Kinder des Jacarandabaums
Roman
"Kinder des Jacarandabaums" ist für uns "Das besondere Buch", weil es eine glühende Anklage gegen die Tyrannei ist und alle ehrt, die für Freiheit und Gerechtigkeit ihr Leben riskieren.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kinder des Jacarandabaums “
"Kinder des Jacarandabaums" ist für uns "Das besondere Buch", weil es eine glühende Anklage gegen die Tyrannei ist und alle ehrt, die für Freiheit und Gerechtigkeit ihr Leben riskieren.
Drei Generationen von Frauen, Männern und Kindern, geprägt von den Geschehnissen in ihrer Heimat, dem Iran. In "Kinder des Jacarandabaumes" verarbeitet Sahar Delijani ihre eigene Familiengeschichte.
Die junge Azar, die wie viele für ein Leben in Freiheit kämpft, wird von den Revolutionswächtern inhaftiert. Sie bringt ihr erstes Kind in einem iranischen Gefängnis zur Welt. Ihr Leben ist von unvorstellbarem Leid geprägt. Repressionen, Ungerechtigkeit, ständige Angst um ihre Tochter.
Doch Neda hat Glück: Die Kleine wächst bei ihren Großeltern im Kreis der Großfamilie auf. Wie sehr ihre Eltern litten und wie sehr deren Erlebnisse auch sie prägen, wird Neda erst Jahre später auf dramatische Weise bewusst.
Ausgerechnet Reza - der Mann, den sie liebt und der erst vor Kurzem aus seiner Heimat Iran geflohen ist - löst diese Erkenntnis bei ihr aus: Denn sein Vater gehörte 25 Jahre zuvor zu den Revolutionswächtern.
Sahar Delijani wurde 1983 im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis geboren, nachdem ihre Eltern als politische Aktivisten verhaftet wurden. 1996 verließ die Familie den Iran. Heute lebt die Autorin in Italien.
Doch Neda hat Glück: Die Kleine wächst bei ihren Großeltern im Kreis der Großfamilie auf. Wie sehr ihre Eltern litten und wie sehr deren Erlebnisse auch sie prägen, wird Neda erst Jahre später auf dramatische Weise bewusst.
Ausgerechnet Reza - der Mann, den sie liebt und der erst vor Kurzem aus seiner Heimat Iran geflohen ist - löst diese Erkenntnis bei ihr aus: Denn sein Vater gehörte 25 Jahre zuvor zu den Revolutionswächtern.
Sahar Delijani wurde 1983 im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis geboren, nachdem ihre Eltern als politische Aktivisten verhaftet wurden. 1996 verließ die Familie den Iran. Heute lebt die Autorin in Italien.
Klappentext zu „Kinder des Jacarandabaums “
Sie spielen im Hof, unter den blühenden Zweigen des Jacarandabaums. Wie ganz normale, glückliche Kinder sehen sie aus, Neda und ihre Cousinen. Doch die Mütter sind fort, eingesperrt für ihren Kampf um Freiheit im Iran. Jahre später, als Neda sich in den jungen Reza verliebt, begreift sie, dass die Vergangenheit der Eltern ihre Liebe zu zerstören droht. Neda beschließt, das jahrelange Schweigen über das Geschehene zu brechen.Sahar Delíjanís bewegender Roman ist ein großes Panorama der Generationen und eine Liebeserklärung an die Menschen in ihrer Heimat.
Lese-Probe zu „Kinder des Jacarandabaums “
Kinder des Jacarandabaums von Sahar Delíjaní 1983
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Evin-Gefängnis, Teheran
Azar saß, an die Wand gekauert, auf dem gewellten Boden eines Lieferwagens. Die gewundene Straße ließ das Auto hin und her schaukeln, so dass sie von einer Seite zur anderen geworfen wurde. Mit ihrer freien Hand umklammerte sie etwas, das sich wie ein Geländer anfühlte. Die andere lag auf ihrem harten, sich wölbenden Bauch, dessen Kontraktionen ihre Atmung abgehackt und unregelmäßig machten. Irgendwo in ihrer Wirbelsäule entsprang eine heiße Welle des Schmerzes und überschwemmte ihren ganzen Körper. Japsend ergriff Azar den um sie gewickelten Tschador und krallte sich daran so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß anliefen. Bei jeder Kurve wurde sie gegen eine Wand geschleudert. Bei jeder Unebenheit und jedem Schlagloch wurde ihr Körper Richtung Decke geworfen. Das Kind in ihrem Bauch machte sich steif, zuckte zusammen. Die Augenbinde um ihren Kopf war feucht vom Schweiß. Sie hob eine Hand und wischte sich die Feuchtigkeit von der Stirn. Die Binde abzunehmen wagte sie nicht, obwohl niemand hinten bei ihr im Laderaum war. Sie wusste jedoch, dass sich in ihrem Rücken ein Fenster befand. Beim Einsteigen hatte sie das Glas gefühlt. Womöglich drehte Schwester sich um und beobachtete sie durch dieses Fenster, oder sie hielten so plötzlich an, dass Azar nicht die Zeit hätte, die Augenbinde wieder überzustreifen. Sie wusste nicht, was mit ihr passieren würde, wenn man sie mit offenen Augen erwischte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Zuweilen versuchte sie sich einzureden, dass die Angst, die sie beschlichen und die sich bei ihr eingenistet hatte, nicht gerechtfertigt war; niemand hatte bisher die Hand gegen sie erhoben, sie herumgeschubst oder bedroht. Sie hatte keinen Grund, Angst vor ihnen zu haben, vor ihren Schwestern und Brüdern, jedenfalls keinen konkreten Grund. Andererseits waren da die Schreie, welche die Gefängnismauern erschütterten und sich mit rasender Geschwindigkeit durch die leeren Gänge fortpflanzten. Sie rissen nachts die Häftlinge aus dem Schlaf, brachten ihre Gespräche, während sie sich ihr Mittagessen teilten, zum Verstummen, zwangen sie alle - die Kiefer angespannt und die Gliedmaßen starr - zu einer Stille, die weit in den Abend hinein andauerte. Niemand wusste, woher die Schreie kamen. Niemand wagte zu fragen. Schmerzensschreie waren es, so viel wussten sie. Schmerzensgeheul konnte man nämlich mit keinem anderen Schrei verwechseln; es waren Schreie eines Körpers ohne Ich, verlassen, zerquetscht zu einem formlosen Klecks, dessen Existenz sich nur in der Kraft ausdrückte, mit der er die Stille innerhalb der Gefängnismauern zerriss. Und keiner wusste, wann er an der Reihe sein, wann er in dem Gang verschwinden und nichts als Geheul zurücklassen würde. So lebten und warteten sie und befolgten Befehle unter der heraufziehenden Wolke einer Gefahr, der man, wie sie alle wussten, nicht ewig entgehen konnte. Durch eine kleine Öffnung irgendwo über Azars Kopf drang der gedämpfte Lärm der erwachenden Stadt in das Fahrzeug: Rollläden, die hochgezogen wurden, hupende Autos, lachende Kinder, feilschende Straßenhändler. Durch das Fenster hörte sie in Abständen auch Reden und Gelächter aus dem vorderen Teil des Lieferwagens, wenngleich einzelne Worte nicht zu verstehen waren. Azar konnte nur Schwesters lachende Reaktion auf irgendetwas, was einer der Brüder gerade erzählt hatte, wahrnehmen. Sie versuchte, diese Stimmen von sich fernzuhalten, indem sie sich auf das Summen der Stadt draußen konzentrierte - Teheran, ihre geliebte Stadt, von der sie seit Monaten weder etwas gesehen noch gehört hatte. Sie fragte sich, wie sich die Stadt mit dem Krieg gegen den Irak, der in sein drittes Jahr ging, verändert haben mochte. Hatten die Flammen des Krieges Teheran erreicht? Verließen die Menschen die Stadt? Nach den Geräuschen draußen zu urteilen, ging alles seinen gewohnten Gang, dasselbe Chaos, dasselbe Kampf- und Überlebensgetümmel. Sie fragte sich, was ihre Eltern wohl in diesem Augenblick machten. Mutter dürfte in der Schlange beim Bäcker stehen; ihr Vater stieg vermutlich gerade aufs Motorrad, um zur Arbeit zu fahren. Beim Gedanken an sie war ihr, als schnürte ihr irgendetwas die Kehle zu. Sie hob den Kopf, machte den Mund weit auf und japste nach der Luft, die durch die Öffnung hereinzog. Den Kopf in den Nacken geworfen, atmete sie heftig, so heftig, dass es ihr in der Kehle brannte und sie zu husten begann. Nachdem sie den festen Knoten des Kopftuchs unter dem Kinn gelöst hatte, ließ sie den Tschador vom Kopf gleiten. Mit beiden Händen das Geländer umfassend, saß sie stocksteif da und bemühte sich, dem Schwanken und Schaukeln des Autos standzuhalten, als erneut ein heftiger Schmerz sie wie eine glühende Gewehrkugel durchfuhr. Azar versuchte, sich aufzurichten; alles in ihr sträubte sich bei dem Gedanken, auf dem eisernen Boden eines Lieferwagens zu gebären, auf diesen holprigen Straßen, mit Schwesters schrillem Lachen in den Ohren. Sie umklammerte das Geländer noch fester, atmete tief ein und stemmte sich, so gut sie konnte, gegen den Drang, aufzubrechen. Unter allen Umständen wollte sie das Kind im Bauch behalten, bis sie im Krankenhaus waren. Genau in dem Moment spürte sie plötzlich einen Schwall zwischen den Beinen und hielt die Luft an, während die Flüssigkeit unkontrollierbar an ihrem Oberschenkel hinabrann. Sie schob den Tschador zur Seite. Panik durchfuhr sie, als sie mit den Fingerspitzen vorsichtig ihre Hose berührte. Dass bei einer Schwangeren irgendwann die Fruchtblase platzte, wusste sie, was danach passierte, jedoch nicht. Hieß das, dass die Geburt unmittelbar bevorstand? War es gefährlich? Azar hatte gerade angefangen, sich mit Schwangerschaftsratgebern zu beschäftigen, als sie vor ihrer Tür standen. Sie hatte das Kapitel über Blasensprung, Wehen und den Inhalt des Krankenhauskoffers aufgeschlagen, als sie so laut anklopften, als wollten sie die Haustür einschlagen. Als man sie hinauszerrte, war ihr Bauch bereits zu erkennen. Sie biss die Zähne zusammen, während ihr Herz wie wild klopfte. Sie wünschte, ihre Mutter wäre da und könnte ihr erklären, was da vor sich ging. Mutter mit ihrer tiefen Stimme und ihrem freundlichen Gesicht. Sie wünschte, sie hätte irgendetwas von ihrer Mutter, woran sie sich festhalten könnte, ein Kleidungsstück, ihr Kopftuch. Das hätte ihr geholfen.
Sie wünschte, Ismael wäre da und könnte ihre Hand halten und ihr sagen, alles werde gut. Er wäre ganz bestimmt erschrocken, krank vor Sorge, würde er sie in diesem Zustand sehen. Mit seinen schönen braunen Augen hätte er sie betrachtet, als wollte er ihre Schmerzen verschlingen, sie zu seinen machen. Nichts hasste er mehr, als sie leiden zu sehen. Damals, nach ihrem Sturz von dem Stuhl, auf den sie geklettert war, um Trauben zu pflücken, hatte es ihn so schockiert zu erleben, wie sie sich auf dem Boden wand, dass ihm beinahe die Tränen gekommen wären, als er sie in die Arme schloss. Ich dachte, du hättest dir das Kreuz gebrochen, sagte er ihr später. Ich würde sterben, wenn dir irgendetwas zustoßen würde. Durch seine Liebe kam sie sich vor wie ein Berg, unerschütterlich, unsterblich. Sie brauchte diese allumfassende Liebe, diese sorgenvollen Blicke. In dem Maße, wie es ihr gelang, ihn zu beruhigen, ihn aufzurichten, schaffte sie es auch, sich selbst zu beruhigen. Sie wünschte, ihr Vater wäre da, damit er sie zu seinem Auto tragen und wie ein Verrückter zum Krankenhaus rasen könnte. Der Lieferwagen hielt an, und Azar, die aus ihren Gedanken gerissen wurde, drehte sich abrupt um, als könnte sie sehen. Obwohl das Brummen des Motors verstummt war, ging keine Tür auf. Ihre Hände schoben sich nach oben zu dem Kopftuch, banden den Knoten wieder fest und zogen den Tschador darüber. Noch einmal brach Schwester in schallendes Gelächter aus. Bald wurde deutlich, dass sie warteten, bis Bruder seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. Azar, die zitternden Hände am glitschigen Rand ihres Tschadors, wartete auf sie. Nach einer Weile hörte sie Türen auf- und wieder zugehen. Jemand fummelte am Schloss der hinteren Lieferwagentür herum. Sich an dem Griff festhaltend, hievte Azar ihren Körper vorwärts. Als die Tür aufgerissen wurde, befand sie sich unmittelbar dahinter. »Raus mit dir!«, sagte Schwester, während sie die Handschellen um Azars Gelenke zuschnappen ließ. Azar stellte fest, dass sie kaum stehen konnte. Schwerfällig schleppte sie sich neben Schwester her, eingehüllt in die Dunkelheit vor ihren Augen, mit einer Hose, die ihr an den Oberschenkeln klebte. Bald spürte sie, wie zwei Hände hinter ihrem Kopf die Augenbinde lösten, und sie sah, dass sie in einem schwach erleuchteten Gang stand, der von einer langen Reihe geschlossener Türen gesäumt war. Ein paar Plastikstühle standen an den Wänden, an denen Poster mit glücklichen Kindergesichtern und das eingerahmte Foto einer Krankenschwester hingen, die, einen Finger auf den Lippen, um Ruhe bat. Als Azar merkte, dass sie endlich im Gefängniskrankenhaus angekommen waren, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Ein paar junge Krankenschwestern eilten vorbei. Azar blickte ihnen nach, bis sie am Ende des Gangs verschwunden waren. Es war schön, die Augen frei zu haben und den Blick rasch und ungehindert von den grünen Wänden über die Türen und die flachen, in der Decke eingelassenen Neonlichter bis zu den Schwestern in ihren weißen Uniformen und weißen Schuhen schweifen zu lassen, die mit vor Eifer geröteten Gesichtern umherwuselten und Türen auf- und zumachten. Jetzt, nachdem sie sehen konnte, fühlte Azar sich weniger exponiert, auf Augenhöhe mit ihrer Umgebung. Hinter der Augenbinde hatte sie sich unvollständig gefühlt, verstümmelt, versunken in einer unkontrollierbaren Welt physischer Verwundbarkeit, wo alles geschehen und sie sich nicht verteidigen konnte. Nun war ihr, als könnte sie sich mit einem Blick der lähmenden Angst entledigen, die sie bedrängte und ihr das Gefühl vermittelte, kein Ganzes, keine vollständige Person zu sein. Mit offenen Augen war es Azar in dem halbdunklen Gang inmitten des geschäftigen Treibens von Leben und Geburt, als finge sie an, ihre Menschlichkeit wiederzuerlangen. Hinter manchen dieser Türen hörte man gedämpft das Weinen von Babys. Azar lauschte, als enthielte dieses hungrige Geschrei eine Botschaft für sie, eine Botschaft von der anderen Seite der Zeit, der anderen Seite ihres Körpers und Fleisches. Eine Krankenschwester blieb vor ihnen stehen, eine stattliche Frau mit hellbraunen Augen. Sie musterte Azar von Kopf bis Fuß und wandte sich dann Schwester zu. »Es ist Hochbetrieb. Wir versuchen, den Ansturm durch den Eid-e-Ghorban zu bewältigen, und ich weiß nicht, ob überhaupt ein Zimmer frei ist. Aber kommt erst mal mit! Die Ärztin soll wenigstens mal einen Blick auf sie werfen.« Die Krankenschwester führte sie zu einer Treppe, die Azar mit Mühe hinaufstieg. Alle paar Stufen musste sie stehen bleiben, um Luft zu holen. Die Krankenschwester ging voraus, als wiche sie dieser Gefangenen mit dem mageren, vor Schweiß glänzenden Gesicht aus, als wollte sie mit ihr, ihrem Baby und ihrer Qual nichts zu tun haben. Sie gingen von einem Stockwerk zum nächsten, Azar schleppte ihren Körper von Flur zu Flur, von einer geschlossenen Tür zur anderen. Endlich wurden sie von einer Ärztin in ein Zimmer gewunken. Azar legte sich rasch hin und lieferte sich den effizient arbeitenden, unpersönlichen Händen der Ärztin aus. Das Baby in ihrem Bauch fühlte sich so fest an wie ein Knoten.
