelassen habe: eine Liebe, ein Heim, einen festen Job in einem renommierten Hotel. Ein überschaubares Leben. Eines, das mir Sicherheit geboten hat und nun vorbei ist. Aller Trauer zum Trotz freue ich mich darauf, meiner Tante den langgehegten Traum zu ermöglichen, mit ihrer besten Freundin Veronika, genannt Vero, auf einem Kreuzfahrtschiff auf Weltreise zu gehen.
Nachdenklich betrachte ich die unzähligen Windräder, welche die Bahnstrecke säumen. Ihre Arme bohren sich in den Winterhimmel und drehen sich so synchron, als wären sie Teil einer Ballettchoreographie. Kurz schießt mir ein Bild aus Kinder tagen durch den Kopf: ich, die siebenjährige Larissa, im roséfarbenen Tüllröckchen, wie ich aufgeregt die Hand meines Vaters halte, eingehüllt in meinen Wintermantel, auf dem Weg zur Ballettstunde.
Eine Erinnerung an glückliche Kindertage, als meine Eltern noch lebten. Bevor ein Autounfall drei Jahre später mit einem Schlag ihrem jungen Leben ein viel zu frühes und gewaltsames Ende setzte.
Nun kehre ich zurück auf die Insel Sylt, zu meiner Tante, die mich als Zehnjährige zu sich genommen und mich großgezogen hat. Zusammen mit ihrem Mann Knut, einem Seefahrer, der naturgemäß die meiste Zeit seines Lebens auf dem Meer verbracht hat. Die beiden wohnten in einem alten Kapitänshaus, das mir damals Sicherheit und Geborgenheit gab, ebenso wie die Arme meiner Tante, die mich umschlungen hielten, als meine Kinderwelt in Trümmern lag.
»In wenigen Minuten erreichen wir Westerland Hauptbahnhof«, ertönt erneut die Zugansage, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Rasch sammle ich meine Gepäckstücke zusammen, die ich um mich herum verteilt habe, denn für diesen langen Aufenthalt auf Sylt ist es mit einer kleinen Tasche wahrlich nicht getan.
Nach dem bezaubernden Anblick der schier endlos weiten norddeutschen Landschaft, den die Überfahrt auf dem Hindenburgdamm geboten hat, versetzt mir die Stadt Westerland nahezu einen Schock. Die Betonbauten und Hochhäuser stehen in absolutem Kontrast zu den Deichlämmern, die ihre bunt bemalten Hintern in die Luft recken und in harmonischem Einklang nebeneinander grasen, und ebenso wenig zum Bild des gurgelnden Meeres, das seine grauen Schaumkronen in die Ausläufer um den Bahndamm herum spült.
Die Kälte des Ferienorts steht auch in völligem Kontrast zu dem heimelig wirkenden Turm der Keitumer Kirche, der alle Sylt- Besucher willkommen heißt und sie aufzufordern scheint, das Gotteshaus in aller Stille aufzusuchen, um der umtriebigen Welt den Rücken zu kehren und ein wenig durchzuatmen. Genau das werde ich tun. Nach den Turbulenzen der letzten Wochen kann ich wahrlich Ruhe gebrauchen, denke ich, während der Zug auf dem Bahnsteig einfährt und ich Bea und Veronika winken sehe.
Ein Bild, wie Pat und Patachon: Bea ist groß und hager und trägt ihre grauen Haare kurz. Veronika hingegen ist klein, leicht untersetzt und hat ihre silberblonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt.
Dass es so eine Frisur überhaupt noch gibt, überlege ich schmunzelnd, während ich meine Koffer aus der Tür ins Freie wuchte. Ein älterer Herr ist mir freundlicherweise behilflich und wechselt dabei kurz einen Blick mit Bea, während Veronika eine rote Rose schwenkt. Ja, meine Tante hat schon immer eine große Wirkung auf Männer gehabt, obwohl sie auf den ersten Blick kein femininer Typ ist und auch im Alter noch viel Unabhängigkeit ausstrahlt.
Viel zu viel für den Geschmack der meisten Herren. Veronika hingegen ist ein absolutes Weibchen, eine Herzensgute, im Gegensatz zu Bea, die zunächst erst einmal skeptisch in die Welt schaut. Wenn ich meine Tante so sehe, mit ihrer schwarzen Lederjacke, die langen Beine in eine Cargohose gehüllt, wundere ich mich wieder einmal, wie es eine solche Frau überhaupt auf diese Insel verschlagen konnte, noch dazu an der Seite eines Seemanns, der auf den ersten Blick so gar nichts mit ihr gemeinsam hat.
