Joran Nordwind
Ein fesselndes Jugendbuch über Verrat, Freundschaft und den Kampf für die Freiheit
Joran wird in das Steinerne Reich verschleppt. Hier herrschen die Käfer, und die gefangenen Schmetterlinge sind ihre Sklaven. Doch Joran, der frechste und mutigste aller...
Joran wird in das Steinerne Reich verschleppt. Hier herrschen die Käfer, und die gefangenen Schmetterlinge sind ihre Sklaven. Doch Joran, der frechste und mutigste aller...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Joran Nordwind “
Klappentext zu „Joran Nordwind “
Ein fesselndes Jugendbuch über Verrat, Freundschaft und den Kampf für die FreiheitJoran wird in das Steinerne Reich verschleppt. Hier herrschen die Käfer, und die gefangenen Schmetterlinge sind ihre Sklaven. Doch Joran, der frechste und mutigste aller Bläulinge, schließt sich einer Widerstandsgruppe an ...
Eine wunderbar originelle Idee, atemberaubende Spannung und eine präzise Darstellung eines totalitären Regimes: Zu recht wurde Lilli Thal von der Presse begeistert besprochen. Ihr wortgewandter und intelligenter Roman ist ein starkes Plädoyer für Zivilcourage, eine Hymne an die Freundschaft und vor allem ein ganz großes Leseabenteuer.
Für die Fans von 'Warrior Cats'!
Lese-Probe zu „Joran Nordwind “
Joran Nordwind von Lilli ThalHinter dem Gläsernen Vorhang
»Ihr habt nicht gesagt, dass ich wie ein Wurm auf dem Bauch kriechen muss«, quengelte ich.
Das Loch entpuppte sich als ellenlanger Tunnel, die kurze Stippvisite als endloser Marsch durch Finsternis und Schmutz. Ständig knirschten feuchte Erdkrümel in meinem Mund, und meine Beine versanken bis zum Kniegelenk im Schlick.
»Halb so wild, Bläuling. Wir sind gleich da.« Die Stimme der Wespe hallte geisterhaft in der Dunkelheit. »Und wenn es dir im Steinernen Reich nicht gefällt, fliegst du einfach wieder weg.«
»Worauf du dich verlassen kannst.« Verdrossen krabbelte ich weiter. Hier unten wimmelte es von Würmern, die schleunigst Reißaus vor uns nahmen, man sah von ihnen nur die wegschnellenden Schwanzspitzen. Ich versuchte, mir ein Wurmleben vorzustellen: Vorne Erde rein, hinten Erde raus. Unter dir, über dir Tonnen von Erde. Rendezvous-Tag bei Würmern ... nein, es gab Dinge, die wollte ich mir lieber nicht vorstellen.
Hinter mir redeten die Wespen über Bauschäden an ihrem Nest und ihre aufsässige Jungbrut. Während ich dann und wann einen aufmunternden Fühlerstupser spürte, hörte ich Geschichten über bröckeligen Mörtel und viel zu enge Wohnzellen, und über den Wespenjungen Manni, der sich verbotenerweise einen Stachel wachsen ließ.
»Ihr habt gesagt, die Besichtigung ist freiwillig«, nörgelte ich dazwischen. »Ich will jetzt umkehren. Die Sache macht mir keinen Spaß mehr.«
»Nun halt schon die Klappe, oder soll ich sie dir voll Erde stopfen?«, fauchte eine Wespe gereizt.
... mehr
»Jag ihm keinen Schrecken ein, Kollegin«, mahnte eine andere. »Für blasse Bläulinge zahlt der alte Läuseklauber nur die Hälfte.«
Hä? Was hieß das schon wieder?
»Für den Kleinen wird er sowieso nicht mehr als zwei Offa- Streifen springen lassen.«
»Am besten legen wir uns heute Nacht auf die Lauer. Für einen kräftigen Nachtfalter blättert der Sklavenmeister sechs Offa-Streifen hin.«
Irgendwie missfiel mir die Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte. »Offa, nie gehört. Was ist das?«, hakte ich ein.
»Ein ganz besonderer Stoff, der nur im Steinernen Reich gedeiht. « Die Stimme der Wespe klang schwärmerisch. »Er macht dich tagelang satt und zufrieden.«
»Mehr als das«, sagte die nächste. »Mit Offa im Bauch sind dir die Baumängel im Nest oder deine missratene Brut vollkommen egal. Du fühlst dich einfach großartig.«
»Aber das wirst du Nektarschlürfer nie erleben. Für Offa braucht man kräftige Kiefer.«
Bei ihrem Gerede merkte ich, wie hungrig ich war. Kein Wunder, im Rausch des Rendezvous-Tages hatte keiner von uns ans Frühstücken gedacht. »Wann sind wir endlich da?«
»Jetzt, Bläuling. Sieh nach vorne.«
In der Dunkelheit zeigte sich ein heller Schimmer. Ein kühler Hauch wehte heran, ich hörte Wasser rauschen. So schnell es der glitschige Boden zuließ, rannte ich auf den Ausgang zu - und direkt in drei kräftige Zangenpaare. »Parole!«, blaffte eine barsche Stimme.
Hinter mir hörte ich eine Wespe flüstern: »Der Wächter links außen ist ein Neuer. Passt auf !« Dann sagte sie laut und spöttisch: »Leonil der Verbannte!«
»Was sagt ihr da?« Das Zangenpaar auf der linken Seite begann hektisch zu klicken. »Alarm! Verräter dringen ein!«
»Reg dich ab, Klemmstein.« Die anderen Zangen waren schon dabei, sich aus dem Weg zu räumen. »Du bist noch nicht lang genug bei der Truppe. Den Witz bringen die Jägerinnen ständig.«
Meine Gehörgänge kitzelten sachte. Jägerinnen?
»Hier habt ihr eure Parole: Leobard, der Prächtige, der Mächtige, der Einzigartige«, leierte eine der Wespen. »Zufrieden, Memmstein? «
»Klemmstein, wenn ich bitten darf. Tunnelwächter seiner königlichen Majestät.« Das Zangenpaar reckte sich in die Höhe. »Und wenn ihr Jägerinnen noch einmal den Namen des Schrecklichen Verbrechers nennt, mache ich den Stielaugen Meldung.«
»Ja ja, neue Besen kehren gut. Räum jetzt lieber den Weg frei.«
Der Schreckliche Verbrecher? Die Stielaugen? Ich verstand kein Wort, wusste aber plötzlich ganz sicher, dass ich das Steinerne Reich nicht betreten wollte. Nicht einmal für die allerkleinste Besichtigungstour.