»Wie schon gesagt, wir können sie nicht hierbehalten«, sagte die Krankenschwester, kaum dass die Ärztin den Raum verlassen und die Tür sich leise hinter ihr geschlossen hatte. »Sie gehört nicht zu diesem Gefängnis. Ihr müsst sie woandershin bringen.« Schwester gab Azar ein Zeichen aufzustehen. Während sie zurückgingen, Treppe für Treppe, Flur um Flur, hielt Azar sich am Geländer fest, angespannt, steif, keuchend. Der Schmerz legte einen Gang zu. Er erfasste ihren Rücken, dann ihren Bauch. Während sie nach Luft rang, war ihr, als würde das Baby von riesigen Händen aus ihr herausgerissen. Einen Moment lang füllten sich ihre Augen mit Tränen, worauf sie beschämt die Zähne zusammenbiss und kräftig schluckte. Das war nicht der Ort für Tränen - nicht diese Treppen, nicht diese endlosen Flure. Bevor sie das Krankenhaus verließen, vergewisserte sich Schwester, dass die Binde über den blutunterlaufenen Augen der Gefangenen auch richtig saß.
Als Azar die Türen zuschlagen hörte, befand sie sich erneut auf dem gewellten Boden des Lieferwagens, in dem es nach Hitze und gewaltigem Leid roch. Kaum war der Motor angesprungen, setzte vorne das Geplapper da ein, wo es aufgehört hatte. Schwester klang erregt. Ihre Stimme und ihr schrilles Gelächter hatten etwas Kokettes. Nachdem Azar unter Mühen ihre vorherige Position wieder eingenommen hatte, sank sie vor Müdigkeit leicht zusammen. Während der Lieferwagen im Zickzack durch den lärmenden Verkehr fuhr, musste sie daran denken, wie sie Ismael das erste Mal mit nach Hause genommen hatte. Es war ein heißer Tag gewesen, ganz ähnlich wie heute. Er hatte süß gerochen, nach Seife und Zufriedenheit, wie er so neben ihr die schmale Straße hinuntergegangen war. Sie wolle ihm zeigen, woher sie komme, hatte sie gesagt, das Haus, in dem sie wohne, mit seinen niedrigen Backsteinmauern, dem blauen Springbrunnen und dem alles beherrschenden Jacarandabaum. Er hatte seine Bedenken gehabt; wenn nun ihre Eltern heimkehrten und sie zusammen erwischten? Trotzdem war er mitgekommen. Nur ein kurzer Rundgang, hatte Azar ihm versprochen und ihn lachend bei der Hand genommen. Obwohl sie buchstäblich von Zimmer zu Zimmer gerannt waren, hatte beide dieser Moment des Beisammenseins inmitten des sie umgebenden Blumendufts nie mehr losgelassen. Sie fragte sich, wo Ismael war und ob es ihm gutging. Seit Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört, wusste nicht einmal, ob er noch am Leben war. Nein, nein, nein. Mehrmals schüttelte sie den Kopf. An so etwas durfte sie nicht denken. Nicht in diesem Moment. Von einigen der neu eingetroffenen Gefangenen hatte sie gehört, die Männer seien auch ins Evin-Gefängnis verlegt worden. Die meisten jedenfalls. Wenn sie es nach Evin schafften, hieß das, dass sie die Verhöre und alles andere, was sie sich gar nicht vorstellen wollte, im Untersuchungsgefängnis Komiteh-Moshtarak überstanden hatten. Sie war sicher, dass Ismael zu diesen Männern gehörte. Sie war sicher, dass er mit ihr im Evin war. Es konnte nicht anders sein. Erneut hielt der Lieferwagen an, und die Tür schwang auf. Diesmal wurde ihr die Augenbinde nicht abgenommen. Dennoch drang gedämpftes Licht durch den Stoff hindurch, als sie aus dem Laderaum taumelte und neben Schwester und den Brüdern in ein anderes Gebäude und dann einen Korridor entlangwankte. Sie mussten die Entbindungsstation eines anderen Krankenhauses betreten haben, denn schon bald drang das Stöhnen und Schreien von Frauen an ihre Ohren. Plötzlich verspürte Azar einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht würden sie sie jetzt den sicheren Händen der Ärzte überlassen. Vielleicht war die Qual vorbei. Als die Augenbinde auf einer Seite etwas nach unten rutschte, betrachtete sie durch die Öffnung begierig den grau gefliesten Boden des langen Gangs und die metallenen Beine von an der Wand aufgereihten Stühlen. Sie spürte, dass Leute vorbeieilten, vielleicht Krankenschwestern, deren weiche Schuhe den Flur entlangtappten, während ihre Körper Azar einen Luftzug ins Gesicht wirbelten. Bald änderte sich ihr Kurs, und sie stiegen eine weitere Treppe hinauf. Das Stöhnen der Frauen verlor sich. Azar spitzte die Ohren und wusste, dass sie sich von der Entbindungsstation entfernten. Ihre Augenwinkel zuckten. Als sie schließlich anhielten und eine Tür aufging, wurde sie in einen Raum geführt und aufgefordert, sich zu setzen. Erschöpft ließ sie sich auf einem harten Holzstuhl nieder. Schweiß rann ihr von der Stirn und in die Augen, als eine neue Welle des Schmerzes sich ihrer bemächtigte. Bald ist die Ärztin hier, dachte sie, um sich zu trösten. Ihr wurde jedoch schnell klar, dass es keine Ärztin war, auf die sie wartete, denn hinter der geschlossenen Tür näherte sich das Schlappschlapp von Gummilatschen und wurde immer lauter. Sie wusste, was es bedeutete und dass sie sich wappnen musste. In der Hoffnung, das Schlappschlapp möge an ihrer Tür vorbeiziehen und sie in Ruhe lassen, umklammerte sie das warme, schweißfeuchte Metall der Handschellen und kniff die Augen fest zu. Als es hinter der Tür still wurde, verließ sie der Mut; sie kamen ihretwegen. Quietschend ging die Tür auf. Unter der Augenbinde erhaschte sie einen Blick auf schwarze Hosenbeine und die mageren Zehen eines Mannes mit langen, spitzen Nägeln.
Sie hörte, wie er gemächlich den Raum durchquerte, kratzend einen Stuhl über den Boden zog und sich hinsetzte. Vor diesem unheilbringenden Wesen, das sie nicht sehen, aber mit jeder Faser ihres Körpers spüren konnte, erstarrte Azar. Das Kind in ihrem Bauch trat und wand sich. Sie zuckte zusammen, krallte sich in ihren Tschador. »Dein Vor- und Nachname?« Mit bebender Stimme nannte Azar ihm ihren Namen. Dann den Namen der politischen Partei, der sie angehörte, und den Namen ihres Mannes. Wieder ein stechender Schmerz, worauf sie sich krümmte und ihren Lippen ein Wimmern entschlüpfte. Der Mann schien jedoch weder zu hören noch zu sehen. Die Fragen kamen ihm weiter mechanisch über die Lippen, als läse er sie von einer Liste ab, die man ihm ohne weitere Informationen in die Hand gedrückt hatte. In seiner Stimme lag eine Aggressivität, die der tiefen, gefährlichen Langeweile eines Vernehmungsbeamten entsprang, der seiner eigenen Fragen überdrüssig geworden war. In dem Raum war es sehr heiß. Unter den dichten Schichten ihres Mantels und Tschadors war Azar schweißgebadet. Der Mann fragte sie nach dem Datum der Verhaftung ihres Mannes. Sie nannte es ihm, auch, wen sie kannte und wen nicht. Ihre Stimme bebte vor Qual, während der Schmerz sie wellenartig durchfuhr. Ich muss ruhig bleiben, sagte sie sich. Ich darf dem Baby kein Leid zufügen. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie sich des Bildes zu erwehren, das ständig vor ihrem inneren Auge auftauchte: das eines Kindes, ihres Kindes, missgestaltet, entstellt, ein bleibender Anblick der Qual. Wie die Kinder aus Biafra. Sie gab ein Ächzen von sich. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Wo haben die Treffen stattgefunden?, fragte der Mann. Wie viele von ihnen haben jedes Mal daran teilgenommen?
Während sie sich gegen die nächsten unaufhaltsamen Wellen des Schmerzes an dem Stuhl festklammerte, versuchte Azar, sich an die richtigen Antworten zu erinnern. All die Antworten, die sie von Verhör zu Verhör gegeben hatte. Nicht ein Datum, nicht ein Name, nicht eine Information oder deren Fehlen durften abweichen. Sie wusste, warum sie hier war, warum sie genau diesen Moment für den richtigen gehalten hatten, um sie zu verhören, sie zu kriegen. Bleib ruhig!, sagte sie sich erneut. Während sie Namen, Daten, Orte, Treffen verschwieg, versuchte sie ruhig zu bleiben, indem sie sich die Füße, Hände, Knie, Form und Farbe der Augen ihres Babys vorstellte. Wieder stieg eine Welle des Schmerzes hoch und überschlug sich in ihr. Erschrocken über deren Heftigkeit, krümmte sie sich zusammen. Eine solche Qual hätte sie nie für möglich gehalten. Sie war dabei, sich ihr zu ergeben. Finger, Knöchel, Nasenlöcher, Ohrläppchen, Hals.
Wo sie die Flugblätter drucken ließ? Sie hörte den Mann die Frage wiederholen. Sie versuchte zu antworten, doch die Kontraktionen schienen sie zu verschlingen, ihr jede Möglichkeit zum Sprechen zu nehmen. Mit einem Ruck beugte sie sich vor, packte den Tisch vor sich. Sie hörte sich selbst stöhnen. Bauchnabel, schwarze Haare, Rundung des Kinns. Sie holte tief Luft. Ihr war, als würde sie in Ohnmacht fallen. Sie biss sich auf die Zunge. Auf die Lippen. Sie schmeckte, wie sich Blut in ihren Speichel mischte. Sie biss sich in die weiß gewordenen Knöchel. Doch während ihre Schmerzen immer schlimmer wurden, schwand die äußere Welt rasch dahin. Azar konnte nichts mehr hören, nichts mehr um sich herum wahrnehmen. Die Wellen des Schmerzes hatten sie in einen Raum katapultiert, wo nichts anderes existierte, nichts außer einer Qual, die so durchdringend und unfassbar war, dass sie sich nicht mehr wie ein Teil von ihr, sondern wie eine Lebenslage, ein Daseinszustand anfühlte. Azar war kein Körper mehr; sie war ein Raum, in dem sich alles krümmte und wand, wo Schmerz herrschte, reiner, grenzenloser Schmerz. Sie wusste nicht, wie lange der Mann auf ihre Antwort in Bezug auf die Flugblätter wartete; sie kam nie. Azar war nur halb bei Bewusstsein, als sie ihn etwas zuklappen hörte, was nach einem Notizbuch klang. Da wusste sie, dass das Verhör vorbei war. Die Erleichterung darüber machte sie fast schwindlig. Sie bekam nicht mit, wie der Mann aufstand, erkannte aber, dass sich die Gummilatschen mit ihrem Schlappschlapp entfernten. Bald hörte sie, wie Schwesters Stimme sie aufforderte aufzustehen. Flankiert von Schwester und einer Frau, die vermutlich eine Krankenschwester war, taumelte Azar aus dem Raum, den Gang hinunter. Sie konnte kaum Schritt halten. Tief vornüber- gebeugt schleppte sie sich schnell atmend dahin. Die Handschellen an ihren Gelenken kamen ihr unerträglich schwer vor. Sie gingen die Treppe hinunter. Wieder drang das Jammern von Frauen an Azars Ohr. »Da sind wir«, sagte die Krankenschwester, als sie stehen blieben. Schwester löste die Handschellen und nahm Azar die Augenbinde ab. In einem Raum mit Krankenschwestern und einer Ärztin kletterte Azar auf ein schmales Bett. Die Wand zu ihrer Rechten war ins grelle Licht der Nachmittagssonne getaucht. In einer Pause zwischen den Wehen gab sie sich, die Arme schlaff auf dem Bett, den Blick auf die Wand im Sonnenlicht gerichtet, ihrer Erschöpfung hin und überließ sich den Händen der sie untersuchenden Ärztin.
Schwester, die neben der Ärztin stand, sah schweigend zu. Azar weigerte sich, sie anzublicken. Sie weigerte sich, Schwesters Anwesenheit anzuerkennen, hätte sie am liebsten vollkommen vergessen. Nicht nur Schwester, sondern alles, was Schwesters Anwesenheit mit sich brachte: die Gefangenschaft, die Einsamkeit, die Angst, die Entbindung in einem Gefängnis. Sie war jetzt eine Fremde, umgeben von Menschen, für die sie eine Gegnerin war, die man bezähmen und besiegen musste. Menschen, die in Azars bloßer Existenz ein Hindernis für ihre eigene Macht, ihre eigene Vorstellung von richtig und falsch, von moralisch und unmoralisch sahen. Menschen, die sie hassten, weil sie deren Welt nicht als das annehmen wollte, wofür sie gekämpft hatte; Menschen, die sie als Feindin betrachteten, weil sie nicht akzeptieren wollte, dass deren Gott alle Antworten besaß. Am liebsten hätte Azar die Augen zugemacht und so getan, als wäre sie irgendwo anders, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, in einem anderen Krankenhauszimmer, wo Ismael neben ihr stand, ihr Gesicht liebkoste, sie voller Sorge ansah, ihre Hand hielt und nicht mehr losließ, und wo ihre Eltern draußen warteten, ihr Vater, der im Flur nervös auf und ab ging, ihre Mutter, die, an der Stuhlkante sitzend, mit verkrampften Fingern ihre Krankenhaustasche umklammerte, bereit, jederzeit ins Zimmer zu stürzen. Wenn sie hier die Hand ausstreckte, würde sie mit nichts darin zurückkommen. Leere. Sie war vollkommen allein. »Das Kind hat sich gedreht.« Sie hörte die Stimme der Ärztin und blickte auf ihren Bauch hinab. Die pralle Beule, die sich irgendwo in der Nähe ihres Nabels gebildet hatte, sah jetzt aus, als wäre sie bis zu dem Spalt zwischen ihren Brüsten hinaufgewandert.
