Jenseits des Horizonts / Die Klingen der Rose Bd.1
Roman
England 1874: Als Captain Gabriel Huntley nach Jahren des Dienstes im Heer Ihrer Majestät in die Heimat zurückkehrt, wünscht er sich nichts sehnlicher, als eine Familie zu gründen. Doch als er in einer dunklen Gasse einem schwer verletzten Mann zu Hilfe...
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Produktinformationen zu „Jenseits des Horizonts / Die Klingen der Rose Bd.1 “
Klappentext zu „Jenseits des Horizonts / Die Klingen der Rose Bd.1 “
England 1874: Als Captain Gabriel Huntley nach Jahren des Dienstes im Heer Ihrer Majestät in die Heimat zurückkehrt, wünscht er sich nichts sehnlicher, als eine Familie zu gründen. Doch als er in einer dunklen Gasse einem schwer verletzten Mann zu Hilfe eilt, vertraut dieser ihm eine Botschaft an, die Huntleys Leben für immer verändern wird. Eine Geheimgesellschaft, die sich die Erben von Albion nennt, ist auf der Suche nach einer magischen Quelle, mit deren Hilfe sie die ganze Welt unter britische Herrschaft bringen will. Huntley begibt sich in die Mongolei, wo er auf die attraktive und selbstbewusste Thalia Burgess trifft, die sein Herz schon bald höher schlagen lässt. Gemeinsam setzen sie alles daran, um die Erben von Albion aufzuhalten.
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Die Klingen der Rose von Zoe Archer 2
Eine rätselhafte Nachricht
Urga, Äußere Mongolei. 1874. Drei Monate später.
Ein Engländer hielt sich in Urga auf.
Die Stadt war Fremde gewohnt. Halb Urga wurde von Chinesen bevölkert; Kaufleuten, die Handel trieben, und Manchubeamten, die das Reich der Quing verwalteten. Auch die Russen hatten einen kleinen Stützpunkt im Ort. Das russische Konsulat gehörte zu den wenigen modernen Gebäuden der Stadt, die überwiegend aus Filzzelten, den sogenannten Gers, und buddhistischen Tempeln bestand. Es schien also nicht ganz ungewöhnlich, dass sich ein Ausländer in der Stadt aufhielt.
Doch Engländer waren eher selten und für Thalia Burgess beunruhigend.
Sie eilte durch das, was man hier als Straßen bezeichnete, und drängte sich an den Menschen vorbei. Eine Menschenansammlung in einem so weiten offenen Land wirkte seltsam. Wie ein typischer Mongole war Thalia in einen Del gekleidet, eine dreiviertellange Tunika mit Stehkragen, die man an der rechten Schulter mit Knöpfen schloss. Um die Taille hatte sie eine Schärpe aus roter Seide gebunden. Darunter trug sie Hosen, die in Stiefeln mit nach oben gebogenen Spitzen steckten. Wie ihr Vater stammte Thalia aus England, doch beide lebten bereits so lange in der Mongolei, dass sie selbst den einsamsten Nomaden kaum noch auffielen. Niemand beachtete sie, als sie durch das Labyrinth aus Straßen zu den beiden Gers lief, die sie mit ihrem Vater bewohnte.
... mehr
Sie unterdrückte ihre aufsteigende Panik. Auf dem Markt hatte sie gehört, dass ein Engländer in diesen entlegenen Teil der Welt gekommen war. Das allein reichte, um sie zu beunruhigen. Noch schlimmer war, dass sich dieser Fremde nach ihrem Vater, Franklin Burgess, erkundigt hatte. Sie war sofort zurückgelaufen. Denn selbst mithilfe der Bediensteten war ihr Vater nicht in der Lage, sich gegen die Erben zu verteidigen.
Als Thalia durch die Straßen eilte, wich sie einer Gruppe Mönche in safrangelben Gewändern aus, darunter einige Jungen, die zu Lamas ausgebildet wurden. Als sie an einem Tempel vorbeikam, aus dem Mönchsgesang drang, blieb sie abrupt stehen. Sie drückte sich rücklings gegen die Mauer und versteckte sich hinter einer bemalten Säule.
Da war er. Der Engländer. Sie erkannte ihn sofort an seiner Kleidung - ein robuster Mantel, Khakihosen, hohe Stiefel und ein zerbeulter Filzhut mit breiter Krempe auf den blonden Haaren. Er führte Gepäck mit sich, und über seiner Schulter hing ein Gewehr in einem Futteral. An der linken Hüfte trug er eine Pistole, an der rechten ein Jagdmesser mit Horngriff. Die gesamte Ausstattung wirkte, als hätte er sie schon häufig benutzt. Ein Reisender. Er war groß und überragte die Menge beinahe um einen halben Kopf. Da er sich von ihr entfernte, konnte Thalia sein Gesicht nicht erkennen und wusste nicht zu sagen, ob er jung oder alt war. Sein lässiger, selbstbewusster Gang deutete allerdings eher auf einen jüngeren Mann hin. In seinem derzeitigen Zustand konnte ihr Vater es nicht mit einem jungen, gesunden, bewaffneten Mann aufnehmen.
Thalia stieß sich von der Säule ab und flitzte einen schmalen Gang zwischen den Gers hinunter. Wer auch immer dieser Mann war, er kannte sich in Urga nicht so gut aus wie sie. Sie konnte Abkürzungen nehmen und zumindest vor ihm zu Hause sein. Da ihr Vater einen Unfall gehabt hatte, hielten sie sich nun schon seit Monaten in Urga auf. Das Durcheinander ergab zwar immer noch keinen Sinn für sie, aber es war ihr vertraut, und sie fand sich darin zurecht.
Sie eilte an den Zäunen der Zelte entlang, schlängelte sich an Ziegen- und Schafherden, Pferden und Kamelen vorbei und wich wilden, zähnefletschenden Wachhunden aus. Als ein Hund in ihr Bein kniff, knurrte sie das Tier an, das daraufhin von ihr abließ. Geschickt wich sie einer Horde spielender Kinder aus. Im Schutz eines Gers erhaschte sie einen weiteren Blick auf den Engländer, diesmal auf sein Gesicht. Ja, er war jung, aber mehr konnte sie nicht sagen.
Vielleicht war er gar kein Erbe, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht handelte es sich bloß um einen Händler oder Wissenschaftler, der in der Äußeren Mongolei seiner Arbeit nachging und Menschen suchte, die seine Sprache verstanden. Sie lächelte grimmig. Das schien ihr nicht sehr wahrscheinlich. Niemand kam ohne besondere Absicht nach Urga. Und die Absicht des Engländers hatte mit ihnen zu tun.
Schließlich erreichte sie die zwei Gers auf ihrem Grundstück. Als Thalia durch die Tür in das Zelt ihres Vaters stürmte, saß er im Sessel und las. Das Mobiliar hätte genauso gut in einem mongolischen Ger stehen können. Auf die ausländischen Bewohner deuteten nur die englischen, russischen und französischen Bücher hin. Dass sie ihren Vater allein und unversehrt vorfand, erleichterte sie einen Augenblick. Franklin Burgess war fünfundfünfzig Jahre alt, seine ehemals schwarzen Haare und der Bart schimmerten silbrig, und das Leben in der freien Natur hatte feine Fältchen um seine grünen Augen gezeichnet. Fast die gesamten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens hatte Talia mit ihm allein gelebt und konnte sich eine Welt ohne ihn überhaupt nicht vorstellen. Das war für sie wie ein Leben ohne die Sonne. Kalt. Unerträglich.