Ich machte einen großen Schritt rückwärts. »Ähm, ich geh dann mal wieder durch den Tunnel zurück«, sagte ich zu den Dolchwespen. »Bleibt ihr ruhig hier und holt euer Offa ab. Verlaufen, haha, kann ich mich ja nicht.«
»Für dich gibt es nur noch eine Richtung«, knurrte eine der Wespen. »Nach vorne, ins Steinerne Reich!« Mit einem kräftigen Rempler beförderte sie mich ins Freie.
Ins Freie? In die Hölle traf es eher! Der Himmel, die Sonne, Wärme, Luft und Licht - alles war verschwunden. Hier an diesem schrecklichen Ort gab es nur Wasser, einen grauen Wasserstrom, der unerträglich nah an mir vorüberrauschte. Es war wie Regen und Hagel, Sturm und Gewitter gleichzeitig. Instinktiv versuchte ich aufzuflattern, doch meine Flügel waren nur noch zwei nutzlose nasse Lappen. Verzweifelt schlug ich um mich, gleich würde ich stürzen, ertrinken, mein armes junges Bläulingsleben war keinen Pfifferling mehr wert ...
»Ach herrje, der kleine blaue Held wird grün.« »Typische Anfängerpanik. Reiß dich zusammen, Dummkopf, und sieh auf deine Füße, dann vergeht der Schwindel.«
Auch wenn der Rat von einer Bande von gewissenlosen Jägerinnen kam, die mich kaltlächelnd ins Verderben gelockt hatten - er half. Unter mir war Fels, schwarz und glänzend vor Nässe, aber fest. Ich stand auf meinen eigenen Füßen, und das Wasser, so gewaltig und furchterregend es auch neben mir in die Tiefe rauschte, berührte mich nicht. Es war lediglich die sprühende Gischt, die meine Flügel schwer und klatschnass an meinem Leib kleben ließ. Ich fror erbärmlich, wie eine frisch gehäutete Raupe.
»Bin ich ... bin ich auf der Felswand? Hinter dem Gläsernen Vorhang?«
»Bist du«, erklärte eine Wespe lapidar.
»Aber warum ...«
»Im Steinernen Reich stellen Sklaven keine Fragen.« Das kam
nicht von den Wespen. Ich sah mich um und entdeckte die drei Zangenpaare vom Tunnelausgang und dahinter drei große braune Käfer. Der, dem vor Eifer fast die Flügeldeckel glühten, musste Klemmstein, der Neue, sein.
»Sklaven? Damit könnt ihr nicht mich meinen«, protestierte ich. »Ich bin lediglich auf Besichtigungstour hier, mit Rückkehrgarantie. «
»Ja, ja, und die Dolchwespen sind deine netten Reiseleiterinnen «, sagte einer der Käfer gelangweilt. »Dass ihr Schmetterlinge immer wieder auf die alte Masche hereinfallt.«
Sein Kollege lauschte zum Tunnel hin. »Besser, ihr beeilt euch mit dem Kleinen«, sagte er zu den Wespen. »Ich hör schon den nächsten Trupp kommen. Die haben hoffentlich fettere Beute als ihr.«
»Dann also vorwärts!« Die vier Wespen hakten mich mit ihren Fühlern unter und schleppten mich trotz meines Zappelns weiter nach unten. Verzweifelt sah ich mich nach etwas Schönem um. Ein Lichtstrahl, eine kleine Blume, selbst ein Grashalm hätten mich in meinem Elend getröstet. Doch so weit das Auge reichte, gab es nur Wasser, Nebel und Stein.
»Wie kann man es hier aushalten?«, fragte ich entsetzt.
»Nur ruhig Blut, Kleiner. Du gewöhnst dich schon daran«, sagte eine der Wespen. »Habt ihr euer Nest hier unten?« »Der Himmel bewahre uns. Wir machen nur unsere Geschäfte
und verschwinden wieder.«
Nebel und Gischt raubten mir die Sicht, und so erkannte ich die Öffnung im Fels erst, als die Wespen mich hineinzerrten. Nachdem meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, fand ich mich in einer großen, fast kreisrunden Höhle wieder. Hier herrschte penible Ordnung: In exakt gleichen Abständen lagen auf dem Boden gebündelte Grashalme, gestapelte Baumrinden, sorgsam aufgeschichtete Kieselsteine. An den Wänden hingen, der Größe nach sortiert, lange Reihen von Stacheln und Dornen. Am beeindruckendsten aber waren die deckenhohen Stapel von graugrünen Flechten, die ich in einer Nebenkammer entdeckte: Hunderte von Streifen, Kante auf Kante millimetergenau aufeinandergelegt.
Der wohlgenährte Stutzkäfer, der eilig auf uns zuwuselte, passte genau in diese Umgebung. Seine rotbraunen Flügeldecken glänzten makellos, die Fühler waren sorgfältig gebürstet, seine Miene war umgänglich und taxierend zugleich. Er machte den Eindruck eines viel beschäftigten Mannes.
»Vier Dolchwespen bringen mir einen einzigen spillerigen Bläuling? « Mit routinierter Geste griff der Stutzkäfer nach einem Grashalm und maß die Länge meiner Flügel und den Umfang meines Hinterleibs. Die Ergebnisse kratzte er auf ein Stück Baumrinde. »Was ist los im Wespennest? Sonst setzt eure Königin an den Rendezvous- Tagen immer die besten Jägerinnen ein.«
»Wir sind die besten, Sklavenmeister«, fauchte eine der Wespen übellaunig. »Sobald du den Kleinen bezahlt hast, fliegen wir wieder los. Morgen wird dein Büro vor Faltern überquellen.«
»Bringt mir vor allem Eulenfalter und große Spinner und Spanner «, verlangte der Sklavenmeister. »Für die Offa-Minen brauchen wir kräftige Arbeiter.«
Die Wespen nickten. »Die kannst du haben. Das Stück für sechs Offa-Streifen.«
Der Stutzkäfer gab ein hüstelndes Lachen von sich. »Ihr probiert es doch immer wieder. Drei Streifen, sage ich, und die nur für die kräftigsten Exemplare.«
Während sie mit dem Sklavenmeister feilschten, starrten die Wespen auf die graugrünen Flechtenstapel in der Nebenkammer. Man konnte die Gier in ihren sichelförmigen Augen glitzern sehen. Das war also das geheimnisvolle Offa, auf das sie so scharf waren. Und obwohl ich mittlerweile einen Mordshunger hatte - das trockene Zeug hätte ich niemals angerührt. Zumal es ekelhaft süßlich roch, wie vergorene Vogelkacke.