Die Ärztin wandte sich an die beiden Frauen hinter ihr. »Wir müssen es runterschieben.« Azars Mund wurde plötzlich trocken. Runterschieben? Wie denn? Die Frauen, anscheinend Hebammen, kamen näher, ihre faltigen Gesichter und Hände stanken nach Provinz, nach entlegenen Dörfern an der Biegung schlammiger Straßen. Sie hatten Stofffetzen in der Hand. Azar japste fast vor Entsetzen. Was wollten sie damit? Was hatten sie vor? Sie knebeln, damit ihre Schreie nicht nach außen drangen? Die Frauen richteten den Blick auf Schwester, die einen der Stofffetzen packte und ihnen zeigte, wie sie Azars Beine festbinden mussten. Bei der Berührung dieser feuchten, schwieligen Finger, die sie ans Bettgestell fesselten, zuckte Azar zusammen. Die Frauen blickten zögernd drein, machten sich aber schließlich ans Werk. Eine von ihnen packte Azars Beine, die andere ihre Arme. Ein heftiger Stoß in ihrem Inneren ließ Azar hochfahren. Die Verschnaufpause war vorbei, der Schmerz wieder da. Die Ärztin, die vor ihr stand, breitete eine Decke über Azars Beine und beugte sich vor. »Auf geht's.« Nachdem sie sie festgebunden hatten, legten die Hebammen ihre verschränkten Hände in die Nähe von Azars Brüsten. Azar beobachtete sie, hilflos vor Schmerz, während ihr das Herz bis zum Hals pochte. Sie hatte Angst vor ihnen, vor dem, was sie ihr, ihrem Kind antun würden. War das überhaupt ein richtiges Krankenhaus? Wer waren diese Frauen, und woher waren sie gekommen? Wussten sie, was sie da taten? Sie hörte sich selbst stöhnen. Wie Boxer, die vor einem Kampf all ihre Kraft zusammennehmen, holten die Frauen tief Luft. Dann gaben sie, die Augen aufgerissen und die Lippen gespitzt, mit denselben Händen, die vielleicht den geschwollenen Bauch einer Kuh zusammengedrückt oder am zitternden Bein eines Lamms gezerrt hatten, dem Klumpen, Azars Kind, einen kräftigen Stoß. Für einen Moment erstarrte sie vor dessen unerträglicher Heftigkeit. Dann brach, wild und unbekannt, ein Schrei aus ihrer Kehle. Ein so kraftvoller Schrei, dass ihr ganzer Körper von seinem Echo geschüttelt wurde. In dem Versuch, die Frauen von ihrem Bauch, ihrem Kind wegzuschubsen, machte sie eine ruckartige Bewegung nach vorne. Würden sie das Kind totquetschen? Es erdrosseln? Die Hände konnte Azar nicht bewegen, aber sie versuchte, den Hals vorzustrecken, um sie zu beißen, bis ein weiterer stechender Schmerz sie auf das Bett zurückwarf. »Schiebt!«, forderte die Ärztin. Der Klumpen war widerspenstig. Die Frauen rammten ihre Hände dagegen, während ihre Gesichter rot anliefen. Schweiß schimmerte auf ihrer Stirn, entlang ihrer Nasenlinien. Ihr Münder zuckten, während sie schoben. Azar entfuhr ein weiterer Schmerzensschrei, und sie spürte, wie ihr Körper kalt wurde. Einen Moment lang sah sie gar nichts. Als ihr Blick wieder klar wurde, sah sie, dass eine der Frauen unmittelbar neben ihr stand. Sie war jünger als die andere, vermutlich in Azars Alter, Anfang zwanzig. Ihre mandelförmigen schwarzen Augen leuchteten freundlich. »Es ist gut«, flüsterte sie aufmunternd, während sie ihre kalte Hand auf Azars glühende Stirn legte. »Wir haben den Kopf des Babys nach unten bekommen; jetzt müssen Sie nur noch drücken.« Als die nächste Wehe kam, sagte sie: »Gleich ist Ihr Kind da.« Die Frau lächelte, doch Azar blickte sie aus wilden Augen an. Sie wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, was die junge Frau ihr sagte. In ihr war etwas, das vorwärtsdrängte, sich allmählich ihrer Kontrolle entzog. Sie spannte sich an und stieß noch einen Schrei aus. »Genau, pressen! Noch mal!« Schwester packte Azars Hand. »Schrei! Ruf Gott an! Ruf Imam Ali an! Ruf sie wenigstens jetzt an!« Kalt und dunkel schoss der Schmerz durch Azars Körper. Sie schrie und klammerte sich an den Arm der jungen Frau. Und rief niemanden an. »Es kommt!«, rief die Ärztin. »Braves Mädchen. Noch einmal pressen!« Etwas in Azar wurde zerrissen. Auf- und auseinandergerissen. Mit dem letzten Rest an Kraft, der ihr noch geblieben war, presste sie ein letztes Mal. Alles um sie herum wurde schwarz. Aus der Ferne hörte sie, wie das schwache Geschrei eines Säuglings den Raum erfüllte.
Als sie die Augen aufschlug, war das Zimmer leer. Ein kalter Luftzug, der durchs offene Fenster hereinkam, ließ sie frösteln. Sie war immer noch am Bett festgebunden, und in den Beinen hatte sie kein Gefühl mehr. Die feuchten Haare klebten ihr am Gesicht; ihre Füße schmerzten, als wären sie von einer Schicht Glasscherben durchzogen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dagelegen hatte. Stunden, Tage, eine Ewigkeit. Ihr Blick ruhte ebenso erwartungsvoll wie ängstlich auf der Tür. Wohin haben sie mein Baby gebracht? Da ging knarrend die Tür auf, und Schwester kam hereingeschlendert, den schwarzen Tschador enger ziehend. Azar machte den Mund auf, um etwas zu sagen, nach dem Kind zu fragen, doch ihre Lippen waren so trocken, dass ihre Mundwinkel einrissen. Hinter Schwester stürmten die beiden Hebammen herein.
»Deine Tochter ist im anderen Zimmer«, sagte Schwester, als hätte sie Azars Gedanken gelesen, die Frage auf ihren wunden Lippen gesehen. »Ich weiß nicht, wann sie sie herbringen. « Azar schloss die Augen. Es ist ein Mädchen, dachte sie. Ein erschöpftes, aber triumphierendes Lächeln ließ ihre Lippe beben, doch zugleich empfand sie auch Sorge. Sie war sich nicht sicher, ob sie Schwester glauben konnte. Was, wenn das Kind tot war und Schwester log? Wenn das nur ein weiterer grausamer Trick war? Was, wenn diese Schreie, die sie im Zimmer gehört hatte, gleich wieder verstummt waren? Sie blickte zu der jungen Hebamme hinüber, die lächelte und nickte. Azar blieb nichts anderes übrig, als es zu glauben. Die Hebammen rollten Azars Bett aus dem Zimmer, den Gang hinunter und in einen anderen Raum, dessen Fenster geschlossen war. Sie banden sie los. Irgendetwas in den Gesichtern dieser Frauen erinnerte Azar an die Mütter der Kinder, die sie im ersten Jahr nach der Revolution in den Dörfern am Rand von Teheran unterrichtet hatte. Still und devot hatten sie neben ihren ärmlich gekleideten Kindern gestanden und alles akzeptiert, was Azar sagte. Die Augen voller Bewunderung, voller schon an Furcht grenzender Ehrerbietung vor dieser jungen Städterin, die Bücher so leicht auf- und zuklappte, die perfekt Farsi sprach, die in dem aus Lehm gebauten Klassenzimmer, das die ganze Schule ausmachte, in ihrer städtischen Kleidung fehl am Platz wirkte. Die Erinnerung an diese Tage, als sie sich voller Leidenschaft für ein neues Land, ein besseres, gerechteres Land eingesetzt hatte, brach Azar fast das Herz. Wie glücklich war sie gewesen, wenn sie abends den Bus zurück nach Teheran nahm. Sie hatte sich eins gefühlt mit der Stadt, in der es brodelte und knisterte vor Spannung, vor Begeisterung für das, was die Gegenwart wie auch die Zukunft bereithielten. Voller Vorfreude war sie nach Hause gefahren, wissend, dass Ismael sie in ihrer winzigen Wohnung erwartete. Sie erinnerte sich, wie ihr Herz gehüpft hatte, wenn sie den Schein der Wohnzimmerlampe durch die Vorhänge gesehen hatte. Abend für Abend hatte dieses Licht, das bedeutete, dass Ismael zu Hause war und sie bald in seinen Armen liegen würde, ihr ein Lächeln auf die Lippen gezaubert und ihr Herz rasen lassen, während sie die Treppen hinaufeilte. Beim Betreten der Wohnung war ihr der Duft von dampfendem Reis in die Nase gestiegen, und Ismael hatte sie in seine Arme gezogen und gesagt: »Khaste nabaashi azizam.« Mögest du nie ermüden. Sie hatten Tee gekocht, und während sie ihn, an dem schmalen Fenster sitzend, das auf die Bäume des in Dunkelheit getauchten Hofes ging, zusammen tranken, hatte er ihr von Karl Marx erzählt und sie ihm die Gedichte von Forugh Farrokhzad vorgelesen. Gerade mal ein Jahr war seit der Revolution vergangen, und sowohl Azar als auch Ismael glühten noch vor Ekstase. Tief bewegt und mit fast versagender Stimme sprachen sie von ihrem Sieg, dem Sieg einer Nation, der es gelungen war, den Schah, ihren einst unantastbaren Herrscher, zu vertreiben; sie waren voller Hoffnung gewesen. Und doch hatten sie gewusst, dass irgendetwas schiefgegangen war. Die Männer mit den strengen Gesichtern, die die Macht im Land übernommen hatten und beanspruchten, die Verkünder der rechtschaffenen Worte und heiligen Gesetze zu sein, ließen sie schaudern. Was geht hier vor?, hatte Azar Ismael manchmal verzweifelt gefragt. Nach und nach war allen klargeworden, dass diese Männer sich als die einzigen rechtmäßigen Herren der Revolution und deren unbestreitbare Sieger betrachteten. Sie hatten begonnen, Universitäten von, wie sie fanden, antirevolutionären Aktivitäten zu säubern, Zeitungen zu schließen und politische Parteien zu verbieten. Ihre Worte waren Gesetz geworden, und alle anderen waren in den Untergrund gegangen, auch Azar und Ismael. Azar zog Arme und Beine an. Ein Zittern hatte sie erfasst, und sie konnte nicht aufhören zu zucken. Die junge Frau ging hinaus, um eine Decke zu holen und sie damit zuzudecken. Azar rollte sich zu einem Klumpen zusammen, bemüht, aus jeder Falte der Decke Wärme herauszuholen. Die Frauen verließen das Zimmer und schlossen leise die Tür hinter sich. Azar zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, die Wärme einzuatmen. Sie schloss die Augen, wiegte ihren Körper von einer Seite zur anderen und wartete darauf, dass sich die Wärme ausbreitete, dass Ruhe einkehrte. Wie ein formloser Haufen verharrte sie lange unter der Decke. Als die Wärme allmählich ihren Körper durchdrang, entblößte Azar erst den Kopf, dann die Schultern. Neben ihr, auf der anderen Seite des Zimmers, befand sich ein leeres Bett mit zerwühlten Laken und einer Mulde im Kopfkissen. Wer darin gelegen hatte, schien erst vor kurzem weggeschafft worden zu sein. Auf dem Boden neben dem Bett stand ein Teller, der Reis und die grünen Bohnen darauf waren nur zur Hälfte aufgegessen. Als Azars Blick darauf fiel, wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war. Seit dem Abend zuvor hatte sie nichts mehr gegessen. Während sie ihre Beine unter der Decke hervorstreckte, hielt sie den Blick starr auf den Teller gerichtet. Das war ihre Chance. Diesen Teller musste sie haben. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine zitterten, und die Knie gaben nach. Um nicht hinzufallen, umklammerte sie die Bettkante und ließ sich vorsichtig auf den Boden hinunter. Ihr Herz klopfte heftig, als sie sich auf den kalten Fliesen abstützte und zu krabbeln begann. Je näher sie dem Teller kam, desto kühner wurde sie, desto entschlossener, den Reis bis zum letzten Körnchen in sich hineinzustopfen. Sie würde essen, und zwar ohne Schwesters Erlaubnis. Sie würde sich diesen Teller schnappen und alles hinunterschlingen. Sie würde es sich zu eigen, zu einem Teil ihres Körpers, ihres Seins machen. Das würde sie alles in Besitz nehmen, den Reis, die Bohnen, selbst den Teller. Ihr kam sogar der Gedanke, den Teller irgendwo zu verstecken und mitzunehmen, zurück ins Gefängnis. Ihr war schlecht vor Hunger, schlecht von ihrer Dreistigkeit, der Aussicht auf Essen, der Angst, erwischt zu werden, bevor sie die Speise erreichte, diesen Schatz, der ihr in dem Moment wie das Leben selbst erschien. Sie stemmte die Ellbogen auf den Boden und hievte sich schneller vorwärts. Der Reis war kalt und trocken, und als sie ihn hinunterschlang, spürte sie, wie die harten Körner in ihrer Kehle kratzten. Sie dachte an die Eimer mit Essen, die Schwester zur Mittagszeit an die Gefängnisinsassinnen verteilte. Ihre Finger arbeiteten rasch, sammelten den Reis und die Bohnen, schaufelten alles in den Mund. Ihre Zähne schmerzten, ihre Zunge konnte nichts schmecken. Sie kaute hastig, während ihr die Körner zwischen den Fingern durchfielen. Jeden Moment konnte das Ganze verschwinden, und sie konnte wieder in diese Realität zurückfallen, in der ihr nichts gehörte, weder zum Geben noch zum Nehmen. Jeden Moment konnte Schwester hereinspazieren und ihr den Teller wegnehmen. Aber noch konnte sie essen. Der Augenblick gehörte ihr.
