Jetzt ist gut, Knut
'"Ich will so bleiben, wie ich bin!", schreibt Lilli trotzig an ihre beste Freundin. Selten hat sie so gelogen. Dabei lügt Lilli oft und gern. Wildfremden erzählt sie Geschichten, in denen sie als erfolgreiche Ärztin oder als Tochter von Missionaren in...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Jetzt ist gut, Knut “
'"Ich will so bleiben, wie ich bin!", schreibt Lilli trotzig an ihre beste Freundin. Selten hat sie so gelogen. Dabei lügt Lilli oft und gern. Wildfremden erzählt sie Geschichten, in denen sie als erfolgreiche Ärztin oder als Tochter von Missionaren in Indonesien die Hauptrolle spielt. In Wahrheit ist ihr Leben mit dem Langweiler Knut, der lieblosen Tochter Julia und dem Ärger im Job so interessant wie trocken Brot. Aber dann bringen ein Hund, ein Lottogewinn und die überdrehte Marie-Anne mehr Aufregung, als sie sich je gewünscht hat. Und ausgerechnet Knut bewahrt Lilli vor dem Fehler ihres Lebens.
Lese-Probe zu „Jetzt ist gut, Knut “
Jetzt ist gut, Knut von Bettina Haskamp Prolog
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Im Fernsehen wirkten die großen eckigen Sessel immer so bequem. Lilli rutschte auf dem glatten Leder hin und her. Verdammt, es musste doch möglich sein, eine angenehme und halbwegs elegante Sitzposition zu finden. Sie wollte auf keinen Fall aussehen wie eine in der Sofaecke vergessene Gliederpuppe. Aber auch nicht so, als hätte sie Knuts Wasserwaage verschluckt. Außer ihr rutschte niemand. Rechts von ihr nippte, die Beine lang ausgestreckt, Hans Scheibner an seinem Rotwein. Gegenüber flüsterte Charlotte Roche mit Dieter Wedel. Links von Lilli saß ein Jungschauspieler, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Er lächelte ihr zu. Lilli lächelte zurück. Dann war da noch Ruth Maria Kubitschek. Sie sah ein bisschen müde aus. Müde, aber auch superelegant und gelassen. Es war lächerlich, so nervös zu sein. Nichts war ihr hier fremd, sie kannte das alles aus dem Effeff. Sämtliche Kameraleute, die Regisseurin, Andy, den Anheizer, und seine immer gleichen Sprüche, mit denen er garantiert auch heute das Publikum aufgelockert hatte, bevor sie und die anderen Talkgäste ins Studio gekommen waren. Lilli sah zu der hohen Metalltür, durch die das Publikum eingelassen wurde und die jetzt geschlossen war. Bis vor kurzem war sie es gewesen, die die Leute, wenn sie erwartungsfroh hereinkamen, unauffällig sortierte. Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht ... Lilli sah sich um. Die Dicke da links mit dem grellbunten Kleid, die hätte es bei ihr nie ins Licht geschafft, also in die erste Reihe gleich hinter den Talkgästen. Vergiss das jetzt, sagte sich Lilli. Das ist nicht mehr dein Job. Du bist hier nicht zum Arbeiten, du bist Gast. Wirklich wahr. Inzwischen hatte die Berger garantiert mitgekriegt, wer da in ihrer Sendung saß, und tobte im Regieraum. Lilli gönnte sich ein zufriedenes Lächeln. Dann dachte sie kurz an Marie-Anne. Ob sie wohl einen Fernseher in ihrer Zelle hatte? Barbara Schöneberger und Hubertus Meyer-Burckhardt erschienen und besetzten die beiden noch freien Sessel. Dann setzte die Erkennungsmelodie ein. Lilli zupfte schnell noch mal ihr Kleid zurecht. Strick mit Chiffon in Cremeweiß - schlicht, aber stilvoll. Und es passte gut zu den orangebraunen Sesseln. Nur schade, dass der Jungschauspieler sich keine Gedanken über die Farbe seines Hemdes gemacht hatte. Rosa zu Orangebraun, da kam einem ja der Kaffee hoch. Die Schöneberger trug mal wieder schwarz und eng. Zu eng für Lillis Geschmack. Sie selbst wäre im Leben nicht so herumgelaufen, schon gar nicht vor einer Kamera. Nur noch ein paar Sekunden. Die Namen der anderen Gäste rauschten an ihr vorbei. Dann sah Hubertus in ihre Richtung. An der auf Lilli gerichteten Kamera leuchtete das kleine rote Licht. Sie war auf Sendung. O Gott, ihr war schlecht. Lächle, Lilli, lächle! Wie von weitem hörte sie Hubertus sagen: »Lillian Reich über Lug und Trug.«
1
Ich hatte keine kleinen Männchen im Kopf, die mir Befehle gaben. So war das nicht. Ich hatte auch keine »Ich-Störung«. Mal ehrlich, eine Freundin, die so etwas behauptete, musste man doch wirklich in die Wüste schicken. Und dort konnte Tina meinetwegen vertrocknen. Ich war eine ganz normale Frau von sechsundvierzig Jahren. Ich hatte einen Mann, ich hatte eine Tochter, ich hatte einen Beruf, ich hatte ein Hobby. »Frau Karg?« Leider hatte ich auch eine Chefin. »Wenn ich Ihre sicher immens wichtigen Gedanken kurz unterbrechen darf? Wir haben noch Änderungen in der Sitzordnung und im Ablauf. Und sind die Moderationskarten für Hubertus fertig?« Das war sie. Yvonne Berger. Ein Meter achtzig groß und ein echter Kotzbrocken. Seit vier Wochen unsere Redakteurin. Sie stand vor meinem Schreibtisch, und aus ihrem riesigen rotgeschminkten Mund tropfte Säure. »Es wäre übrigens ganz reizend, Frau Karg, wenn Sie gelegentlich ans Telefon gingen.« Von mir aus konnte sich Yvonne Berger den Platz an der Sonne mit meiner ehemaligen Freundin Tina teilen. Ich konnte die beiden fast sehen, wie sie mit letzter Kraft auf ein leider ausgetrocknetes Wasserloch zurobbten. Ich würdigte Frau Wichtig-Berger keiner Antwort, nahm ihr die Papiere aus der Hand und machte mich mit einem demonstrativen Seufzen daran, die Pläne zu ändern und neu auszudrucken. Für die Berger, die sich gerade ungefragt eine der Pralinen aus dem Schälchen auf meinem Schreibtisch in den Mund schob und dann abzog, war ich doch nichts anderes als eine Papiermaschine. Warum hatte Sabine auch zu Radio Bremen wechseln müssen? Sabine war total nett gewesen. Die hatte zum Beispiel verstanden, dass unsereins zwischendurch auf Voicemail schalten musste, um mal eine ruhige Minute zu haben. Kaum hatte ich das Telefon wieder auf Empfang geschaltet, klingelte es auch schon los. »Elisabeth Karg am Apparat, was kann ich für Sie tun?« Die nächsten fünf Minuten verbrachte ich mit einem Dr. Dr. Peter Seibers, der wegen seiner fulminanten Erfolge auf dem Gebiet des Taubentrainings in die Sendung eingeladen werden wollte. Seine Tauben, beteuerte Dr. Dr. Seibers, könnten zwischen den Gemälden von Picasso und Monet unterscheiden. »Herr Dr. Seibers, Sie müssen Ihren Themenvorschlag bitte schriftlich einreichen.« Das interessierte ihn überhaupt nicht. Der Mann redete und redete. »Hören Sie, wir haben heute Sendung, ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr, Ihnen zuzuhören, und ich habe auch gar keinen Einfluss auf die Gästeauswahl. Bitte schicken Sie uns doch einen Brief oder eine E-Mail.« - »Sie müssen mir zuhören, ich bin Gebührenzahler!«, brüllte die Stimme im Telefon. Ich legte auf. Hatte ich wirklich mal geglaubt, Redaktionssekretärin beim Fernsehen wäre ein toller Job? Stunden später saß ich endlich im Bus nach Hause. Gleich konnte ich die Beine hochlegen und ein schönes Glas Rotwein trinken. Vielleicht würde ich noch ein bisschen lesen. Hauptsache, ich musste mit keinem Menschen mehr reden. An den Sendetagen konnte ich mich darauf verlassen, dass Knut schon schlief, wenn ich nach Hause kam. Mit ein bisschen Glück lag er im Bett und nicht auf dem Sofa. So leise es ging, schloss ich die Wohnungstür auf, hängte meinen Mantel an die Garderobe, ärgerte mich kurz, aber still über Knuts schmutzige Schuhe mitten im Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Nur die Katzen lagen auf dem Sofa und hoben kurz den Kopf. Kein Knut. Gut. »Lilli, Schatz, da bist du ja endlich!« Mein Gatte erschien in der Küchentür. Hellwach und mit leuchtend rotem Kopf. Knuts Gesicht ist immer ein bisschen rot, das kommt von seiner friesischen Herkunft und der Arbeit im Freien, aber jetzt leuchtete sein Kopf wie ein Kürbis an Halloween. Drei Biere, schätzte ich, vielleicht auch vier. Hinter ihm in der Küche polterte etwas. Da war noch jemand. »Hey, Lilli, komm her, es gibt was zu feiern!« Die Stimme von Jens, Knuts Kollegen und bestem Freund, klang schon ein bisschen verwaschen. Knut fiel mir mitsamt seiner Bierfahne um den Hals. Ich stand stocksteif da und intonierte innerlich meine Lieblingstextzeile von Ina Müller: »Bitte, bitte spring doch vom Balkon«. Nicht zum ersten Mal fand ich es sehr bedauerlich, dass unser Wohnblock nur drei Stockwerke hatte und nicht acht oder zehn. »Was ist los?«, zwang ich mich zu fragen. Freundlich klang anders. Aber Knut hätte es wahrscheinlich nicht mal gemerkt, wenn ich, statt zu sprechen, gebellt hätte. »Samara ist schwanger!« Er strahlte vor Glück. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Samara ist nicht etwa unsere Tochter. Unsere Tochter heißt Julia und könnte bestenfalls in andere Umstände geraten, wenn Windbestäubung auch bei Menschen funktionierte. Julia macht Karriere, für so etwas Überflüssiges wie Liebe hat sie keine Zeit. Für ihre Eltern übrigens auch nicht. Nein, um Julia ging es nicht. Samara maß einen Meter zwölf, wog sechsunddreißig Kilogramm, hatte lange rote Haare und war ein pralles Orang-Utan-Weibchen. Seit Samara ins Hagenbecker Affenhaus eingezogen war, um dort mit Männchen Siam möglichst viele Nachkommen zu zeugen, kannte ich ihren Zyklus besser als meinen eigenen. Ihr Pfleger, mein Mann, redete nämlich von fast nichts anderem. Nun war Samara also schwanger. Wie schön für Knut. »Wie schön für dich«, sagte ich, winkte Jens durch die offene Küchentür kurz zu, murmelte: »Bin müde«, und ließ die stolzen Männer allein. In unserem Ehebett mit dem Charme der Achtziger las ich noch ein bisschen in der Biographie von Coco Chanel. Die hatte ein Leben! Am nächsten Morgen weckte mich tatsächlich die Sonne. Wir hatten keine Vorhänge, weil uns niemand ins Fenster gucken konnte. Ich liebte Licht. Sonne hatte auf mich die Wirkung einer Frischzellenkur. Deshalb war ich auch noch ziemlich guter Laune, als ich mich an den Frühstückstisch setzte und mir Kaffee einschenkte. Knut hatte den Tisch gedeckt und las jetzt in einer Zeitschrift. »Morgen.« - »Morgen.« Er guckte nicht mal hoch. »Knut?« - »Was?« Ein Orang-Utan zierte das Cover des Magazins, in dem er las - nicht wirklich überraschend. Wie lange sollte ich das noch aushalten? Ich wollte ein affenfreies Wochenende. Oder wenigstens ein affenfreies Frühstück. Knut angelte nach seiner Kaffeetasse. Ich sah von ihm nur den Arm und sein leicht schütteres Haupthaar. Noch war das meiste davon rotblond, aber die ersten grauen Strähnen waren nicht zu übersehen. Ich wartete, ob noch etwas kam. Nein. Sah so aus, als müsste ich mich zum Affen machen, um die Aufmerksamkeit meines Gatten zu erregen. Als ich mit den Fäusten auf meinen Brustkorb trommelte und brüllte, sah Knut mich tatsächlich an. »Sag mal, Lilli, bist du irre?« - »Fahren wir nachher zu Ikea?« - »Was willst du denn da?« Statt des geplanten Stöhnens entfuhr meiner Kehle eine Art Grollen. »Knut, seit Wochen sage ich dir, dass wir ein neues Sofa brauchen.« - »Für mich ist das alte noch bestens.« Knut hasste Veränderungen. »Außerdem ist Samstag, da werden wir bei Ikea totgetreten.« Knut hasste auch Ikea. Und alle anderen Möbelhäuser. »Wann sonst?« Aber für Knut war das Gespräch beendet. Eine Stunde später war mein Mann an seinem freien Wochenende in den Zoo gefahren, ich hatte den Frühstückstisch abgeräumt, das Bad geputzt, das Wohnzimmer mit dem schäbigen Sofa gesaugt und stand vor dem Kleiderschrank. Also gut, Knut, dachte ich, vergessen wir Ikea, du hast es so gewollt. In einem Karton mit der Aufschrift »Hochzeitsschuhe« auf dem Boden des Schrankes lag glänzend meine blonde Zweitfrisur. Ich zog auch den hellen Hosenanzug aus seinem Versteck hinter den Wintermänteln. Ach, dieser feine Stoff! Ich strich mit der Hand über die superzart gewebte und edel schimmernde Schurwolle. Der Anzug war elegant, aber nicht extravagant. Genau richtig. Ich hatte ihn im Ausverkauf bei Strenesse gefunden. Leider hatte er immer noch mehr gekostet als unser Flachbildfernseher, aber das musste ja niemand wissen. Wozu besaß eine Frau denn sonst ein eigenes Konto? Die passende schokoladenbraune Bluse war aber wirklich ein Schnäppchen gewesen. Jetzt noch die dunkelbraunen Pumps, dann das dezente Make-up und dazu der Lippenstift. »Brown Sugar« hieß die Farbe. Ich fand, sie passte perfekt zu dem Blond und dem hellen Blazer. Fertig. Die graue Maus Lilli Karg war verschwunden. Vor mir im Spiegel stand Lillian Reich, die elegante und erfolgreiche Ärztin. Ich prüfte noch, ob ich den Spendenaufruf für »Ärzte ohne Grenzen« in der Tasche hatte, dann machte ich mich auf den Weg in die City.