»Irgendwann kommt der Tag, an dem wir uns den Stoff einfach aus den Minen holen werden.« Die Wespen hatten leise gesprochen, aber der Sklavenmeister verfügte über gut geputzte Gehörgänge.
»Das würde ich an eurer Stelle bleiben lassen«, entgegnete er gelassen. »Vor wenigen Tagen erst hat König Leobard die Truppen aufgestockt. Mit Offa-Dieben macht das Steinerne Reich kurzen Prozess. Bringt mir Falter, und ihr werdet bezahlt. Baut Mist, und ihr landet im Schlund. So einfach sind die Regeln.«
»Für jeden kräftigen Falter fünf Streifen, für die schwachen drei«, lenkte eine der Wespen mürrisch ein. »Dafür bekommst du den kleinen Blauen hier als Gratispaket.«
Gerade hatte ich damit begonnen, mich unauffällig nach hinten zu schieben. Nun brachte mich ein gezielter Stachelschlenker in den Mittelpunkt des Geschehens zurück.
»Wir wollen, dass er in die S-Klasse kommt«, forderte die Schwarze, die in der krummen Fichte festgesteckt hatte.
»Der Winzling? Im Ernst? Respekt, mein Kleiner, das schafft nicht jeder.« Der Sklavenmeister klang amüsiert. »Hoppla, fang auf!«
Ohne Vorwarnung warf er mir einen Kieselstein auf den Rücken, dass mir der Kopf dröhnte und die Beine wegknickten.
»Autsch! Was soll das! Wenn du jemanden mit Steinen bewerfen willst, dann diese miesen Kidnapperinnen! Die haben es nämlich verdient!« Während ich lauthals protestierte, beschrieb der Sklavenmeister seelenruhig seine Rinde: »Wenig Standvermögen. Schwächlicher Körperbau. Im Verhältnis zur Körpergröße erstaunlich lautes Sprechorgan.«
Ich ärgerte mich noch mehr. »Schwächlich? Dein Stein war so groß wie mein ganzer Leib!«
»S steht übrigens für Satansbraten-Spezialbehandlung«, belehrte mich der Stutzkäfer noch freundlich, bevor er sich wieder an die Wespen wandte. »Was hat er angestellt?«
Die Wespen funkelten mich böse an. »Er weiß schon Bescheid. «
Moment mal, das war ja wohl wert, erzählt zu werden. »Ich habe eine von ihnen eingelocht«, sagte ich genüsslich. »Wenn die anderen sie nicht rausgezogen hätten, würde sie jetzt noch in der Baumrinde stecken und zappeln.«
»Nicht gerade ein Ruhmesblatt für eine Dolchwespe, möchte ich sagen.« Beiläufig nahm der Käfer einen langen Dorn von der Wand - und ehe ich mich noch recht besann, piekste er mich damit in meinen Allerwertesten.
»Jetzt reicht es aber«, rief ich wütend. »Erst heißt es unverbindliche Besichtigung und Rückkehrgarantie, und dann bin ich plötzlich S-Klasse und bekomme Spieße in den Hintern gerammt. Steck dir deine Dornen gefälligst in deinen eigenen ...«
»Geringe Schmerztoleranz, neigt zur Wehleidigkeit«, notierte der Sklavenmeister und nahm mir damit jeden Wind aus den Flügeln. »Aber wirklich ein erstaunliches Mundwerk. Mal sehen, wohin wir ihn stecken können.«
Aus einem Winkel zog er eine aufgerollte Baumrinde. »Seht euch das an, das sind nur die Anforderungen vom heutigen Tag«, seufzte er. »Das Steinerne Reich braucht Sklaven, immer mehr Sklaven.«
Mit vorgeschobenem Kopf begann er, die Liste zu entrollen. »Ihr wollt also, dass der Kleine richtig Scherereien bekommt?« Die Wespen waren sich einig: »Das volle Programm. Mit allen Schikanen!«
»Himmel, seid ihr nachtragend«, murmelte ich.
Während er auf seiner Liste entlangmarschierte, tippte der Stutzkäfer mit dem Fühler auf die einzelnen Positionen. »Steinbrecher. Offa-Schürfer. Lastenträger. Nein, das ist alles nichts für ihn.«
»Warum nicht?«, widersprach eine der Wespen. »Vor einen schweren Offa-Schlitten gespannt würde er mir ausgesprochen gut gefallen.«
Glücklicherweise hörte der Sklavenmeister nicht auf sie. Murmelnd entrollte er die Rinde weiter. »Hausdiener, Frischluftfächler, Bürobote - alles keine S-Klasse. Einschlaf-Flüsterer«, er schüttelte den Kopf, »bei der großen Klappe ausgeschlossen. Geduld, ich finde schon noch das Richtige.«
Er beschnupperte die Liste, als könne er das Gesuchte herausriechen. »Ah, hier kommen die Anforderungen von allerhöchster Stelle. Oberst Pfeifenstein verlangt zwanzig Armeediener - als ob ich mir die Falter aus den Flügeldecken schnitzen könnte!« Bevor er weiterlas, ritzte er mit seiner Vorderkralle eine Anmerkung in die Rinde. »Mal sehen, was der Königshof anfordert: Träger, Eckenfeger, Servierer, nein, das ist alles nicht das Wahre ... Aber vielleicht hier ... eine der netten königlichen Gehässigkeiten ... Wenn
ihr Glück habt ... Ja!« Zufrieden rieb er sich die Fühler. »S-Klasse ist gebongt«, nickte er den Wespen zu. »Und wie!«
Kurzerhand biss er das betreffende Stück aus der Rinde und zeigte es den Dolchwespen, während er mir mit seinem untersetzten Leib den Blick versperrte.
Die Wespen hatten immer noch etwas zu meckern. »Ja und? Was soll daran schlimm sein?«
»Den Teufel werde ich tun, euch Jägerinnen die Interna des Steinernen Reiches zu verraten« erklärte der Sklavenmeister von oben herab. »Aber ich kann euch versprechen, dieser Posten ist genau, was ihr wollt: die Hölle auf Erden.«
Langsam fühlte ich einen Klumpen in meinen Eingeweiden wachsen. »Vielleicht erklärt ihr mir auch mal, worum es geht«, sagte ich forscher, als ich mich fühlte. »Wie wäre es, wenn ich selbst einen Blick auf diese komische Liste werfe?«
Der Stutzkäfer lachte herzlich. »Seit wann sucht sich ein Falter den Vogel aus, der ihn frisst?« Das klang nicht gerade beruhigend.