Die Ärztin in ihrem weißen Kittel lächelte Azar zu, während sie ihr den Blutdruck maß. In ihrem runden, freundlichen Gesicht wirkten die bläulichen Tränensäcke fehl am Platz. Schwester stand mit hängenden Armen auf der anderen Seite des Betts. Sie schien sich wohl zu fühlen in ihrem schwarzen Tschador. Wie sie alle. Diese Schwestern. Sie gingen, gestikulierten, verteilten Eimer mit Essen, verknoteten Augenbinden, schlossen und öffneten Türen und Handschellen mit einer Geschicklichkeit, dass man den Eindruck hatte, der hinderliche, rutschige Stoff existierte gar nicht, wäre nicht wie die Flügel einer schlafenden Fledermaus um sie gewickelt. Azar hütete sich, Schwester zu oft nach ihrem Baby zu fragen. Wenn sie zu großen Eifer zeigte, könnte Schwester, nur um sie zu ärgern und um sie leiden zu lassen, noch länger warten, ehe sie ihr das Kind brachte. Azar musste brav sein; sie musste Geduld haben. »Sie hat einen inneren Riss, der sich infizieren könnte.« Die Ärztin hörte auf, die Manschette um Azars Arm aufzupumpen. »Sie muss mindestens zwei Tage hierbleiben.« In dem unbeholfenen Versuch, stolz auszusehen, warf Schwester den Kopf zurück. Irgendwo in ihren Augen, in der dicken Falte ihrer Unterlippe über der Zahnlücke, die ein seltenes Lächeln offenbart hatte, konnte Azar die Armut der staubbedeckten Vororte sehen, wo man nachmittags auf der Türschwelle gelangweilt mit den Nachbarinnen tratschte, Jungen beim Fußballspielen auf staubigen Straßen zusah, sich nach einem Farbfernseher sehnte, nach der sechsten Klasse die Schule abbrach. Und hier stand sie nun, diese Frau aus den armen Vororten, die Königin der Proleten, und breitete ihren großen schwarzen Tschador über die Stadt und deren privilegierte Stadtmädchen. Schwester lernte langsam, stolz zu sein auf diese Armut, so wie sie gelernt hatte, auf ihren Tschador stolz zu sein. »Wir haben alles da«, versicherte Schwester mit kalter, ausdrucksloser Stimme. »Wir können sie versorgen.« Unter der Decke tastete sich Azars Hand bis an den Rand des Betts. Als sie das Bein der Ärztin spürte, kniff sie zu, so fest sie konnte. »Wir müssen die Bakterien in ihr abtöten.« Ohne irgendeine Reaktion auf Azars Kneifen zu zeigen, blickte die Ärztin Schwester direkt in die Augen. »Das wird ein paar Tage dauern.« »Das können wir auch machen. Wir haben alles. Ärzte. Krankenhaus. Medizin.« Gerne hätte Azar hinausgebrüllt, dass das nicht stimmte, dass Schwester log, dass sie sie ihrem inneren Riss überlassen würde, so dass die Infektion sich ausbreite und sie von innen verfaulte. Noch einmal kniff sie die Ärztin ins Bein, noch fester als zuvor. »Ich sage Ihnen, dass sie Pflege braucht, professionelle Pflege im Rahmen eines Krankenhauses«, beharrte die Ärztin. Sie schien den Grund für Azars Kneifen zu verstehen. »Wir müssen ihren Zustand überwachen. Sie ist innen aufgerissen. « Schwester warf Azar einen wütenden Blick zu, als wäre diese selbst schuld an dem inneren Riss. Azars Hand erschlaffte an der Bettkante. Schwester gab der Ärztin ein Zeichen, ihr nach draußen zu folgen. Bevor die Frau sich von dem Bett entfernte, packte Azar ihre Hand. »Meine Tochter?«, flüsterte sie. Die Ärztin legte ihre Hand auf die Azars. »Ihr geht's gut. Machen Sie sich keine Sorgen! Sie werden sie bald sehen.«
Den Blick starr auf die Tür gerichtet, saß Azar auf dem Bett und wartete auf das Baby, das nicht kam. Sie hielt die Hände gefaltet, zitternd vor Wut, Enttäuschung, Sehnsucht und Angst. Während die Stunden vergingen, verlor sie allmählich die Geduld. Nach neun langen Monaten mit dem Kind im Bauch, in denen sie gespürt hatte, wie es wuchs, es beschützt und mit ihm überlebt hatte, erschien es einfach unmöglich, dass sie es immer noch nicht gesehen, es nicht im Arm gehalten hatte, dass sie nicht wusste, ob es eher ihr oder Ismael ähnelte, ja nicht mit Sicherheit, ob es überhaupt am Leben war. Wie die Minuten so dahinkrochen und sie die Tür nicht aus den Augen ließ, fühlte Azar, wie die Sehnsucht nach ihrem Kind in ihr so mächtig wurde, dass es ihr fast den Atem nahm. Das schwächer werdende Licht der Nachmittagssonne warf seine Schatten auf die Wände. Um sich etwas aufzuheitern und einen Blick durch die verschlossene Glasscheibe zu werfen, zog sich Azar an der Fensterbank hoch. Sie wollte wissen, wo sie war. Durch das spärliche, gräuliche Laub der Maulbeerfeigenbäume sah sie eine Brücke, die vom nachmittäglichen Stoßverkehr verstopft war. Der Himmel hing voller Smog; es war die letzte Hitze des Sommers, und man hörte das gereizte Echo von Autohupen. Sie sah einen Schwarm Vögel am Himmel vorbeiziehen, einen großen Bogen machen und sich auf den Ästen der Bäume niederlassen. Die Stadt sah verändert aus. Alles schien übertüncht worden zu sein, makellos, strahlend. Das Weiß war hastig auf die Betonbauten gespritzt worden, wie um etwas zu verbergen: Blut, Ruß, Geschichte, den Krieg, den nicht enden wollenden Krieg. Es war der fieberhafte Versuch, die Verwüstung zu vertuschen, die allen immer dichter im Nacken saß.
Wenn auch nicht Azars Geburtsort, so war Teheran doch immer ihre Heimat gewesen, der sie sich zugehörig gefühlt hatte. Sie liebte die Stadt mit ihrem Verkehr, ihren schmutzigen weißen Gebäuden und ihrem überwältigenden Chaos. So sehr liebte sie sie, dass sie einmal geglaubt hatte, ihr Schicksal ändern zu können. Das ist nicht das, wofür wir gekämpft, wofür wir unser Leben aufs Spiel gesetzt haben,
hatte sie zu Ismael gesagt, als sie ihm mitteilte, sie habe beschlossen, ihre politische Aktivität fortzusetzen. Wir können nicht zulassen, dass sie uns alles wegnehmen.
Ismael war mit ihr gegangen, Hand in Hand, in jeder Phase. Was immer wir tun, wir werden es gemeinsam tun, hatte er gesagt. Was ihnen auch widerfuhr, es würde ihr gemeinsames Schicksal sein. Schnell und bereitwillig hatte er sich von ihrem Engagement anstecken lassen. Er hatte mit ihr an geheimen politischen Versammlungen in stickigen Räumen teilgenommen, ihr geholfen, Flugblätter zu drucken, Botschaften in Zigarettenschachteln zu befördern, hatte an seiner Universität über die Zukunft gesprochen. Als es dann so weit war, dass die Verfolgungen begannen und der Kontakt zu ihnen für ihre Familien zu gefährlich wurde, hatten sie aufgehört, zu Hause anzurufen, auf die Anrufe ihrer Eltern zu reagieren und sie zu besuchen. Gemeinsam hatten sie Tränen der Verzweiflung vergossen, denn sie waren sich unsicher, was sie tun sollten. Hatten nicht mehr die Kraft gehabt, vorwärtszugehen, dabei aber gewusst, dass es zum Umkehren zu spät war. Die Wohnungstür war bedrohlich geworden, hatte sie misstrauisch angestarrt und Antworten auf die unausgesprochenen Fragen erwartet, die ihre Eltern mit ihrem beharrlichen Klopfen gestellt hatten. Das war der Moment, wo sie beschlossen hatten, unterzutauchen und damit für immer ihre Spuren zu verwischen. So war es einfacher. Niemand würde mehr an ihre Tür klopfen. Völlig abgeschnitten hatten sie es als einfacher empfunden, so zu tun, als könnten sie vergessen. War es das wert gewesen? Azar wischte sich die Strähnen aus dem Gesicht. Würde Ismael ihr je verzeihen, dass sie ihren Kampf über alles gestellt hatte? Über ihn, ihr gemeinsames Leben, das Kind, dass in ihrem Bauch wuchs? Würden sie eine zweite Chance bekommen? Die Gedanken wühlten sie auf. Sie presste ihre knochigen Ellbogen auf die Fensterbank und ihre Stirn gegen das warme Glas. Der Verkehr schnaufte und keuchte langsam über die Brücke. Obwohl weit von ihnen entfernt, konnte Azar die angespannten Gesichter in den Autos sehen, die unruhigen, aufgerichteten Körper auf den Motorrädern, die ebenfalls im Stau feststeckten. Über dem Verkehr hing wie eine riesige Wolke eine Werbetafel mit einer der Maximen des Revolutionsführers, geschrieben in einer gestochenen, eleganten Handschrift: Unsere Revolution war eine Explosion des Lichts. Daneben war, einem Feuerwerk gleich, die Darstellung einer Explosion zu sehen. Auf dem Gehweg unter der Werbetafel stand ein Mann und starrte wie benommen die Autos an. Er sah müde aus und alt, vielleicht älter, als er war. Die Sonne fiel genau auf sein fahles, hageres Gesicht. Als Azar ihn entdeckte, setzte für einen Schlag ihr Herz aus. Sie spürte, wie sich ihr Gesicht aufhellte. Voller Verblüffung klappte sie den Mund auf. »Pedar!«, schrie sie und schlug dabei mit der Handfläche gegen die Fensterscheibe. Ihr Vater hörte sie nicht. Hob auch nicht den Blick. Er stellte die Tüten auf dem Boden ab und zog ein Taschentuch hervor, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sein drahtiger Körper wirkte gebeugt, aber von etwas anderem als dem Alter.
Unter Zucken verzog sich Azars Gesicht. In all diesen Monaten im Gefängnis war ihr Vater ihr nie so weit weg, so unerreichbar vorgekommen. Nie hatte sie sich so allein gefühlt, so voller Angst vor dem, was aus ihr werden sollte. »Pedar!«, schrie sie mit der ganzen Kraft, die sie noch aufzubringen vermochte. Ihre Stimme war zu einem heiseren Wimmern geworden, das die dicke Fensterscheibe kaum durchdrang. Ihr Vater nahm die Tüten wieder auf und setzte, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben, seinen Weg fort. Nach Luft ringend und mit weit aufgerissenen Augen, sah Azar zu, wie seine große gebückte Gestalt allmählich im dunstigen Nachmittagslicht verschwand: Er stieg auf sein Motorrad und fuhr davon. Der Verkehr kam wieder in Bewegung. Reglos lag Azars Hand an der Fensterscheibe, in der sich unansehnliche Blätter, leere Nester und eine schwarze Reklametafel spiegelten, auf der von Licht die Rede war.
Als die Tür das nächste Mal aufschwang, kam Schwester allein. Das Kind war nicht bei ihr. Auch die Hebammen oder die Ärztin nicht. Mit Bestürzung sah Azar, dass Schwester ihre Kleider in der Hand hatte. Sie war immer noch aufgewühlt. Das Bild ihres Vaters, seiner gebeugten Gestalt, seines müden Gesichts ließ sie nicht los. Schwester legte die Kleider aufs Bett. Mit schwacher Stimme fragte Azar, wo ihr Kind sei. »Wir holen es auf dem Weg nach draußen«, sagte Schwester, und Azar wurde klar, dass die Beharrlichkeit der Ärztin vergebens gewesen war. Schwester hatte gewonnen. Es war Zeit zu gehen.
Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller
© 2014 Droemer Verlag
Evin-Gefängnis, Teheran
Azar saß, an die Wand gekauert, auf dem gewellten Boden eines Lieferwagens. Die gewundene Straße ließ das Auto hin und her schaukeln, so dass sie von einer Seite zur anderen geworfen wurde. Mit ihrer freien Hand umklammerte sie etwas, das sich wie ein Geländer anfühlte. Die andere lag auf ihrem harten, sich wölbenden Bauch, dessen Kontraktionen ihre Atmung abgehackt und unregelmäßig machten. Irgendwo in ihrer Wirbelsäule entsprang eine heiße Welle des Schmerzes und überschwemmte ihren ganzen Körper. Japsend ergriff Azar den um sie gewickelten Tschador und krallte sich daran so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß anliefen. Bei jeder Kurve wurde sie gegen eine Wand geschleudert. Bei jeder Unebenheit und jedem Schlagloch wurde ihr Körper Richtung Decke geworfen. Das Kind in ihrem Bauch machte sich steif, zuckte zusammen. Die Augenbinde um ihren Kopf war feucht vom Schweiß. Sie hob eine Hand und wischte sich die Feuchtigkeit von der Stirn. Die Binde abzunehmen wagte sie nicht, obwohl niemand hinten bei ihr im Laderaum war. Sie wusste jedoch, dass sich in ihrem Rücken ein Fenster befand. Beim Einsteigen hatte sie das Glas gefühlt. Womöglich drehte Schwester sich um und beobachtete sie durch dieses Fenster, oder sie hielten so plötzlich an, dass Azar nicht die Zeit hätte, die Augenbinde wieder überzustreifen. Sie wusste nicht, was mit ihr passieren würde, wenn man sie mit offenen Augen erwischte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Zuweilen versuchte sie sich einzureden, dass die Angst, die sie beschlichen und die sich bei ihr eingenistet hatte, nicht gerechtfertigt war; niemand hatte bisher die Hand gegen sie erhoben, sie herumgeschubst oder bedroht. Sie hatte keinen Grund, Angst vor ihnen zu haben, vor ihren Schwestern und Brüdern, jedenfalls keinen konkreten Grund. Andererseits waren da die Schreie, welche die Gefängnismauern erschütterten und sich mit rasender Geschwindigkeit durch die leeren Gänge fortpflanzten. Sie rissen nachts die Häftlinge aus dem Schlaf, brachten ihre Gespräche, während sie sich ihr Mittagessen teilten, zum Verstummen, zwangen sie alle - die Kiefer angespannt und die Gliedmaßen starr - zu einer Stille, die weit in den Abend hinein andauerte. Niemand wusste, woher die Schreie kamen. Niemand wagte zu fragen. Schmerzensschreie waren es, so viel wussten sie. Schmerzensgeheul konnte man nämlich mit keinem anderen Schrei verwechseln; es waren Schreie eines Körpers ohne Ich, verlassen, zerquetscht zu einem formlosen Klecks, dessen Existenz sich nur in der Kraft ausdrückte, mit der er die Stille innerhalb der Gefängnismauern zerriss. Und keiner wusste, wann er an der Reihe sein, wann er in dem Gang verschwinden und nichts als Geheul zurücklassen würde. So lebten und warteten sie und befolgten Befehle unter der heraufziehenden Wolke einer Gefahr, der man, wie sie alle wussten, nicht ewig entgehen konnte. Durch eine kleine Öffnung irgendwo über Azars Kopf drang der gedämpfte Lärm der erwachenden Stadt in das Fahrzeug: Rollläden, die hochgezogen wurden, hupende Autos, lachende Kinder, feilschende Straßenhändler. Durch das Fenster hörte sie in Abständen auch Reden und Gelächter aus dem vorderen Teil des Lieferwagens, wenngleich einzelne Worte nicht zu verstehen waren. Azar konnte nur Schwesters lachende Reaktion auf irgendetwas, was einer der Brüder gerade erzählt hatte, wahrnehmen. Sie versuchte, diese Stimmen von sich fernzuhalten, indem sie sich auf das Summen der Stadt draußen konzentrierte - Teheran, ihre geliebte Stadt, von der sie seit Monaten weder etwas gesehen noch gehört hatte. Sie fragte sich, wie sich die Stadt mit dem Krieg gegen den Irak, der in sein drittes Jahr ging, verändert haben mochte. Hatten die Flammen des Krieges Teheran erreicht? Verließen die Menschen die Stadt? Nach den Geräuschen draußen zu urteilen, ging alles seinen gewohnten Gang, dasselbe Chaos, dasselbe Kampf- und Überlebensgetümmel. Sie fragte sich, was ihre Eltern wohl in diesem Augenblick machten. Mutter dürfte in der Schlange beim Bäcker stehen; ihr Vater stieg vermutlich gerade aufs Motorrad, um zur Arbeit zu fahren. Beim Gedanken an sie war ihr, als schnürte ihr irgendetwas die Kehle zu. Sie hob den Kopf, machte den Mund weit auf und japste nach der Luft, die durch die Öffnung hereinzog. Den Kopf in den Nacken geworfen, atmete sie heftig, so heftig, dass es ihr in der Kehle brannte und sie zu husten begann. Nachdem sie den festen Knoten des Kopftuchs unter dem Kinn gelöst hatte, ließ sie den Tschador vom Kopf gleiten. Mit beiden Händen das Geländer umfassend, saß sie stocksteif da und bemühte sich, dem Schwanken und Schaukeln des Autos standzuhalten, als erneut ein heftiger Schmerz sie wie eine glühende Gewehrkugel durchfuhr. Azar versuchte, sich aufzurichten; alles in ihr sträubte sich bei dem Gedanken, auf dem eisernen Boden eines Lieferwagens zu gebären, auf diesen holprigen Straßen, mit Schwesters schrillem Lachen in den Ohren. Sie umklammerte das Geländer noch fester, atmete tief ein und stemmte sich, so gut sie konnte, gegen den Drang, aufzubrechen. Unter allen Umständen wollte sie das Kind im Bauch behalten, bis sie im Krankenhaus waren. Genau in dem Moment spürte sie plötzlich einen Schwall zwischen den Beinen und hielt die Luft an, während die Flüssigkeit unkontrollierbar an ihrem Oberschenkel hinabrann. Sie schob den Tschador zur Seite. Panik durchfuhr sie, als sie mit den Fingerspitzen vorsichtig ihre Hose berührte. Dass bei einer Schwangeren irgendwann die Fruchtblase platzte, wusste sie, was danach passierte, jedoch nicht. Hieß das, dass die Geburt unmittelbar bevorstand? War es gefährlich? Azar hatte gerade angefangen, sich mit Schwangerschaftsratgebern zu beschäftigen, als sie vor ihrer Tür standen. Sie hatte das Kapitel über Blasensprung, Wehen und den Inhalt des Krankenhauskoffers aufgeschlagen, als sie so laut anklopften, als wollten sie die Haustür einschlagen. Als man sie hinauszerrte, war ihr Bauch bereits zu erkennen. Sie biss die Zähne zusammen, während ihr Herz wie wild klopfte. Sie wünschte, ihre Mutter wäre da und könnte ihr erklären, was da vor sich ging. Mutter mit ihrer tiefen Stimme und ihrem freundlichen Gesicht. Sie wünschte, sie hätte irgendetwas von ihrer Mutter, woran sie sich festhalten könnte, ein Kleidungsstück, ihr Kopftuch. Das hätte ihr geholfen.