2
Das grelle Licht im Auge war unangenehm. Ich blinzelte und wischte den Finger, der mein Augenlid anhob, aus dem Gesicht. »Na also, da sind Sie ja wieder.« Die Männerstimme war so fremd wie der stechende Geruch, der meine Nase reizte. »So, junge Frau, schön ruhig liegen bleiben. Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.« Was? Ich drehte den Kopf, und mein Blick fiel auf einen kleinen hellen Blutfleck am Saum eines weißen Kittels. Weißer Kittel, weiße Hose. Sanitäter. Rettungswagen. Wie zum Teufel kam ich hierher? Jemand schloss von außen die Türen des Wagens. Der Motor sprang an. Eben hatte ich doch noch Kaffee getrunken. Genau. Einen großen Milchkaffee, ich schmeckte ihn noch auf der Zunge. Streng dich an, Lilli, was war noch? Langsam kristallisierte sich ein Bild. Ich sah mich in meinem Lillian- Outfit im Stehcafé an der Ecke vom Rathausmarkt, mir gegenüber am Tisch eine Frau mit kurzen braunen Haaren und Grübchen. Was hatte ich der Frau erzählt? Fiel mir jetzt nicht ein. Nur, dass mir plötzlich schummrig geworden war. Danach war alles weg. »Da sind Sie aber wirklich unglücklich gestürzt, das war eine ganz schöne Sauerei da in dem Laden.« - »Hm?« Der Sanitäter lachte. Er sah aus wie siebzehneinhalb, so sehr lange konnte der diesen Job noch nicht machen. »Sie sind auf die Nase gefallen und haben denen im Café ihren weißen Marmorboden vollgeblutet, das sah echt beeindruckend aus. Ihre Jacke hat auch was abgekriegt.« Erst jetzt sah ich den großen Blutfleck an meinem Ärmel. Er sagte: »Lassen Sie mal sehen.« Sein Interesse galt selbstredend nicht dem Fleck auf meiner Jacke, er drückte an meiner Nase herum. »Ich glaub nicht, dass die gebrochen ist. Die Blutung hat auch aufgehört.« Ich wollte mich aufsetzen, war aber festgeschnallt. »Hören Sie, ich muss nicht ins Krankenhaus, das war nur eine kleine Kreislaufschwäche, passiert mir manchmal.« Das stimmte, mein Blutdruck schwankte schlimmer als eine Hafenbarkasse bei Schlechtwetter. »Das wird sich ja zeigen. Die Ärzte werden Sie schon gründlich durchchecken. Extra gründlich, würde ich sagen, nach dem, was Ihre Bekannte uns erzählt hat. Ich messe jetzt noch mal Ihren Blutdruck.« Welche Bekannte? Die Frau mit den Grübchen? Ich zermarterte mir das Hirn. Worüber hatte ich mit der Frau geredet? Bücher. Richtig, endlich fiel es mir wieder ein. Wir hatten über Bücher geredet. Die andere Frau hatte in »Eat Pray Love« gelesen. Ich hatte sie angesprochen und gefragt, worum es in dem Buch gehe. Dann waren wir bei Selbstfindung und Reisen gelandet, und ... o Mist. Bei Haiti. Bei meinem Einsatz für die Erdbebenopfer. »Sagen Sie, haben Sie dort Sean Penn getroffen, den Schauspieler?« Der blondgelockte Sanitäter schaute mich aus seinen runden blauen Augen an wie ein Fünfjähriger, der gleich ein großes Stück Schokolade bekommt. Wahrscheinlich sah er schon eine Schlagzeile in der Morgenpost vor sich: »Hamburger Sanitäter rettet Freundin von Sean Penn das Leben«. Ich schwieg. Der Helfer in Weiß nicht. »Also, ich finde es schon großartig, was der Mann da leistet. Obwohl, so als Mensch soll er ja schwierig sein, hab ich gelesen. Und, wie isser wirklich?« - »Hören Sie, ich kenne Sean Penn nicht persönlich, und ich will jetzt hier raus!« - »Damit Sie bei uns die Cholera einschleppen?« So ein Idiot. Der brachte es fertig und ließ mich unter Quarantäne stellen. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Natürlich hatte ich nicht vor, dem Jüngling auf seine pickelige Nase zu binden, dass ich vorhin im Café ein bisschen geschwindelt hatte. Kam gar nicht in Frage. Ich atmete tief durch. »Zu Ihrer Orientierung: Ich bin schon seit Wochen wieder in Hamburg. Die Cholera bricht aber spätestens nach fünf Tagen aus. Und wer sie hat, geht nicht mehr Kaffee trinken.« Man kann mir einiges vorwerfen, aber nicht, dass ich mich nicht auskenne. Ich lese wirklich viel. »Das können Sie mit den Ärzten klären«, erwiderte er, »ich hab schon vorgewarnt, dass wir einen Infektionsverdacht bringen.« - »Dann funken Sie jetzt noch mal, dass der Verdacht sich erledigt hat. Ich gehe doch nicht ins Krankenhaus, bloß weil Sie das Goldene Blatt lesen!« Zu spät. Durch die Scheibe erkannte ich das schöne alte Gebäude des Krankenhauses in St. Georg. Die Notaufnahme war aber ganz neu, wie ich zwei Minuten später feststellen durfte. Jetzt sollte mir besser etwas einfallen.
Kurz darauf guckte ich statt in die blauen Augen des Sanitäters in winzig kleine braune. Könnte schon sein, dass diese Augen normalerweise größer waren, aber im Augenblick hingen die Lider schwer, und es hätte mich nicht gewundert, wenn der Arzt vor mir gleich eingeschlafen wäre. Er schaute auf sein Klemmbrett. »Sie sind der angebliche Choleraverdacht?« Das klang doch schon schön skeptisch. Wahrscheinlich wusste dieser Arzt, dass heutzutage unerfahrene Kindsköpfe im Rettungswagen unterwegs waren. Er selbst sah übrigens auch aus, als könnte er mein Sohn sein. Ich lächelte so strahlend, wie ich konnte. »Das ist alles ein Missverständnis.« Eine Krankenschwester schob hektisch eine Trage an uns vorbei, der Mann darauf blutete fürchterlich. Schnell schaute ich weg. Mir wurde immer schlecht, wenn ich Blut sah. »Hören Sie, ich bin völlig in Ordnung, der Rettungssanitäter hat da was falsch verstanden. « - »Waren Sie denn nun auf Haiti, oder nicht?« »Ähm, nein, das ist ja das Missverständnis - ich war auf Tahiti, nicht auf Haiti.« Also, wenn mir da jetzt nicht die perfekte Lösung eingefallen war, dann wusste ich auch nicht. »Und jetzt lassen Sie mich bitte gehen, es gibt hier weiß Gott Menschen, die Sie dringender brauchen.« - »Dachte ich mir doch, dass das Quatsch ist. Und Sie meinen wirklich, dass Sie in Ordnung sind?« - »Absolut!« Er guckte wieder auf sein Brett. »Der Blutdruck ist ja offenbar wieder stabil. Na gut. Aber gehen Sie in nächster Zeit besser mal zum Kardiologen.« - »Versprochen.« Ich unterschrieb ein Formular, dann durfte ich gehen. In der nächsten Besuchertoilette wischte ich mir das Blut aus dem Gesicht.
Kaum stand ich draußen vor der Notaufnahme und hielt die Nase in die Sonne, holte ich reflexartig das Handy aus meiner Handtasche. Tina würde sich totlachen, wenn ich ihr die Cholera-Nummer erzählte. Gerade wollte ich den grünen Knopf für die Verbindung drücken, da fiel es mir wieder ein: Eher beförderte mich die Berger zur Redakteurin, als dass Tina über diese Geschichte lachte. Tina fand meine Geschichten nicht komisch, Tina hielt mich ja neuerdings für gestört. Mit einem schnappenden Geräusch klappte der Deckel meines antiquierten Handys zu. Eigentlich peinlich, heutzutage noch mit so einem Telefon herumzulaufen. Ich stopfte es zurück in die Handtasche, zupfte mein Blondhaar zurecht und ging zur U-Bahn. Nach dem Gestank zu urteilen, mussten sich im Eingang zur U-Bahn-Station unlängst ganze Horden erleichtert haben. Erst unten am Gleis wurde die Luft besser. Natürlich war die U 1 gerade weg, und die nächste Bahn kam erst in zwanzig Minuten. Ergeben ließ ich mich auf eine kalte Bank sinken. »Gestört.« Das Wort ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn ich ehrlich war, klebte das ganze Gespräch mit Tina in einer Ecke meines Hirns und wollte sich partout nicht entfernen lassen. Tina hatte sich aufgeführt, als hätte sie das Gebot ›Du sollst nicht lügen‹ persönlich erfunden. Dabei konnte sie wunderbar schwindeln. »Weißt du noch, wie wir damals Roland aus der 3a hochgenommen haben? Der glaubt wahrscheinlich heute noch, dass meine Familie eine sieben Meter lange Boaconstrictor als Haustier hält und immer mit in den Urlaub nimmt.« - »Da waren wir acht, Lilli!« - »Okay. Aber wir waren ja wohl beide erwachsen, als du gleichzeitig mit Conny und mit Peter zusammen warst. Hast du denen vielleicht keine Lügen aufgetischt?« - »Mein Gott, auch das ist zwanzig Jahre her, und außerdem kannst du das nun wirklich nicht mit dem vergleichen, was du jetzt machst.« - »Und warum nicht?« - »Weil es krank ist, wildfremden Leuten Geschichten aus einem Leben zu erzählen, das du gar nicht hast! Ich dachte wirklich, so etwas hättest du endgültig hinter dir.« Dabei guckte sie mich genauso düster an wie vor ein paar Jahren mein Gynäkologe, als er mich in Krebsverdacht hatte. »Lilli, vielleicht hast du eine Ich- Störung. Dagegen kann man was tun. Ich kenne in Altona einen Therapeuten ...« Also bitte! Einem Schriftsteller sagte doch auch keiner, er sollte zum Arzt gehen, wenn er gute Geschichten erzählte. Dem warf niemand vor, er identifiziere sich zu sehr mit seinen Figuren. Dramatische Erzählungen lagen mir besonders. Deshalb war ich auch so gern als Ärztin unterwegs. Wenn ich zum Beispiel von einer Notoperation in Afrika erzählte, dann konnte ich förmlich den Schweiß spüren, der mir im stickigen OP-Zelt von der Stirn tropfte. Und ich erzählte meine Geschichten auch nur Touristen, die ich garantiert nicht wiedersehen würde. »Mensch, Tina, du müsstest mal sehen, wie die Leute an meinen Lippen hängen! Wie Fliegen am Klebestreifen, ehrlich. Die bewundern mich.« - »Aber Lilli, das ist doch totaler Quatsch, die bewundern doch nicht dich. Die bewundern jemanden, den es gar nicht gibt!« - »Na und? An meinem guten Gefühl ändert das gar nichts.« Also gut, dachte ich, als ich endlich in der U-Bahn saß. Dann versteht mich Tina eben nicht. Man kann nicht alles haben. Es war ein Fehler gewesen, ihr von meinem Hobby zu erzählen. Punkt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie inzwischen in die Liga der Lauteren gewechselt war. Schon gar nicht, wenn man bedachte, was sie beruflich tat. Plötzlich musste ich lachen. Ausgerechnet eine PR-Frau hielt mir einen Vortrag über Ehrlichkeit! Sonntagnachmittag. Nachdem wir den Vormittag damit verbracht hatten, Thomas und Helen von nebenan beim Auszug zu helfen, entspannte sich Knut bei einer sterbenslangweiligen Dokumentation über die Magie der Mongolei. Eine Weile setzte ich mich zu ihm und dachte beim Anblick strammer Mongolen daran, endlich mehr Sport zu treiben. Garantiert würde ich morgen sogar vom Geschirreinpacken Muskelkater haben, so untrainiert, wie ich war. Ich sollte mich wirklich in einem Fitnessstudio einschreiben. Sofort standen mir statt der Mongolen Madonnas muskulöse Oberschenkel vor Augen. Solche Schenkel hätte ich schon auch gern gehabt. Ich konnte ja mal gucken, was die heutzutage so kosteten. Also die Fitnessstudios. Unser hochbetagter Computer stand eingeklemmt zwischen Kleiderschrank und Kommode im Schlafzimmer. Die nächsten zehn Minuten verbrachte ich damit, meinen sparsamen Gatten zu verfluchen und mich davon abzuhalten, mit den Fingern auf der Tastatur herumzuspielen. Meine Güte, war dieses Gerät langsam! Dann war ich endlich im Netz. Zuerst würde ich mal meine E-Mails checken, auch wenn meine Erwartungen gegen null gingen. So wie ich das sah, hatte sich gegenüber der guten alten Zeit nichts geändert. Wer keine Briefe schrieb, bekam auch keine. Aber man wusste ja nie. Das Nep.Cent-Team wollte mir eine gebührenfreie Mastercard andrehen. Weg mit der Nachricht. Dann war da eine Lotto-Gewinnmitteilung. Am Montag würde ich erfahren, wie viel ich gewonnen hatte. Wahrscheinlich wieder zwei Euro fünfzig, wie beim letzten Mal. Ich spielte erst wieder Lotto, seit es das Internet gab. Früher hatte ich die Scheine grundsätzlich sofort nach dem Ausfüllen vergessen und nie mitgekriegt, ob ich was gewonnen hatte. Das konnte mir jetzt nicht mehr passieren. Die nächste Mail. Eine Grace Smith hatte es irgendwie geschafft, sich mit einer »Gewinn Notification« an meinem Filter vorbeizumogeln. Grace bekam ein Spam-Häkchen und wanderte hoffentlich für alle Ewigkeit in den Papierkorb. Nichts von meiner Cousine Verena aus dem Allgäu, nichts von meinem Bruder und natürlich auch nichts von meiner Tochter. Damit war die Liste meiner E-Mail-Kontakte auch schon fast erschöpft. Ich wollte das Programm gerade schließen und Hamburger Fitnesscenter googeln, da kam noch eine neue Nachricht.