»Gehen wir, Schwestern.« Die Dolchwespen schüttelten sich das Wasser aus den Flügeln und übergossen mich dabei mit einem eiskalten Tröpfchenregen. »Draußen wartet reiche Beute.«
»Vergesst nicht, fünf Offa-Streifen zahle ich nur für richtige Falter-Goliaths«, erinnerte sie der Sklavenmeister.
Ich sah den stachelbewehrten Hinterteilen der Wespen hinterher. Und während ich mir glühend wünschte, der Tunnel möge über ihren Köpfen einstürzen, rief der Sklavenmeister: »Komm heraus, meine Hübsche! Es gibt Arbeit für dich!«
Meine Hübsche! Ein wenig pulsierte noch der Rendezvous-Tag in mir, also reckte ich gespannt den Kopf. Doch was da aus dem dunklen Teil der Höhle auf mich zuwogte, mich hungrig aus glitzernden Augen beäugte, war ein Albtraum auf acht haarigen Beinen: ein wandelndes Insektengrab, eine Spinne!
»Nein! Ohne mich!« Hals über Kopf stürzte ich zum Höhleneingang - nur um im nächsten Moment in einer klebrigen Spinnenschlinge zu zappeln. Mit einem zufriedenen Knurren zog die Spinne mich in die Höhle zurück.
»Reg dich ab. Meine Hübsche frisst nur Offa«, sagte der Sklavenmeister. »Abgesehen davon würde sie nie einen Sklaven beschädigen. Sie ist ein echter Profi.«
Das war sie in der Tat. Ehe ich mich versah, hatte die Spinne mich auf den Rücken gedreht, meine Flügel auseinandergezogen und mit ihren Klebfäden am Boden fixiert. Da lag ich nun, sechs Beine in die Luft gestreckt, zum Zerreißen ausgespannt, und wagte nicht einmal mehr zu atmen.
Das Gesicht des Sklavenmeisters schob sich in mein Blickfeld. »Schön stillhalten«, sagte er, als hätte ich eine Wahl gehabt. Nachdem er allerhand Dinge an meinem Unterleib vermessen hatte, was ziemlich peinlich war und noch dazu scheußlich kitzelte, holte er ein Ahornblatt herbei. Es knisterte und wisperte nur so darauf; als ich mühsam den Kopf danach drehte, entdeckte ich eine Schar schwarzer Läuse.
»Euer Einsatz, meine kleinen Freunde«, rief der Sklavenmeister. »Habt ihr die Rinde sorgfältig gelesen?« Die Antwort kam postwendend aus zwei Dutzend piepsiger Kehlen. »Na klar, Meister. Was glaubst du denn!«
Lesende Läuse, wo gab's denn so etwas! Für mich sahen die Biester aus wie Kugeln mit Maul, winzige Fressmaschinen - und genau das waren sie auch. Sorgfältig setzte der Sklavenmeister eine Laus nach der anderen auf meine Flügel; kaum spürten sie meine lebendige Substanz unter sich, begannen sie zu beißen und zu kauen und ihre Bahnen durch mein schimmerndes Blau zu pflügen. Zum Glück sind Schmetterlingsflügel nicht sonderlich schmerzempfindlich, trotzdem krümmte ich mich bei ihrem Schmatzen vor Unglück zusammen. Meine Flügel, mein größter Stolz - würde ich jemals noch einen Looping mit anschließendem Senkrechtstart schaffen? Und - noch viel schlimmer! - wenn ich aussah wie ein löchriger Fetzen, welches Mädchen würde mir noch ihren Duft schicken? Ehrlich, es war der schwärzeste Moment in meinem bisherigen Leben.
Plötzlich hob ich den Kopf, soweit es meine demütigende Lage zuließ. Die Läuse stopften sich nicht einfach blindlings mit meiner Substanz voll. Nein, ich spürte, dass sie mich zielgerichtet fraßen, hier eine Linie, dort einen Schnörkel, fast künstlerisch.
»Du merkst etwas, hm?«, fragte der Sklavenmeister hinter mir. »Bist ein cleveres Kerlchen. Die meisten Falter haben dafür nicht genug Verstand.«
Dann waren die Läuse fertig. Eine nach der anderen rollten sie plopp, plopp von mir herunter und hüpften wieder in ihr eingerolltes Ahornblatt.
»Wenigstens die Läuse haben bei uns im Steinernen Reich ein schönes Leben«, erklärte der Sklavenmeister, während er mit einem Dorn meine Fesseln durchtrennte. »Dein Pech, Kleiner, dass du ein Falter bist.«
Mit einem Satz sprang ich auf meine Beine. Halleluja, meine Flügel saßen noch am richtigen Ort, sie fühlten sich nur etwas gerupft an. Was hatten die Läuse mit ihnen angestellt?
Die Antwort auf diese Frage bekam ich prompt, als der Sklavenmeister einige meiner blauen Schuppen auf dem Boden entdeckte. »Hierher, Karajol. Marsch an die Arbeit!«
Aus einem kleinen Nebengang kroch ein brauner Waldfalter herein. Er sah ziemlich mürrisch drein und gönnte mir keinen Blick, während er mit seinen Fühlern meine Schuppen zusammenkehrte. Ich aber starrte auf seine Flügel, auf denen groß und deutlich Bodenfeger geschrieben stand.
Von mir aus hätte sich der Sklavenmeister seine Ansprache sparen können. Ich konnte selbst eins und eins zusammenzählen.
»Im Steinernen Reich sind die Käfer die Herren und die Falter ihre Diener, zu denen ab sofort auch du gehörst. Deine Aufgabe steht für alle sichtbar auf deinen Flügeln. Erfüllst du sie nicht zur Zufriedenheit deiner Herrschaft, wirst du die Felswand hinunter in den Schlund gestürzt. Noch Fragen?«
Ich war damit beschäftigt, mir den Hals nach meinen Flügeln zu verdrehen, aber umsonst: Ich sah gar nichts.