Bei ihrem stürmischen Auftritt legte er sein Buch zur Seite und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Was ist los, Tsetseg?«, fragte er.
Thalia berichtete ihm rasch, was sie erfahren hatte, und ihr Vater runzelte die Stirn. »Ich habe ihn gesehen«, ergänzte sie. »Er wusste nicht, wo es langging, ist deshalb aber nicht gleich in Panik geraten. Er scheint ungewöhnliche Situationen gewohnt zu sein.«
»Könnte es sich um einen Erben handeln?«, fragte Franklin, während er die Brille absetzte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
Ihrem Empfinden nach zu ruhig sagte er: »Sei so lieb und reich mir mein Gewehr.« Thalia holte die Waffe ihres Vaters hervor. Franklin überzeugte sich, dass das Gewehr geladen war, und steckte es dann so hinter seinen Sessel, dass er leicht herankam. Dabei achtete er sorgsam auf sein rechtes Bein, das vor ihm auf einem niedrigen Hocker ruhte. Endlich begannen die Knochen zusammenzuwachsen. Nachdem die Heilung des bösen Bruchs sehr zögerlich vorangegangen war, wollten weder Thalia noch ihr Vater den Prozess durch irgendetwas gefährden. Wie durch ein Wunder hatte ihr Vater, nachdem er von einer Pferdeherde überrannt worden war, sich lediglich ein Bein gebrochen und ein paar Kratzer und Prellungen zurückbehalten. Es hätte deutlich schlimmer kommen können.
»Wir wissen also nicht, ob er ein Erbe ist«, stellte Franklin fest. Er blickte zu dem Turmfalken, den sie auf einer Stange neben dem Bücherbord hielten. Der Vogel wirkte nicht beunruhigt. Ein gutes Zeichen. »Nur für den Fall, dass er kein Erbe ist, wäre es vielleicht klug, wenn du ...« Er deutete auf ihr Del. Er selbst trug eine Mischung aus europäischer und mongolischer Kleidung.
Unter europäischen Männern war es durchaus üblich, sich der Landeskleidung anzupassen, doch das galt nicht für Frauen. Sollte sich dieser fremde Engländer lediglich als Händler oder Gelehrter entpuppen, machten sie sich womöglich verdächtig. Offiziell arbeiteten Franklin Burgess und seine Tochter Thalia als Anthropologen, die die Sitten des Landes erforschten.
Thalia blickte an sich herunter und schnitt eine Grimasse. »Was tue ich nicht alles für die Klingen«, murmelte sie. Ihr Vater lachte. Sie küsste ihn flüchtig auf seine stoppelige Wange und eilte in ihr Ger. Getrennte Zelte für Eltern und Kinder waren bei mongolischen Familien nicht üblich. Doch nach Thalias dreizehntem Geburtstag hielt ihr Vater es für ratsam, sich von den einheimischen Sitten zu distanzieren und seiner Tochter etwas Privatsphäre zu gönnen.
»Udval«, rief sie ihrer Dienerin auf Mongolisch zu, »bringst du mir bitte mein Kleid? Das englische? Es liegt ganz unten in der grünen Kiste.«
Thalia zog Del und Stiefel aus, während die Frau ihren Tee mit Milch zur Seite stellte, um nach dem selten getragenen Kleid zu suchen.
»Hier ist das Kleid, Thalia Guai.« Udval hielt das fragliche Kleidungsstück in der Hand. Zweifelnd blickte sie zwischen Thalia und dem hellblauen Kleid hin und her. »Ich glaube, es ist eingelaufen.«
Thalia stand in Unterhose und Unterkleid in der Mitte ihres Gers und unterdrückte ein Seufzen. »Nein, das Kleid hat sich nicht verändert, ich bin gewachsen.« Drei Inches, um genau zu sein. Thalia hatte das Kleid zum letzten Mal mit fünfzehn getragen. Als Mädchen war sie nicht auffallend groß gewesen, inzwischen jedoch zu einer großen Frau herangewachsen, die den meisten Männern auf Augenhöhe gegenübertreten konnte. Ihr Vater und sie hatten das Konfektionskleid in einem Geschäft an der Regent Street gekauft. Es war das letzte Relikt ihrer lange zurückliegenden Reise nach England. Zweifellos hatte sich die Mode stark verändert, doch Thalia besaß nicht die leiseste Ahnung, wie. Nur selten gelangte eine englische Frauenzeitschrift in die Äußere Mongolei.
»Wir müssen das Beste daraus machen«, erklärte sie Udval, die das Kleid hielt, während Thalia sich hineinkämpfte.
»Haben englische Frauen weniger Rippen?«, fragte Udval, während sie tapfer versuchte, das Kleid hinten zu schließen.
»Nein«, keuchte Thalia und versuchte, die Luft anzuhalten, »sie drücken ihre Rippen gern mit einem Korsett in ihre Organe.«
»Ah! Jetzt ist es zu, aber atmen Sie nicht zu tief ein. Was ist ein Korsett?«
Thalia zerrte an den Ärmeln, doch wenn sie das Kleid nicht zerreißen wollte, musste sie sich damit abfinden, dass sie nur bis zur Mitte ihrer Unterarme reichten. »Ein Folterinstrument, das Rippen und Bauch einer Frau zusammenpresst.«
Udval wirkte schockiert. »Wieso tun die englischen Männer ihren Frauen das an?«
»Weil die Frauen wesentlich gescheiter als die Männer sind«, erwiderte Thalia. Sie schüttelte die üppigen Röcke aus, die schlaff auf den Boden herabhingen. Ohne eine Krinoline sah das Kleid aus wie ein altes Zirkuszelt. Thalia fiel ein, dass sie die dazugehörigen feinen Schuhe nicht mehr besaß, aber in die würde sie ohnehin nicht mehr hineinpassen. Sie schob die Füße zurück in ihre mongolischen Stiefel. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
Als sie sich auf den Weg zur Tür machte, fiel ihr der Handspiegel ihrer Mutter ein, den sie nach ihrem Tod geerbt hatte. Sie bewahrte ihn zusammen mit anderen Erinnerungsstücken in einer Schmuckschachtel auf. Thalia holte ihn heraus und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. Die Engländerinnen steckten sich die Haare hoch. Also nahm Thalia ihre schweren dunklen Haare und band sie hastig zu einem Knoten, der sich jedoch umgehend wieder auflöste. In der Schachtel fand sie ein paar Klammern, mit denen sie die Haare einigermaßen bändigen konnte. Sie besaß keine Kosmetika, um ihre verräterisch geröteten Wangen oder das Strahlen in ihren jadegrünen Augen zu kaschieren; beides war ein Resultat der vielen Ritte unter dem weiten mongolischen Himmel. Ihr fiel ein, dass Engländer blasse zarte Frauen bevorzugten. Thalia war weder das eine noch das andere.
Was spielte das für eine Rolle? Sie wollte sich nur davon überzeugen, dass der neugierige Fremde kein Erbe war, oder jemand anders, der ihr und ihrem Vater schaden konnte. Zum Henker mit der Mode.