»Moin, min Deern«, unterbricht Veronika meine Gedanken und zieht mich an ihre Brust, während die Rose die ersten Blätter verliert.
»Vero, schön dich zu sehen!«, rufe ich und drücke ihr links und rechts herzhafte Küsse auf ihre mittlerweile leicht erschlafften Wangen, die sich zart und weich anfühlen. »Hattest du denn eine gute Reise, Kind?«, fragt Veronika und schnappt sich sofort den schwersten meiner Koffer. Sie ist es gewohnt, zuzupacken, so kennt sie es von dem Hof, auf dem sie lebt.
»Lissy«, meldet sich nun endlich auch Bea zu Wort, die ihrer Freundin energisch den Koffer aus der Hand nimmt und ihn auf einen Gepäckwagen wuchtet. Rasch werfe ich die restlichen Sachen hinterher und stürze mich in die Arme meiner Tante. Auch wenn sie rein physisch so gar nichts Kuscheliges an sich hat, fühle ich mich dennoch in ihrer Nähe so geborgen wie bei sonst niemandem auf der Welt. Selbst bei Stefan habe ich nicht so viel Wärme und Behaglichkeit empfunden. Ihr Parfüm - sie trägt seit ich sie kenne dasselbe - umhüllt mich wie ein Seidentuch, und ich fühle mich sofort zu Hause. Zu Hause bei ihr und auf dieser Insel, die zwar lange meine Heimat war, die ich aber in den letzten Jahren fast komplett aus den Augen verloren habe.
»Gut siehst du aus«, plappert Veronika drauflos, während wir gemeinsam zum Parkplatz laufen.
Bea und ich gehen Arm in Arm und lösen uns erst voneinander, als meine Tante hinter dem Steuer Platz nimmt, um ihren Wagen - einen alten, wackeligen Jeep - zu starten. Ich öffne die hintere Tür und werde in Sekundenschnelle von Timo abgeschlabbert.
Beas Berner Sennhund erkennt mich auch nach so langer Zeit wieder und ist offensichtlich begeistert, mich zu sehen.
»Hallo, Süßer«, begrüße ich ihn, streichle ihm über den Kopf und stecke meine Nase in seinen Hundepelz. Während der Fahrt nach Keitum betrachte ich schweigend die Landschaft und lausche den Worten der beiden Freundinnen, die vorne im Wagen plaudern. Genauer gesagt plaudert vor allem Veronika. Bea hört ihr aufmerksam zu und wirft ab und zu einen Blick in den Rückspiegel, um mit mir Blickkontakt aufzunehmen. Nachdem wir die hässlichen Neubauten Westerlands hinter uns gelassen haben, fahren wir an Tinnum vorbei
Richtung Keitum.
Wie jedes Mal, wenn ich auf der Insel bin, amüsiere ich mich über die Namen, die, wie es scheint, allesamt auf »um« enden. Natürlich ist das nicht wirklich so, denn Westerland, Kampen, List, Wenningstedt oder Braderup machen ja die andere Hälfte der Orte aus, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das wahre Sylt in den Dörfern stattfi ndet, die auf »um« enden. Schon allein diese Silbe klingt irgendwie kuscheliger als das ruppige »rup« von Braderup, oder als das scheinbar listige »List«.
Morsum, Archsum, Hörnum, Keitum, Rantum - das sind die Orte, die ich mag, zu denen ich mich hingezogen fühle. Während wir uns Keitum nähern, sehe ich Pferde, Kühe und Schafe auf den Weiden, beschienen von der kalten Dezembersonne, die alles in klares, gleißendes Licht taucht und die Konturen schärft.
Dann - ganz allmählich - vollzieht sich eine Wandlung: Die Weiden werden weniger, die freien Flächen verschwinden, und in meinem Blickfeld tauchen die ersten typischen Friesenhäuser auf, für die ich diesen Ort so liebe.
An dieser Stelle ist Sylt besonders lieblich, besonders hübsch und beinahe puppenhaft. »Timo, Lissy raus mit euch!«, ruft Bea, scheucht ihren riesigen Hund von der Rückbank, reißt die Wagentür neben mir auf und lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit des Träumens und Betrachtens vorbei ist, denn jetzt sind wir da.
Eine halbe Stunde später sitzen wir vor dampfendem Tee und Friesenwaffeln, bestäubt mit jeder Menge Puderzucker, der wie Schnee auf dem Gebäck liegt, heißen Kirschen und Vanilleeis. »Autsch«, entfährt es mir, während mich ein gemeiner Schmerz durchzuckt. Heiß und kalt ist eine Kombination, die ich überhaupt nicht vertrage. Bei diesem Vergleich fällt mir umgehend Stefan ein, der mich am Bahnhof Altona in Hamburg ziemlich unterkühlt verabschiedet hat. Genau wie ich ihn auch.