»Was steht da geschrieben?«
Der Sklavenmeister schüttelte den Kopf. »Das verrate ich euch Neuen niemals. So bleibt die Sache länger spannend. Nur so viel: Dein Einsatzgebiet ist der Königspalast in der Mitte des Reiches.«
Er brachte mich auf die Felswand hinaus. In der Höhle war der Gläserne Vorhang nur ein dumpfes Rauschen gewesen - nun aber traf mich die Wucht des strömenden Wassers erneut wie ein Schlag. Gischt prasselte auf mich herab und brachte mich zum Taumeln.
»Daran gewöhnst du dich«, übertönte der Sklavenmeister den Lärm. Mit seinem Fühler zeigte er auf eine Kriechspur, die durch endlose Benutzung tief im Felsen eingefräst war. »Folge immer der Felsrinne nach unten, dann kannst du den Palast gar nicht verfehlen. «
»Ich soll dort hinunterkriechen wie eine flügellose Kellerassel? «
Er zuckte mit den Flügeldecken. »Von mir aus kannst du hinunterhopsen oder Purzelbäume schlagen, ganz nach Belieben. Nur mit dem Fliegen ist es ein für alle Mal vorbei. Hier im Steinernen Reich werden deine Flügel niemals trocken.«
Sehnsüchtig spähte ich in die Höhle zurück. »Und wenn ich nicht gehe?«
»Dann verhungerst du halt«, sagte der Sklavenmeister gleichgültig. »In deinen Saugrüssel bekommst du erst dort unten wieder etwas. Und jetzt verschwinde!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Jag ihm keinen Schrecken ein, Kollegin«, mahnte eine andere. »Für blasse Bläulinge zahlt der alte Läuseklauber nur die Hälfte.«
Hä? Was hieß das schon wieder?
»Für den Kleinen wird er sowieso nicht mehr als zwei Offa- Streifen springen lassen.«
»Am besten legen wir uns heute Nacht auf die Lauer. Für einen kräftigen Nachtfalter blättert der Sklavenmeister sechs Offa-Streifen hin.«
Irgendwie missfiel mir die Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte. »Offa, nie gehört. Was ist das?«, hakte ich ein.
»Ein ganz besonderer Stoff, der nur im Steinernen Reich gedeiht. « Die Stimme der Wespe klang schwärmerisch. »Er macht dich tagelang satt und zufrieden.«
»Mehr als das«, sagte die nächste. »Mit Offa im Bauch sind dir die Baumängel im Nest oder deine missratene Brut vollkommen egal. Du fühlst dich einfach großartig.«
»Aber das wirst du Nektarschlürfer nie erleben. Für Offa braucht man kräftige Kiefer.«
Bei ihrem Gerede merkte ich, wie hungrig ich war. Kein Wunder, im Rausch des Rendezvous-Tages hatte keiner von uns ans Frühstücken gedacht. »Wann sind wir endlich da?«
»Jetzt, Bläuling. Sieh nach vorne.«
In der Dunkelheit zeigte sich ein heller Schimmer. Ein kühler Hauch wehte heran, ich hörte Wasser rauschen. So schnell es der glitschige Boden zuließ, rannte ich auf den Ausgang zu - und direkt in drei kräftige Zangenpaare. »Parole!«, blaffte eine barsche Stimme.
Hinter mir hörte ich eine Wespe flüstern: »Der Wächter links außen ist ein Neuer. Passt auf !« Dann sagte sie laut und spöttisch: »Leonil der Verbannte!«
»Was sagt ihr da?« Das Zangenpaar auf der linken Seite begann hektisch zu klicken. »Alarm! Verräter dringen ein!«
»Reg dich ab, Klemmstein.« Die anderen Zangen waren schon dabei, sich aus dem Weg zu räumen. »Du bist noch nicht lang genug bei der Truppe. Den Witz bringen die Jägerinnen ständig.«
Meine Gehörgänge kitzelten sachte. Jägerinnen?
»Hier habt ihr eure Parole: Leobard, der Prächtige, der Mächtige, der Einzigartige«, leierte eine der Wespen. »Zufrieden, Memmstein? «
»Klemmstein, wenn ich bitten darf. Tunnelwächter seiner königlichen Majestät.« Das Zangenpaar reckte sich in die Höhe. »Und wenn ihr Jägerinnen noch einmal den Namen des Schrecklichen Verbrechers nennt, mache ich den Stielaugen Meldung.«
»Ja ja, neue Besen kehren gut. Räum jetzt lieber den Weg frei.«
Der Schreckliche Verbrecher? Die Stielaugen? Ich verstand kein Wort, wusste aber plötzlich ganz sicher, dass ich das Steinerne Reich nicht betreten wollte. Nicht einmal für die allerkleinste Besichtigungstour.
Ich machte einen großen Schritt rückwärts. »Ähm, ich geh dann mal wieder durch den Tunnel zurück«, sagte ich zu den Dolchwespen. »Bleibt ihr ruhig hier und holt euer Offa ab. Verlaufen, haha, kann ich mich ja nicht.«
»Für dich gibt es nur noch eine Richtung«, knurrte eine der Wespen. »Nach vorne, ins Steinerne Reich!« Mit einem kräftigen Rempler beförderte sie mich ins Freie.
Ins Freie? In die Hölle traf es eher! Der Himmel, die Sonne, Wärme, Luft und Licht - alles war verschwunden. Hier an diesem schrecklichen Ort gab es nur Wasser, einen grauen Wasserstrom, der unerträglich nah an mir vorüberrauschte. Es war wie Regen und Hagel, Sturm und Gewitter gleichzeitig. Instinktiv versuchte ich aufzuflattern, doch meine Flügel waren nur noch zwei nutzlose nasse Lappen. Verzweifelt schlug ich um mich, gleich würde ich stürzen, ertrinken, mein armes junges Bläulingsleben war keinen Pfifferling mehr wert ...
»Ach herrje, der kleine blaue Held wird grün.« »Typische Anfängerpanik. Reiß dich zusammen, Dummkopf, und sieh auf deine Füße, dann vergeht der Schwindel.«
Auch wenn der Rat von einer Bande von gewissenlosen Jägerinnen kam, die mich kaltlächelnd ins Verderben gelockt hatten - er half. Unter mir war Fels, schwarz und glänzend vor Nässe, aber fest. Ich stand auf meinen eigenen Füßen, und das Wasser, so gewaltig und furchterregend es auch neben mir in die Tiefe rauschte, berührte mich nicht. Es war lediglich die sprühende Gischt, die meine Flügel schwer und klatschnass an meinem Leib kleben ließ. Ich fror erbärmlich, wie eine frisch gehäutete Raupe.