Thalia lief zurück zum Ger ihres Vaters und fluchte, weil das enge Kleid sie in die Seiten kniff. Batu, ihr anderer Diener, folgte ihr und machte beim Anblick ihres Kleides Erstickungsgeräusche. Sie bedachte ihn mit einem überaus finsteren Blick, bei dem weniger mutige Männer die Flucht ergriffen hätten. Aber Batu kannte sie seit ihrer Kindheit und kicherte in sich hinein, während er sich anschickte, die überall im Ger verstreuten Bücher wegzuräumen.
Als Franklin sie sah, hob er die Brauen.
»Du siehst ...«
»... lustig aus«, beendete Thalia den Satz an seiner Stelle.
»Nun, ja«, gab ihr Vater zu. »Ich wollte aber auch ›reizend‹ sagen.«
Thalia trat vor eine der bemalten Kisten, holte den selten benutzten Revolver ihres Vaters heraus und prüfte, ob er geladen war. »Beides zusammen ist schlecht möglich.«
Bevor ihr Vater etwas erwidern konnte, klopfte es an der Holztür des Zeltes. Ihr Vater rief: »Herein«, und die Tür schwang auf.
Thalia versteckte die Hand mit dem Revolver hinter ihrem Rücken und stand angespannt neben dem Sessel ihres Vaters. Sie fragte sich, was für ein Mann über die Schwelle treten würde. Musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer Waffe auf einen Menschen schießen?
Der Mann duckte sich unter der Tür hindurch und setzte sogleich den Hut ab, unter dem kurz geschnittene weizenblonde Haare zum Vorschein kamen. Er war nicht wirklich gut aussehend, doch er strahlte Selbstsicherheit und Autorität aus, was ihm durchaus zum Vorteil gereichte. Das Gesicht schmal und zerfurcht, die Gesichtszüge markant; er wirkte alles andere als vornehm oder elegant, überhaupt nicht salonfähig. Die sorgfältige Rasur betonte seine harten Gesichtszüge. Er wirkte nicht wie ein Adeliger, sondern als hätte er für alles in seinem Leben hart gekämpft. Selbst in dem gedämpften Licht des Gers erkannte Thalia den intelligenten Ausdruck in seinen golden schimmernden Augen, denen nichts zu entgehen schien. Er blickte sich im Zelt um und wandte sich schließlich an Thalia und ihren Vater.
»Franklin Burgess?«, fragte er.
»Ja, Sir«, antwortete ihr Vater wachsam. »Meine Tochter Thalia.«
Als sie den durchdringenden Blick des Fremden auf sich spürte, deutete sie einen Knicks an. Überraschenderweise errötete sie.
»Und Sie sind ...?«, drängte ihr Vater.
»Hauptmann Gabriel Huntley«, lautete die Antwort. Gewissermaßen passte der Offiziersrang zu seinem sicheren Auftreten. »Vom dreiunddreißigsten Regiment.« Thalia wusste nicht, ob sie sich schon entspannen konnte, denn Erben fanden sich bekanntermaßen auch in den Reihen des Militärs. Sie musterte kurz die breiten Schultern des Hauptmanns und stellte fest, dass er selbst dann gefährlich wirkte, wenn er ganz ruhig dastand. Hauptmann Huntley wäre eine Bereicherung für die Erben.
Er hatte etwas Magisches an sich, etwas, das die Luft im Ger elektrisierte und ihre Aufmerksamkeit fesselte. Sein markantes Gesicht, sein muskulöser Körper, die Art, wie er sein Gepäck trug - alles an ihm wirkte unglaublich männlich. Wie schrecklich wäre es, wenn der erste Mann, der seit Jahren ihr Interesse erregte, sich als Feind entpuppte. Ihr ehemaliger Verehrer Sergej gehörte jetzt zu ihren Feinden, allerdings auf andere Art.
»Sie tragen keine Uniform, Hauptmann Huntley«, stellte ihr Vater fest.
Zum ersten Mal seit seinem Eintreten ließ die Anspannung des Hauptmanns etwas nach. »Ich bin in einer inoffiziellen Angelegenheit hier.« Er besaß eine raue Stimme und sprach mit einem Akzent, den Thalia nicht zuordnen konnte. Anders als die Freunde ihres Vaters, irgendwie herber, doch mit einem angenehmen melodischen Klang, der über ihren Rücken tanzte.
»Und was für eine Angelegenheit ist das?«, fragte sie. Thalia bemerkte zu spät, dass eine gesittete Engländerin weder einfach das Wort ergriffen noch eine so vorlaute Frage gestellt hätte. Zum Teufel, sollte Hauptmann Huntley tatsächlich ein Erbe sein, spielten Höflichkeiten keine Rolle.
Sein Blick flog zurück zu ihr. Obwohl ein tiefes Beben in ihr pulsierte, wich sie ihm nicht aus. Gott, jetzt, da ihre Blicke sich trafen, war das seltsame Gefühl, das er in ihr entfachte, noch hundertmal stärker. Sie sah, wie er sie mit seinem Blick maß, und versuchte, sich von der unverhohlenen Musterung nicht verunsichern zu lassen. Sie fragte sich, ob sie in ihm das gleiche Interesse weckte, ob ihre Blicke seinen Magen ebenfalls in Aufruhr versetzten. Thalia bezweifelte es. Sie war keine Schönheit. Zu groß, die Gesichtszüge zu grob. Nun kam auch noch dieses unglückliche Kleid hinzu. Außerdem wirkte er nicht wie ein Mann, den irgendetwas in Aufruhr versetzte.
Obwohl ... vielleicht täuschte sie sich. Er stand zwar auf der anderen Seite des Gers, doch Thalia spürte, wie er sie mit einer Intensität musterte, die beinahe aufdringlich wirkte. Wie gebannt.
Thalia wusste nicht viel von gesellschaftlichen Normen, doch ganz sicher geziemte es sich für einen Gentleman nicht, eine Frau derart anzustarren. Seltsam. Normalerweise entstammten Offiziere einer höheren Klasse. Er müsste es besser wissen. Sie allerdings auch.
»Als Bote«, erwiderte er, ohne den Blick von Thalia zu lösen, »für Anthony Morris.«
Genau wie ihr Vater horchte sie bei diesem Namen auf.
»Was ist mit Morris?«, fragte er. »Anstatt einen Boten zu schicken, sollte er selbst kommen.«
Der Hauptmann riss den Blick von Thalia los und wandte sich ihrem Vater zu. Plötzlich wirkte er erschöpft und traurig.
»Mister Morris ist tot, Sir.«
Thalia schnappte nach Luft, und ihr Vater schrie entsetzt auf. Tony Morris gehörte zu seinen engsten Freunden. Als ihr Vater die Brille abnahm und die Augen mit der Hand verdeckte, legte Thalia ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Tony war für ihren Vater wie ein jüngerer Bruder gewesen. Dass er tot sein sollte - ihre Hände zitterten. Das konnte nicht wahr sein. Er war so fröhlich und gut und ... Gott, ihr Hals brannte von den zurückgehaltenen Tränen. Sie schluckte schwer, unterdrückte ihren Kummer und hob den Blick. Sie wollte nicht vor den Augen eines Fremden weinen.
Der Hauptmann hielt respektvoll den Kopf gesenkt und betrachtete seine Hände, die fest den Rand seines Hutes umklammerten. Durch den Schleier ihrer Trauer begriff Thalia, dass der Hauptmann so etwas nicht zum ersten Mal machte. Nicht zum ersten Mal überbrachte er Freunden und Familien von Verstorbenen die traurige Botschaft. Was für eine grässliche Aufgabe, das wünschte sie niemandem.