Betreff: Sorry Von: Tina1965@nep.de An: lillikarg@nep.de Datum: 05.06.2011 Liebe Lilli! Nachdem du neulich gegangen warst, habe ich noch lange an dich und unser Gespräch gedacht. Und ich glaube, ich sollte mich bei dir entschuldigen. Ich finde dein »Geschichtenerzählen « zwar nach wie vor grenzwertig, aber ich hätte dich nicht als krank bezeichnen dürfen. Wer bin ich, zu beurteilen, was in dir vorgeht? Schließlich habe ich nicht Psychologie studiert, sondern PR und Kommunikation. Ich bin nur einfach der Ansicht, dass du es nicht nötig hast, dich als eine Frau auszugeben, die du nicht bist. Denn so, wie du bist, bist du richtig. Du bist zuverlässig und kannst toll organisieren, du bist kompromissbereit, du bist tolerant. Nur an Selbstwertgefühl scheint es dir zu fehlen. Ich hab mal ein bisschen im Internet gestöbert und bin auf eine Liste mit Tipps zur Stärkung des Selbstbewusstseins gestoßen (hänge ich dir an). Vielleicht kannst du etwas damit anfangen. Du musst niemanden belügen. Auch nicht dich selbst. Deine alte Freundin Tina Mein erster Gedanke: Das ist ja echt lieb von Tina! Ich fand es schon toll, wenn jemand Fehler zugeben konnte. Mir selbst fiel das schwer. Aber dann saugten sich meine Augen an den Worten ›zuverlässig, kompromissbereit und tolerant‹ fest. Nicht, dass das schlechte Eigenschaften wären.
Aber wo stand »schön und erfolgreich«? Oder wenigstens »gutaussehend«? Ach, ich vergaß, Tina war ja ehrlich. Aber ein kleines »humorvoll« oder ein »intelligent« wäre doch wohl drin gewesen. Stattdessen: toll im Organisieren. Da hätte sie doch auch gleich schreiben können: »Quadratisch, praktisch, gut.« Und wieso meinte sie, ich müsste was für mein Selbstbewusstsein tun? Vielleicht fand ich die Mail doch nicht so lieb. Den Anhang klickte ich trotzdem auf. »Sagen Sie zu sich selbst: Ich mag mich!« Na, das war ja mal ein toller Tipp. Erst erzählte mir Tina, ich solle nicht lügen, und dann das. Der zweite Punkt war auch nicht besser: »Schließen Sie Frieden mit den negativen Seiten von sich selbst.« Wie ich das machen sollte, stand da natürlich nicht. Und auch nicht, wie lange die Friedensverhandlungen dauern durften. Ich würde da spontan mal so zwei bis fünf Jahre ansetzen. Weiter im Text. Ich sollte meine Schwächen als Teil meiner Persönlichkeit annehmen und dann in Stärken umwandeln. Ich überlegte. Meine größte Schwäche waren Pralinen. Wie konnte ich das jetzt in eine Stärke umwandeln? Sollte ich ins Konditoreifach wechseln, oder was? Punkt vier der Liste: »Finden Sie an jedem Menschen etwas Positives.« O ja, unbedingt. Natürlich dachte ich sofort an meine neue Chefin. Wetten, dass der Verfasser dieses Unsinns garantiert nie mit einer Yvonne Berger zusammenarbeiten musste? An der Frau war nun wirklich nichts Positives zu finden. Okay, nächster Punkt. »Nehmen Sie Komplimente an.« Ja, gern. Ich war quadratisch, praktisch, gut. Vielen Dank auch. »Führen Sie ein Pluspunktebuch. Schreiben Sie Komplimente, Lob etc. auf.« Das konnte ich gern machen. Dafür brauchte ich allerdings kein Buch. Ein Zettel von der Größe meines Daumennagels dürfte völlig reichen. »Was schätzen andere an Ihnen?« Siehe oben. »Sollten Sie nicht wissen, was Ihre Mitmenschen an Ihnen schätzen, dann fragen Sie nach.« Also gut. Tina war ja nicht der einzige Mensch in meinem Dunstkreis. Ich ging hinüber ins Wohnzimmer. Knut hatte von den Mongolen zur Formel 1 gewechselt. »Du, Knut?«, schrie ich gegen den Lärm der Rennwagen an. - »Hm?« - »Was schätzt du an mir?« - »Was?« - »Was du an mir schätzt!« - »Wie kommst du denn jetzt darauf?« - »Nun sag doch mal!« Ich fürchtete schon, Sebastian Vettel würde das Greisenalter erreicht haben, bis Knut endlich antwortete. »Deine Kuchen?« - »Ist das alles?« - »Was willst du denn hören?« - »Ach, vergiss es.« Ich setzte mich wieder an den Computer. »Versöhnen Sie sich mit Ihrem Körper.« Na, sicher doch. Ich könnte was Schönes für meinen Hängebusen und meine Cellulitis kochen, dann ein paar Kerzen anmachen und schon wären wir versöhnt. Der war doch nicht ganz dicht, der das geschrieben hatte. »Machen Sie sich Ihre Stärken und positiven Eigenschaften bewusst.« Kein Problem. Ich war spitze in Reisekostenabrechnung und konnte super Geschichten erzählen. Okay, der letzte kluge Tipp. »Eignen Sie sich die Körpersprache eines Menschen an, der über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügt.« Was? Ich sollte laufen und gestikulieren wie die Berger?
Betreff: AW: Sorry Von: lillikarg@nep.de An: Tina1965@nep.de Datum: 06.06.2011 Liebe Tina, danke für deine Mail. Richtig, du bist keine Psychologin, und du solltest auch besser nicht an einen Berufswechsel in diese Richtung denken. Es ist lieb, wenn du mich aufmuntern willst, oder was immer deine Zeilen bezwecken sollten. Aber bitte verschone mich mit weiteren Ratschlägen zur Stärkung meines angeblich nicht ausreichenden Selbstvertrauens. Mir geht es gut, und ich will so bleiben, wie ich bin. Deine Lilli Klang das ein bisschen zickig? Schon möglich. Ich schickte die Mail trotzdem ab und fuhr den Rechner herunter. Dank der tollen Liste war mir jetzt völlig klar, dass ich das Geld für ein Fitnessstudio auch sparen konnte. Was nützten mir stramme Oberschenkel, wenn unter meinem Busen nicht nur ein Bleistift, sondern gleich eine ganze Bleistiftpackung Halt fand?
3
Montag. Konferenztag. Wir saßen erst zwanzig Minuten zusammen, und ich sah eine Massenkündigung auf uns zukommen. Wahlweise einen Meuchelmord. Und zwar wie damals im Film »Orient Express«, jeder dürfte mal zustechen. Also, ich wäre dabei. Wir besprachen die Sendung vom vergangenen Freitag. Das heißt: die Berger besprach. Die Temperatur in unserem eigentlich angenehm klimatisierten Konferenzraum mit dem schlichten runden Tisch lag bei geschätzten zwanzig Grad minus. Einzige Wärmequelle war der uns vorgesetzte Drache, der seit Beginn der Konferenz heiße Wutwellen in den Raum schickte, denen wir Übrigen auszuweichen versuchten. Keiner guckte den anderen an, alle starrten auf ihre Notizblöcke. Ich schrieb mit. Eigentlich wurden die Konferenzen nicht protokolliert, aber ich gab mich gern beschäftigt. Und zu Hause hatte ich so eine Art Tagebuch mit meinen persönlichen Best-of bzw. Worst-of, je nachdem. Natürlich wusste das niemand. Eben hatte es Michael erwischt, einen unserer freien Autoren. Die Berger hatte ihn in rasendem Sprechtempo und lautstark fertiggemacht, weil ihr Klaus Hoffmann als Gast zu langweilig gewesen war. Selbst mit Steno hatte ich Mühe, alles mitzukriegen. »Ich dulde kein intellektuell verbrämtes Geseiche in meiner Sendung! Wir sind hier nicht bei ARTE, verdammt noch mal! Ich will Quote! Ich erwarte unterhaltsame Gäste und witzige Gespräche. Hast du eine Ahnung, was witzig ist, Michael? Wenn nicht, dann mach dich besser schnell schlau, sonst bist du raus.« Michael hatte Klaus Hoffmann eingeladen und das Gespräch zwischen ihm und Hubertus Meyer-Burckhardt vorbereitet. Mir hatte das Gespräch gut gefallen, aber das behielt ich für mich. Ich notierte nur still: Michael im Stuhl verglüht. Der Drache suchte sein nächstes Opfer. Der Blick schweifte in die Runde, blieb an Anette hängen. Plötzlich sprach die Berger mit leiser Stimme. Irgendwie war das noch schlimmer, als wenn sie keifte. »Grundsätzlich«, säuselte sie, »grundsätzlich habe ich nichts gegen ein Nickerchen. « Pause. Die Stille dehnte sich aus. Wovon redete die Frau? Ich fing einen fragenden Blick von Sven auf. Unglaublich, wie lange ein paar Sekunden dauern können. Ich hatte reichlich Gelegenheit, das Muster im grau-blauen Teppichboden zu studieren. Endlich sprach sie weiter. »Allerdings mache ich mein Nickerchen gern zu Hause auf meinem Sofa.« Sie holte Luft und brüllte im Stakkato: »Und. Nicht. Etwa. Im. Regieraum. Während. Meiner. Sendung!« Zugegeben, die Journalistin mit dem Gartenbuch war ein bisschen dröge gewesen, aber musste die Berger Anette deshalb gleich so fertigmachen? Mitarbeitermotivation ging garantiert anders. Anette sah aus, als stünde sie kurz vor einem Sprung aus dem Fenster. Endlich ließ die Hexe von ihr ab und wandte sich wieder an alle. Unversehens umspielte ein Lächeln die zinnoberroten Lippen. »So, dann lasst mal hören, was ihr für die neue Sendung habt. Michael?« Ich hatte den Kollegen noch nie zuvor stottern hören. Er nannte zwei Schauspieler. Zu aller Erleichterung fand einer die Gnade der Chefin. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Anette hektisch auf ihrem Block herumstrich. Sie guckte die Berger nicht an, als sie endlich den Namen Ute Lemper in die Runde hauchte. Die Lemper war mit achtundvierzig noch mal Mutter geworden und redete offenbar gern darüber. Anette erntete ein gnädiges Nicken. Nach einer halben Stunde Quälerei war die grobe Auswahl der Gäste für die nächste Sendung geschafft. Jetzt fehlte nur noch der Normalo. Also jemand, der eine interessante Geschichte zu erzählen hatte, aber nicht prominent sein musste. Oder jemand, der noch ganz am Beginn seiner Karriere stand. Ich hatte schon oft gute Gäste für diese Rubrik entdeckt. Ich sage nur: Sarah Connor. Das ist natürlich schon ein paar Jahre her. Jetzt sagte ich: »Anna Depenbusch. Also, ich weiß nicht, ob ihr die kennt, ich bin da durch Zufall draufgestoßen, die hat gerade eine CD rausgebracht und die hat auch eine total interessante ...« Weiter kam ich nicht. »Frau Karg. Wenn wir mit dieser Sendung an dem Punkt ankommen, an dem die Sekretärinnen die Gäste aussuchen, werde ich es Sie umgehend wissen lassen. Mir ist ohnehin nicht klar, warum Sie an dieser Konferenz teilnehmen. Also, in Zukunft nutzen Sie diese Zeit bitte sinnvoller.