»Bin ich ... bin ich auf der Felswand? Hinter dem Gläsernen Vorhang?«
»Bist du«, erklärte eine Wespe lapidar.
»Aber warum ...«
»Im Steinernen Reich stellen Sklaven keine Fragen.« Das kam
nicht von den Wespen. Ich sah mich um und entdeckte die drei Zangenpaare vom Tunnelausgang und dahinter drei große braune Käfer. Der, dem vor Eifer fast die Flügeldeckel glühten, musste Klemmstein, der Neue, sein.
»Sklaven? Damit könnt ihr nicht mich meinen«, protestierte ich. »Ich bin lediglich auf Besichtigungstour hier, mit Rückkehrgarantie. «
»Ja, ja, und die Dolchwespen sind deine netten Reiseleiterinnen «, sagte einer der Käfer gelangweilt. »Dass ihr Schmetterlinge immer wieder auf die alte Masche hereinfallt.«
Sein Kollege lauschte zum Tunnel hin. »Besser, ihr beeilt euch mit dem Kleinen«, sagte er zu den Wespen. »Ich hör schon den nächsten Trupp kommen. Die haben hoffentlich fettere Beute als ihr.«
»Dann also vorwärts!« Die vier Wespen hakten mich mit ihren Fühlern unter und schleppten mich trotz meines Zappelns weiter nach unten. Verzweifelt sah ich mich nach etwas Schönem um. Ein Lichtstrahl, eine kleine Blume, selbst ein Grashalm hätten mich in meinem Elend getröstet. Doch so weit das Auge reichte, gab es nur Wasser, Nebel und Stein.
»Wie kann man es hier aushalten?«, fragte ich entsetzt.
»Nur ruhig Blut, Kleiner. Du gewöhnst dich schon daran«, sagte eine der Wespen. »Habt ihr euer Nest hier unten?« »Der Himmel bewahre uns. Wir machen nur unsere Geschäfte
und verschwinden wieder.«
Nebel und Gischt raubten mir die Sicht, und so erkannte ich die Öffnung im Fels erst, als die Wespen mich hineinzerrten. Nachdem meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, fand ich mich in einer großen, fast kreisrunden Höhle wieder. Hier herrschte penible Ordnung: In exakt gleichen Abständen lagen auf dem Boden gebündelte Grashalme, gestapelte Baumrinden, sorgsam aufgeschichtete Kieselsteine. An den Wänden hingen, der Größe nach sortiert, lange Reihen von Stacheln und Dornen. Am beeindruckendsten aber waren die deckenhohen Stapel von graugrünen Flechten, die ich in einer Nebenkammer entdeckte: Hunderte von Streifen, Kante auf Kante millimetergenau aufeinandergelegt.
Der wohlgenährte Stutzkäfer, der eilig auf uns zuwuselte, passte genau in diese Umgebung. Seine rotbraunen Flügeldecken glänzten makellos, die Fühler waren sorgfältig gebürstet, seine Miene war umgänglich und taxierend zugleich. Er machte den Eindruck eines viel beschäftigten Mannes.
»Vier Dolchwespen bringen mir einen einzigen spillerigen Bläuling? « Mit routinierter Geste griff der Stutzkäfer nach einem Grashalm und maß die Länge meiner Flügel und den Umfang meines Hinterleibs. Die Ergebnisse kratzte er auf ein Stück Baumrinde. »Was ist los im Wespennest? Sonst setzt eure Königin an den Rendezvous- Tagen immer die besten Jägerinnen ein.«
»Wir sind die besten, Sklavenmeister«, fauchte eine der Wespen übellaunig. »Sobald du den Kleinen bezahlt hast, fliegen wir wieder los. Morgen wird dein Büro vor Faltern überquellen.«
»Bringt mir vor allem Eulenfalter und große Spinner und Spanner «, verlangte der Sklavenmeister. »Für die Offa-Minen brauchen wir kräftige Arbeiter.«
Die Wespen nickten. »Die kannst du haben. Das Stück für sechs Offa-Streifen.«
Der Stutzkäfer gab ein hüstelndes Lachen von sich. »Ihr probiert es doch immer wieder. Drei Streifen, sage ich, und die nur für die kräftigsten Exemplare.«
Während sie mit dem Sklavenmeister feilschten, starrten die Wespen auf die graugrünen Flechtenstapel in der Nebenkammer. Man konnte die Gier in ihren sichelförmigen Augen glitzern sehen. Das war also das geheimnisvolle Offa, auf das sie so scharf waren. Und obwohl ich mittlerweile einen Mordshunger hatte - das trockene Zeug hätte ich niemals angerührt. Zumal es ekelhaft süßlich roch, wie vergorene Vogelkacke.
»Irgendwann kommt der Tag, an dem wir uns den Stoff einfach aus den Minen holen werden.« Die Wespen hatten leise gesprochen, aber der Sklavenmeister verfügte über gut geputzte Gehörgänge.
»Das würde ich an eurer Stelle bleiben lassen«, entgegnete er gelassen. »Vor wenigen Tagen erst hat König Leobard die Truppen aufgestockt. Mit Offa-Dieben macht das Steinerne Reich kurzen Prozess. Bringt mir Falter, und ihr werdet bezahlt. Baut Mist, und ihr landet im Schlund. So einfach sind die Regeln.«
»Für jeden kräftigen Falter fünf Streifen, für die schwachen drei«, lenkte eine der Wespen mürrisch ein. »Dafür bekommst du den kleinen Blauen hier als Gratispaket.«
Gerade hatte ich damit begonnen, mich unauffällig nach hinten zu schieben. Nun brachte mich ein gezielter Stachelschlenker in den Mittelpunkt des Geschehens zurück.
»Wir wollen, dass er in die S-Klasse kommt«, forderte die Schwarze, die in der krummen Fichte festgesteckt hatte.
»Der Winzling? Im Ernst? Respekt, mein Kleiner, das schafft nicht jeder.« Der Sklavenmeister klang amüsiert. »Hoppla, fang auf!«
Ohne Vorwarnung warf er mir einen Kieselstein auf den Rücken, dass mir der Kopf dröhnte und die Beine wegknickten.