Sie versuchte zu sprechen, aber ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Wie ist es passiert?«
Der Hauptmann räusperte sich und sah zu Franklin. Er schien ihren Blick bewusst zu meiden. »Vielleicht ist das nichts für die Ohren ... junger Damen.«
Trotz ihres Kummers unterdrückte Thalia ein verächtliches Schnauben. Der Mann kannte sie nicht. Zum Glück sagte ihr Vater mit rauer Stimme: »Bitte sprechen Sie ganz offen in Thalias Gegenwart. Sie verfügt über eine bemerkenswert starke Natur.«
Hauptmann Huntleys Blick zuckte kurz zurück zu ihr, dann fixierte er ihren Vater. Erstaunt bemerkte sie, dass dieser starke Mann nervös wirkte - und dass offenbar sie diese Nervosität bewirkte. Vielleicht hatte es mit der Art seiner Nachricht zu tun, die nicht für die Ohren junger Damen bestimmt war. Oder vielleicht fühlte auch er, dass zwischen ihnen etwas vor sich ging, etwas Unmittelbares, etwas Starkes. Sie wollte nicht darüber nachdenken, zu heftig war der Schmerz über den Tod von Tony Morris.
Nachdem er sich noch einmal geräuspert hatte, erklärte der Hauptmann: »Man hat ihn umgebracht, Sir. In Southampton.«
»So nah!«, schrie Franklin auf. »Direkt vor unserer Haustür.«
»Das weiß ich nicht, Sir, aber eine Gruppe von Männern hat ihn in einer Gasse überfallen.« Hauptmann Huntley schwieg, während Thalias Vater fluchte. »Sie waren deutlich in der Überzahl, aber er hat bis zum Ende mutig gekämpft.«
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Thalia. Wenn über Tonys Tod in der Zeitung berichtet worden wäre, würde jetzt jemand anders in ihrem Ger stehen, Bennett Day oder Catullus Graves. Thalia sehnte sich danach, einen von ihnen zu sehen und ihre Trauer mit ihnen zu teilen, anstatt mit diesem Mann, der sie durch seine bloße Anwesenheit beunruhigte.
Wieder glitt der Blick des Hauptmanns kurz zu ihr. Sie wehrte sich gegen ihre unmittelbare körperliche Reaktion und versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. »Ich war dabei, als es passiert ist, Miss. Ich kam zufällig vorbei, als ich hörte, wie Morris angegriffen wurde. Da habe ich ihm geholfen.« Er verzog das Gesicht. »Aber es waren zu viele. Und als ich ihm kurz den Rücken zuwandte, hat einer von ihnen auf ihn eingestochen - ein blonder Mann, der wie ein feiner Pinkel geredet hat. Wie ein Gentleman, meine ich.«
»Henry Lamb?«, fragte Franklin und hob den Blick zu Thalia. Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Vater wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Hauptmann zu und sagte mit schneidender Stimme: »Sie behaupten, Sie wären bloß ›zufällig vorbeigekommen‹, hätten die Schlägerei gehört und ›ihm geholfen‹. Das hört sich in meinen Ohren ziemlich verdächtig an.« Thalia musste ihrem Vater recht geben. Welcher Mann kam zufällig an einem Kampf vorbei und eilte dem Opfer zu Hilfe? Wer stürzte sich zugunsten eines Fremden in eine Schlägerei? Wohl niemand.
Hauptmann Huntley biss wütend die Zähne zusammen. »Verdächtig oder nicht, Sir, so ist es gewesen. Morris hat mir sogar noch kurz vor seinem Ende das Leben gerettet. Deshalb musste ich seiner Bitte nachkommen und Ihnen diese Nachricht überbringen. «
»Sie sind den ganzen Weg von Southampton nach Urga gekommen, um die Bitte eines sterbenden Mannes zu erfüllen, dem Sie nie zuvor begegnet sind?«, wiederholte Thalia ungläubig.
Der Hauptmann hielt es nicht für nötig, ihr zu antworten. »Morris hat gesagt, man dürfe sie nicht aufschreiben«, wandte er sich weiter an ihren Vater. Dass er sie ignorierte, missfiel Thalia. »Seit fast drei Monaten habe ich diese Nachricht nun in meinem Kopf. Für mich ergibt sie keinen Sinn. Vielleicht verstehen Sie, was sie bedeutet, Sir. So sehr ich es auch versucht habe, ich werde nicht schlau daraus.«
»Bitte«, sagte ihr Vater und forderte Hauptmann Huntley mit einer Geste auf fortzufahren.
»Die Nachricht lautet: ›Die Erben sind überlegen. Sucht nach der Frau, die die Schildkröte füttert.‹«
Er wartete auf ihre Reaktion und wirkte ziemlich überrascht, als ihr Vater erneut fluchte und Thalia sich an einem nahe stehenden Tisch abstützte. Ihr war schwindelig geworden. Es war so weit. »Sie wissen, was es bedeutet?«, fragte der Hauptmann.
Franklin nickte, ballte die Hände zu Fäusten und löste sie wieder. Thalia klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und nagte nachdenklich an ihr.
Sie hatte gewusst, dass das irgendwann passieren würde, aber nicht wann. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Wenn es stimmte, was Hauptmann Huntley sagte, mussten sie rasch aufbrechen. Aber das setzte voraus, dass er die Wahrheit sagte.
»Wir wissen nicht, ob wir Ihnen trauen können, Hauptmann«, sagte Thalia. Sie schritt trotz ihres engen, unbequemen Kleides direkt auf Hauptmann Huntley zu und blieb kurz vor ihm stehen. Er spannte sich leicht an. Sein Blick zuckte hinunter zu dem Revolver in ihrer Hand, und er hob die Brauen.
»Eine nette Begrüßung für einen müden Reisenden«, sagte er langsam.
»Ich hoffe«, erwiderte sie, »dass ich ihn nicht benutzen muss.«
»Ich hoffe, dass ich ihn Ihnen nicht abnehmen muss«, berichtigte er.
Sie musterte ihn ganz bewusst von den Spitzen seiner schweren, abgetragenen Stiefel bis zu den blonden Haaren - es dauerte lange und brachte ihr leider nur noch stärker seine Kraft und Größe zu Bewusstsein. Auch ohne Uniform strahlte er Disziplin und Sinnlichkeit aus. Kein Gelehrter, ein Mann der Tat. Abgesehen von den Mitgliedern der Klingen zeigten nur wenige Männer eine solche Präsenz. Thalia versuchte, nicht weiter darauf zu achten, doch nachdem sie ihn beinahe berühren konnte, schien das unmöglich. Sie roch an ihm den Staub der Straße, den Duft von Wind und Leder. Den Geruch eines Mannes.
Sie konzentrierte sich und sagte: »Sie könnten Anthony Morris selbst getötet haben und versuchen, uns in eine Falle zu locken.« Beide, sowohl sie als auch ihr Vater, blickten zu dem Turmfalken auf seiner Stange, doch der Vogel wirkte nicht beunruhigt. Das allein reichte allerdings nicht als Hinweis.
»Ich habe genug von Ihren Verdächtigungen«, knurrte Hauptmann Huntley, seine bernsteinfarbenen Augen funkelten. Er war es ganz offenbar nicht gewohnt, dass man an ihm zweifelte. Wie dumm.