Sie wünschte, Ismael wäre da und könnte ihre Hand halten und ihr sagen, alles werde gut. Er wäre ganz bestimmt erschrocken, krank vor Sorge, würde er sie in diesem Zustand sehen. Mit seinen schönen braunen Augen hätte er sie betrachtet, als wollte er ihre Schmerzen verschlingen, sie zu seinen machen. Nichts hasste er mehr, als sie leiden zu sehen. Damals, nach ihrem Sturz von dem Stuhl, auf den sie geklettert war, um Trauben zu pflücken, hatte es ihn so schockiert zu erleben, wie sie sich auf dem Boden wand, dass ihm beinahe die Tränen gekommen wären, als er sie in die Arme schloss. Ich dachte, du hättest dir das Kreuz gebrochen, sagte er ihr später. Ich würde sterben, wenn dir irgendetwas zustoßen würde. Durch seine Liebe kam sie sich vor wie ein Berg, unerschütterlich, unsterblich. Sie brauchte diese allumfassende Liebe, diese sorgenvollen Blicke. In dem Maße, wie es ihr gelang, ihn zu beruhigen, ihn aufzurichten, schaffte sie es auch, sich selbst zu beruhigen. Sie wünschte, ihr Vater wäre da, damit er sie zu seinem Auto tragen und wie ein Verrückter zum Krankenhaus rasen könnte. Der Lieferwagen hielt an, und Azar, die aus ihren Gedanken gerissen wurde, drehte sich abrupt um, als könnte sie sehen. Obwohl das Brummen des Motors verstummt war, ging keine Tür auf. Ihre Hände schoben sich nach oben zu dem Kopftuch, banden den Knoten wieder fest und zogen den Tschador darüber. Noch einmal brach Schwester in schallendes Gelächter aus. Bald wurde deutlich, dass sie warteten, bis Bruder seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. Azar, die zitternden Hände am glitschigen Rand ihres Tschadors, wartete auf sie. Nach einer Weile hörte sie Türen auf- und wieder zugehen. Jemand fummelte am Schloss der hinteren Lieferwagentür herum. Sich an dem Griff festhaltend, hievte Azar ihren Körper vorwärts. Als die Tür aufgerissen wurde, befand sie sich unmittelbar dahinter. »Raus mit dir!«, sagte Schwester, während sie die Handschellen um Azars Gelenke zuschnappen ließ. Azar stellte fest, dass sie kaum stehen konnte. Schwerfällig schleppte sie sich neben Schwester her, eingehüllt in die Dunkelheit vor ihren Augen, mit einer Hose, die ihr an den Oberschenkeln klebte. Bald spürte sie, wie zwei Hände hinter ihrem Kopf die Augenbinde lösten, und sie sah, dass sie in einem schwach erleuchteten Gang stand, der von einer langen Reihe geschlossener Türen gesäumt war. Ein paar Plastikstühle standen an den Wänden, an denen Poster mit glücklichen Kindergesichtern und das eingerahmte Foto einer Krankenschwester hingen, die, einen Finger auf den Lippen, um Ruhe bat. Als Azar merkte, dass sie endlich im Gefängniskrankenhaus angekommen waren, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Ein paar junge Krankenschwestern eilten vorbei. Azar blickte ihnen nach, bis sie am Ende des Gangs verschwunden waren. Es war schön, die Augen frei zu haben und den Blick rasch und ungehindert von den grünen Wänden über die Türen und die flachen, in der Decke eingelassenen Neonlichter bis zu den Schwestern in ihren weißen Uniformen und weißen Schuhen schweifen zu lassen, die mit vor Eifer geröteten Gesichtern umherwuselten und Türen auf- und zumachten. Jetzt, nachdem sie sehen konnte, fühlte Azar sich weniger exponiert, auf Augenhöhe mit ihrer Umgebung. Hinter der Augenbinde hatte sie sich unvollständig gefühlt, verstümmelt, versunken in einer unkontrollierbaren Welt physischer Verwundbarkeit, wo alles geschehen und sie sich nicht verteidigen konnte. Nun war ihr, als könnte sie sich mit einem Blick der lähmenden Angst entledigen, die sie bedrängte und ihr das Gefühl vermittelte, kein Ganzes, keine vollständige Person zu sein. Mit offenen Augen war es Azar in dem halbdunklen Gang inmitten des geschäftigen Treibens von Leben und Geburt, als finge sie an, ihre Menschlichkeit wiederzuerlangen. Hinter manchen dieser Türen hörte man gedämpft das Weinen von Babys. Azar lauschte, als enthielte dieses hungrige Geschrei eine Botschaft für sie, eine Botschaft von der anderen Seite der Zeit, der anderen Seite ihres Körpers und Fleisches. Eine Krankenschwester blieb vor ihnen stehen, eine stattliche Frau mit hellbraunen Augen. Sie musterte Azar von Kopf bis Fuß und wandte sich dann Schwester zu. »Es ist Hochbetrieb. Wir versuchen, den Ansturm durch den Eid-e-Ghorban zu bewältigen, und ich weiß nicht, ob überhaupt ein Zimmer frei ist. Aber kommt erst mal mit! Die Ärztin soll wenigstens mal einen Blick auf sie werfen.« Die Krankenschwester führte sie zu einer Treppe, die Azar mit Mühe hinaufstieg. Alle paar Stufen musste sie stehen bleiben, um Luft zu holen. Die Krankenschwester ging voraus, als wiche sie dieser Gefangenen mit dem mageren, vor Schweiß glänzenden Gesicht aus, als wollte sie mit ihr, ihrem Baby und ihrer Qual nichts zu tun haben. Sie gingen von einem Stockwerk zum nächsten, Azar schleppte ihren Körper von Flur zu Flur, von einer geschlossenen Tür zur anderen. Endlich wurden sie von einer Ärztin in ein Zimmer gewunken. Azar legte sich rasch hin und lieferte sich den effizient arbeitenden, unpersönlichen Händen der Ärztin aus. Das Baby in ihrem Bauch fühlte sich so fest an wie ein Knoten.
»Wie schon gesagt, wir können sie nicht hierbehalten«, sagte die Krankenschwester, kaum dass die Ärztin den Raum verlassen und die Tür sich leise hinter ihr geschlossen hatte. »Sie gehört nicht zu diesem Gefängnis. Ihr müsst sie woandershin bringen.« Schwester gab Azar ein Zeichen aufzustehen. Während sie zurückgingen, Treppe für Treppe, Flur um Flur, hielt Azar sich am Geländer fest, angespannt, steif, keuchend. Der Schmerz legte einen Gang zu. Er erfasste ihren Rücken, dann ihren Bauch. Während sie nach Luft rang, war ihr, als würde das Baby von riesigen Händen aus ihr herausgerissen. Einen Moment lang füllten sich ihre Augen mit Tränen, worauf sie beschämt die Zähne zusammenbiss und kräftig schluckte. Das war nicht der Ort für Tränen - nicht diese Treppen, nicht diese endlosen Flure. Bevor sie das Krankenhaus verließen, vergewisserte sich Schwester, dass die Binde über den blutunterlaufenen Augen der Gefangenen auch richtig saß.
Als Azar die Türen zuschlagen hörte, befand sie sich erneut auf dem gewellten Boden des Lieferwagens, in dem es nach Hitze und gewaltigem Leid roch. Kaum war der Motor angesprungen, setzte vorne das Geplapper da ein, wo es aufgehört hatte. Schwester klang erregt. Ihre Stimme und ihr schrilles Gelächter hatten etwas Kokettes. Nachdem Azar unter Mühen ihre vorherige Position wieder eingenommen hatte, sank sie vor Müdigkeit leicht zusammen. Während der Lieferwagen im Zickzack durch den lärmenden Verkehr fuhr, musste sie daran denken, wie sie Ismael das erste Mal mit nach Hause genommen hatte. Es war ein heißer Tag gewesen, ganz ähnlich wie heute. Er hatte süß gerochen, nach Seife und Zufriedenheit, wie er so neben ihr die schmale Straße hinuntergegangen war. Sie wolle ihm zeigen, woher sie komme, hatte sie gesagt, das Haus, in dem sie wohne, mit seinen niedrigen Backsteinmauern, dem blauen Springbrunnen und dem alles beherrschenden Jacarandabaum. Er hatte seine Bedenken gehabt; wenn nun ihre Eltern heimkehrten und sie zusammen erwischten? Trotzdem war er mitgekommen. Nur ein kurzer Rundgang, hatte Azar ihm versprochen und ihn lachend bei der Hand genommen. Obwohl sie buchstäblich von Zimmer zu Zimmer gerannt waren, hatte beide dieser Moment des Beisammenseins inmitten des sie umgebenden Blumendufts nie mehr losgelassen. Sie fragte sich, wo Ismael war und ob es ihm gutging. Seit Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört, wusste nicht einmal, ob er noch am Leben war. Nein, nein, nein. Mehrmals schüttelte sie den Kopf. An so etwas durfte sie nicht denken. Nicht in diesem Moment. Von einigen der neu eingetroffenen Gefangenen hatte sie gehört, die Männer seien auch ins Evin-Gefängnis verlegt worden. Die meisten jedenfalls. Wenn sie es nach Evin schafften, hieß das, dass sie die Verhöre und alles andere, was sie sich gar nicht vorstellen wollte, im Untersuchungsgefängnis Komiteh-Moshtarak überstanden hatten. Sie war sicher, dass Ismael zu diesen Männern gehörte. Sie war sicher, dass er mit ihr im Evin war. Es konnte nicht anders sein. Erneut hielt der Lieferwagen an, und die Tür schwang auf. Diesmal wurde ihr die Augenbinde nicht abgenommen. Dennoch drang gedämpftes Licht durch den Stoff hindurch, als sie aus dem Laderaum taumelte und neben Schwester und den Brüdern in ein anderes Gebäude und dann einen Korridor entlangwankte. Sie mussten die Entbindungsstation eines anderen Krankenhauses betreten haben, denn schon bald drang das Stöhnen und Schreien von Frauen an ihre Ohren. Plötzlich verspürte Azar einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht würden sie sie jetzt den sicheren Händen der Ärzte überlassen. Vielleicht war die Qual vorbei. Als die Augenbinde auf einer Seite etwas nach unten rutschte, betrachtete sie durch die Öffnung begierig den grau gefliesten Boden des langen Gangs und die metallenen Beine von an der Wand aufgereihten Stühlen. Sie spürte, dass Leute vorbeieilten, vielleicht Krankenschwestern, deren weiche Schuhe den Flur entlangtappten, während ihre Körper Azar einen Luftzug ins Gesicht wirbelten. Bald änderte sich ihr Kurs, und sie stiegen eine weitere Treppe hinauf. Das Stöhnen der Frauen verlor sich. Azar spitzte die Ohren und wusste, dass sie sich von der Entbindungsstation entfernten. Ihre Augenwinkel zuckten. Als sie schließlich anhielten und eine Tür aufging, wurde sie in einen Raum geführt und aufgefordert, sich zu setzen. Erschöpft ließ sie sich auf einem harten Holzstuhl nieder. Schweiß rann ihr von der Stirn und in die Augen, als eine neue Welle des Schmerzes sich ihrer bemächtigte. Bald ist die Ärztin hier, dachte sie, um sich zu trösten. Ihr wurde jedoch schnell klar, dass es keine Ärztin war, auf die sie wartete, denn hinter der geschlossenen Tür näherte sich das Schlappschlapp von Gummilatschen und wurde immer lauter. Sie wusste, was es bedeutete und dass sie sich wappnen musste. In der Hoffnung, das Schlappschlapp möge an ihrer Tür vorbeiziehen und sie in Ruhe lassen, umklammerte sie das warme, schweißfeuchte Metall der Handschellen und kniff die Augen fest zu. Als es hinter der Tür still wurde, verließ sie der Mut; sie kamen ihretwegen. Quietschend ging die Tür auf. Unter der Augenbinde erhaschte sie einen Blick auf schwarze Hosenbeine und die mageren Zehen eines Mannes mit langen, spitzen Nägeln.