« Warum tat sich der Boden nicht auf? Warum stülpte mir niemand gnädig eine große Mütze über meinen glühend roten Kopf? Und warum fingen wir mit dem Meucheln nicht gleich jetzt an? Ich rannte aus dem Konferenzraum in mein Büro, raffte meine Sachen zusammen und floh aus dem Sender. Ja, ich benahm mich wie ein Kleinkind. Aber das war doch irgendwie passend, oder nicht? Genauso fühlte ich mich, wie ein abgekanzeltes Kleinkind. Wie ein sehr wütendes abgekanzeltes Kleinkind. So wütend, dass ich am Pförtner vorbei vom Gelände rannte, ohne - wie sonst - ein paar Worte mit ihm zu wechseln. So wütend, dass ich nicht den Bus nahm, sondern die knapp sechs Kilometer bis nach Hause lief, ohne stehen zu bleiben. Vor dem Hauseingang stand mal wieder ein Kinderfahrrad im Weg, ich trat dagegen und es donnerte gegen die Mülltonnen. Wirklich, ungeheuer erwachsen. Ich suchte in meiner Tasche nach dem Hausschlüssel und ließ ihn fallen, kaum dass ich ihn in den Fingern hatte. Endlich steckte er im Schloss. Aber noch bevor ich ihn drehen konnte, ging die Tür auf, und ich hatte eine Erscheinung. Da stand der blondgelockte Sanitäter mit den babyblauen Augen und sagte: »Hi, ich bin Lars Meine, der neue Nachbar. Kenn ich Sie nicht von irgendwoher? « - »Nein, tut mir leid, sicher nicht«, brachte ich hervor und floh die Treppe hinauf. Er war es wirklich und er war der Nachmieter von Helen und Thomas. Sein Name stand auf ihrem Klingelschild. Das hatte mir noch gefehlt. Oben in der Wohnung rollte ich mich auf dem ollen Sofa zusammen und heulte unseren Katzen Paul und Paula die Felle nass. Als Paula mir die Nase leckte, ging es mir ein bisschen besser. Dann fiel mir endlich ein, was sechsundvierzigjährige Frauen normalerweise tun, wenn es ihnen schlechtgeht. Was eigentlich alle Frauen tun, sobald sie körperlich dazu in der Lage sind, einen Telefonhörer zu halten. Genau. Sie telefonieren. Stundenlang. Vorzugsweise mit einer anderen Frau. Tina ging nicht ans Telefon. Hätte ich mir denken können. Helen auch nicht. Ich wählte die Nummer von Julia. Meine Tochter nahm tatsächlich ab. »Meine Güte, Lilli, wegen so etwas rufst du mich an?« Seit sie zehn war, sagte sie nicht mehr Mama oder Papa. »Sei bloß froh, dass du nicht in der freien Wirtschaft arbeitest, da kann man sich solche Empfindlichkeiten nämlich nicht leisten. Außerdem weiß ich wirklich nicht, was dein Problem ist. Du bist nun mal Sekretärin und nicht Redakteurin, da hat deine Chefin doch völlig recht.« Vielen Dank, das war genau, was ich hören wollte. »Ich muss jetzt in ein Meeting«, sagte meine Tochter mit Hektik in der Stimme, »übrigens komme ich nachher bei euch vorbei.« Ich überlegte kurz, ob ich Knut anrufen sollte, ließ es aber sein. Im Zoo wurde heute eine neue Folge »Leopard, Seebär & Co« aufgezeichnet. Knut war wahrscheinlich gerade dabei, vor laufender Kamera Affenspielzeug zu basteln. Kein guter Zeitpunkt. Um kurz nach sieben hörte ich Lärm im Treppenhaus und dann Knuts Schlüssel im Wohnungsschloss. Ich lag wieder auf dem Sofa. Das Bild »Unglückliche Frau auf blauem Plüsch« wurde inzwischen durch ein Glas mit hübsch kontrastierendem dunkelrotem Wein auf dem Beistelltisch ergänzt. Die Farbe gefiel mir so gut, dass ich schon zweimal nachgeschenkt hatte. Auf meinem Schoß befanden sich das schnurlose Telefon und ein Zettel mit der Nummer der Telefonseelsorge. Ganz schön übertrieben? Schon möglich. Aber ich habe nun mal einen Hang zum Drama. Und ich fühlte mich schrecklich allein. Allein, unverstanden, unterschätzt und abgelehnt. Ungeliebt. Gefangen in einem Leben, das ich meiner ärgsten Feindin nicht wünschen würde. Na gut, der schon. Aber jetzt kam ja Knut. Mein Mann. Der mir zuhören, der mich verstehen, der mir Trost und Halt geben würde. In seine starken Arme wollte ich mich werfen, mein Leid ihm klagen, und zwar sofort. Ich sprang auf - Telefon und Zettel landeten auf dem Boden -, rannte zur Tür und riss sie auf. Vielleicht ein bisschen zu plötzlich. »Aua!« Knut war an seinem Schlüsselanhänger hängengeblieben und gegen die beiden Bierkisten gestolpert, die er vor der Tür aufgestapelt hatte. Lidl-Tüten umkränzten seine Füße. Eine war umgekippt, weshalb jetzt ein streng riechender Harzer durch den Hausflur rollte. Knut starrte mich verblüfft an. Möglicherweise deshalb, weil ich schon ziemlich lange nicht mehr erwartungsfroh die Tür aufgerissen hatte, nur weil mein Gatte nach Hause kam. Das letzte Mal konnte durchaus ein paar Jahre her sein. Oder Jahrzehnte. Egal. Heute wollte ich seine Nähe. Aber in Anbetracht der Bierkästen zwischen uns fiel das In-die-Arme- Werfen wohl erst einmal aus. Blieb noch spontanes Leidklagen. Doch hier, so zwischen Tür und Angel? Warum eigentlich nicht? »Du glaubst nicht, was die Berger heute gebracht hat, die ist derart unmöglich, die hasst mich, die will mich kleinmachen, die hat mich vor dem versammelten Team total gedemütigt, ich geh da nicht mehr hin!« Jetzt guckte Knut nicht mehr verblüfft, sondern so, als hätte ich ihn gebeten, sofort die Steuererklärung zu machen. »Kann ich vielleicht erst einmal reinkommen?« Er räumte die Einkäufe in den Wohnungsflur, sammelte den Harzer Roller auf, zog die Tür hinter sich zu und schälte sich dann in aller Ruhe aus seiner Jacke. Wie immer, wenn er von der Arbeit kam, umwehte ihn ein leichter Geruch von Dung. Die starken Arme hat Knut vom steten Stallausmisten. Ich stand neben der Garderobe und wartete. Auf eine Umarmung, ein tröstendes Küsschen, irgendwas. Stattdessen schnupperte Knut nur vor meinem Gesicht herum. »Wein? Jetzt schon? Vielleicht sollten wir erst mal was essen, und dann erzählst du mir in Ruhe deine Sendergeschichten. So schlimm wird's schon nicht sein, hm?« Damit ging er an mir vorbei Richtung Küche. Meine Sendergeschichten? Nicht so schlimm? Vor Empörung blieb mir fast die Luft weg. »Was gibt's denn Leckeres? «, hörte ich Knut fragen. Ich antwortete nicht, sondern starrte auf den gerahmten Konfuzius-Sinnspruch, der mir gegenüber an der Wand hing. Ein Geschenk meiner Mutter zu unserer Verlobung. »Mit Menschen, die nicht auf demselben Weg wandeln wie du selbst, solltest du keine gemeinsamen Pläne schmieden.« Sie hatte sich einen anderen Schwiegersohn gewünscht. Gern einen Banker oder einen Studienrat. Den Spruch hatte ich aus purem Trotz aufbewahrt. Jetzt fragte ich mich, ob Konfuzius beziehungsweise meine Mutter nicht recht hatte. »Wie sieht's denn hier aus?« Das war wieder Knut. Ach Gott, ja, das hatte ich vergessen. Mir war vor einer Stunde oder so die Teigschüssel aus der Hand gefallen, als ich Pfannkuchen mit Speck vorbereiten wollte. Ich hatte auch fest vorgehabt aufzuräumen. Gleich nach dem Glas Wein zur Beruhigung meiner Nerven. Und dann - siehe oben. Tja. Sollte doch Knut das in der Küche verteilte Mehl auffegen, die Eiermasse vom Fußboden wischen und die Scherben der Schüssel aufsammeln. Gerade schlich Kater Paul aus der Küche, das schwarze Fell weiß gepudert. Ich folgte Paul ins Wohnzimmer, zurück auf mein Sofa, wo der Kater mir auf den Schoß sprang und schnurrte, während ich das Mehl aus seinem Fell auf meinen Rock streichelte. Aber Knut räumte nicht etwa die Küche auf, sondern kam uns nach. Er setzte sich mit geradem Rücken auf die Kante des Fernsehsessels und beugte sich dann mit aufgestützten Ellenbogen vor. Die Haltung erinnerte mich an meinen Vater am Tag der Zeugnisvergabe in der achten Klasse, als meine Mutter ihn gezwungen hatte, mit mir über die Fünf in Geschichte zu reden. Von einer liebevollen Umarmung war ich offenbar so weit entfernt wie die Jungfrau Maria von einem erfüllten Sexualleben. »Also gut, Lilli, dann erzähl halt. Was war diesmal mit der Berger?« - »Vergiss es, du musst hier kein Interesse heucheln.« - »Lilli, rede keinen Unsinn, natürlich interessiert es mich, wenn du Ärger hast.« Aber sicher, ungefähr so sehr wie eine Strickanleitung für Socken. Ich schwieg. Knut seufzte. »Wenn die Frau dich so nervt, bewirb dich doch auf eine andere Stelle. In eurem Riesenladen wird es ja wohl was Interessantes für dich geben.« War doch klar, dass er mit einem Rat um die Ecke kommen würde. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich wollte keinen Rat, sondern Trost. Übrigens hatte ich natürlich längst sämtliche Stellenausschreibungen am Schwarzen Brett gelesen. Es gab nichts auch nur halbwegs Interessantes. Und schon gar keine Stelle, bei der ich gelegentlich mit Mario Adorf oder Vitali Klitschko plaudern konnte. »Sehe ich doch gar nicht ein, dass ich gehe, wenn die Berger sich danebenbenimmt, ich lass mich von der doch nicht vertreiben!« - »Hast du nicht eben gesagt, du willst da nicht mehr hin?« - »Ich will aber auch nicht, dass die Berger gewinnt. Und ich will schon gar nicht wegen der die nächsten zwanzig Jahre einen langweiligen Job in der Verwaltung machen.« - »Lilli, die Frau ist deine Vorgesetzte, die gewinnt sowieso. Also musst du entweder gehen oder dich mit ihr arrangieren. Denk doch mal logisch.« Mit Knut konnte man einfach nicht vernünftig reden. Er stand auf. »Bringst du die Küche in Ordnung und machst was zu essen? Ich hatte einen verdammt langen Tag und würde jetzt gern duschen.« Ich widerstand der Versuchung, ihm die Eier vom Fußboden als Rührei zu servieren. Stattdessen machte ich sauber und holte eine Packung Nudeln mit Soße aus dem Schrank. Natürlich ging mir durch den Kopf, was Knut eben gesagt hatte. Aufhören oder mich arrangieren. Die beiden Worte summten in meinem Kopf, während ich in der siedenden Soße rührte und noch ein bisschen Wein trank. Arrangieren, das hatte so was von Weichei. Kam nicht in Frage. Aufhören klang schon besser. Viel besser. Das klang nach Veränderung. Nicht nach: »Bleib, wie du bist, Lilli.« Vielleicht sollte ich in der Tat aufhören. Und zwar ganz. Gar nicht mehr arbeiten, jedenfalls nicht als Sekretärin. Warum eigentlich nicht? Andere Frauen in meinem Alter gingen doch auch noch mal ganz neue Wege. Mitten in meine Gedanken zischte überkochendes Wasser. Ich nahm schnell den Deckel vom Nudeltopf. Neulich erst hatten wir diese Mutter in der Sendung, die quasi über Nacht reich geworden war. Was hatte die noch verkauft? Selbstgemachte Filzpantoffeln und Kinderkleidung? Na gut, filzen konnte ich nicht, aber so was ließ sich ja lernen. Ach Quatsch. Was dann? Schauspielschule? Töpfern? Kreatives Schreiben? Ich träumte vor mich hin, sah mich als Bestsellerautorin, als gefeierten Bühnenstar mit einer todschicken Wohnung in Hafen-City, selbstverständlich mit Dachterrasse samt Blick auf die Elbe. Träumen durfte man ja. Und immerhin hatte ich schon ein Pseudonym. Ich war Lillian Reich. Knut kam in seinem rot-schwarz gestreiften Bademantel in die Küche. Morgens sieht er darin aus wie Dittsche, aber abends, nach der Dusche, mehr wie ein angejahrter Playboy. Ich schnupperte. Zitrus, Lavendel und Sandelholz. »Intimately Yours« von David Beckham. Das Rasierwasser hatte ich ihm zu Weihnachten geschenkt. Ob das was zu bedeuten hatte? Wahrscheinlich nicht. Selbst Knut musste klar sein, dass ich heute wohl kaum mit ihm kuscheln würde. Wollte ich sowieso eher selten. »Zieh dir besser was an, Julia kommt gleich noch vorbei«, sagte ich.
