Kennedys Hirn
"Die Katastrophe kam im Herbst und brach ohne Vorwarnung über sie herein. Sie warf keine Schatten, sie bewegte sich vollkommen lautlos. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie eine Vorstellung davon, was geschah."
Als die Archäologin...
"Die Katastrophe kam im Herbst und brach ohne Vorwarnung über sie herein. Sie warf keine Schatten, sie bewegte sich vollkommen lautlos. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie eine Vorstellung davon, was geschah."
Als die Archäologin Louise Cantor von ihrer Ausgrabung in Griechenland zu einem Vortrag nach Schweden reist, will sie auch ihren 25-jährigen Sohn wiedersehen. Doch als sie die Wohnung in Stockholm betritt, liegt Henrik tot in seinem Bett. Die Polizei geht von Selbstmord aus, aber daran kann Louise nicht glauben. In dem Kleiderschrank ihres Sohnes findet sie eine Menge Material zu der Frage, warum das Hirn von John F. Kennedy nach der Obduktion spurlos verschwand. War Henrik einem kriminellen Geheimnis auf der Spur? Je mehr sie über sein Leben erfährt, umso klarer wird ihr, wie wenig sie ihren Sohn eigentlich gekannt hat. Auf der Suche nach Hinweisen, die seinen Tod erklären könnten, reist sie nach Australien zu ihrem verschwundenen Exmann und folgt Henriks Spuren über Barcelona nach Mosambik. Dort stößt sie auf ein Asyl für mittellose Aidskranke, in dem auch ihr Sohn gearbeitet hat und das von einem reichen weißen Mann aus scheinbar selbstlosen Gründen ins Leben gerufen wurde. Doch Louise ahnt bald, dass sich dahinter ein ungeheurer humanitärer Skandal verbirgt.
»Die Katastrophe kam im Herbst und brach ohne Vorwarnung über sie herein. Sie warf keine Schatten, sie bewegte sich vollkommen lautlos. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie eine Vorstellung davon, was geschah.«
Als die Archäologin Louise Cantor von ihrer Ausgrabung in Griechenland zu einem Vortrag nach Schweden reist, will sie auch ihren 25-jährigen Sohn wiedersehen. Doch als sie die Wohnung in Stockholm betritt, liegt Henrik tot in seinem Bett. Die Polizei geht von Selbstmord aus, aber daran kann Louise nicht glauben. In dem Kleiderschrank ihres Sohnes findet sie eine Menge Material zu der Frage, warum das Hirn von John F. Kennedy nach der Obduktion spurlos verschwand. War Henrik einem kriminellen Geheimnis auf der Spur? Je mehr sie über sein Leben erfährt, umso klarer wird ihr, wie wenig sie ihren Sohn eigentlich gekannt hat. Auf der Suche nach Hinweisen, die seinen Tod erklären könnten, reist sie nach Australien zu ihrem verschwundenen Exmann und folgt Henriks Spuren über Barcelona nach Mosambik. Dort stößt sie auf ein Asyl für mittellose Aidskranke, in dem auch ihr Sohn gearbeitet hat und das von einem reichen weißen Mann aus scheinbar selbstlosen Gründen ins Leben gerufen wurde. Doch Louise ahnt bald, dass sich dahinter ein ungeheurer humanitärer Skandal verbirgt ...
Kennedys Hirn von HenningMankell
LESEPROBE
Als sie ihren Koffer bei einer der morgenmüdenLufthansaangestellten eingecheckt hatte und auf dem Weg zur Sicherheitskontrollewar, geschah etwas, was einen tiefen Eindruck bei ihr hinterließ.
Später sollte sie denken, daß sie es als Omen hätteauffassen müssen, als Warnung. Doch sie tat es nicht, sie entdeckte nur eineeinsame Frau, die mit ihren Bündeln und altmodischen, mit Schnüren zugebundenenKleidertaschen auf dem Steinfußboden saß. Die Frau weinte. Sie war vollkommenreglos, ihr Gesicht nach innen gekehrt, sie war alt, ihre eingesunkenen Wangenerzählten von vielen fehlenden Zähnen. Vielleicht war sie aus Albanien, dachteLouise Cantor. Viele albanische Frauen suchen Arbeit hier in Griechenland, sienehmen jede Arbeit an, weil wenig besser ist als nichts und weil Albanien einerbarmungslos armes Land ist. Sie trug einen Schal um den Kopf, den Schal derehrbaren älteren Frau, sie war keine Moslime, und sie saß auf dem Boden undweinte. Die Frau war allein, es war, als wäre sie hier auf dem Flughafen anLand getrieben, umgeben von ihren Bündeln, ihr Leben war zerschlagen, einHaufen wertloses Strandgut war alles, was übrig war.