Sie hörte, wie er gemächlich den Raum durchquerte, kratzend einen Stuhl über den Boden zog und sich hinsetzte. Vor diesem unheilbringenden Wesen, das sie nicht sehen, aber mit jeder Faser ihres Körpers spüren konnte, erstarrte Azar. Das Kind in ihrem Bauch trat und wand sich. Sie zuckte zusammen, krallte sich in ihren Tschador. »Dein Vor- und Nachname?« Mit bebender Stimme nannte Azar ihm ihren Namen. Dann den Namen der politischen Partei, der sie angehörte, und den Namen ihres Mannes. Wieder ein stechender Schmerz, worauf sie sich krümmte und ihren Lippen ein Wimmern entschlüpfte. Der Mann schien jedoch weder zu hören noch zu sehen. Die Fragen kamen ihm weiter mechanisch über die Lippen, als läse er sie von einer Liste ab, die man ihm ohne weitere Informationen in die Hand gedrückt hatte. In seiner Stimme lag eine Aggressivität, die der tiefen, gefährlichen Langeweile eines Vernehmungsbeamten entsprang, der seiner eigenen Fragen überdrüssig geworden war. In dem Raum war es sehr heiß. Unter den dichten Schichten ihres Mantels und Tschadors war Azar schweißgebadet. Der Mann fragte sie nach dem Datum der Verhaftung ihres Mannes. Sie nannte es ihm, auch, wen sie kannte und wen nicht. Ihre Stimme bebte vor Qual, während der Schmerz sie wellenartig durchfuhr. Ich muss ruhig bleiben, sagte sie sich. Ich darf dem Baby kein Leid zufügen. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie sich des Bildes zu erwehren, das ständig vor ihrem inneren Auge auftauchte: das eines Kindes, ihres Kindes, missgestaltet, entstellt, ein bleibender Anblick der Qual. Wie die Kinder aus Biafra. Sie gab ein Ächzen von sich. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Wo haben die Treffen stattgefunden?, fragte der Mann. Wie viele von ihnen haben jedes Mal daran teilgenommen?
Während sie sich gegen die nächsten unaufhaltsamen Wellen des Schmerzes an dem Stuhl festklammerte, versuchte Azar, sich an die richtigen Antworten zu erinnern. All die Antworten, die sie von Verhör zu Verhör gegeben hatte. Nicht ein Datum, nicht ein Name, nicht eine Information oder deren Fehlen durften abweichen. Sie wusste, warum sie hier war, warum sie genau diesen Moment für den richtigen gehalten hatten, um sie zu verhören, sie zu kriegen. Bleib ruhig!, sagte sie sich erneut. Während sie Namen, Daten, Orte, Treffen verschwieg, versuchte sie ruhig zu bleiben, indem sie sich die Füße, Hände, Knie, Form und Farbe der Augen ihres Babys vorstellte. Wieder stieg eine Welle des Schmerzes hoch und überschlug sich in ihr. Erschrocken über deren Heftigkeit, krümmte sie sich zusammen. Eine solche Qual hätte sie nie für möglich gehalten. Sie war dabei, sich ihr zu ergeben. Finger, Knöchel, Nasenlöcher, Ohrläppchen, Hals.
Wo sie die Flugblätter drucken ließ? Sie hörte den Mann die Frage wiederholen. Sie versuchte zu antworten, doch die Kontraktionen schienen sie zu verschlingen, ihr jede Möglichkeit zum Sprechen zu nehmen. Mit einem Ruck beugte sie sich vor, packte den Tisch vor sich. Sie hörte sich selbst stöhnen. Bauchnabel, schwarze Haare, Rundung des Kinns. Sie holte tief Luft. Ihr war, als würde sie in Ohnmacht fallen. Sie biss sich auf die Zunge. Auf die Lippen. Sie schmeckte, wie sich Blut in ihren Speichel mischte. Sie biss sich in die weiß gewordenen Knöchel. Doch während ihre Schmerzen immer schlimmer wurden, schwand die äußere Welt rasch dahin. Azar konnte nichts mehr hören, nichts mehr um sich herum wahrnehmen. Die Wellen des Schmerzes hatten sie in einen Raum katapultiert, wo nichts anderes existierte, nichts außer einer Qual, die so durchdringend und unfassbar war, dass sie sich nicht mehr wie ein Teil von ihr, sondern wie eine Lebenslage, ein Daseinszustand anfühlte. Azar war kein Körper mehr; sie war ein Raum, in dem sich alles krümmte und wand, wo Schmerz herrschte, reiner, grenzenloser Schmerz. Sie wusste nicht, wie lange der Mann auf ihre Antwort in Bezug auf die Flugblätter wartete; sie kam nie. Azar war nur halb bei Bewusstsein, als sie ihn etwas zuklappen hörte, was nach einem Notizbuch klang. Da wusste sie, dass das Verhör vorbei war. Die Erleichterung darüber machte sie fast schwindlig. Sie bekam nicht mit, wie der Mann aufstand, erkannte aber, dass sich die Gummilatschen mit ihrem Schlappschlapp entfernten. Bald hörte sie, wie Schwesters Stimme sie aufforderte aufzustehen. Flankiert von Schwester und einer Frau, die vermutlich eine Krankenschwester war, taumelte Azar aus dem Raum, den Gang hinunter. Sie konnte kaum Schritt halten. Tief vornüber- gebeugt schleppte sie sich schnell atmend dahin. Die Handschellen an ihren Gelenken kamen ihr unerträglich schwer vor. Sie gingen die Treppe hinunter. Wieder drang das Jammern von Frauen an Azars Ohr. »Da sind wir«, sagte die Krankenschwester, als sie stehen blieben. Schwester löste die Handschellen und nahm Azar die Augenbinde ab. In einem Raum mit Krankenschwestern und einer Ärztin kletterte Azar auf ein schmales Bett. Die Wand zu ihrer Rechten war ins grelle Licht der Nachmittagssonne getaucht. In einer Pause zwischen den Wehen gab sie sich, die Arme schlaff auf dem Bett, den Blick auf die Wand im Sonnenlicht gerichtet, ihrer Erschöpfung hin und überließ sich den Händen der sie untersuchenden Ärztin.
Schwester, die neben der Ärztin stand, sah schweigend zu. Azar weigerte sich, sie anzublicken. Sie weigerte sich, Schwesters Anwesenheit anzuerkennen, hätte sie am liebsten vollkommen vergessen. Nicht nur Schwester, sondern alles, was Schwesters Anwesenheit mit sich brachte: die Gefangenschaft, die Einsamkeit, die Angst, die Entbindung in einem Gefängnis. Sie war jetzt eine Fremde, umgeben von Menschen, für die sie eine Gegnerin war, die man bezähmen und besiegen musste. Menschen, die in Azars bloßer Existenz ein Hindernis für ihre eigene Macht, ihre eigene Vorstellung von richtig und falsch, von moralisch und unmoralisch sahen. Menschen, die sie hassten, weil sie deren Welt nicht als das annehmen wollte, wofür sie gekämpft hatte; Menschen, die sie als Feindin betrachteten, weil sie nicht akzeptieren wollte, dass deren Gott alle Antworten besaß. Am liebsten hätte Azar die Augen zugemacht und so getan, als wäre sie irgendwo anders, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, in einem anderen Krankenhauszimmer, wo Ismael neben ihr stand, ihr Gesicht liebkoste, sie voller Sorge ansah, ihre Hand hielt und nicht mehr losließ, und wo ihre Eltern draußen warteten, ihr Vater, der im Flur nervös auf und ab ging, ihre Mutter, die, an der Stuhlkante sitzend, mit verkrampften Fingern ihre Krankenhaustasche umklammerte, bereit, jederzeit ins Zimmer zu stürzen. Wenn sie hier die Hand ausstreckte, würde sie mit nichts darin zurückkommen. Leere. Sie war vollkommen allein. »Das Kind hat sich gedreht.« Sie hörte die Stimme der Ärztin und blickte auf ihren Bauch hinab. Die pralle Beule, die sich irgendwo in der Nähe ihres Nabels gebildet hatte, sah jetzt aus, als wäre sie bis zu dem Spalt zwischen ihren Brüsten hinaufgewandert.
Die Ärztin wandte sich an die beiden Frauen hinter ihr. »Wir müssen es runterschieben.« Azars Mund wurde plötzlich trocken. Runterschieben? Wie denn? Die Frauen, anscheinend Hebammen, kamen näher, ihre faltigen Gesichter und Hände stanken nach Provinz, nach entlegenen Dörfern an der Biegung schlammiger Straßen. Sie hatten Stofffetzen in der Hand. Azar japste fast vor Entsetzen. Was wollten sie damit? Was hatten sie vor? Sie knebeln, damit ihre Schreie nicht nach außen drangen? Die Frauen richteten den Blick auf Schwester, die einen der Stofffetzen packte und ihnen zeigte, wie sie Azars Beine festbinden mussten. Bei der Berührung dieser feuchten, schwieligen Finger, die sie ans Bettgestell fesselten, zuckte Azar zusammen. Die Frauen blickten zögernd drein, machten sich aber schließlich ans Werk. Eine von ihnen packte Azars Beine, die andere ihre Arme. Ein heftiger Stoß in ihrem Inneren ließ Azar hochfahren. Die Verschnaufpause war vorbei, der Schmerz wieder da. Die Ärztin, die vor ihr stand, breitete eine Decke über Azars Beine und beugte sich vor. »Auf geht's.« Nachdem sie sie festgebunden hatten, legten die Hebammen ihre verschränkten Hände in die Nähe von Azars Brüsten. Azar beobachtete sie, hilflos vor Schmerz, während ihr das Herz bis zum Hals pochte. Sie hatte Angst vor ihnen, vor dem, was sie ihr, ihrem Kind antun würden. War das überhaupt ein richtiges Krankenhaus? Wer waren diese Frauen, und woher waren sie gekommen? Wussten sie, was sie da taten? Sie hörte sich selbst stöhnen. Wie Boxer, die vor einem Kampf all ihre Kraft zusammennehmen, holten die Frauen tief Luft. Dann gaben sie, die Augen aufgerissen und die Lippen gespitzt, mit denselben Händen, die vielleicht den geschwollenen Bauch einer Kuh zusammengedrückt oder am zitternden Bein eines Lamms gezerrt hatten, dem Klumpen, Azars Kind, einen kräftigen Stoß. Für einen Moment erstarrte sie vor dessen unerträglicher Heftigkeit. Dann brach, wild und unbekannt, ein Schrei aus ihrer Kehle. Ein so kraftvoller Schrei, dass ihr ganzer Körper von seinem Echo geschüttelt wurde. In dem Versuch, die Frauen von ihrem Bauch, ihrem Kind wegzuschubsen, machte sie eine ruckartige Bewegung nach vorne. Würden sie das Kind totquetschen? Es erdrosseln? Die Hände konnte Azar nicht bewegen, aber sie versuchte, den Hals vorzustrecken, um sie zu beißen, bis ein weiterer stechender Schmerz sie auf das Bett zurückwarf. »Schiebt!«, forderte die Ärztin. Der Klumpen war widerspenstig. Die Frauen rammten ihre Hände dagegen, während ihre Gesichter rot anliefen. Schweiß schimmerte auf ihrer Stirn, entlang ihrer Nasenlinien. Ihr Münder zuckten, während sie schoben. Azar entfuhr ein weiterer Schmerzensschrei, und sie spürte, wie ihr Körper kalt wurde. Einen Moment lang sah sie gar nichts. Als ihr Blick wieder klar wurde, sah sie, dass eine der Frauen unmittelbar neben ihr stand. Sie war jünger als die andere, vermutlich in Azars Alter, Anfang zwanzig. Ihre mandelförmigen schwarzen Augen leuchteten freundlich. »Es ist gut«, flüsterte sie aufmunternd, während sie ihre kalte Hand auf Azars glühende Stirn legte. »Wir haben den Kopf des Babys nach unten bekommen; jetzt müssen Sie nur noch drücken.« Als die nächste Wehe kam, sagte sie: »Gleich ist Ihr Kind da.« Die Frau lächelte, doch Azar blickte sie aus wilden Augen an. Sie wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, was die junge Frau ihr sagte. In ihr war etwas, das vorwärtsdrängte, sich allmählich ihrer Kontrolle entzog. Sie spannte sich an und stieß noch einen Schrei aus. »Genau, pressen! Noch mal!« Schwester packte Azars Hand. »Schrei! Ruf Gott an! Ruf Imam Ali an! Ruf sie wenigstens jetzt an!« Kalt und dunkel schoss der Schmerz durch Azars Körper. Sie schrie und klammerte sich an den Arm der jungen Frau. Und rief niemanden an. »Es kommt!«, rief die Ärztin. »Braves Mädchen. Noch einmal pressen!« Etwas in Azar wurde zerrissen. Auf- und auseinandergerissen. Mit dem letzten Rest an Kraft, der ihr noch geblieben war, presste sie ein letztes Mal. Alles um sie herum wurde schwarz. Aus der Ferne hörte sie, wie das schwache Geschrei eines Säuglings den Raum erfüllte.
Als sie die Augen aufschlug, war das Zimmer leer. Ein kalter Luftzug, der durchs offene Fenster hereinkam, ließ sie frösteln. Sie war immer noch am Bett festgebunden, und in den Beinen hatte sie kein Gefühl mehr. Die feuchten Haare klebten ihr am Gesicht; ihre Füße schmerzten, als wären sie von einer Schicht Glasscherben durchzogen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dagelegen hatte. Stunden, Tage, eine Ewigkeit. Ihr Blick ruhte ebenso erwartungsvoll wie ängstlich auf der Tür. Wohin haben sie mein Baby gebracht? Da ging knarrend die Tür auf, und Schwester kam hereingeschlendert, den schwarzen Tschador enger ziehend. Azar machte den Mund auf, um etwas zu sagen, nach dem Kind zu fragen, doch ihre Lippen waren so trocken, dass ihre Mundwinkel einrissen. Hinter Schwester stürmten die beiden Hebammen herein.