© 2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Im Fernsehen wirkten die großen eckigen Sessel immer so bequem. Lilli rutschte auf dem glatten Leder hin und her. Verdammt, es musste doch möglich sein, eine angenehme und halbwegs elegante Sitzposition zu finden. Sie wollte auf keinen Fall aussehen wie eine in der Sofaecke vergessene Gliederpuppe. Aber auch nicht so, als hätte sie Knuts Wasserwaage verschluckt. Außer ihr rutschte niemand. Rechts von ihr nippte, die Beine lang ausgestreckt, Hans Scheibner an seinem Rotwein. Gegenüber flüsterte Charlotte Roche mit Dieter Wedel. Links von Lilli saß ein Jungschauspieler, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Er lächelte ihr zu. Lilli lächelte zurück. Dann war da noch Ruth Maria Kubitschek. Sie sah ein bisschen müde aus. Müde, aber auch superelegant und gelassen. Es war lächerlich, so nervös zu sein. Nichts war ihr hier fremd, sie kannte das alles aus dem Effeff. Sämtliche Kameraleute, die Regisseurin, Andy, den Anheizer, und seine immer gleichen Sprüche, mit denen er garantiert auch heute das Publikum aufgelockert hatte, bevor sie und die anderen Talkgäste ins Studio gekommen waren. Lilli sah zu der hohen Metalltür, durch die das Publikum eingelassen wurde und die jetzt geschlossen war. Bis vor kurzem war sie es gewesen, die die Leute, wenn sie erwartungsfroh hereinkamen, unauffällig sortierte. Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht ... Lilli sah sich um. Die Dicke da links mit dem grellbunten Kleid, die hätte es bei ihr nie ins Licht geschafft, also in die erste Reihe gleich hinter den Talkgästen. Vergiss das jetzt, sagte sich Lilli. Das ist nicht mehr dein Job. Du bist hier nicht zum Arbeiten, du bist Gast. Wirklich wahr. Inzwischen hatte die Berger garantiert mitgekriegt, wer da in ihrer Sendung saß, und tobte im Regieraum. Lilli gönnte sich ein zufriedenes Lächeln. Dann dachte sie kurz an Marie-Anne. Ob sie wohl einen Fernseher in ihrer Zelle hatte? Barbara Schöneberger und Hubertus Meyer-Burckhardt erschienen und besetzten die beiden noch freien Sessel. Dann setzte die Erkennungsmelodie ein. Lilli zupfte schnell noch mal ihr Kleid zurecht. Strick mit Chiffon in Cremeweiß - schlicht, aber stilvoll. Und es passte gut zu den orangebraunen Sesseln. Nur schade, dass der Jungschauspieler sich keine Gedanken über die Farbe seines Hemdes gemacht hatte. Rosa zu Orangebraun, da kam einem ja der Kaffee hoch. Die Schöneberger trug mal wieder schwarz und eng. Zu eng für Lillis Geschmack. Sie selbst wäre im Leben nicht so herumgelaufen, schon gar nicht vor einer Kamera. Nur noch ein paar Sekunden. Die Namen der anderen Gäste rauschten an ihr vorbei. Dann sah Hubertus in ihre Richtung. An der auf Lilli gerichteten Kamera leuchtete das kleine rote Licht. Sie war auf Sendung. O Gott, ihr war schlecht. Lächle, Lilli, lächle! Wie von weitem hörte sie Hubertus sagen: »Lillian Reich über Lug und Trug.«
1
Ich hatte keine kleinen Männchen im Kopf, die mir Befehle gaben. So war das nicht. Ich hatte auch keine »Ich-Störung«. Mal ehrlich, eine Freundin, die so etwas behauptete, musste man doch wirklich in die Wüste schicken. Und dort konnte Tina meinetwegen vertrocknen. Ich war eine ganz normale Frau von sechsundvierzig Jahren. Ich hatte einen Mann, ich hatte eine Tochter, ich hatte einen Beruf, ich hatte ein Hobby. »Frau Karg?« Leider hatte ich auch eine Chefin. »Wenn ich Ihre sicher immens wichtigen Gedanken kurz unterbrechen darf? Wir haben noch Änderungen in der Sitzordnung und im Ablauf. Und sind die Moderationskarten für Hubertus fertig?« Das war sie. Yvonne Berger. Ein Meter achtzig groß und ein echter Kotzbrocken. Seit vier Wochen unsere Redakteurin. Sie stand vor meinem Schreibtisch, und aus ihrem riesigen rotgeschminkten Mund tropfte Säure. »Es wäre übrigens ganz reizend, Frau Karg, wenn Sie gelegentlich ans Telefon gingen.« Von mir aus konnte sich Yvonne Berger den Platz an der Sonne mit meiner ehemaligen Freundin Tina teilen. Ich konnte die beiden fast sehen, wie sie mit letzter Kraft auf ein leider ausgetrocknetes Wasserloch zurobbten. Ich würdigte Frau Wichtig-Berger keiner Antwort, nahm ihr die Papiere aus der Hand und machte mich mit einem demonstrativen Seufzen daran, die Pläne zu ändern und neu auszudrucken. Für die Berger, die sich gerade ungefragt eine der Pralinen aus dem Schälchen auf meinem Schreibtisch in den Mund schob und dann abzog, war ich doch nichts anderes als eine Papiermaschine. Warum hatte Sabine auch zu Radio Bremen wechseln müssen? Sabine war total nett gewesen. Die hatte zum Beispiel verstanden, dass unsereins zwischendurch auf Voicemail schalten musste, um mal eine ruhige Minute zu haben. Kaum hatte ich das Telefon wieder auf Empfang geschaltet, klingelte es auch schon los. »Elisabeth Karg am Apparat, was kann ich für Sie tun?« Die nächsten fünf Minuten verbrachte ich mit einem Dr. Dr. Peter Seibers, der wegen seiner fulminanten Erfolge auf dem Gebiet des Taubentrainings in die Sendung eingeladen werden wollte. Seine Tauben, beteuerte Dr. Dr. Seibers, könnten zwischen den Gemälden von Picasso und Monet unterscheiden. »Herr Dr. Seibers, Sie müssen Ihren Themenvorschlag bitte schriftlich einreichen.« Das interessierte ihn überhaupt nicht. Der Mann redete und redete. »Hören Sie, wir haben heute Sendung, ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr, Ihnen zuzuhören, und ich habe auch gar keinen Einfluss auf die Gästeauswahl. Bitte schicken Sie uns doch einen Brief oder eine E-Mail.« - »Sie müssen mir zuhören, ich bin Gebührenzahler!«, brüllte die Stimme im Telefon. Ich legte auf. Hatte ich wirklich mal geglaubt, Redaktionssekretärin beim Fernsehen wäre ein toller Job? Stunden später saß ich endlich im Bus nach Hause. Gleich konnte ich die Beine hochlegen und ein schönes Glas Rotwein trinken. Vielleicht würde ich noch ein bisschen lesen. Hauptsache, ich musste mit keinem Menschen mehr reden. An den Sendetagen konnte ich mich darauf verlassen, dass Knut schon schlief, wenn ich nach Hause kam. Mit ein bisschen Glück lag er im Bett und nicht auf dem Sofa. So leise es ging, schloss ich die Wohnungstür auf, hängte meinen Mantel an die Garderobe, ärgerte mich kurz, aber still über Knuts schmutzige Schuhe mitten im Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Nur die Katzen lagen auf dem Sofa und hoben kurz den Kopf. Kein Knut. Gut. »Lilli, Schatz, da bist du ja endlich!« Mein Gatte erschien in der Küchentür. Hellwach und mit leuchtend rotem Kopf. Knuts Gesicht ist immer ein bisschen rot, das kommt von seiner friesischen Herkunft und der Arbeit im Freien, aber jetzt leuchtete sein Kopf wie ein Kürbis an Halloween. Drei Biere, schätzte ich, vielleicht auch vier. Hinter ihm in der Küche polterte etwas. Da war noch jemand. »Hey, Lilli, komm her, es gibt was zu feiern!« Die Stimme von Jens, Knuts Kollegen und bestem Freund, klang schon ein bisschen verwaschen. Knut fiel mir mitsamt seiner Bierfahne um den Hals. Ich stand stocksteif da und intonierte innerlich meine Lieblingstextzeile von Ina Müller: »Bitte, bitte spring doch vom Balkon«. Nicht zum ersten Mal fand ich es sehr bedauerlich, dass unser Wohnblock nur drei Stockwerke hatte und nicht acht oder zehn. »Was ist los?«, zwang ich mich zu fragen. Freundlich klang anders. Aber Knut hätte es wahrscheinlich nicht mal gemerkt, wenn ich, statt zu sprechen, gebellt hätte. »Samara ist schwanger!« Er strahlte vor Glück. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Samara ist nicht etwa unsere Tochter. Unsere Tochter heißt Julia und könnte bestenfalls in andere Umstände geraten, wenn Windbestäubung auch bei Menschen funktionierte. Julia macht Karriere, für so etwas Überflüssiges wie Liebe hat sie keine Zeit. Für ihre Eltern übrigens auch nicht. Nein, um Julia ging es nicht. Samara maß einen Meter zwölf, wog sechsunddreißig Kilogramm, hatte lange rote Haare und war ein pralles Orang-Utan-Weibchen. Seit Samara ins Hagenbecker Affenhaus eingezogen war, um dort mit Männchen Siam möglichst viele Nachkommen zu zeugen, kannte ich ihren Zyklus besser als meinen eigenen. Ihr Pfleger, mein Mann, redete nämlich von fast nichts anderem. Nun war Samara also schwanger. Wie schön für Knut. »Wie schön für dich«, sagte ich, winkte Jens durch die offene Küchentür kurz zu, murmelte: »Bin müde«, und ließ die stolzen Männer allein. In unserem Ehebett mit dem Charme der Achtziger las ich noch ein bisschen in der Biographie von Coco Chanel. Die hatte ein Leben! Am nächsten Morgen weckte mich tatsächlich die Sonne. Wir hatten keine Vorhänge, weil uns niemand ins Fenster gucken konnte. Ich liebte Licht. Sonne hatte auf mich die Wirkung einer Frischzellenkur. Deshalb war ich auch noch ziemlich guter Laune, als ich mich an den Frühstückstisch setzte und mir Kaffee einschenkte. Knut hatte den Tisch gedeckt und las jetzt in einer Zeitschrift. »Morgen.« - »Morgen.« Er guckte nicht mal hoch. »Knut?« - »Was?« Ein Orang-Utan zierte das Cover des Magazins, in dem er las - nicht wirklich überraschend. Wie lange sollte ich das noch aushalten? Ich wollte ein affenfreies Wochenende. Oder wenigstens ein affenfreies Frühstück. Knut angelte nach seiner Kaffeetasse. Ich sah von ihm nur den Arm und sein leicht schütteres Haupthaar. Noch war das meiste davon rotblond, aber die ersten grauen Strähnen waren nicht zu übersehen. Ich wartete, ob noch etwas kam. Nein. Sah so aus, als müsste ich mich zum Affen machen, um die Aufmerksamkeit meines Gatten zu erregen. Als ich mit den Fäusten auf meinen Brustkorb trommelte und brüllte, sah Knut mich tatsächlich an. »Sag mal, Lilli, bist du irre?« - »Fahren wir nachher zu Ikea?« - »Was willst du denn da?« Statt des geplanten Stöhnens entfuhr meiner Kehle eine Art Grollen. »Knut, seit Wochen sage ich dir, dass wir ein neues Sofa brauchen.« - »Für mich ist das alte noch bestens.« Knut hasste Veränderungen. »Außerdem ist Samstag, da werden wir bei Ikea totgetreten.« Knut hasste auch Ikea. Und alle anderen Möbelhäuser. »Wann sonst?« Aber für Knut war das Gespräch beendet. Eine Stunde später war mein Mann an seinem freien Wochenende in den Zoo gefahren, ich hatte den Frühstückstisch abgeräumt, das Bad geputzt, das Wohnzimmer mit dem schäbigen Sofa gesaugt und stand vor dem Kleiderschrank. Also gut, Knut, dachte ich, vergessen wir Ikea, du hast es so gewollt. In einem Karton mit der Aufschrift »Hochzeitsschuhe« auf dem Boden des Schrankes lag glänzend meine blonde Zweitfrisur. Ich zog auch den hellen Hosenanzug aus seinem Versteck hinter den Wintermänteln. Ach, dieser feine Stoff! Ich strich mit der Hand über die superzart gewebte und edel schimmernde Schurwolle. Der Anzug war elegant, aber nicht extravagant. Genau richtig. Ich hatte ihn im Ausverkauf bei Strenesse gefunden. Leider hatte er immer noch mehr gekostet als unser Flachbildfernseher, aber das musste ja niemand wissen. Wozu besaß eine Frau denn sonst ein eigenes Konto? Die passende schokoladenbraune Bluse war aber wirklich ein Schnäppchen gewesen. Jetzt noch die dunkelbraunen Pumps, dann das dezente Make-up und dazu der Lippenstift. »Brown Sugar« hieß die Farbe. Ich fand, sie passte perfekt zu dem Blond und dem hellen Blazer. Fertig. Die graue Maus Lilli Karg war verschwunden. Vor mir im Spiegel stand Lillian Reich, die elegante und erfolgreiche Ärztin. Ich prüfte noch, ob ich den Spendenaufruf für »Ärzte ohne Grenzen« in der Tasche hatte, dann machte ich mich auf den Weg in die City.