Wie aufs Stichwort fragt Veronika, von der die leckeren Waffeln sind, im nächsten Moment: »Wie geht's eigentlich Stefan? Wann heiratet ihr denn nun?«, und sieht mich erwartungsvoll an. Vermutlich bastelt sie im Geiste bereits an der Menüfolge und der Hochzeitstorte, schließlich ist es schon eine Weile her, dass sie dergleichen für ihre Kinder tun konnte, und nun fühlt sie sich wohl nicht ausgelastet. So gern, wie sie die Gastgeberin spielt.
Vero ist nun mal ein echtes Familientier. Seit nunmehr fast vierzig Jahren ist sie mit ihrem Mann Hinrich verheiratet, einem eher wortkargen Bauern - und das allem Anschein nach glücklich, auch wenn ich nicht viel über diese Ehe weiß. Die beiden haben sich in der Schule kennen- und liebengelernt. Mit zwanzig bekam Vero ihre Tochter Friederike, auf die später die Zwillinge Lars und Ole folgten.
Offensichtlich hat Bea ihre Freundin noch nicht über den neuesten Stand der Dinge informiert, was meine Familienplanung betrifft.
»Vero, lass mal«, bekomme ich Schützenhilfe von meiner Tante, die an ihrem Tee nippt und die Augen rollt. »Als ob es für Lissy nichts Wichtigeres gäbe, als diesen Stefan zu heiraten.«
Veronika sieht mich kurz irritiert an, blickt dann unsicher zu Bea, und ich fühle mich bemüßigt, die Freundin meiner Tante selbst aufzuklären.
»Ich werde diesen Stefan wohl nicht heiraten, denn er wird in vier Monaten Vater.«
An dieser Stelle wird Vero noch unruhiger, und ich sehe kurz die Hoffnung in ihren Augen aufglimmen, ich sei schwanger und es gäbe bald wieder ein Baby im Haus.
»Die glückliche Mutter bin allerdings nicht ich«, fahre ich fort, während sich Veros Gesichtszüge in Sekundenschnelle enttäuscht verfi nstern, »sondern eine gewisse Melanie Immendorf. Melanie ist Sprechstundenhilfe in Stefans Praxis, zwanzig, blond, vollbusig und meines Wissens ein bisschen doof. Allerdings nicht zu doof, um sich auf diesem Wege einen gut situierten Kardiologen zu angeln, der die Praxis, in der sie arbeitet, unter anderem meiner fi nanziellen Unterstützung verdankt«, vervollständige ich den Bericht über meine private Situation. Dabei versuche ich zu ignorieren, wie sich mein Herz verkrampft.
Das alles tut immer noch weh - viel zu weh! Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen schießen, und bin dankbar, dass Timo mir in diesem Moment die Hand leckt, vermutlich als verspätetes Zeichen seines Dankes für die Leckerli, die ich ihm mitgebracht habe.
»Oh, so ist das also«, murmelt Veronika bedrückt und schafft es kaum, mich anzusehen. »Das tut mir leid. Ihr wart so ein schönes Paar.« Damit ist dann auch alles gesagt.
Wir waren ein schönes Paar, und nun sind wir es eben nicht mehr.
»Ich gehe dann mal nach oben, um meine Sachen auszupacken«, sage ich und stelle mein Geschirr in die Spüle.
Wie gemütlich diese alte Friesenküche ist. Alles ist wunderhübsch gekachelt, in traditionellem Blau-Weiß, mit Motiven der hiesigen Region. Wie sehr ich das alles genießen könnte, wenn ich mich nur besser fühlte.
»Komm einfach runter, wenn dir nach Gesellschaft ist. Ansonsten gibt es um acht Uhr Abendessen«, ruft Bea mir nach, während ich die knarrende Treppe nach oben gehe und Timo mir hinterhertrottet.
In meinem alten Zimmer angekommen, werfe ich mich überwältigt von Schmerz aufs Bett. Dabei versinke ich fast in den flauschigen Daunen und atme den Duft von Sandelholz ein, der
sich im Stoff der Tagesdecke verfangen hat. Timo legt sich artig auf den Bettvorleger, nimmt den Kopf zwischen die Pfoten und sieht mich, wie ich finde, besorgt an.
Dann kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Tränen, die ich in Hamburg nicht hatte vergießen können, weil ich nicht wusste, wo ich dies ungestört hätte tun sollen, ohne in dieser Wohnung zu sein, die nun nicht länger mein Zuhause ist. Die Wohnung, in der nun wohl bald Melanie Einzug halten und triumphierend ihren schwangeren Bauch vor sich hertragen wird. Vermutlich verteilt sie bereits überall Ultraschallaufnahmen.