»Wenn Sie wüssten, was auf dem Spiel steht«, schoss Thalia zurück, »würden Sie verstehen, dass ich vorsichtig sein muss.«
»Ich weiß nicht, was auf dem Spiel steht«, brummte der Hauptmann. »Aber hier ist ein weiterer Beweis.« Er griff in seine Tasche. Thalia umfasste ihren Revolver fester und bereitete sich darauf vor, ihn zu spannen. Mit versteinerter Miene blickte Hauptmann Huntley über Thalias Schulter hinweg. Sie folgte seinem Blick und sah, dass ihr Vater mit seinem Gewehr auf den Kopf des Hauptmanns zielte. Als wäre er es gewohnt, dass man eindrucksvolle Waffen auf seinen Kopf richtete, griff Hauptmann Huntley gelassen in seine Tasche und streckte ihnen etwas entgegen. Thalia rang nach Luft.
Der Kompass.
»Den hat mir Morris gegeben«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich sollte ihn mit den Worten ›Ewig ist der Norden‹ an Sie übergeben.« Er reichte ihn ihrem Vater.
Thalia starrte auf den Kompass in der Hand ihres Vaters und spürte, dass etwas Großes seinen Anfang nahm.
Alles, was Hauptmann Huntley gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Ihre Feinde waren auf dem Vormarsch.
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Sie unterdrückte ihre aufsteigende Panik. Auf dem Markt hatte sie gehört, dass ein Engländer in diesen entlegenen Teil der Welt gekommen war. Das allein reichte, um sie zu beunruhigen. Noch schlimmer war, dass sich dieser Fremde nach ihrem Vater, Franklin Burgess, erkundigt hatte. Sie war sofort zurückgelaufen. Denn selbst mithilfe der Bediensteten war ihr Vater nicht in der Lage, sich gegen die Erben zu verteidigen.
Als Thalia durch die Straßen eilte, wich sie einer Gruppe Mönche in safrangelben Gewändern aus, darunter einige Jungen, die zu Lamas ausgebildet wurden. Als sie an einem Tempel vorbeikam, aus dem Mönchsgesang drang, blieb sie abrupt stehen. Sie drückte sich rücklings gegen die Mauer und versteckte sich hinter einer bemalten Säule.
Da war er. Der Engländer. Sie erkannte ihn sofort an seiner Kleidung - ein robuster Mantel, Khakihosen, hohe Stiefel und ein zerbeulter Filzhut mit breiter Krempe auf den blonden Haaren. Er führte Gepäck mit sich, und über seiner Schulter hing ein Gewehr in einem Futteral. An der linken Hüfte trug er eine Pistole, an der rechten ein Jagdmesser mit Horngriff. Die gesamte Ausstattung wirkte, als hätte er sie schon häufig benutzt. Ein Reisender. Er war groß und überragte die Menge beinahe um einen halben Kopf. Da er sich von ihr entfernte, konnte Thalia sein Gesicht nicht erkennen und wusste nicht zu sagen, ob er jung oder alt war. Sein lässiger, selbstbewusster Gang deutete allerdings eher auf einen jüngeren Mann hin. In seinem derzeitigen Zustand konnte ihr Vater es nicht mit einem jungen, gesunden, bewaffneten Mann aufnehmen.
Thalia stieß sich von der Säule ab und flitzte einen schmalen Gang zwischen den Gers hinunter. Wer auch immer dieser Mann war, er kannte sich in Urga nicht so gut aus wie sie. Sie konnte Abkürzungen nehmen und zumindest vor ihm zu Hause sein. Da ihr Vater einen Unfall gehabt hatte, hielten sie sich nun schon seit Monaten in Urga auf. Das Durcheinander ergab zwar immer noch keinen Sinn für sie, aber es war ihr vertraut, und sie fand sich darin zurecht.
Sie eilte an den Zäunen der Zelte entlang, schlängelte sich an Ziegen- und Schafherden, Pferden und Kamelen vorbei und wich wilden, zähnefletschenden Wachhunden aus. Als ein Hund in ihr Bein kniff, knurrte sie das Tier an, das daraufhin von ihr abließ. Geschickt wich sie einer Horde spielender Kinder aus. Im Schutz eines Gers erhaschte sie einen weiteren Blick auf den Engländer, diesmal auf sein Gesicht. Ja, er war jung, aber mehr konnte sie nicht sagen.
Vielleicht war er gar kein Erbe, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht handelte es sich bloß um einen Händler oder Wissenschaftler, der in der Äußeren Mongolei seiner Arbeit nachging und Menschen suchte, die seine Sprache verstanden. Sie lächelte grimmig. Das schien ihr nicht sehr wahrscheinlich. Niemand kam ohne besondere Absicht nach Urga. Und die Absicht des Engländers hatte mit ihnen zu tun.
Schließlich erreichte sie die zwei Gers auf ihrem Grundstück. Als Thalia durch die Tür in das Zelt ihres Vaters stürmte, saß er im Sessel und las. Das Mobiliar hätte genauso gut in einem mongolischen Ger stehen können. Auf die ausländischen Bewohner deuteten nur die englischen, russischen und französischen Bücher hin. Dass sie ihren Vater allein und unversehrt vorfand, erleichterte sie einen Augenblick. Franklin Burgess war fünfundfünfzig Jahre alt, seine ehemals schwarzen Haare und der Bart schimmerten silbrig, und das Leben in der freien Natur hatte feine Fältchen um seine grünen Augen gezeichnet. Fast die gesamten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens hatte Talia mit ihm allein gelebt und konnte sich eine Welt ohne ihn überhaupt nicht vorstellen. Das war für sie wie ein Leben ohne die Sonne. Kalt. Unerträglich.
Bei ihrem stürmischen Auftritt legte er sein Buch zur Seite und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Was ist los, Tsetseg?«, fragte er.
Thalia berichtete ihm rasch, was sie erfahren hatte, und ihr Vater runzelte die Stirn. »Ich habe ihn gesehen«, ergänzte sie. »Er wusste nicht, wo es langging, ist deshalb aber nicht gleich in Panik geraten. Er scheint ungewöhnliche Situationen gewohnt zu sein.«
»Könnte es sich um einen Erben handeln?«, fragte Franklin, während er die Brille absetzte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
Ihrem Empfinden nach zu ruhig sagte er: »Sei so lieb und reich mir mein Gewehr.« Thalia holte die Waffe ihres Vaters hervor. Franklin überzeugte sich, dass das Gewehr geladen war, und steckte es dann so hinter seinen Sessel, dass er leicht herankam. Dabei achtete er sorgsam auf sein rechtes Bein, das vor ihm auf einem niedrigen Hocker ruhte. Endlich begannen die Knochen zusammenzuwachsen. Nachdem die Heilung des bösen Bruchs sehr zögerlich vorangegangen war, wollten weder Thalia noch ihr Vater den Prozess durch irgendetwas gefährden. Wie durch ein Wunder hatte ihr Vater, nachdem er von einer Pferdeherde überrannt worden war, sich lediglich ein Bein gebrochen und ein paar Kratzer und Prellungen zurückbehalten. Es hätte deutlich schlimmer kommen können.