Louise Cantor blieb stehen, eilige Menschen stießen sie an,doch sie blieb stehen, als stemmte sie sich gegen einen starken Wind. DasGesicht der Frau zwischen den Bündeln auf dem Boden war braun und zerfurcht,ihre Haut war wie eine erstarrte Lavalandschaft. Es gab eine besondere Art vonSchönheit in den Gesichtern alter Frauen, wo alles bis auf eine dünne Haut überden Knochen abgeschliffen ist, wo alle Geschehnisse des Lebens eingeschriebensind. Zwei eingekerbte, ausgetrocknete Furchen zogen sich von den Augen dieWangen hinab, jetzt füllten sie sich mit den Tränen der Frau.
Sie begießt einen mir unbekannten Schmerz, dachte LouiseCantor. Aber etwas von ihr habe ich auch in mir.
Die Frau hob plötzlich den Kopf, ihre Blicke begegneten sichfür einen kurzen Augenblick, und sie schüttelte langsam den Kopf. Louise Cantornahm dies als ein Zeichen, daß ihre Hilfe, worin sie auch hätte bestehenkönnen, nicht benötigt wurde. Sie hastete weiter zur Sicherheitskontrolle,drängte sich durch die schubsenden Menschen, jagte durch Duftwolken vonKnoblauch und Oliven. Als sie sich umwandte, war es, als wäre ein Vorhang vonMenschen zwischen sie gezogen worden, die Frau war nicht mehr zu sehen.
Louise Cantor hatte ein Tagebuch, in dem sie seit ihrerfrühen Jugend Ereignisse aufschrieb, von denen sie meinte, sie würde sie nievergessen. Dies war ein solcher Moment. In Gedanken formulierte sie schon, wassie schreiben würde, während sie ihre Handtasche auf das Rollband derSicherheitskontrolle und ihr Telefon in eine kleine blaue Plastikbox legte undanschließend durch die magische Sperre schritt, die böse Menschen von gutentrennte.
Sie kaufte eine Flasche Tullamore Dew für sich und zweiFlaschen Retsina für Henrik. Dann setzte sie sich in die Nähe des Ausgangs undentdeckte zu ihrem Ärger, daß sie ihr Tagebuch in der Argolis vergessen hatte.Sie sah es vor sich, es lag am Tischende neben der grünen Lampe. Sie holte dasSeminarprogramm und notierte auf der Rückseite:
"Weinende alte Frau auf dem Flugplatz von Athen. EinGesicht, als wäre sie eigentlich eine menschliche Ruine, nach Jahrtausenden voneinem neugierigen und aufdringlichen Archäologen ausgegraben. Warum weinte sie?Diese universelle Frage. Warum weint ein Mensch?"
Sie schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, wassich in den Bündeln und kaputten Taschen befunden haben konnte.
Leere, dachte sie. Taschen, gefüllt mit Leere oder mit derAsche vergangener niedergebrannter Feuer.
Als ihr Flug aufgerufen wurde, wachte sie mit einem Ruckauf. Sie saß auf einem Gangplatz, der Mann neben ihr schien Flugangst zu haben.Sie beschloß, bis Frankfurt zu schlafen, erst auf der Strecke nach Stockholmwürde sie frühstücken.
Als sie in Arlanda gelandet war und ihren Koffer gefundenhatte, war sie immer noch müde. Sie liebte es, eine Reise vor sich zu haben,nicht aber, sie zu unternehmen. Sie ahnte, daß sie eines Tages auf einer Reisevon Panik befallen werden würde. Deshalb hatte sie seit vielen Jahren immereine Schachtel mit Beruhigungstabletten bei sich, für den Fall, daß derAngstanfall kam.