»Deine Tochter ist im anderen Zimmer«, sagte Schwester, als hätte sie Azars Gedanken gelesen, die Frage auf ihren wunden Lippen gesehen. »Ich weiß nicht, wann sie sie herbringen. « Azar schloss die Augen. Es ist ein Mädchen, dachte sie. Ein erschöpftes, aber triumphierendes Lächeln ließ ihre Lippe beben, doch zugleich empfand sie auch Sorge. Sie war sich nicht sicher, ob sie Schwester glauben konnte. Was, wenn das Kind tot war und Schwester log? Wenn das nur ein weiterer grausamer Trick war? Was, wenn diese Schreie, die sie im Zimmer gehört hatte, gleich wieder verstummt waren? Sie blickte zu der jungen Hebamme hinüber, die lächelte und nickte. Azar blieb nichts anderes übrig, als es zu glauben. Die Hebammen rollten Azars Bett aus dem Zimmer, den Gang hinunter und in einen anderen Raum, dessen Fenster geschlossen war. Sie banden sie los. Irgendetwas in den Gesichtern dieser Frauen erinnerte Azar an die Mütter der Kinder, die sie im ersten Jahr nach der Revolution in den Dörfern am Rand von Teheran unterrichtet hatte. Still und devot hatten sie neben ihren ärmlich gekleideten Kindern gestanden und alles akzeptiert, was Azar sagte. Die Augen voller Bewunderung, voller schon an Furcht grenzender Ehrerbietung vor dieser jungen Städterin, die Bücher so leicht auf- und zuklappte, die perfekt Farsi sprach, die in dem aus Lehm gebauten Klassenzimmer, das die ganze Schule ausmachte, in ihrer städtischen Kleidung fehl am Platz wirkte. Die Erinnerung an diese Tage, als sie sich voller Leidenschaft für ein neues Land, ein besseres, gerechteres Land eingesetzt hatte, brach Azar fast das Herz. Wie glücklich war sie gewesen, wenn sie abends den Bus zurück nach Teheran nahm. Sie hatte sich eins gefühlt mit der Stadt, in der es brodelte und knisterte vor Spannung, vor Begeisterung für das, was die Gegenwart wie auch die Zukunft bereithielten. Voller Vorfreude war sie nach Hause gefahren, wissend, dass Ismael sie in ihrer winzigen Wohnung erwartete. Sie erinnerte sich, wie ihr Herz gehüpft hatte, wenn sie den Schein der Wohnzimmerlampe durch die Vorhänge gesehen hatte. Abend für Abend hatte dieses Licht, das bedeutete, dass Ismael zu Hause war und sie bald in seinen Armen liegen würde, ihr ein Lächeln auf die Lippen gezaubert und ihr Herz rasen lassen, während sie die Treppen hinaufeilte. Beim Betreten der Wohnung war ihr der Duft von dampfendem Reis in die Nase gestiegen, und Ismael hatte sie in seine Arme gezogen und gesagt: »Khaste nabaashi azizam.« Mögest du nie ermüden. Sie hatten Tee gekocht, und während sie ihn, an dem schmalen Fenster sitzend, das auf die Bäume des in Dunkelheit getauchten Hofes ging, zusammen tranken, hatte er ihr von Karl Marx erzählt und sie ihm die Gedichte von Forugh Farrokhzad vorgelesen. Gerade mal ein Jahr war seit der Revolution vergangen, und sowohl Azar als auch Ismael glühten noch vor Ekstase. Tief bewegt und mit fast versagender Stimme sprachen sie von ihrem Sieg, dem Sieg einer Nation, der es gelungen war, den Schah, ihren einst unantastbaren Herrscher, zu vertreiben; sie waren voller Hoffnung gewesen. Und doch hatten sie gewusst, dass irgendetwas schiefgegangen war. Die Männer mit den strengen Gesichtern, die die Macht im Land übernommen hatten und beanspruchten, die Verkünder der rechtschaffenen Worte und heiligen Gesetze zu sein, ließen sie schaudern. Was geht hier vor?, hatte Azar Ismael manchmal verzweifelt gefragt. Nach und nach war allen klargeworden, dass diese Männer sich als die einzigen rechtmäßigen Herren der Revolution und deren unbestreitbare Sieger betrachteten. Sie hatten begonnen, Universitäten von, wie sie fanden, antirevolutionären Aktivitäten zu säubern, Zeitungen zu schließen und politische Parteien zu verbieten. Ihre Worte waren Gesetz geworden, und alle anderen waren in den Untergrund gegangen, auch Azar und Ismael. Azar zog Arme und Beine an. Ein Zittern hatte sie erfasst, und sie konnte nicht aufhören zu zucken. Die junge Frau ging hinaus, um eine Decke zu holen und sie damit zuzudecken. Azar rollte sich zu einem Klumpen zusammen, bemüht, aus jeder Falte der Decke Wärme herauszuholen. Die Frauen verließen das Zimmer und schlossen leise die Tür hinter sich. Azar zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, die Wärme einzuatmen. Sie schloss die Augen, wiegte ihren Körper von einer Seite zur anderen und wartete darauf, dass sich die Wärme ausbreitete, dass Ruhe einkehrte. Wie ein formloser Haufen verharrte sie lange unter der Decke. Als die Wärme allmählich ihren Körper durchdrang, entblößte Azar erst den Kopf, dann die Schultern. Neben ihr, auf der anderen Seite des Zimmers, befand sich ein leeres Bett mit zerwühlten Laken und einer Mulde im Kopfkissen. Wer darin gelegen hatte, schien erst vor kurzem weggeschafft worden zu sein. Auf dem Boden neben dem Bett stand ein Teller, der Reis und die grünen Bohnen darauf waren nur zur Hälfte aufgegessen. Als Azars Blick darauf fiel, wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war. Seit dem Abend zuvor hatte sie nichts mehr gegessen. Während sie ihre Beine unter der Decke hervorstreckte, hielt sie den Blick starr auf den Teller gerichtet. Das war ihre Chance. Diesen Teller musste sie haben. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine zitterten, und die Knie gaben nach. Um nicht hinzufallen, umklammerte sie die Bettkante und ließ sich vorsichtig auf den Boden hinunter. Ihr Herz klopfte heftig, als sie sich auf den kalten Fliesen abstützte und zu krabbeln begann. Je näher sie dem Teller kam, desto kühner wurde sie, desto entschlossener, den Reis bis zum letzten Körnchen in sich hineinzustopfen. Sie würde essen, und zwar ohne Schwesters Erlaubnis. Sie würde sich diesen Teller schnappen und alles hinunterschlingen. Sie würde es sich zu eigen, zu einem Teil ihres Körpers, ihres Seins machen. Das würde sie alles in Besitz nehmen, den Reis, die Bohnen, selbst den Teller. Ihr kam sogar der Gedanke, den Teller irgendwo zu verstecken und mitzunehmen, zurück ins Gefängnis. Ihr war schlecht vor Hunger, schlecht von ihrer Dreistigkeit, der Aussicht auf Essen, der Angst, erwischt zu werden, bevor sie die Speise erreichte, diesen Schatz, der ihr in dem Moment wie das Leben selbst erschien. Sie stemmte die Ellbogen auf den Boden und hievte sich schneller vorwärts. Der Reis war kalt und trocken, und als sie ihn hinunterschlang, spürte sie, wie die harten Körner in ihrer Kehle kratzten. Sie dachte an die Eimer mit Essen, die Schwester zur Mittagszeit an die Gefängnisinsassinnen verteilte. Ihre Finger arbeiteten rasch, sammelten den Reis und die Bohnen, schaufelten alles in den Mund. Ihre Zähne schmerzten, ihre Zunge konnte nichts schmecken. Sie kaute hastig, während ihr die Körner zwischen den Fingern durchfielen. Jeden Moment konnte das Ganze verschwinden, und sie konnte wieder in diese Realität zurückfallen, in der ihr nichts gehörte, weder zum Geben noch zum Nehmen. Jeden Moment konnte Schwester hereinspazieren und ihr den Teller wegnehmen. Aber noch konnte sie essen. Der Augenblick gehörte ihr.
Die Ärztin in ihrem weißen Kittel lächelte Azar zu, während sie ihr den Blutdruck maß. In ihrem runden, freundlichen Gesicht wirkten die bläulichen Tränensäcke fehl am Platz. Schwester stand mit hängenden Armen auf der anderen Seite des Betts. Sie schien sich wohl zu fühlen in ihrem schwarzen Tschador. Wie sie alle. Diese Schwestern. Sie gingen, gestikulierten, verteilten Eimer mit Essen, verknoteten Augenbinden, schlossen und öffneten Türen und Handschellen mit einer Geschicklichkeit, dass man den Eindruck hatte, der hinderliche, rutschige Stoff existierte gar nicht, wäre nicht wie die Flügel einer schlafenden Fledermaus um sie gewickelt. Azar hütete sich, Schwester zu oft nach ihrem Baby zu fragen. Wenn sie zu großen Eifer zeigte, könnte Schwester, nur um sie zu ärgern und um sie leiden zu lassen, noch länger warten, ehe sie ihr das Kind brachte. Azar musste brav sein; sie musste Geduld haben. »Sie hat einen inneren Riss, der sich infizieren könnte.« Die Ärztin hörte auf, die Manschette um Azars Arm aufzupumpen. »Sie muss mindestens zwei Tage hierbleiben.« In dem unbeholfenen Versuch, stolz auszusehen, warf Schwester den Kopf zurück. Irgendwo in ihren Augen, in der dicken Falte ihrer Unterlippe über der Zahnlücke, die ein seltenes Lächeln offenbart hatte, konnte Azar die Armut der staubbedeckten Vororte sehen, wo man nachmittags auf der Türschwelle gelangweilt mit den Nachbarinnen tratschte, Jungen beim Fußballspielen auf staubigen Straßen zusah, sich nach einem Farbfernseher sehnte, nach der sechsten Klasse die Schule abbrach. Und hier stand sie nun, diese Frau aus den armen Vororten, die Königin der Proleten, und breitete ihren großen schwarzen Tschador über die Stadt und deren privilegierte Stadtmädchen. Schwester lernte langsam, stolz zu sein auf diese Armut, so wie sie gelernt hatte, auf ihren Tschador stolz zu sein. »Wir haben alles da«, versicherte Schwester mit kalter, ausdrucksloser Stimme. »Wir können sie versorgen.« Unter der Decke tastete sich Azars Hand bis an den Rand des Betts. Als sie das Bein der Ärztin spürte, kniff sie zu, so fest sie konnte. »Wir müssen die Bakterien in ihr abtöten.« Ohne irgendeine Reaktion auf Azars Kneifen zu zeigen, blickte die Ärztin Schwester direkt in die Augen. »Das wird ein paar Tage dauern.« »Das können wir auch machen. Wir haben alles. Ärzte. Krankenhaus. Medizin.« Gerne hätte Azar hinausgebrüllt, dass das nicht stimmte, dass Schwester log, dass sie sie ihrem inneren Riss überlassen würde, so dass die Infektion sich ausbreite und sie von innen verfaulte. Noch einmal kniff sie die Ärztin ins Bein, noch fester als zuvor. »Ich sage Ihnen, dass sie Pflege braucht, professionelle Pflege im Rahmen eines Krankenhauses«, beharrte die Ärztin. Sie schien den Grund für Azars Kneifen zu verstehen. »Wir müssen ihren Zustand überwachen. Sie ist innen aufgerissen. « Schwester warf Azar einen wütenden Blick zu, als wäre diese selbst schuld an dem inneren Riss. Azars Hand erschlaffte an der Bettkante. Schwester gab der Ärztin ein Zeichen, ihr nach draußen zu folgen. Bevor die Frau sich von dem Bett entfernte, packte Azar ihre Hand. »Meine Tochter?«, flüsterte sie. Die Ärztin legte ihre Hand auf die Azars. »Ihr geht's gut. Machen Sie sich keine Sorgen! Sie werden sie bald sehen.«
Den Blick starr auf die Tür gerichtet, saß Azar auf dem Bett und wartete auf das Baby, das nicht kam. Sie hielt die Hände gefaltet, zitternd vor Wut, Enttäuschung, Sehnsucht und Angst. Während die Stunden vergingen, verlor sie allmählich die Geduld. Nach neun langen Monaten mit dem Kind im Bauch, in denen sie gespürt hatte, wie es wuchs, es beschützt und mit ihm überlebt hatte, erschien es einfach unmöglich, dass sie es immer noch nicht gesehen, es nicht im Arm gehalten hatte, dass sie nicht wusste, ob es eher ihr oder Ismael ähnelte, ja nicht mit Sicherheit, ob es überhaupt am Leben war. Wie die Minuten so dahinkrochen und sie die Tür nicht aus den Augen ließ, fühlte Azar, wie die Sehnsucht nach ihrem Kind in ihr so mächtig wurde, dass es ihr fast den Atem nahm. Das schwächer werdende Licht der Nachmittagssonne warf seine Schatten auf die Wände. Um sich etwas aufzuheitern und einen Blick durch die verschlossene Glasscheibe zu werfen, zog sich Azar an der Fensterbank hoch. Sie wollte wissen, wo sie war. Durch das spärliche, gräuliche Laub der Maulbeerfeigenbäume sah sie eine Brücke, die vom nachmittäglichen Stoßverkehr verstopft war. Der Himmel hing voller Smog; es war die letzte Hitze des Sommers, und man hörte das gereizte Echo von Autohupen. Sie sah einen Schwarm Vögel am Himmel vorbeiziehen, einen großen Bogen machen und sich auf den Ästen der Bäume niederlassen. Die Stadt sah verändert aus. Alles schien übertüncht worden zu sein, makellos, strahlend. Das Weiß war hastig auf die Betonbauten gespritzt worden, wie um etwas zu verbergen: Blut, Ruß, Geschichte, den Krieg, den nicht enden wollenden Krieg. Es war der fieberhafte Versuch, die Verwüstung zu vertuschen, die allen immer dichter im Nacken saß.
Wenn auch nicht Azars Geburtsort, so war Teheran doch immer ihre Heimat gewesen, der sie sich zugehörig gefühlt hatte. Sie liebte die Stadt mit ihrem Verkehr, ihren schmutzigen weißen Gebäuden und ihrem überwältigenden Chaos. So sehr liebte sie sie, dass sie einmal geglaubt hatte, ihr Schicksal ändern zu können. Das ist nicht das, wofür wir gekämpft, wofür wir unser Leben aufs Spiel gesetzt haben,
hatte sie zu Ismael gesagt, als sie ihm mitteilte, sie habe beschlossen, ihre politische Aktivität fortzusetzen. Wir können nicht zulassen, dass sie uns alles wegnehmen.
Ismael war mit ihr gegangen, Hand in Hand, in jeder Phase. Was immer wir tun, wir werden es gemeinsam tun, hatte er gesagt. Was ihnen auch widerfuhr, es würde ihr gemeinsames Schicksal sein. Schnell und bereitwillig hatte er sich von ihrem Engagement anstecken lassen. Er hatte mit ihr an geheimen politischen Versammlungen in stickigen Räumen teilgenommen, ihr geholfen, Flugblätter zu drucken, Botschaften in Zigarettenschachteln zu befördern, hatte an seiner Universität über die Zukunft gesprochen. Als es dann so weit war, dass die Verfolgungen begannen und der Kontakt zu ihnen für ihre Familien zu gefährlich wurde, hatten sie aufgehört, zu Hause anzurufen, auf die Anrufe ihrer Eltern zu reagieren und sie zu besuchen. Gemeinsam hatten sie Tränen der Verzweiflung vergossen, denn sie waren sich unsicher, was sie tun sollten. Hatten nicht mehr die Kraft gehabt, vorwärtszugehen, dabei aber gewusst, dass es zum Umkehren zu spät war. Die Wohnungstür war bedrohlich geworden, hatte sie misstrauisch angestarrt und Antworten auf die unausgesprochenen Fragen erwartet, die ihre Eltern mit ihrem beharrlichen Klopfen gestellt hatten. Das war der Moment, wo sie beschlossen hatten, unterzutauchen und damit für immer ihre Spuren zu verwischen. So war es einfacher. Niemand würde mehr an ihre Tür klopfen. Völlig abgeschnitten hatten sie es als einfacher empfunden, so zu tun, als könnten sie vergessen. War es das wert gewesen? Azar wischte sich die Strähnen aus dem Gesicht. Würde Ismael ihr je verzeihen, dass sie ihren Kampf über alles gestellt hatte? Über ihn, ihr gemeinsames Leben, das Kind, dass in ihrem Bauch wuchs? Würden sie eine zweite Chance bekommen? Die Gedanken wühlten sie auf. Sie presste ihre knochigen Ellbogen auf die Fensterbank und ihre Stirn gegen das warme Glas. Der Verkehr schnaufte und keuchte langsam über die Brücke. Obwohl weit von ihnen entfernt, konnte Azar die angespannten Gesichter in den Autos sehen, die unruhigen, aufgerichteten Körper auf den Motorrädern, die ebenfalls im Stau feststeckten. Über dem Verkehr hing wie eine riesige Wolke eine Werbetafel mit einer der Maximen des Revolutionsführers, geschrieben in einer gestochenen, eleganten Handschrift: Unsere Revolution war eine Explosion des Lichts. Daneben war, einem Feuerwerk gleich, die Darstellung einer Explosion zu sehen. Auf dem Gehweg unter der Werbetafel stand ein Mann und starrte wie benommen die Autos an. Er sah müde aus und alt, vielleicht älter, als er war. Die Sonne fiel genau auf sein fahles, hageres Gesicht. Als Azar ihn entdeckte, setzte für einen Schlag ihr Herz aus. Sie spürte, wie sich ihr Gesicht aufhellte. Voller Verblüffung klappte sie den Mund auf. »Pedar!«, schrie sie und schlug dabei mit der Handfläche gegen die Fensterscheibe. Ihr Vater hörte sie nicht. Hob auch nicht den Blick. Er stellte die Tüten auf dem Boden ab und zog ein Taschentuch hervor, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sein drahtiger Körper wirkte gebeugt, aber von etwas anderem als dem Alter.