»Autsch! Was soll das! Wenn du jemanden mit Steinen bewerfen willst, dann diese miesen Kidnapperinnen! Die haben es nämlich verdient!« Während ich lauthals protestierte, beschrieb der Sklavenmeister seelenruhig seine Rinde: »Wenig Standvermögen. Schwächlicher Körperbau. Im Verhältnis zur Körpergröße erstaunlich lautes Sprechorgan.«
Ich ärgerte mich noch mehr. »Schwächlich? Dein Stein war so groß wie mein ganzer Leib!«
»S steht übrigens für Satansbraten-Spezialbehandlung«, belehrte mich der Stutzkäfer noch freundlich, bevor er sich wieder an die Wespen wandte. »Was hat er angestellt?«
Die Wespen funkelten mich böse an. »Er weiß schon Bescheid. «
Moment mal, das war ja wohl wert, erzählt zu werden. »Ich habe eine von ihnen eingelocht«, sagte ich genüsslich. »Wenn die anderen sie nicht rausgezogen hätten, würde sie jetzt noch in der Baumrinde stecken und zappeln.«
»Nicht gerade ein Ruhmesblatt für eine Dolchwespe, möchte ich sagen.« Beiläufig nahm der Käfer einen langen Dorn von der Wand - und ehe ich mich noch recht besann, piekste er mich damit in meinen Allerwertesten.
»Jetzt reicht es aber«, rief ich wütend. »Erst heißt es unverbindliche Besichtigung und Rückkehrgarantie, und dann bin ich plötzlich S-Klasse und bekomme Spieße in den Hintern gerammt. Steck dir deine Dornen gefälligst in deinen eigenen ...«
»Geringe Schmerztoleranz, neigt zur Wehleidigkeit«, notierte der Sklavenmeister und nahm mir damit jeden Wind aus den Flügeln. »Aber wirklich ein erstaunliches Mundwerk. Mal sehen, wohin wir ihn stecken können.«
Aus einem Winkel zog er eine aufgerollte Baumrinde. »Seht euch das an, das sind nur die Anforderungen vom heutigen Tag«, seufzte er. »Das Steinerne Reich braucht Sklaven, immer mehr Sklaven.«
Mit vorgeschobenem Kopf begann er, die Liste zu entrollen. »Ihr wollt also, dass der Kleine richtig Scherereien bekommt?« Die Wespen waren sich einig: »Das volle Programm. Mit allen Schikanen!«
»Himmel, seid ihr nachtragend«, murmelte ich.
Während er auf seiner Liste entlangmarschierte, tippte der Stutzkäfer mit dem Fühler auf die einzelnen Positionen. »Steinbrecher. Offa-Schürfer. Lastenträger. Nein, das ist alles nichts für ihn.«
»Warum nicht?«, widersprach eine der Wespen. »Vor einen schweren Offa-Schlitten gespannt würde er mir ausgesprochen gut gefallen.«
Glücklicherweise hörte der Sklavenmeister nicht auf sie. Murmelnd entrollte er die Rinde weiter. »Hausdiener, Frischluftfächler, Bürobote - alles keine S-Klasse. Einschlaf-Flüsterer«, er schüttelte den Kopf, »bei der großen Klappe ausgeschlossen. Geduld, ich finde schon noch das Richtige.«
Er beschnupperte die Liste, als könne er das Gesuchte herausriechen. »Ah, hier kommen die Anforderungen von allerhöchster Stelle. Oberst Pfeifenstein verlangt zwanzig Armeediener - als ob ich mir die Falter aus den Flügeldecken schnitzen könnte!« Bevor er weiterlas, ritzte er mit seiner Vorderkralle eine Anmerkung in die Rinde. »Mal sehen, was der Königshof anfordert: Träger, Eckenfeger, Servierer, nein, das ist alles nicht das Wahre ... Aber vielleicht hier ... eine der netten königlichen Gehässigkeiten ... Wenn
ihr Glück habt ... Ja!« Zufrieden rieb er sich die Fühler. »S-Klasse ist gebongt«, nickte er den Wespen zu. »Und wie!«
Kurzerhand biss er das betreffende Stück aus der Rinde und zeigte es den Dolchwespen, während er mir mit seinem untersetzten Leib den Blick versperrte.
Die Wespen hatten immer noch etwas zu meckern. »Ja und? Was soll daran schlimm sein?«
»Den Teufel werde ich tun, euch Jägerinnen die Interna des Steinernen Reiches zu verraten« erklärte der Sklavenmeister von oben herab. »Aber ich kann euch versprechen, dieser Posten ist genau, was ihr wollt: die Hölle auf Erden.«
Langsam fühlte ich einen Klumpen in meinen Eingeweiden wachsen. »Vielleicht erklärt ihr mir auch mal, worum es geht«, sagte ich forscher, als ich mich fühlte. »Wie wäre es, wenn ich selbst einen Blick auf diese komische Liste werfe?«
Der Stutzkäfer lachte herzlich. »Seit wann sucht sich ein Falter den Vogel aus, der ihn frisst?« Das klang nicht gerade beruhigend.
»Gehen wir, Schwestern.« Die Dolchwespen schüttelten sich das Wasser aus den Flügeln und übergossen mich dabei mit einem eiskalten Tröpfchenregen. »Draußen wartet reiche Beute.«
»Vergesst nicht, fünf Offa-Streifen zahle ich nur für richtige Falter-Goliaths«, erinnerte sie der Sklavenmeister.
Ich sah den stachelbewehrten Hinterteilen der Wespen hinterher. Und während ich mir glühend wünschte, der Tunnel möge über ihren Köpfen einstürzen, rief der Sklavenmeister: »Komm heraus, meine Hübsche! Es gibt Arbeit für dich!«
Meine Hübsche! Ein wenig pulsierte noch der Rendezvous-Tag in mir, also reckte ich gespannt den Kopf. Doch was da aus dem dunklen Teil der Höhle auf mich zuwogte, mich hungrig aus glitzernden Augen beäugte, war ein Albtraum auf acht haarigen Beinen: ein wandelndes Insektengrab, eine Spinne!
»Nein! Ohne mich!« Hals über Kopf stürzte ich zum Höhleneingang - nur um im nächsten Moment in einer klebrigen Spinnenschlinge zu zappeln. Mit einem zufriedenen Knurren zog die Spinne mich in die Höhle zurück.
»Reg dich ab. Meine Hübsche frisst nur Offa«, sagte der Sklavenmeister. »Abgesehen davon würde sie nie einen Sklaven beschädigen. Sie ist ein echter Profi.«
Das war sie in der Tat. Ehe ich mich versah, hatte die Spinne mich auf den Rücken gedreht, meine Flügel auseinandergezogen und mit ihren Klebfäden am Boden fixiert. Da lag ich nun, sechs Beine in die Luft gestreckt, zum Zerreißen ausgespannt, und wagte nicht einmal mehr zu atmen.