Sie suchte den Weg zum Terminal für Inlandflüge, gab ihrenKoffer bei einer etwas weniger müden Frau ab als der, bei der sie in Atheneingecheckt hatte, setzte sich und wartete. Durch eine Tür, die aufgestoßenwurde, traf sie ein Windstoß aus dem schwedischen Herbst. Sie fröstelte unddachte, daß sie die Gelegenheit wahrnehmen mußte, einen Pullover ausGotlandwolle zu kaufen, wenn sie schon in Visby war. Gotland und Griechenlandhatten die Schafe gemeinsam, dachte sie. Wenn Gotland Olivenhaine hätte, wäreder Unterschied gering.
Sie überlegte, ob sie Henrik anrufen sollte. Aber er schliefvielleicht, er machte die Nacht oft zum Tag, er arbeitete lieber beiSternenlicht als bei Sonnenschein. Statt dessen wählte sie die Nummer ihresVaters in Ulvkälla in der Nähe von Sveg, auf der Südseite des Ljusnan. Erschlief nie, ihn konnte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Noch nie wares ihr gelungen, ihn dabei zu erwischen, daß er schlief, wenn sie anrief. Daranerinnerte sie sich auch aus ihrer Kindheit. Sie hatte einen Vater, der denSchlaftroll überlistet hatte, einen riesigen Mann mit stets geöffneten Augen,stets wachend, bereit, sie zu verteidigen.
Sie wählte die Nummer, brach aber nach dem ersten Klingelnab. Gerade im Augenblick hatte sie ihm nichts zu sagen. Sie steckte das Telefonein und dachte an Vassilis. Er hatte sie nicht auf ihrem Handy angerufen undeine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen. Aber warum sollte er? Sie spürteeinen Anflug von Enttäuschung, verwarf die Empfindung aber sogleich, es gabkeinen Grund, zu bereuen. Louise Cantor stammte aus einer Familie, in der maneinmal gefaßte Entschlüsse nicht bereute, selbst wenn sie völlig verfehltwaren. Man machte gute Miene auch zum bösesten Spiel.
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2006
Übersetzung: Wolfgang Butt
Autoren-Porträt von Henning Mankell
Bestellerautor Henning Mankell lebt abwechselnd in Schweden und in Afrika, seine Geschichten erzählen von beiden Kulturkreisen. Er ist zum Wanderer und Vermittler zwischen den Welten geworden.
Geboren wurde er am 3.2.1948 als Sohn eines Richters in Stockholm und wuchs in Härjedalen auf. Mit 17 Jahren ging er nach Stockholm, wo er zunächst am Riks Theater arbeitete. Seine Karriere als Autor, Regisseur und Intendant setzte er an verschiedenen Theatern fort.
1972 machte Mankell seinen Traum wahr und besuchte Afrika, den Kontinent, der ihn von da an nicht mehr los ließ. Er wurde gefragt, ob er in Mosambik das erste und einzige Theater der Region gründen würde. Seit 1986 ist er Leiter einer 70-köpfigen Theatertruppe am Teatro Avenida in Maputo. Von da an lebt er, wie er es selbst beschreibt, „mit einem Fuß im Sand, mit dem anderen im Schnee“.
In Deutschland wurde der Schriftsteller zunächst durch seine neun Bände umfassende Krimireihe um Kommissar Wallander bekannt. Viele seiner Romane wurden mit großem Erfolg verfilmt wie „Die fünfte Frau“, der von sadistischen Mördern und seinen Opfern erzählt, oder „Die Rückkehr des Tanzlehrers“, in dem es um untergetauchte Nazi-Verbrecher geht.
Die Frage nach seiner Vision einer freien Gesellschaft beantwortet Mankell mit der Forderung nach Solidarität, die besonders in seinen Afrika-Romanen eine wichtige Rolle spielt. In „Der Chronist der Winde“ macht er auf das Schicksal afrikanischer Straßenkinder aufmerksam, „Kennedys Hirn“ ist eine Anklage der Weltgemeinschaft und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Armut und Aids in Afrika.