2
Das grelle Licht im Auge war unangenehm. Ich blinzelte und wischte den Finger, der mein Augenlid anhob, aus dem Gesicht. »Na also, da sind Sie ja wieder.« Die Männerstimme war so fremd wie der stechende Geruch, der meine Nase reizte. »So, junge Frau, schön ruhig liegen bleiben. Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.« Was? Ich drehte den Kopf, und mein Blick fiel auf einen kleinen hellen Blutfleck am Saum eines weißen Kittels. Weißer Kittel, weiße Hose. Sanitäter. Rettungswagen. Wie zum Teufel kam ich hierher? Jemand schloss von außen die Türen des Wagens. Der Motor sprang an. Eben hatte ich doch noch Kaffee getrunken. Genau. Einen großen Milchkaffee, ich schmeckte ihn noch auf der Zunge. Streng dich an, Lilli, was war noch? Langsam kristallisierte sich ein Bild. Ich sah mich in meinem Lillian- Outfit im Stehcafé an der Ecke vom Rathausmarkt, mir gegenüber am Tisch eine Frau mit kurzen braunen Haaren und Grübchen. Was hatte ich der Frau erzählt? Fiel mir jetzt nicht ein. Nur, dass mir plötzlich schummrig geworden war. Danach war alles weg. »Da sind Sie aber wirklich unglücklich gestürzt, das war eine ganz schöne Sauerei da in dem Laden.« - »Hm?« Der Sanitäter lachte. Er sah aus wie siebzehneinhalb, so sehr lange konnte der diesen Job noch nicht machen. »Sie sind auf die Nase gefallen und haben denen im Café ihren weißen Marmorboden vollgeblutet, das sah echt beeindruckend aus. Ihre Jacke hat auch was abgekriegt.« Erst jetzt sah ich den großen Blutfleck an meinem Ärmel. Er sagte: »Lassen Sie mal sehen.« Sein Interesse galt selbstredend nicht dem Fleck auf meiner Jacke, er drückte an meiner Nase herum. »Ich glaub nicht, dass die gebrochen ist. Die Blutung hat auch aufgehört.« Ich wollte mich aufsetzen, war aber festgeschnallt. »Hören Sie, ich muss nicht ins Krankenhaus, das war nur eine kleine Kreislaufschwäche, passiert mir manchmal.« Das stimmte, mein Blutdruck schwankte schlimmer als eine Hafenbarkasse bei Schlechtwetter. »Das wird sich ja zeigen. Die Ärzte werden Sie schon gründlich durchchecken. Extra gründlich, würde ich sagen, nach dem, was Ihre Bekannte uns erzählt hat. Ich messe jetzt noch mal Ihren Blutdruck.« Welche Bekannte? Die Frau mit den Grübchen? Ich zermarterte mir das Hirn. Worüber hatte ich mit der Frau geredet? Bücher. Richtig, endlich fiel es mir wieder ein. Wir hatten über Bücher geredet. Die andere Frau hatte in »Eat Pray Love« gelesen. Ich hatte sie angesprochen und gefragt, worum es in dem Buch gehe. Dann waren wir bei Selbstfindung und Reisen gelandet, und ... o Mist. Bei Haiti. Bei meinem Einsatz für die Erdbebenopfer. »Sagen Sie, haben Sie dort Sean Penn getroffen, den Schauspieler?« Der blondgelockte Sanitäter schaute mich aus seinen runden blauen Augen an wie ein Fünfjähriger, der gleich ein großes Stück Schokolade bekommt. Wahrscheinlich sah er schon eine Schlagzeile in der Morgenpost vor sich: »Hamburger Sanitäter rettet Freundin von Sean Penn das Leben«. Ich schwieg. Der Helfer in Weiß nicht. »Also, ich finde es schon großartig, was der Mann da leistet. Obwohl, so als Mensch soll er ja schwierig sein, hab ich gelesen. Und, wie isser wirklich?« - »Hören Sie, ich kenne Sean Penn nicht persönlich, und ich will jetzt hier raus!« - »Damit Sie bei uns die Cholera einschleppen?« So ein Idiot. Der brachte es fertig und ließ mich unter Quarantäne stellen. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Natürlich hatte ich nicht vor, dem Jüngling auf seine pickelige Nase zu binden, dass ich vorhin im Café ein bisschen geschwindelt hatte. Kam gar nicht in Frage. Ich atmete tief durch. »Zu Ihrer Orientierung: Ich bin schon seit Wochen wieder in Hamburg. Die Cholera bricht aber spätestens nach fünf Tagen aus. Und wer sie hat, geht nicht mehr Kaffee trinken.« Man kann mir einiges vorwerfen, aber nicht, dass ich mich nicht auskenne. Ich lese wirklich viel. »Das können Sie mit den Ärzten klären«, erwiderte er, »ich hab schon vorgewarnt, dass wir einen Infektionsverdacht bringen.« - »Dann funken Sie jetzt noch mal, dass der Verdacht sich erledigt hat. Ich gehe doch nicht ins Krankenhaus, bloß weil Sie das Goldene Blatt lesen!« Zu spät. Durch die Scheibe erkannte ich das schöne alte Gebäude des Krankenhauses in St. Georg. Die Notaufnahme war aber ganz neu, wie ich zwei Minuten später feststellen durfte. Jetzt sollte mir besser etwas einfallen.
Kurz darauf guckte ich statt in die blauen Augen des Sanitäters in winzig kleine braune. Könnte schon sein, dass diese Augen normalerweise größer waren, aber im Augenblick hingen die Lider schwer, und es hätte mich nicht gewundert, wenn der Arzt vor mir gleich eingeschlafen wäre. Er schaute auf sein Klemmbrett. »Sie sind der angebliche Choleraverdacht?« Das klang doch schon schön skeptisch. Wahrscheinlich wusste dieser Arzt, dass heutzutage unerfahrene Kindsköpfe im Rettungswagen unterwegs waren. Er selbst sah übrigens auch aus, als könnte er mein Sohn sein. Ich lächelte so strahlend, wie ich konnte. »Das ist alles ein Missverständnis.« Eine Krankenschwester schob hektisch eine Trage an uns vorbei, der Mann darauf blutete fürchterlich. Schnell schaute ich weg. Mir wurde immer schlecht, wenn ich Blut sah. »Hören Sie, ich bin völlig in Ordnung, der Rettungssanitäter hat da was falsch verstanden. « - »Waren Sie denn nun auf Haiti, oder nicht?« »Ähm, nein, das ist ja das Missverständnis - ich war auf Tahiti, nicht auf Haiti.« Also, wenn mir da jetzt nicht die perfekte Lösung eingefallen war, dann wusste ich auch nicht. »Und jetzt lassen Sie mich bitte gehen, es gibt hier weiß Gott Menschen, die Sie dringender brauchen.« - »Dachte ich mir doch, dass das Quatsch ist. Und Sie meinen wirklich, dass Sie in Ordnung sind?« - »Absolut!« Er guckte wieder auf sein Brett. »Der Blutdruck ist ja offenbar wieder stabil. Na gut. Aber gehen Sie in nächster Zeit besser mal zum Kardiologen.« - »Versprochen.« Ich unterschrieb ein Formular, dann durfte ich gehen. In der nächsten Besuchertoilette wischte ich mir das Blut aus dem Gesicht.
Kaum stand ich draußen vor der Notaufnahme und hielt die Nase in die Sonne, holte ich reflexartig das Handy aus meiner Handtasche. Tina würde sich totlachen, wenn ich ihr die Cholera-Nummer erzählte. Gerade wollte ich den grünen Knopf für die Verbindung drücken, da fiel es mir wieder ein: Eher beförderte mich die Berger zur Redakteurin, als dass Tina über diese Geschichte lachte. Tina fand meine Geschichten nicht komisch, Tina hielt mich ja neuerdings für gestört. Mit einem schnappenden Geräusch klappte der Deckel meines antiquierten Handys zu. Eigentlich peinlich, heutzutage noch mit so einem Telefon herumzulaufen. Ich stopfte es zurück in die Handtasche, zupfte mein Blondhaar zurecht und ging zur U-Bahn. Nach dem Gestank zu urteilen, mussten sich im Eingang zur U-Bahn-Station unlängst ganze Horden erleichtert haben. Erst unten am Gleis wurde die Luft besser. Natürlich war die U 1 gerade weg, und die nächste Bahn kam erst in zwanzig Minuten. Ergeben ließ ich mich auf eine kalte Bank sinken. »Gestört.« Das Wort ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn ich ehrlich war, klebte das ganze Gespräch mit Tina in einer Ecke meines Hirns und wollte sich partout nicht entfernen lassen. Tina hatte sich aufgeführt, als hätte sie das Gebot ›Du sollst nicht lügen‹ persönlich erfunden. Dabei konnte sie wunderbar schwindeln. »Weißt du noch, wie wir damals Roland aus der 3a hochgenommen haben? Der glaubt wahrscheinlich heute noch, dass meine Familie eine sieben Meter lange Boaconstrictor als Haustier hält und immer mit in den Urlaub nimmt.« - »Da waren wir acht, Lilli!« - »Okay. Aber wir waren ja wohl beide erwachsen, als du gleichzeitig mit Conny und mit Peter zusammen warst. Hast du denen vielleicht keine Lügen aufgetischt?« - »Mein Gott, auch das ist zwanzig Jahre her, und außerdem kannst du das nun wirklich nicht mit dem vergleichen, was du jetzt machst.« - »Und warum nicht?« - »Weil es krank ist, wildfremden Leuten Geschichten aus einem Leben zu erzählen, das du gar nicht hast! Ich dachte wirklich, so etwas hättest du endgültig hinter dir.« Dabei guckte sie mich genauso düster an wie vor ein paar Jahren mein Gynäkologe, als er mich in Krebsverdacht hatte. »Lilli, vielleicht hast du eine Ich- Störung. Dagegen kann man was tun. Ich kenne in Altona einen Therapeuten ...« Also bitte! Einem Schriftsteller sagte doch auch keiner, er sollte zum Arzt gehen, wenn er gute Geschichten erzählte. Dem warf niemand vor, er identifiziere sich zu sehr mit seinen Figuren. Dramatische Erzählungen lagen mir besonders. Deshalb war ich auch so gern als Ärztin unterwegs. Wenn ich zum Beispiel von einer Notoperation in Afrika erzählte, dann konnte ich förmlich den Schweiß spüren, der mir im stickigen OP-Zelt von der Stirn tropfte. Und ich erzählte meine Geschichten auch nur Touristen, die ich garantiert nicht wiedersehen würde. »Mensch, Tina, du müsstest mal sehen, wie die Leute an meinen Lippen hängen! Wie Fliegen am Klebestreifen, ehrlich. Die bewundern mich.« - »Aber Lilli, das ist doch totaler Quatsch, die bewundern doch nicht dich. Die bewundern jemanden, den es gar nicht gibt!« - »Na und? An meinem guten Gefühl ändert das gar nichts.« Also gut, dachte ich, als ich endlich in der U-Bahn saß. Dann versteht mich Tina eben nicht. Man kann nicht alles haben. Es war ein Fehler gewesen, ihr von meinem Hobby zu erzählen. Punkt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie inzwischen in die Liga der Lauteren gewechselt war. Schon gar nicht, wenn man bedachte, was sie beruflich tat. Plötzlich musste ich lachen. Ausgerechnet eine PR-Frau hielt mir einen Vortrag über Ehrlichkeit! Sonntagnachmittag. Nachdem wir den Vormittag damit verbracht hatten, Thomas und Helen von nebenan beim Auszug zu helfen, entspannte sich Knut bei einer sterbenslangweiligen Dokumentation über die Magie der Mongolei. Eine Weile setzte ich mich zu ihm und dachte beim Anblick strammer Mongolen daran, endlich mehr Sport zu treiben. Garantiert würde ich morgen sogar vom Geschirreinpacken Muskelkater haben, so untrainiert, wie ich war. Ich sollte mich wirklich in einem Fitnessstudio einschreiben. Sofort standen mir statt der Mongolen Madonnas muskulöse Oberschenkel vor Augen. Solche Schenkel hätte ich schon auch gern gehabt. Ich konnte ja mal gucken, was die heutzutage so kosteten. Also die Fitnessstudios. Unser hochbetagter Computer stand eingeklemmt zwischen Kleiderschrank und Kommode im Schlafzimmer. Die nächsten zehn Minuten verbrachte ich damit, meinen sparsamen Gatten zu verfluchen und mich davon abzuhalten, mit den Fingern auf der Tastatur herumzuspielen. Meine Güte, war dieses Gerät langsam! Dann war ich endlich im Netz. Zuerst würde ich mal meine E-Mails checken, auch wenn meine Erwartungen gegen null gingen. So wie ich das sah, hatte sich gegenüber der guten alten Zeit nichts geändert. Wer keine Briefe schrieb, bekam auch keine. Aber man wusste ja nie. Das Nep.Cent-Team wollte mir eine gebührenfreie Mastercard andrehen. Weg mit der Nachricht. Dann war da eine Lotto-Gewinnmitteilung. Am Montag würde ich erfahren, wie viel ich gewonnen hatte. Wahrscheinlich wieder zwei Euro fünfzig, wie beim letzten Mal. Ich spielte erst wieder Lotto, seit es das Internet gab. Früher hatte ich die Scheine grundsätzlich sofort nach dem Ausfüllen vergessen und nie mitgekriegt, ob ich was gewonnen hatte. Das konnte mir jetzt nicht mehr passieren. Die nächste Mail. Eine Grace Smith hatte es irgendwie geschafft, sich mit einer »Gewinn Notification« an meinem Filter vorbeizumogeln. Grace bekam ein Spam-Häkchen und wanderte hoffentlich für alle Ewigkeit in den Papierkorb. Nichts von meiner Cousine Verena aus dem Allgäu, nichts von meinem Bruder und natürlich auch nichts von meiner Tochter. Damit war die Liste meiner E-Mail-Kontakte auch schon fast erschöpft. Ich wollte das Programm gerade schließen und Hamburger Fitnesscenter googeln, da kam noch eine neue Nachricht.