»Wir wissen also nicht, ob er ein Erbe ist«, stellte Franklin fest. Er blickte zu dem Turmfalken, den sie auf einer Stange neben dem Bücherbord hielten. Der Vogel wirkte nicht beunruhigt. Ein gutes Zeichen. »Nur für den Fall, dass er kein Erbe ist, wäre es vielleicht klug, wenn du ...« Er deutete auf ihr Del. Er selbst trug eine Mischung aus europäischer und mongolischer Kleidung.
Unter europäischen Männern war es durchaus üblich, sich der Landeskleidung anzupassen, doch das galt nicht für Frauen. Sollte sich dieser fremde Engländer lediglich als Händler oder Gelehrter entpuppen, machten sie sich womöglich verdächtig. Offiziell arbeiteten Franklin Burgess und seine Tochter Thalia als Anthropologen, die die Sitten des Landes erforschten.
Thalia blickte an sich herunter und schnitt eine Grimasse. »Was tue ich nicht alles für die Klingen«, murmelte sie. Ihr Vater lachte. Sie küsste ihn flüchtig auf seine stoppelige Wange und eilte in ihr Ger. Getrennte Zelte für Eltern und Kinder waren bei mongolischen Familien nicht üblich. Doch nach Thalias dreizehntem Geburtstag hielt ihr Vater es für ratsam, sich von den einheimischen Sitten zu distanzieren und seiner Tochter etwas Privatsphäre zu gönnen.
»Udval«, rief sie ihrer Dienerin auf Mongolisch zu, »bringst du mir bitte mein Kleid? Das englische? Es liegt ganz unten in der grünen Kiste.«
Thalia zog Del und Stiefel aus, während die Frau ihren Tee mit Milch zur Seite stellte, um nach dem selten getragenen Kleid zu suchen.
»Hier ist das Kleid, Thalia Guai.« Udval hielt das fragliche Kleidungsstück in der Hand. Zweifelnd blickte sie zwischen Thalia und dem hellblauen Kleid hin und her. »Ich glaube, es ist eingelaufen.«
Thalia stand in Unterhose und Unterkleid in der Mitte ihres Gers und unterdrückte ein Seufzen. »Nein, das Kleid hat sich nicht verändert, ich bin gewachsen.« Drei Inches, um genau zu sein. Thalia hatte das Kleid zum letzten Mal mit fünfzehn getragen. Als Mädchen war sie nicht auffallend groß gewesen, inzwischen jedoch zu einer großen Frau herangewachsen, die den meisten Männern auf Augenhöhe gegenübertreten konnte. Ihr Vater und sie hatten das Konfektionskleid in einem Geschäft an der Regent Street gekauft. Es war das letzte Relikt ihrer lange zurückliegenden Reise nach England. Zweifellos hatte sich die Mode stark verändert, doch Thalia besaß nicht die leiseste Ahnung, wie. Nur selten gelangte eine englische Frauenzeitschrift in die Äußere Mongolei.
»Wir müssen das Beste daraus machen«, erklärte sie Udval, die das Kleid hielt, während Thalia sich hineinkämpfte.
»Haben englische Frauen weniger Rippen?«, fragte Udval, während sie tapfer versuchte, das Kleid hinten zu schließen.
»Nein«, keuchte Thalia und versuchte, die Luft anzuhalten, »sie drücken ihre Rippen gern mit einem Korsett in ihre Organe.«
»Ah! Jetzt ist es zu, aber atmen Sie nicht zu tief ein. Was ist ein Korsett?«
Thalia zerrte an den Ärmeln, doch wenn sie das Kleid nicht zerreißen wollte, musste sie sich damit abfinden, dass sie nur bis zur Mitte ihrer Unterarme reichten. »Ein Folterinstrument, das Rippen und Bauch einer Frau zusammenpresst.«
Udval wirkte schockiert. »Wieso tun die englischen Männer ihren Frauen das an?«
»Weil die Frauen wesentlich gescheiter als die Männer sind«, erwiderte Thalia. Sie schüttelte die üppigen Röcke aus, die schlaff auf den Boden herabhingen. Ohne eine Krinoline sah das Kleid aus wie ein altes Zirkuszelt. Thalia fiel ein, dass sie die dazugehörigen feinen Schuhe nicht mehr besaß, aber in die würde sie ohnehin nicht mehr hineinpassen. Sie schob die Füße zurück in ihre mongolischen Stiefel. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
Als sie sich auf den Weg zur Tür machte, fiel ihr der Handspiegel ihrer Mutter ein, den sie nach ihrem Tod geerbt hatte. Sie bewahrte ihn zusammen mit anderen Erinnerungsstücken in einer Schmuckschachtel auf. Thalia holte ihn heraus und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. Die Engländerinnen steckten sich die Haare hoch. Also nahm Thalia ihre schweren dunklen Haare und band sie hastig zu einem Knoten, der sich jedoch umgehend wieder auflöste. In der Schachtel fand sie ein paar Klammern, mit denen sie die Haare einigermaßen bändigen konnte. Sie besaß keine Kosmetika, um ihre verräterisch geröteten Wangen oder das Strahlen in ihren jadegrünen Augen zu kaschieren; beides war ein Resultat der vielen Ritte unter dem weiten mongolischen Himmel. Ihr fiel ein, dass Engländer blasse zarte Frauen bevorzugten. Thalia war weder das eine noch das andere.
Was spielte das für eine Rolle? Sie wollte sich nur davon überzeugen, dass der neugierige Fremde kein Erbe war, oder jemand anders, der ihr und ihrem Vater schaden konnte. Zum Henker mit der Mode.
Thalia lief zurück zum Ger ihres Vaters und fluchte, weil das enge Kleid sie in die Seiten kniff. Batu, ihr anderer Diener, folgte ihr und machte beim Anblick ihres Kleides Erstickungsgeräusche. Sie bedachte ihn mit einem überaus finsteren Blick, bei dem weniger mutige Männer die Flucht ergriffen hätten. Aber Batu kannte sie seit ihrer Kindheit und kicherte in sich hinein, während er sich anschickte, die überall im Ger verstreuten Bücher wegzuräumen.
Als Franklin sie sah, hob er die Brauen.
»Du siehst ...«
»... lustig aus«, beendete Thalia den Satz an seiner Stelle.
»Nun, ja«, gab ihr Vater zu. »Ich wollte aber auch ›reizend‹ sagen.«
Thalia trat vor eine der bemalten Kisten, holte den selten benutzten Revolver ihres Vaters heraus und prüfte, ob er geladen war. »Beides zusammen ist schlecht möglich.«
Bevor ihr Vater etwas erwidern konnte, klopfte es an der Holztür des Zeltes. Ihr Vater rief: »Herein«, und die Tür schwang auf.
Thalia versteckte die Hand mit dem Revolver hinter ihrem Rücken und stand angespannt neben dem Sessel ihres Vaters. Sie fragte sich, was für ein Mann über die Schwelle treten würde. Musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer Waffe auf einen Menschen schießen?
Der Mann duckte sich unter der Tür hindurch und setzte sogleich den Hut ab, unter dem kurz geschnittene weizenblonde Haare zum Vorschein kamen. Er war nicht wirklich gut aussehend, doch er strahlte Selbstsicherheit und Autorität aus, was ihm durchaus zum Vorteil gereichte. Das Gesicht schmal und zerfurcht, die Gesichtszüge markant; er wirkte alles andere als vornehm oder elegant, überhaupt nicht salonfähig. Die sorgfältige Rasur betonte seine harten Gesichtszüge. Er wirkte nicht wie ein Adeliger, sondern als hätte er für alles in seinem Leben hart gekämpft. Selbst in dem gedämpften Licht des Gers erkannte Thalia den intelligenten Ausdruck in seinen golden schimmernden Augen, denen nichts zu entgehen schien. Er blickte sich im Zelt um und wandte sich schließlich an Thalia und ihren Vater.