Der Schriftsteller selbst engagiert sich in verschiedenen Initiativen gegen Analphabetismus oder für die Emanzipation afrikanischer Frauen und arbeitet mit am Projekt „Memory Book“, das Aids-Waisen helfen soll, die Erinnerung an die toten Eltern zu bewahren. So ist man geneigt, Henning Mankell zu glauben, wenn er sagt: „Ich selbst wurde in Afrika ein besserer Europäer“.
Interview mit Henning Mankell
Seit einigen Jahren schon erscheinen auf Deutsch Bücher mit der Figur des Kriminalkommissars Wallander. Wie erklären Sie sich jetzt den Erfolg mit Zsolnay?
Henning Mankell: Ich muß einfach daran glauben, daß sich Qualität früher oder später durchsetzt. Wenn ich nicht daran glauben würde, wäre ich kein Schriftsteller, sondern ein Scheinheiliger.
Wie stehen Sie zum Genre Krimi? Immerhin wird mit Ihnen Werbung gemacht mit dem Satz: Der Mann, der keine Kriminalromane schreibt.
Henning Mankell: Ich hatte nie vor jemals in meinem Leben über Verbrechen oder Krimis zu schreiben. Ich glaube auch noch immer nicht, daß ich es tue. Was ich mache, ist eigentlich etwas sehr Altes, ich sehe auf die Gesellschaft durch den Spiegel des Verbrechens. Dieses Prinzip verfolgt Shakespeare in Macbeth oder Joseph Conrad in Herz der Finsternis. Diese beiden Beispiele sind auf ihre Art Krimis, doch niemand bezeichnet sie so. Ich glaube, ich arbeite in einer Tradition, die von Kritikern falsch eingeschätzt wurde. Meine Geschichten handeln von der Gesellschaft und der Zeit in der ich lebe.
Die Mordfälle in Ihren Romanen sind zumeist sehr drastisch. Kann man Rassismus oder Gewalt in unserer Gesellschaft nur so darstellen, oder sind subtile Formen, die die latente Gewalt zeigen, nicht didaktisch eingängiger? Oder kann man die Menschen nur durch drastische Szenen aufrütteln?
Henning Mankell: Was immer ich schreibe, besonders über Grausamkeit, ist in der Realität immer schlimmer. Ich muß bekennen, daß es viele Seiten gibt bei denen ich mich wirklich schlecht gefühlt habe, als ich sie schrieb. Doch ich beziehe mein Material aus der Realität und nicht aus
Sie arbeiten sehr vielfältig. Sie schreiben Krimis für Erwachsene und sozial engagierte Bücher für Kinder, außerdem arbeiten sie als Regisseur. Wie bringt man all diese Arbeiten zusammen, bedingen sie sich gegenseitig, und entwickelt sich das eine aus dem anderen, oder hat das eine mit dem anderen nichts zu tun?
Henning Mankell: Es stimmt ich schreibe wirklich viele verschiedene Dinge, und zwar Theaterstücke, fürs Fernsehen, fürs Kino, Bücher über Wallander, Geschichten über Afrika. Ich glaube aber, da gibt es eine Verbindung, zumindest für mich ist sie sichtbar. Und die Verbindung ist sehr einfach zu beschreiben, nämlich die Frage, welche Gesellschaft wollen wir? Eine Gesellschaft, die auf Solidarität beruht, oder das Gegenteil. Ich glaube, mein ganzes Schreiben wie auch mein Leben basiert auf dieser Frage.
In den kurzen biographischen Noten über Sie steht, Sie arbeiten als Regisseur in Maputo (Mosambik. Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit dort erzählen?
Henning Mankell: Seit 13 Jahren bin ich der Prinzipal des einzigen professionellen Theaters in Mosambik. Die Arbeit ist spannend, eine Herausforderung und auch ein Teil meines Zieles nämlich Solidarität. Den Menschen dort etwas von meiner Erfahrung zu geben und dafür ihre zu bekommen und zu zeigen, daß Kunst eine Domäne ist, wo Rassen und andere künstliche Grenzen keine Bedeutung haben.
Das Interview mit Henning Mankell erschien in der Zeitschrift
Buchkultur. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.
- Autor: Henning Mankell
- 2008, 5. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Butt, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Butt
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423210257
- ISBN-13: 9783423210256
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