Betreff: Sorry Von: Tina1965@nep.de An: lillikarg@nep.de Datum: 05.06.2011 Liebe Lilli! Nachdem du neulich gegangen warst, habe ich noch lange an dich und unser Gespräch gedacht. Und ich glaube, ich sollte mich bei dir entschuldigen. Ich finde dein »Geschichtenerzählen « zwar nach wie vor grenzwertig, aber ich hätte dich nicht als krank bezeichnen dürfen. Wer bin ich, zu beurteilen, was in dir vorgeht? Schließlich habe ich nicht Psychologie studiert, sondern PR und Kommunikation. Ich bin nur einfach der Ansicht, dass du es nicht nötig hast, dich als eine Frau auszugeben, die du nicht bist. Denn so, wie du bist, bist du richtig. Du bist zuverlässig und kannst toll organisieren, du bist kompromissbereit, du bist tolerant. Nur an Selbstwertgefühl scheint es dir zu fehlen. Ich hab mal ein bisschen im Internet gestöbert und bin auf eine Liste mit Tipps zur Stärkung des Selbstbewusstseins gestoßen (hänge ich dir an). Vielleicht kannst du etwas damit anfangen. Du musst niemanden belügen. Auch nicht dich selbst. Deine alte Freundin Tina Mein erster Gedanke: Das ist ja echt lieb von Tina! Ich fand es schon toll, wenn jemand Fehler zugeben konnte. Mir selbst fiel das schwer. Aber dann saugten sich meine Augen an den Worten ›zuverlässig, kompromissbereit und tolerant‹ fest. Nicht, dass das schlechte Eigenschaften wären.
Aber wo stand »schön und erfolgreich«? Oder wenigstens »gutaussehend«? Ach, ich vergaß, Tina war ja ehrlich. Aber ein kleines »humorvoll« oder ein »intelligent« wäre doch wohl drin gewesen. Stattdessen: toll im Organisieren. Da hätte sie doch auch gleich schreiben können: »Quadratisch, praktisch, gut.« Und wieso meinte sie, ich müsste was für mein Selbstbewusstsein tun? Vielleicht fand ich die Mail doch nicht so lieb. Den Anhang klickte ich trotzdem auf. »Sagen Sie zu sich selbst: Ich mag mich!« Na, das war ja mal ein toller Tipp. Erst erzählte mir Tina, ich solle nicht lügen, und dann das. Der zweite Punkt war auch nicht besser: »Schließen Sie Frieden mit den negativen Seiten von sich selbst.« Wie ich das machen sollte, stand da natürlich nicht. Und auch nicht, wie lange die Friedensverhandlungen dauern durften. Ich würde da spontan mal so zwei bis fünf Jahre ansetzen. Weiter im Text. Ich sollte meine Schwächen als Teil meiner Persönlichkeit annehmen und dann in Stärken umwandeln. Ich überlegte. Meine größte Schwäche waren Pralinen. Wie konnte ich das jetzt in eine Stärke umwandeln? Sollte ich ins Konditoreifach wechseln, oder was? Punkt vier der Liste: »Finden Sie an jedem Menschen etwas Positives.« O ja, unbedingt. Natürlich dachte ich sofort an meine neue Chefin. Wetten, dass der Verfasser dieses Unsinns garantiert nie mit einer Yvonne Berger zusammenarbeiten musste? An der Frau war nun wirklich nichts Positives zu finden. Okay, nächster Punkt. »Nehmen Sie Komplimente an.« Ja, gern. Ich war quadratisch, praktisch, gut. Vielen Dank auch. »Führen Sie ein Pluspunktebuch. Schreiben Sie Komplimente, Lob etc. auf.« Das konnte ich gern machen. Dafür brauchte ich allerdings kein Buch. Ein Zettel von der Größe meines Daumennagels dürfte völlig reichen. »Was schätzen andere an Ihnen?« Siehe oben. »Sollten Sie nicht wissen, was Ihre Mitmenschen an Ihnen schätzen, dann fragen Sie nach.« Also gut. Tina war ja nicht der einzige Mensch in meinem Dunstkreis. Ich ging hinüber ins Wohnzimmer. Knut hatte von den Mongolen zur Formel 1 gewechselt. »Du, Knut?«, schrie ich gegen den Lärm der Rennwagen an. - »Hm?« - »Was schätzt du an mir?« - »Was?« - »Was du an mir schätzt!« - »Wie kommst du denn jetzt darauf?« - »Nun sag doch mal!« Ich fürchtete schon, Sebastian Vettel würde das Greisenalter erreicht haben, bis Knut endlich antwortete. »Deine Kuchen?« - »Ist das alles?« - »Was willst du denn hören?« - »Ach, vergiss es.« Ich setzte mich wieder an den Computer. »Versöhnen Sie sich mit Ihrem Körper.« Na, sicher doch. Ich könnte was Schönes für meinen Hängebusen und meine Cellulitis kochen, dann ein paar Kerzen anmachen und schon wären wir versöhnt. Der war doch nicht ganz dicht, der das geschrieben hatte. »Machen Sie sich Ihre Stärken und positiven Eigenschaften bewusst.« Kein Problem. Ich war spitze in Reisekostenabrechnung und konnte super Geschichten erzählen. Okay, der letzte kluge Tipp. »Eignen Sie sich die Körpersprache eines Menschen an, der über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügt.« Was? Ich sollte laufen und gestikulieren wie die Berger?
Betreff: AW: Sorry Von: lillikarg@nep.de An: Tina1965@nep.de Datum: 06.06.2011 Liebe Tina, danke für deine Mail. Richtig, du bist keine Psychologin, und du solltest auch besser nicht an einen Berufswechsel in diese Richtung denken. Es ist lieb, wenn du mich aufmuntern willst, oder was immer deine Zeilen bezwecken sollten. Aber bitte verschone mich mit weiteren Ratschlägen zur Stärkung meines angeblich nicht ausreichenden Selbstvertrauens. Mir geht es gut, und ich will so bleiben, wie ich bin. Deine Lilli Klang das ein bisschen zickig? Schon möglich. Ich schickte die Mail trotzdem ab und fuhr den Rechner herunter. Dank der tollen Liste war mir jetzt völlig klar, dass ich das Geld für ein Fitnessstudio auch sparen konnte. Was nützten mir stramme Oberschenkel, wenn unter meinem Busen nicht nur ein Bleistift, sondern gleich eine ganze Bleistiftpackung Halt fand?
3
Montag. Konferenztag. Wir saßen erst zwanzig Minuten zusammen, und ich sah eine Massenkündigung auf uns zukommen. Wahlweise einen Meuchelmord. Und zwar wie damals im Film »Orient Express«, jeder dürfte mal zustechen. Also, ich wäre dabei. Wir besprachen die Sendung vom vergangenen Freitag. Das heißt: die Berger besprach. Die Temperatur in unserem eigentlich angenehm klimatisierten Konferenzraum mit dem schlichten runden Tisch lag bei geschätzten zwanzig Grad minus. Einzige Wärmequelle war der uns vorgesetzte Drache, der seit Beginn der Konferenz heiße Wutwellen in den Raum schickte, denen wir Übrigen auszuweichen versuchten. Keiner guckte den anderen an, alle starrten auf ihre Notizblöcke. Ich schrieb mit. Eigentlich wurden die Konferenzen nicht protokolliert, aber ich gab mich gern beschäftigt. Und zu Hause hatte ich so eine Art Tagebuch mit meinen persönlichen Best-of bzw. Worst-of, je nachdem. Natürlich wusste das niemand. Eben hatte es Michael erwischt, einen unserer freien Autoren. Die Berger hatte ihn in rasendem Sprechtempo und lautstark fertiggemacht, weil ihr Klaus Hoffmann als Gast zu langweilig gewesen war. Selbst mit Steno hatte ich Mühe, alles mitzukriegen. »Ich dulde kein intellektuell verbrämtes Geseiche in meiner Sendung! Wir sind hier nicht bei ARTE, verdammt noch mal! Ich will Quote! Ich erwarte unterhaltsame Gäste und witzige Gespräche. Hast du eine Ahnung, was witzig ist, Michael? Wenn nicht, dann mach dich besser schnell schlau, sonst bist du raus.« Michael hatte Klaus Hoffmann eingeladen und das Gespräch zwischen ihm und Hubertus Meyer-Burckhardt vorbereitet. Mir hatte das Gespräch gut gefallen, aber das behielt ich für mich. Ich notierte nur still: Michael im Stuhl verglüht. Der Drache suchte sein nächstes Opfer. Der Blick schweifte in die Runde, blieb an Anette hängen. Plötzlich sprach die Berger mit leiser Stimme. Irgendwie war das noch schlimmer, als wenn sie keifte. »Grundsätzlich«, säuselte sie, »grundsätzlich habe ich nichts gegen ein Nickerchen. « Pause. Die Stille dehnte sich aus. Wovon redete die Frau? Ich fing einen fragenden Blick von Sven auf. Unglaublich, wie lange ein paar Sekunden dauern können. Ich hatte reichlich Gelegenheit, das Muster im grau-blauen Teppichboden zu studieren. Endlich sprach sie weiter. »Allerdings mache ich mein Nickerchen gern zu Hause auf meinem Sofa.« Sie holte Luft und brüllte im Stakkato: »Und. Nicht. Etwa. Im. Regieraum. Während. Meiner. Sendung!« Zugegeben, die Journalistin mit dem Gartenbuch war ein bisschen dröge gewesen, aber musste die Berger Anette deshalb gleich so fertigmachen? Mitarbeitermotivation ging garantiert anders. Anette sah aus, als stünde sie kurz vor einem Sprung aus dem Fenster. Endlich ließ die Hexe von ihr ab und wandte sich wieder an alle. Unversehens umspielte ein Lächeln die zinnoberroten Lippen. »So, dann lasst mal hören, was ihr für die neue Sendung habt. Michael?« Ich hatte den Kollegen noch nie zuvor stottern hören. Er nannte zwei Schauspieler. Zu aller Erleichterung fand einer die Gnade der Chefin. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Anette hektisch auf ihrem Block herumstrich. Sie guckte die Berger nicht an, als sie endlich den Namen Ute Lemper in die Runde hauchte. Die Lemper war mit achtundvierzig noch mal Mutter geworden und redete offenbar gern darüber. Anette erntete ein gnädiges Nicken. Nach einer halben Stunde Quälerei war die grobe Auswahl der Gäste für die nächste Sendung geschafft. Jetzt fehlte nur noch der Normalo. Also jemand, der eine interessante Geschichte zu erzählen hatte, aber nicht prominent sein musste. Oder jemand, der noch ganz am Beginn seiner Karriere stand. Ich hatte schon oft gute Gäste für diese Rubrik entdeckt. Ich sage nur: Sarah Connor. Das ist natürlich schon ein paar Jahre her. Jetzt sagte ich: »Anna Depenbusch. Also, ich weiß nicht, ob ihr die kennt, ich bin da durch Zufall draufgestoßen, die hat gerade eine CD rausgebracht und die hat auch eine total interessante ...« Weiter kam ich nicht. »Frau Karg. Wenn wir mit dieser Sendung an dem Punkt ankommen, an dem die Sekretärinnen die Gäste aussuchen, werde ich es Sie umgehend wissen lassen. Mir ist ohnehin nicht klar, warum Sie an dieser Konferenz teilnehmen. Also, in Zukunft nutzen Sie diese Zeit bitte sinnvoller.