»Franklin Burgess?«, fragte er.
»Ja, Sir«, antwortete ihr Vater wachsam. »Meine Tochter Thalia.«
Als sie den durchdringenden Blick des Fremden auf sich spürte, deutete sie einen Knicks an. Überraschenderweise errötete sie.
»Und Sie sind ...?«, drängte ihr Vater.
»Hauptmann Gabriel Huntley«, lautete die Antwort. Gewissermaßen passte der Offiziersrang zu seinem sicheren Auftreten. »Vom dreiunddreißigsten Regiment.« Thalia wusste nicht, ob sie sich schon entspannen konnte, denn Erben fanden sich bekanntermaßen auch in den Reihen des Militärs. Sie musterte kurz die breiten Schultern des Hauptmanns und stellte fest, dass er selbst dann gefährlich wirkte, wenn er ganz ruhig dastand. Hauptmann Huntley wäre eine Bereicherung für die Erben.
Er hatte etwas Magisches an sich, etwas, das die Luft im Ger elektrisierte und ihre Aufmerksamkeit fesselte. Sein markantes Gesicht, sein muskulöser Körper, die Art, wie er sein Gepäck trug - alles an ihm wirkte unglaublich männlich. Wie schrecklich wäre es, wenn der erste Mann, der seit Jahren ihr Interesse erregte, sich als Feind entpuppte. Ihr ehemaliger Verehrer Sergej gehörte jetzt zu ihren Feinden, allerdings auf andere Art.
»Sie tragen keine Uniform, Hauptmann Huntley«, stellte ihr Vater fest.
Zum ersten Mal seit seinem Eintreten ließ die Anspannung des Hauptmanns etwas nach. »Ich bin in einer inoffiziellen Angelegenheit hier.« Er besaß eine raue Stimme und sprach mit einem Akzent, den Thalia nicht zuordnen konnte. Anders als die Freunde ihres Vaters, irgendwie herber, doch mit einem angenehmen melodischen Klang, der über ihren Rücken tanzte.
»Und was für eine Angelegenheit ist das?«, fragte sie. Thalia bemerkte zu spät, dass eine gesittete Engländerin weder einfach das Wort ergriffen noch eine so vorlaute Frage gestellt hätte. Zum Teufel, sollte Hauptmann Huntley tatsächlich ein Erbe sein, spielten Höflichkeiten keine Rolle.
Sein Blick flog zurück zu ihr. Obwohl ein tiefes Beben in ihr pulsierte, wich sie ihm nicht aus. Gott, jetzt, da ihre Blicke sich trafen, war das seltsame Gefühl, das er in ihr entfachte, noch hundertmal stärker. Sie sah, wie er sie mit seinem Blick maß, und versuchte, sich von der unverhohlenen Musterung nicht verunsichern zu lassen. Sie fragte sich, ob sie in ihm das gleiche Interesse weckte, ob ihre Blicke seinen Magen ebenfalls in Aufruhr versetzten. Thalia bezweifelte es. Sie war keine Schönheit. Zu groß, die Gesichtszüge zu grob. Nun kam auch noch dieses unglückliche Kleid hinzu. Außerdem wirkte er nicht wie ein Mann, den irgendetwas in Aufruhr versetzte.
Obwohl ... vielleicht täuschte sie sich. Er stand zwar auf der anderen Seite des Gers, doch Thalia spürte, wie er sie mit einer Intensität musterte, die beinahe aufdringlich wirkte. Wie gebannt.
Thalia wusste nicht viel von gesellschaftlichen Normen, doch ganz sicher geziemte es sich für einen Gentleman nicht, eine Frau derart anzustarren. Seltsam. Normalerweise entstammten Offiziere einer höheren Klasse. Er müsste es besser wissen. Sie allerdings auch.
»Als Bote«, erwiderte er, ohne den Blick von Thalia zu lösen, »für Anthony Morris.«
Genau wie ihr Vater horchte sie bei diesem Namen auf.
»Was ist mit Morris?«, fragte er. »Anstatt einen Boten zu schicken, sollte er selbst kommen.«
Der Hauptmann riss den Blick von Thalia los und wandte sich ihrem Vater zu. Plötzlich wirkte er erschöpft und traurig.
»Mister Morris ist tot, Sir.«
Thalia schnappte nach Luft, und ihr Vater schrie entsetzt auf. Tony Morris gehörte zu seinen engsten Freunden. Als ihr Vater die Brille abnahm und die Augen mit der Hand verdeckte, legte Thalia ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Tony war für ihren Vater wie ein jüngerer Bruder gewesen. Dass er tot sein sollte - ihre Hände zitterten. Das konnte nicht wahr sein. Er war so fröhlich und gut und ... Gott, ihr Hals brannte von den zurückgehaltenen Tränen. Sie schluckte schwer, unterdrückte ihren Kummer und hob den Blick. Sie wollte nicht vor den Augen eines Fremden weinen.
Der Hauptmann hielt respektvoll den Kopf gesenkt und betrachtete seine Hände, die fest den Rand seines Hutes umklammerten. Durch den Schleier ihrer Trauer begriff Thalia, dass der Hauptmann so etwas nicht zum ersten Mal machte. Nicht zum ersten Mal überbrachte er Freunden und Familien von Verstorbenen die traurige Botschaft. Was für eine grässliche Aufgabe, das wünschte sie niemandem.
Sie versuchte zu sprechen, aber ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Wie ist es passiert?«
Der Hauptmann räusperte sich und sah zu Franklin. Er schien ihren Blick bewusst zu meiden. »Vielleicht ist das nichts für die Ohren ... junger Damen.«
Trotz ihres Kummers unterdrückte Thalia ein verächtliches Schnauben. Der Mann kannte sie nicht. Zum Glück sagte ihr Vater mit rauer Stimme: »Bitte sprechen Sie ganz offen in Thalias Gegenwart. Sie verfügt über eine bemerkenswert starke Natur.«
Hauptmann Huntleys Blick zuckte kurz zurück zu ihr, dann fixierte er ihren Vater. Erstaunt bemerkte sie, dass dieser starke Mann nervös wirkte - und dass offenbar sie diese Nervosität bewirkte. Vielleicht hatte es mit der Art seiner Nachricht zu tun, die nicht für die Ohren junger Damen bestimmt war. Oder vielleicht fühlte auch er, dass zwischen ihnen etwas vor sich ging, etwas Unmittelbares, etwas Starkes. Sie wollte nicht darüber nachdenken, zu heftig war der Schmerz über den Tod von Tony Morris.
Nachdem er sich noch einmal geräuspert hatte, erklärte der Hauptmann: »Man hat ihn umgebracht, Sir. In Southampton.«
»So nah!«, schrie Franklin auf. »Direkt vor unserer Haustür.«
»Das weiß ich nicht, Sir, aber eine Gruppe von Männern hat ihn in einer Gasse überfallen.« Hauptmann Huntley schwieg, während Thalias Vater fluchte. »Sie waren deutlich in der Überzahl, aber er hat bis zum Ende mutig gekämpft.«
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Thalia. Wenn über Tonys Tod in der Zeitung berichtet worden wäre, würde jetzt jemand anders in ihrem Ger stehen, Bennett Day oder Catullus Graves. Thalia sehnte sich danach, einen von ihnen zu sehen und ihre Trauer mit ihnen zu teilen, anstatt mit diesem Mann, der sie durch seine bloße Anwesenheit beunruhigte.