Eine Frau wie sie pinnt sicher das erste Bild ihres Kindes an die Kühlschranktür, stolz auf das, was die Natur da in ihr hervorbringt, weil sie sonst nichts anderes hat, worauf sie blicken kann.
Aber wie ist das mit mir? Was kann ich eigentlich?, frage ich mich plötzlich und rolle mich in Embryohaltung auf der Decke zusammen. Wie war es eigentlich bislang, mein Leben, auf das ich vor kurzem noch so stolz war? War ich nicht total auf Stefan fixiert? Habe ich mich nicht komplett über IHN defi niert? SEINE Pläne unterstützt? Sie sogar FINANZIERT? Mich mit SEINEN Interessen identifi ziert? Mit SEINEN Freunden Umgang gepfl egt? Nichts EIGENES gehabt, außer einem Job, der mir keinen Spaß macht und mich auch nicht erfüllt?
Ich habe ja noch nicht einmal eine beste Freundin, denke ich nun und schnüffl e in mein Taschentuch, das ich, seit es Melanie gibt, immer griffbereit bei mir trage. Wie sehr ich Bea und Veronika beneide! Auch wenn die beiden auf den ersten Blick eine etwas skurrile Kombination sind - und zwar nicht nur äußerlich.
Bea ist die Kluge, die Strenge, die alles Hinterfragende. Vero die ewig Gutgelaunte, Weiche, Warmherzige, manchmal aber auch ein wenig einfach Gestrickte. Sie weiß nicht viel von der Welt. Ihr Kosmos ist diese Insel, ihre Familie, der Hof. Und Bea. Vero ist das totale Gegenteil zu meiner mutigen, starken und abenteuerlustigen Tante: übervorsichtig, ängstlich, stets auf Sicherheit bedacht.
Mir ist überhaupt nicht klar, wie Bea es geschafft hat, ihre Freundin, die außer Kiel und Hamburg nichts weiter von Deutschland, geschweige denn von Europa gesehen hat, zu überreden, eine Weltreise mit ihr zu unternehmen. Das muss ich Bea unbedingt fragen, nehme ich mir fest vor, während mich eine Welle des Selbstmitleids unerbittlich überrollt.
Wie schön wäre es, jetzt eine gute Freundin zu haben, denke ich. Denn Bea und Vero sind in ein paar Tagen auf hoher See und kommen erst in drei Monaten wieder. Wir können kaum telefonieren, allerhöchstens mal mailen oder uns mit ein paar knappen SMS auf den neuesten Informationsstand bringen. Wer wird mich trösten, wenn ich nachts weinend im Bett liege, weil es mir vor Sehnsucht nach Stefan fast das Herz zerreißt und ich die Bilder von ihm und Melanie nicht aus dem Kopf bekomme?
Wie aufs Stichwort leckt Timo mir mit seiner rauhen Hundezunge die Hand, die über den Bettrand baumelt. Hund müsste man sein, überlege ich. Tiere denken angeblich nicht und haben auch keine Seele. Obwohl ich das gar nicht glauben kann ...
Wenn man Timo so betrachtet, in seine großen, dunkelbraunen Hundeaugen schaut und er den Kopf schief legt, sieht es immer so aus, als verstehe er einen. Sobald es mir wieder bessergeht, werde ich in Erfahrung bringen, wer so einen Mist über Tiere verbreitet, und gegen denjenigen vorgehen. Jawohl!
Bei dem Gedanken daran, wie ich womöglich anlässlich eines Symposiums eine flammende Rede halte, die beweisen soll, dass die Tierforschung irrt und nur ich, Larissa Wagner, die einzig Wissende bin, muss ich schon wieder ein wenig grinsen. Denn erstens bin ich nicht der Typ, der kluge Reden schwingt, schon gar nicht vor vielen Zuschauern, und zweitens wäre ich viel zu faul, um mich ernsthaft in die Materie zu vertiefen. Diese partielle Faulheit hat mich auch eine Ausbildung als Hotelkauffrau beginnen lassen, anstatt nach dem Abitur zu studieren.
Tja, fasse ich mich nun sozusagen an die eigene Nase - was unterscheidet dich an dieser Stelle eigentlich von Melanie? Die ist immerhin schwanger geworden, und das ist doch schon mal was. Zumindest wenn man zu dem Typ Frau gehört, deren Ziel es ist, eines Tages Ehefrau und Mutter zu sein. Melanie hatte wenigstens ein Ziel - ich dagegen habe momentan keines, so wie es aussieht.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Gabriella Engelmann
- 377 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004661
- ISBN-13: 9783868004663
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