Das Gesicht des Sklavenmeisters schob sich in mein Blickfeld. »Schön stillhalten«, sagte er, als hätte ich eine Wahl gehabt. Nachdem er allerhand Dinge an meinem Unterleib vermessen hatte, was ziemlich peinlich war und noch dazu scheußlich kitzelte, holte er ein Ahornblatt herbei. Es knisterte und wisperte nur so darauf; als ich mühsam den Kopf danach drehte, entdeckte ich eine Schar schwarzer Läuse.
»Euer Einsatz, meine kleinen Freunde«, rief der Sklavenmeister. »Habt ihr die Rinde sorgfältig gelesen?« Die Antwort kam postwendend aus zwei Dutzend piepsiger Kehlen. »Na klar, Meister. Was glaubst du denn!«
Lesende Läuse, wo gab's denn so etwas! Für mich sahen die Biester aus wie Kugeln mit Maul, winzige Fressmaschinen - und genau das waren sie auch. Sorgfältig setzte der Sklavenmeister eine Laus nach der anderen auf meine Flügel; kaum spürten sie meine lebendige Substanz unter sich, begannen sie zu beißen und zu kauen und ihre Bahnen durch mein schimmerndes Blau zu pflügen. Zum Glück sind Schmetterlingsflügel nicht sonderlich schmerzempfindlich, trotzdem krümmte ich mich bei ihrem Schmatzen vor Unglück zusammen. Meine Flügel, mein größter Stolz - würde ich jemals noch einen Looping mit anschließendem Senkrechtstart schaffen? Und - noch viel schlimmer! - wenn ich aussah wie ein löchriger Fetzen, welches Mädchen würde mir noch ihren Duft schicken? Ehrlich, es war der schwärzeste Moment in meinem bisherigen Leben.
Plötzlich hob ich den Kopf, soweit es meine demütigende Lage zuließ. Die Läuse stopften sich nicht einfach blindlings mit meiner Substanz voll. Nein, ich spürte, dass sie mich zielgerichtet fraßen, hier eine Linie, dort einen Schnörkel, fast künstlerisch.
»Du merkst etwas, hm?«, fragte der Sklavenmeister hinter mir. »Bist ein cleveres Kerlchen. Die meisten Falter haben dafür nicht genug Verstand.«
Dann waren die Läuse fertig. Eine nach der anderen rollten sie plopp, plopp von mir herunter und hüpften wieder in ihr eingerolltes Ahornblatt.
»Wenigstens die Läuse haben bei uns im Steinernen Reich ein schönes Leben«, erklärte der Sklavenmeister, während er mit einem Dorn meine Fesseln durchtrennte. »Dein Pech, Kleiner, dass du ein Falter bist.«
Mit einem Satz sprang ich auf meine Beine. Halleluja, meine Flügel saßen noch am richtigen Ort, sie fühlten sich nur etwas gerupft an. Was hatten die Läuse mit ihnen angestellt?
Die Antwort auf diese Frage bekam ich prompt, als der Sklavenmeister einige meiner blauen Schuppen auf dem Boden entdeckte. »Hierher, Karajol. Marsch an die Arbeit!«
Aus einem kleinen Nebengang kroch ein brauner Waldfalter herein. Er sah ziemlich mürrisch drein und gönnte mir keinen Blick, während er mit seinen Fühlern meine Schuppen zusammenkehrte. Ich aber starrte auf seine Flügel, auf denen groß und deutlich Bodenfeger geschrieben stand.
Von mir aus hätte sich der Sklavenmeister seine Ansprache sparen können. Ich konnte selbst eins und eins zusammenzählen.
»Im Steinernen Reich sind die Käfer die Herren und die Falter ihre Diener, zu denen ab sofort auch du gehörst. Deine Aufgabe steht für alle sichtbar auf deinen Flügeln. Erfüllst du sie nicht zur Zufriedenheit deiner Herrschaft, wirst du die Felswand hinunter in den Schlund gestürzt. Noch Fragen?«
Ich war damit beschäftigt, mir den Hals nach meinen Flügeln zu verdrehen, aber umsonst: Ich sah gar nichts.
»Was steht da geschrieben?«
Der Sklavenmeister schüttelte den Kopf. »Das verrate ich euch Neuen niemals. So bleibt die Sache länger spannend. Nur so viel: Dein Einsatzgebiet ist der Königspalast in der Mitte des Reiches.«
Er brachte mich auf die Felswand hinaus. In der Höhle war der Gläserne Vorhang nur ein dumpfes Rauschen gewesen - nun aber traf mich die Wucht des strömenden Wassers erneut wie ein Schlag. Gischt prasselte auf mich herab und brachte mich zum Taumeln.
»Daran gewöhnst du dich«, übertönte der Sklavenmeister den Lärm. Mit seinem Fühler zeigte er auf eine Kriechspur, die durch endlose Benutzung tief im Felsen eingefräst war. »Folge immer der Felsrinne nach unten, dann kannst du den Palast gar nicht verfehlen. «
»Ich soll dort hinunterkriechen wie eine flügellose Kellerassel? «
Er zuckte mit den Flügeldecken. »Von mir aus kannst du hinunterhopsen oder Purzelbäume schlagen, ganz nach Belieben. Nur mit dem Fliegen ist es ein für alle Mal vorbei. Hier im Steinernen Reich werden deine Flügel niemals trocken.«
Sehnsüchtig spähte ich in die Höhle zurück. »Und wenn ich nicht gehe?«
»Dann verhungerst du halt«, sagte der Sklavenmeister gleichgültig. »In deinen Saugrüssel bekommst du erst dort unten wieder etwas. Und jetzt verschwinde!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Lilli Thal
Lilli Thal ist Historikerin. Sie lebt mit ihrer Familie in einer fränkischen Kleinstadt. Veröffentlichung von Kinderkrimis; Auszeichnung mit dem "Martin" für den besten Kinderkrimi des Jahres 2002.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lilli Thal
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2013, 368 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596811643
- ISBN-13: 9783596811649
Rezension zu „Joran Nordwind “
Eine prickelnde Abenteuergeschichte aus dem Mikrokosmos der Insekten, die fesselnd von Freundschaft, Tapferkeit, Träumen und Widerstand erzählt. Saarländischer Rundfunk/Radio Bremen, Kinder- und Jugendbuchliste Sommer 2010
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