Wieder glitt der Blick des Hauptmanns kurz zu ihr. Sie wehrte sich gegen ihre unmittelbare körperliche Reaktion und versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. »Ich war dabei, als es passiert ist, Miss. Ich kam zufällig vorbei, als ich hörte, wie Morris angegriffen wurde. Da habe ich ihm geholfen.« Er verzog das Gesicht. »Aber es waren zu viele. Und als ich ihm kurz den Rücken zuwandte, hat einer von ihnen auf ihn eingestochen - ein blonder Mann, der wie ein feiner Pinkel geredet hat. Wie ein Gentleman, meine ich.«
»Henry Lamb?«, fragte Franklin und hob den Blick zu Thalia. Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Vater wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Hauptmann zu und sagte mit schneidender Stimme: »Sie behaupten, Sie wären bloß ›zufällig vorbeigekommen‹, hätten die Schlägerei gehört und ›ihm geholfen‹. Das hört sich in meinen Ohren ziemlich verdächtig an.« Thalia musste ihrem Vater recht geben. Welcher Mann kam zufällig an einem Kampf vorbei und eilte dem Opfer zu Hilfe? Wer stürzte sich zugunsten eines Fremden in eine Schlägerei? Wohl niemand.
Hauptmann Huntley biss wütend die Zähne zusammen. »Verdächtig oder nicht, Sir, so ist es gewesen. Morris hat mir sogar noch kurz vor seinem Ende das Leben gerettet. Deshalb musste ich seiner Bitte nachkommen und Ihnen diese Nachricht überbringen. «
»Sie sind den ganzen Weg von Southampton nach Urga gekommen, um die Bitte eines sterbenden Mannes zu erfüllen, dem Sie nie zuvor begegnet sind?«, wiederholte Thalia ungläubig.
Der Hauptmann hielt es nicht für nötig, ihr zu antworten. »Morris hat gesagt, man dürfe sie nicht aufschreiben«, wandte er sich weiter an ihren Vater. Dass er sie ignorierte, missfiel Thalia. »Seit fast drei Monaten habe ich diese Nachricht nun in meinem Kopf. Für mich ergibt sie keinen Sinn. Vielleicht verstehen Sie, was sie bedeutet, Sir. So sehr ich es auch versucht habe, ich werde nicht schlau daraus.«
»Bitte«, sagte ihr Vater und forderte Hauptmann Huntley mit einer Geste auf fortzufahren.
»Die Nachricht lautet: ›Die Erben sind überlegen. Sucht nach der Frau, die die Schildkröte füttert.‹«
Er wartete auf ihre Reaktion und wirkte ziemlich überrascht, als ihr Vater erneut fluchte und Thalia sich an einem nahe stehenden Tisch abstützte. Ihr war schwindelig geworden. Es war so weit. »Sie wissen, was es bedeutet?«, fragte der Hauptmann.
Franklin nickte, ballte die Hände zu Fäusten und löste sie wieder. Thalia klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und nagte nachdenklich an ihr.
Sie hatte gewusst, dass das irgendwann passieren würde, aber nicht wann. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Wenn es stimmte, was Hauptmann Huntley sagte, mussten sie rasch aufbrechen. Aber das setzte voraus, dass er die Wahrheit sagte.
»Wir wissen nicht, ob wir Ihnen trauen können, Hauptmann«, sagte Thalia. Sie schritt trotz ihres engen, unbequemen Kleides direkt auf Hauptmann Huntley zu und blieb kurz vor ihm stehen. Er spannte sich leicht an. Sein Blick zuckte hinunter zu dem Revolver in ihrer Hand, und er hob die Brauen.
»Eine nette Begrüßung für einen müden Reisenden«, sagte er langsam.
»Ich hoffe«, erwiderte sie, »dass ich ihn nicht benutzen muss.«
»Ich hoffe, dass ich ihn Ihnen nicht abnehmen muss«, berichtigte er.
Sie musterte ihn ganz bewusst von den Spitzen seiner schweren, abgetragenen Stiefel bis zu den blonden Haaren - es dauerte lange und brachte ihr leider nur noch stärker seine Kraft und Größe zu Bewusstsein. Auch ohne Uniform strahlte er Disziplin und Sinnlichkeit aus. Kein Gelehrter, ein Mann der Tat. Abgesehen von den Mitgliedern der Klingen zeigten nur wenige Männer eine solche Präsenz. Thalia versuchte, nicht weiter darauf zu achten, doch nachdem sie ihn beinahe berühren konnte, schien das unmöglich. Sie roch an ihm den Staub der Straße, den Duft von Wind und Leder. Den Geruch eines Mannes.
Sie konzentrierte sich und sagte: »Sie könnten Anthony Morris selbst getötet haben und versuchen, uns in eine Falle zu locken.« Beide, sowohl sie als auch ihr Vater, blickten zu dem Turmfalken auf seiner Stange, doch der Vogel wirkte nicht beunruhigt. Das allein reichte allerdings nicht als Hinweis.
»Ich habe genug von Ihren Verdächtigungen«, knurrte Hauptmann Huntley, seine bernsteinfarbenen Augen funkelten. Er war es ganz offenbar nicht gewohnt, dass man an ihm zweifelte. Wie dumm.
»Wenn Sie wüssten, was auf dem Spiel steht«, schoss Thalia zurück, »würden Sie verstehen, dass ich vorsichtig sein muss.«
»Ich weiß nicht, was auf dem Spiel steht«, brummte der Hauptmann. »Aber hier ist ein weiterer Beweis.« Er griff in seine Tasche. Thalia umfasste ihren Revolver fester und bereitete sich darauf vor, ihn zu spannen. Mit versteinerter Miene blickte Hauptmann Huntley über Thalias Schulter hinweg. Sie folgte seinem Blick und sah, dass ihr Vater mit seinem Gewehr auf den Kopf des Hauptmanns zielte. Als wäre er es gewohnt, dass man eindrucksvolle Waffen auf seinen Kopf richtete, griff Hauptmann Huntley gelassen in seine Tasche und streckte ihnen etwas entgegen. Thalia rang nach Luft.
Der Kompass.
»Den hat mir Morris gegeben«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich sollte ihn mit den Worten ›Ewig ist der Norden‹ an Sie übergeben.« Er reichte ihn ihrem Vater.
Thalia starrte auf den Kompass in der Hand ihres Vaters und spürte, dass etwas Großes seinen Anfang nahm.
Alles, was Hauptmann Huntley gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Ihre Feinde waren auf dem Vormarsch.
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Zoë Archer
Zoë Archer hat englische Literatur studiert und schon als Kind ihre ersten eigenen Geschichten geschrieben. Sie wurde für ihre Romane mit mehreren Genrepreisen ausgezeichnet. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Los Angeles.
Bibliographische Angaben
- Autor: Zoë Archer
- 2012, 393 Seiten, Maße: 12,6 x 17,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Babette Schröder
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 380258614X
- ISBN-13: 9783802586149
- Erscheinungsdatum: 05.06.2012
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