« Warum tat sich der Boden nicht auf? Warum stülpte mir niemand gnädig eine große Mütze über meinen glühend roten Kopf? Und warum fingen wir mit dem Meucheln nicht gleich jetzt an? Ich rannte aus dem Konferenzraum in mein Büro, raffte meine Sachen zusammen und floh aus dem Sender. Ja, ich benahm mich wie ein Kleinkind. Aber das war doch irgendwie passend, oder nicht? Genauso fühlte ich mich, wie ein abgekanzeltes Kleinkind. Wie ein sehr wütendes abgekanzeltes Kleinkind. So wütend, dass ich am Pförtner vorbei vom Gelände rannte, ohne - wie sonst - ein paar Worte mit ihm zu wechseln. So wütend, dass ich nicht den Bus nahm, sondern die knapp sechs Kilometer bis nach Hause lief, ohne stehen zu bleiben. Vor dem Hauseingang stand mal wieder ein Kinderfahrrad im Weg, ich trat dagegen und es donnerte gegen die Mülltonnen. Wirklich, ungeheuer erwachsen. Ich suchte in meiner Tasche nach dem Hausschlüssel und ließ ihn fallen, kaum dass ich ihn in den Fingern hatte. Endlich steckte er im Schloss. Aber noch bevor ich ihn drehen konnte, ging die Tür auf, und ich hatte eine Erscheinung. Da stand der blondgelockte Sanitäter mit den babyblauen Augen und sagte: »Hi, ich bin Lars Meine, der neue Nachbar. Kenn ich Sie nicht von irgendwoher? « - »Nein, tut mir leid, sicher nicht«, brachte ich hervor und floh die Treppe hinauf. Er war es wirklich und er war der Nachmieter von Helen und Thomas. Sein Name stand auf ihrem Klingelschild. Das hatte mir noch gefehlt. Oben in der Wohnung rollte ich mich auf dem ollen Sofa zusammen und heulte unseren Katzen Paul und Paula die Felle nass. Als Paula mir die Nase leckte, ging es mir ein bisschen besser. Dann fiel mir endlich ein, was sechsundvierzigjährige Frauen normalerweise tun, wenn es ihnen schlechtgeht. Was eigentlich alle Frauen tun, sobald sie körperlich dazu in der Lage sind, einen Telefonhörer zu halten. Genau. Sie telefonieren. Stundenlang. Vorzugsweise mit einer anderen Frau. Tina ging nicht ans Telefon. Hätte ich mir denken können. Helen auch nicht. Ich wählte die Nummer von Julia. Meine Tochter nahm tatsächlich ab. »Meine Güte, Lilli, wegen so etwas rufst du mich an?« Seit sie zehn war, sagte sie nicht mehr Mama oder Papa. »Sei bloß froh, dass du nicht in der freien Wirtschaft arbeitest, da kann man sich solche Empfindlichkeiten nämlich nicht leisten. Außerdem weiß ich wirklich nicht, was dein Problem ist. Du bist nun mal Sekretärin und nicht Redakteurin, da hat deine Chefin doch völlig recht.« Vielen Dank, das war genau, was ich hören wollte. »Ich muss jetzt in ein Meeting«, sagte meine Tochter mit Hektik in der Stimme, »übrigens komme ich nachher bei euch vorbei.« Ich überlegte kurz, ob ich Knut anrufen sollte, ließ es aber sein. Im Zoo wurde heute eine neue Folge »Leopard, Seebär & Co« aufgezeichnet. Knut war wahrscheinlich gerade dabei, vor laufender Kamera Affenspielzeug zu basteln. Kein guter Zeitpunkt. Um kurz nach sieben hörte ich Lärm im Treppenhaus und dann Knuts Schlüssel im Wohnungsschloss. Ich lag wieder auf dem Sofa. Das Bild »Unglückliche Frau auf blauem Plüsch« wurde inzwischen durch ein Glas mit hübsch kontrastierendem dunkelrotem Wein auf dem Beistelltisch ergänzt. Die Farbe gefiel mir so gut, dass ich schon zweimal nachgeschenkt hatte. Auf meinem Schoß befanden sich das schnurlose Telefon und ein Zettel mit der Nummer der Telefonseelsorge. Ganz schön übertrieben? Schon möglich. Aber ich habe nun mal einen Hang zum Drama. Und ich fühlte mich schrecklich allein. Allein, unverstanden, unterschätzt und abgelehnt. Ungeliebt. Gefangen in einem Leben, das ich meiner ärgsten Feindin nicht wünschen würde. Na gut, der schon. Aber jetzt kam ja Knut. Mein Mann. Der mir zuhören, der mich verstehen, der mir Trost und Halt geben würde. In seine starken Arme wollte ich mich werfen, mein Leid ihm klagen, und zwar sofort. Ich sprang auf - Telefon und Zettel landeten auf dem Boden -, rannte zur Tür und riss sie auf. Vielleicht ein bisschen zu plötzlich. »Aua!« Knut war an seinem Schlüsselanhänger hängengeblieben und gegen die beiden Bierkisten gestolpert, die er vor der Tür aufgestapelt hatte. Lidl-Tüten umkränzten seine Füße. Eine war umgekippt, weshalb jetzt ein streng riechender Harzer durch den Hausflur rollte. Knut starrte mich verblüfft an. Möglicherweise deshalb, weil ich schon ziemlich lange nicht mehr erwartungsfroh die Tür aufgerissen hatte, nur weil mein Gatte nach Hause kam. Das letzte Mal konnte durchaus ein paar Jahre her sein. Oder Jahrzehnte. Egal. Heute wollte ich seine Nähe. Aber in Anbetracht der Bierkästen zwischen uns fiel das In-die-Arme- Werfen wohl erst einmal aus. Blieb noch spontanes Leidklagen. Doch hier, so zwischen Tür und Angel? Warum eigentlich nicht? »Du glaubst nicht, was die Berger heute gebracht hat, die ist derart unmöglich, die hasst mich, die will mich kleinmachen, die hat mich vor dem versammelten Team total gedemütigt, ich geh da nicht mehr hin!« Jetzt guckte Knut nicht mehr verblüfft, sondern so, als hätte ich ihn gebeten, sofort die Steuererklärung zu machen. »Kann ich vielleicht erst einmal reinkommen?« Er räumte die Einkäufe in den Wohnungsflur, sammelte den Harzer Roller auf, zog die Tür hinter sich zu und schälte sich dann in aller Ruhe aus seiner Jacke. Wie immer, wenn er von der Arbeit kam, umwehte ihn ein leichter Geruch von Dung. Die starken Arme hat Knut vom steten Stallausmisten. Ich stand neben der Garderobe und wartete. Auf eine Umarmung, ein tröstendes Küsschen, irgendwas. Stattdessen schnupperte Knut nur vor meinem Gesicht herum. »Wein? Jetzt schon? Vielleicht sollten wir erst mal was essen, und dann erzählst du mir in Ruhe deine Sendergeschichten. So schlimm wird's schon nicht sein, hm?« Damit ging er an mir vorbei Richtung Küche. Meine Sendergeschichten? Nicht so schlimm? Vor Empörung blieb mir fast die Luft weg. »Was gibt's denn Leckeres? «, hörte ich Knut fragen. Ich antwortete nicht, sondern starrte auf den gerahmten Konfuzius-Sinnspruch, der mir gegenüber an der Wand hing. Ein Geschenk meiner Mutter zu unserer Verlobung. »Mit Menschen, die nicht auf demselben Weg wandeln wie du selbst, solltest du keine gemeinsamen Pläne schmieden.« Sie hatte sich einen anderen Schwiegersohn gewünscht. Gern einen Banker oder einen Studienrat. Den Spruch hatte ich aus purem Trotz aufbewahrt. Jetzt fragte ich mich, ob Konfuzius beziehungsweise meine Mutter nicht recht hatte. »Wie sieht's denn hier aus?« Das war wieder Knut. Ach Gott, ja, das hatte ich vergessen. Mir war vor einer Stunde oder so die Teigschüssel aus der Hand gefallen, als ich Pfannkuchen mit Speck vorbereiten wollte. Ich hatte auch fest vorgehabt aufzuräumen. Gleich nach dem Glas Wein zur Beruhigung meiner Nerven. Und dann - siehe oben. Tja. Sollte doch Knut das in der Küche verteilte Mehl auffegen, die Eiermasse vom Fußboden wischen und die Scherben der Schüssel aufsammeln. Gerade schlich Kater Paul aus der Küche, das schwarze Fell weiß gepudert. Ich folgte Paul ins Wohnzimmer, zurück auf mein Sofa, wo der Kater mir auf den Schoß sprang und schnurrte, während ich das Mehl aus seinem Fell auf meinen Rock streichelte. Aber Knut räumte nicht etwa die Küche auf, sondern kam uns nach. Er setzte sich mit geradem Rücken auf die Kante des Fernsehsessels und beugte sich dann mit aufgestützten Ellenbogen vor. Die Haltung erinnerte mich an meinen Vater am Tag der Zeugnisvergabe in der achten Klasse, als meine Mutter ihn gezwungen hatte, mit mir über die Fünf in Geschichte zu reden. Von einer liebevollen Umarmung war ich offenbar so weit entfernt wie die Jungfrau Maria von einem erfüllten Sexualleben. »Also gut, Lilli, dann erzähl halt. Was war diesmal mit der Berger?« - »Vergiss es, du musst hier kein Interesse heucheln.« - »Lilli, rede keinen Unsinn, natürlich interessiert es mich, wenn du Ärger hast.« Aber sicher, ungefähr so sehr wie eine Strickanleitung für Socken. Ich schwieg. Knut seufzte. »Wenn die Frau dich so nervt, bewirb dich doch auf eine andere Stelle. In eurem Riesenladen wird es ja wohl was Interessantes für dich geben.« War doch klar, dass er mit einem Rat um die Ecke kommen würde. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich wollte keinen Rat, sondern Trost. Übrigens hatte ich natürlich längst sämtliche Stellenausschreibungen am Schwarzen Brett gelesen. Es gab nichts auch nur halbwegs Interessantes. Und schon gar keine Stelle, bei der ich gelegentlich mit Mario Adorf oder Vitali Klitschko plaudern konnte. »Sehe ich doch gar nicht ein, dass ich gehe, wenn die Berger sich danebenbenimmt, ich lass mich von der doch nicht vertreiben!« - »Hast du nicht eben gesagt, du willst da nicht mehr hin?« - »Ich will aber auch nicht, dass die Berger gewinnt. Und ich will schon gar nicht wegen der die nächsten zwanzig Jahre einen langweiligen Job in der Verwaltung machen.« - »Lilli, die Frau ist deine Vorgesetzte, die gewinnt sowieso. Also musst du entweder gehen oder dich mit ihr arrangieren. Denk doch mal logisch.« Mit Knut konnte man einfach nicht vernünftig reden. Er stand auf. »Bringst du die Küche in Ordnung und machst was zu essen? Ich hatte einen verdammt langen Tag und würde jetzt gern duschen.« Ich widerstand der Versuchung, ihm die Eier vom Fußboden als Rührei zu servieren. Stattdessen machte ich sauber und holte eine Packung Nudeln mit Soße aus dem Schrank. Natürlich ging mir durch den Kopf, was Knut eben gesagt hatte. Aufhören oder mich arrangieren. Die beiden Worte summten in meinem Kopf, während ich in der siedenden Soße rührte und noch ein bisschen Wein trank. Arrangieren, das hatte so was von Weichei. Kam nicht in Frage. Aufhören klang schon besser. Viel besser. Das klang nach Veränderung. Nicht nach: »Bleib, wie du bist, Lilli.« Vielleicht sollte ich in der Tat aufhören. Und zwar ganz. Gar nicht mehr arbeiten, jedenfalls nicht als Sekretärin. Warum eigentlich nicht? Andere Frauen in meinem Alter gingen doch auch noch mal ganz neue Wege. Mitten in meine Gedanken zischte überkochendes Wasser. Ich nahm schnell den Deckel vom Nudeltopf. Neulich erst hatten wir diese Mutter in der Sendung, die quasi über Nacht reich geworden war. Was hatte die noch verkauft? Selbstgemachte Filzpantoffeln und Kinderkleidung? Na gut, filzen konnte ich nicht, aber so was ließ sich ja lernen. Ach Quatsch. Was dann? Schauspielschule? Töpfern? Kreatives Schreiben? Ich träumte vor mich hin, sah mich als Bestsellerautorin, als gefeierten Bühnenstar mit einer todschicken Wohnung in Hafen-City, selbstverständlich mit Dachterrasse samt Blick auf die Elbe. Träumen durfte man ja. Und immerhin hatte ich schon ein Pseudonym. Ich war Lillian Reich. Knut kam in seinem rot-schwarz gestreiften Bademantel in die Küche. Morgens sieht er darin aus wie Dittsche, aber abends, nach der Dusche, mehr wie ein angejahrter Playboy. Ich schnupperte. Zitrus, Lavendel und Sandelholz. »Intimately Yours« von David Beckham. Das Rasierwasser hatte ich ihm zu Weihnachten geschenkt. Ob das was zu bedeuten hatte? Wahrscheinlich nicht. Selbst Knut musste klar sein, dass ich heute wohl kaum mit ihm kuscheln würde. Wollte ich sowieso eher selten. »Zieh dir besser was an, Julia kommt gleich noch vorbei«, sagte ich.
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Autoren-Porträt von Bettina Haskamp
Bettina Haskamp hat drei Jahre mit einem Segelboot die Welt bereist, danach als Journalistin für den NDR und Radio Bremen gearbeitet. Heute lebt sie als Autorin in Hamburg und Portugal.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bettina Haskamp
- 2012, 288 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: MARION VON SCHRÖDER
- ISBN-10: 3547711819
- ISBN-13: 9783547711813
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