Unter Zucken verzog sich Azars Gesicht. In all diesen Monaten im Gefängnis war ihr Vater ihr nie so weit weg, so unerreichbar vorgekommen. Nie hatte sie sich so allein gefühlt, so voller Angst vor dem, was aus ihr werden sollte. »Pedar!«, schrie sie mit der ganzen Kraft, die sie noch aufzubringen vermochte. Ihre Stimme war zu einem heiseren Wimmern geworden, das die dicke Fensterscheibe kaum durchdrang. Ihr Vater nahm die Tüten wieder auf und setzte, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben, seinen Weg fort. Nach Luft ringend und mit weit aufgerissenen Augen, sah Azar zu, wie seine große gebückte Gestalt allmählich im dunstigen Nachmittagslicht verschwand: Er stieg auf sein Motorrad und fuhr davon. Der Verkehr kam wieder in Bewegung. Reglos lag Azars Hand an der Fensterscheibe, in der sich unansehnliche Blätter, leere Nester und eine schwarze Reklametafel spiegelten, auf der von Licht die Rede war.
Als die Tür das nächste Mal aufschwang, kam Schwester allein. Das Kind war nicht bei ihr. Auch die Hebammen oder die Ärztin nicht. Mit Bestürzung sah Azar, dass Schwester ihre Kleider in der Hand hatte. Sie war immer noch aufgewühlt. Das Bild ihres Vaters, seiner gebeugten Gestalt, seines müden Gesichts ließ sie nicht los. Schwester legte die Kleider aufs Bett. Mit schwacher Stimme fragte Azar, wo ihr Kind sei. »Wir holen es auf dem Weg nach draußen«, sagte Schwester, und Azar wurde klar, dass die Beharrlichkeit der Ärztin vergebens gewesen war. Schwester hatte gewonnen. Es war Zeit zu gehen.
Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller
© 2014 Droemer Verlag
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Autoren-Porträt von Sahar Delijani
Sahar Delíjaní wurde 1983 im Evin-Gefängnis in Teheran geboren, nachdem ihre Eltern für ihren aktiven Widerstand gegen das islamische Regime verhaftet worden waren. 1996 verließ die Familie das Land und ging nach Kalifornien. Seit 2006 lebt Delíjaní mit ihrem Mann im italienischen Turin.
Autoren-Interview mit Sahar Delijani
Warum haben Sie sich für den Titel „Kinder des Jacarandabaums" entschieden? Wer sind diese Kinder, auf die sie sich beziehen?Sahar Delijani: Es sind die Kinder der Revolution. Für mich ist der Jacarandabaum ein Symbol der iranischen Revolution von 1979. Obwohl der Shah gestürzt wurde, war die Revolution für viele Menschen, die an sie glaubten, eine Enttäuschung, denn ihr Ergebnis war nicht das, was sie erhofft hatten. Viele Leute wurden letztlich von dem neuen Regime inhaftiert. Die Kinder im Titel sind ihre Kinder - Kinder, die nach der Revolution geborgen und von ihren Großeltern, Tanten und Onkeln aufgezogen wurden, während ihre Eltern im Gefängnis saßen.
Inwiefern spielen ihre eigenen Erfahrungen und die ihrer Familie hier eine Rolle?
Sahar Delijani: Der Roman ist sehr geprägt von der Geschichte meiner Familie, besonders die ersten Kapitel, die in den 1980er Jahren in Teherans Evin Gefängnis und anderswo in der Stadt spielen. Meine Eltern, Onkeln und Tanten waren leidenschaftliche politische Aktivisten vor und während der Revolution. Sie waren keine Islamisten und wollten, dass der Iran eine moderne Republik wird. Stattdessen entstand eine Theokratie, also ganz und gar nicht das, was sie sich vorgestellt hatten. Sie wurden daraufhin politisch noch aktiver, und damit wurde sichtbar, dass sie gegen das Regime arbeiteten. Ihr Aktivismus hatte 1983 Massenverhaftungen von politischen Gegnern aller Parteien zur Folge. Einer der Gründe warum ich nicht deutlich sage, welcher Partei meine Protagonisten angehörten, ist, dass alle Parteien vom Regime unterdrückt wurden.
Was ist mit Ihren Eltern passiert?
Sahar Delijani: Sie wurden verhaftet. Zu dieser Zeit war mein Bruder zwei Jahre alt und meine Mutter mit mir schwanger. Meine schwangere Tante wurde ebenfalls verhaftet, und so wurden mein Cousin und ich im
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Gefängnis geboren. (Das erste Kapitel ist davon inspiriert, was es für meine Mutter hieß, mich hinter Gittern zur Welt zu bringen.) Ein paar Jahre später wurden meine Eltern aus der Haft entlassen, was ein Glück war, denn 1988 - dem letzten Jahr des Iran/Irak-Krieges - veranlasste das Regime Massenexekutionen von politisch Gefangenen. Während dieser Aktion sind, Schätzzahlen zufolge, zwischen drei- und zwölftausend Menschen ermordet worden. Wir werden die genaue Zahl nie erfahren, denn ihre Körper wurden den Familien nicht zurückgegeben, und Beerdigungen waren verboten. Stattdessen wurden sie in Massengräbern verscharrt. Der Bruder meines Vaters war einer der Exekutierten dieses Sommers.
Bei wem sind Sie aufgewachsen?
Sahar Delijani: Während unsere Eltern im Gefängnis saßen, zogen meine Großeltern meinen Bruder und mich groß. Die Geschichte der Kinder, die bei ihren Großeltern leben, bis ihre Eltern aus der Haft entlassen werden, rührt aus dieser Erfahrung. Als meine Eltern wieder frei waren, zogen wir mit ihnen in ein eigenes Haus.
Sie wurden seit Ihrer Kindheit mit diesen Geschichten konfrontiert. Warum haben Sie sich gerade jetzt entschlossen, sie zu erzählen?
Sahar Delijani: Wann immer meine Eltern sich mit Leuten trafen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, drehten sich ihre Gespräche früher oder später um „Gefängnis-Geschichten". Einige waren sehr lustig - Anekdoten über die Scherze und Spiele, die sie mit den Wachen trieben. Sie sprachen nicht wirklich über die schlimmen Dinge, die passiert sind, aber es war klar, dass die Hinrichtung meines Onkels eine tiefe Narbe in meiner Familie hinterlassen hat. Sie war stets präsent und ab und zu wurde sie deutlicher. Mir war lange nicht klar, wie wichtig diese Geschichten für mich geworden waren, und manchmal wundere ich mich, warum ich so lange gewartet habe, dieses Buch zu schreiben.
Wie haben Sie das Buch entwickelt?
Sahar Delijani: Ich hatte eigentlich nicht vor, einen Roman zu schreiben. Ich dachte, es wäre vielleicht leichter, mit Kurzgeschichten veröffentlicht zu werden. Die erste war über eine Kette aus Datumssteinen, die mein Vater mir im Gefängnis gebastelt hatte. Nachdem ich diese beendet hatte, schrieb ich eine zweite. Ziemlich bald stellte ich fest, dass ich jedes Mal, wenn ich eine Geschichte schreiben wollte, zu den Ereignissen im Gefängnis zurückkehrte: die Hinrichtung etc. Dann sagte ich meiner Mutter, dass ich über meine Geburt schreiben wolle. Ich hatte die Geschichte zuvor an einem meiner Geburtstage gehört, doch dieses Mal wollte ich mir Notizen machen, während sie erzählt wurde. Und das habe ich dann getan. Ich fuhr nach Kalifornien, um meine Familie zu besuchen, und stellte meiner Mutter alle möglichen Fragen: Was hast du gegessen? Was hast du getragen? Wie war das Leben im Gefängnis von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde, Minute zu Minute? Wie war der Umgang mit den Wachen, den anderen Gefangenen und deinen Zellengenossen? Als ich alle Details beisammen hatte, fing ich an, sie in einen Roman zu verarbeiten.
Wo hört die Biographie auf, und wo fängt der Roman an?
Sahar Delijani: Ich wollte keine Biographie schreiben, sondern vielmehr eine Version dessen, was geschehen war. Also habe ich mir einzelne Szenen und Ereignisse herausgesucht, von denen ich ausging oder die ich ausschmückte. Ich habe mir beispielsweise vorgestellt, wie meine Mutter ihren Vater nach der monatelangen Inhaftierung wiedersah. Das ist niemals wirklich passiert. Es kam mir einfach während des Schreibens. Szenen wie diese schrieben sich wie von selbst. Ich musste nicht viel über sie nachdenken.
War das Schreiben dieses Buches für Sie ein schwieriger Prozess?
Sahar Delijani: Es war sehr hart, da es so persönlich war. Ich wurde oft unsagbar traurig. Die Geschichten aufzuschreiben, die meiner Familie zugestoßen sind, machte sie wesentlich realer, als sie nur zu hören. Als Schriftsteller versetzt man sich permanent in die Lage seiner Figuren. Manchmal musste ich aufhören, spazieren gehen, einen Tee trinken, etwas - irgendetwas - tun, um mich von diesen Geschichten zu distanzieren, die so oder so für mich schon sehr emotional und traurig waren. Abstand zu bewahren, war unglaublich schwer.
Mit wem aus Ihrer Familie haben Sie gesprochen, und haben Sie noch anderweitig recherchiert?
Sahar Delijani: Ich wollte nicht mit zu vielen Leuten sprechen, und deswegen habe ich ausschließlich mit meinen Eltern geredet. Es war ja vor allem ihre Geschichte. Es war faszinierend, wie deutlich sie sich an alles erinnern konnten - was sie im Gefängnis gegessen hatten, was sie getragen hatten, wie früh sie aufstehen mussten, ihre tägliche Routine und so weiter. Ich habe auch zum Iran/Irak-Krieg recherchiert, den Verhaftungen von Dissidenten, den Massenhinrichtungen von 1988 und so weiter. Ich wollte wissen, ob in den letzten Jahren noch mehr Informationen hinzugekommen waren. Zu den Unruhen nach den Wahlen 2009 habe ich einiges nachgelesen und einige Videos zu den Protesten angeschaut und das dann in den entsprechenden Passagen verarbeitet. Doch wirklich viel recherchieren musste ich nicht, denn ich hatte diese Ereignisse in den Nachrichten und im Internet verfolgt, während sie geschahen.
Gab es während des Schreibens etwas, das sie überrascht hat?
Sahar Delijani: Da ich diese Geschichten schon so lange kenne, sie schon so oft gehört habe, war ich eigentlich an sie gewöhnt. Daher hat mich meine eigene Reaktion überrascht. Ich war erstaunt, wie emotional ich während des Schreibens wurde. Plötzlich wurde mir klar, dass ich über etwas schreiben wollte, dass ich nicht vollständig erfassen konnte. Ich hatte die Ereignisse, die das Leben meiner Familie so stark belasteten, den Tod meines Onkels etwa, niemals wirklich begriffen. Während ich über sie schrieb, war ich überrascht, wie viel ich dabei über mich selbst erfuhr. Ebenso erstaunte mich die Offenheit meiner Eltern. Sie wollten über ihre Erfahrungen reden. Und sie nahmen alles sehr ernst. Zu Beginn war es sehr hart für sie, besonders für meine Mutter. Aber je mehr sie sich darauf einließ, desto offener wurde sie, und es wurde leichter.
Was genau haben Sie über sich herausgefunden beim Schreiben dieses Buches?
Sahar Delijani: Mir war nie bewusst, wie besessen ich von dieser Periode war. Ich bin es immer noch. Ich habe das Gefühl, noch nichts wirklich gesagt zu haben, und könnte ewig über dieses Thema weiterschreiben. Mir wurde auch bewusst, wie sehr sich mein Leben von dem meiner Freunde, die keine ähnlichen Erfahrungen gemacht haben, unterscheidet. Und ich merkte, dass diese Erfahrungen mich und meine Familie in gewisser Weise stärker haben werden lassen. Sie vereinten uns auf eine Art, die mir vorher nicht bewusst war.
Wir haben darüber gesprochen, was Sie überrascht hat, als Sie das Buch schrieben. Was glauben Sie wird Ihre Leser überraschen?
Sahar Delijani: Wenn Sie sich für den Iran interessieren, wird sie mit Sicherheit überraschen, dass die Revolution nicht von Anfang an islamistisch war. Viele andere Kräfte waren ebenso stark involviert. Die Islamisten setzten sich durch, doch ursprünglich ging die Revolution vom Volk aus. Und was das Volk wollte, war, einen einst unberührbaren König zu stürzen. Ich denke, auch die enorme Gewalt und Unterdrückung, die nach der Revolution vom Regime ausging, die Massenexekutionen und so weiter, werden viele Leser überraschen. Und ich hoffe, sie werden erstaunt darüber sein, wie die Menschen damals im Iran gelebt haben und wie sie es heute tun. Ich wollte keinen Fremdenführer schreiben, sondern ein Bild des normalen Lebens zeichnen.
Wie jede andere Nation ist auch der Iran voller Komplikationen und Widersprüche. Meine Eltern, Familie und Freunde gehörten zu einem Teil der iranischen Gesellschaft - säkular, kultiviert, politisch links -, an die man nicht unbedingt denkt, wenn man an den Iran denkt. (Die meisten Westeuropäer oder Amerikaner stellen sich Iraner verschleiert und Hassparolen brüllend vor.) Tatsächlich werden auch viele meiner iranischen Freunde erstaunt sein, über diesen Teil ihrer Gesellschaft zu lesen. Die iranische Gesellschaft ist extrem gespalten, und jeder Teil ist von den anderen isoliert - der säkulare vom religiösen, der reiche vom armen, der alphabetische vom analphabetischen. Daher denke ich, dass auch viele Iraner in dem Buch auf Überraschungen stoßen werden.
Haben Sie noch Ihnen nahestehende Verwandte im Iran? Und machen Sie sich Sorgen, Sie könnten wegen dem, was Sie geschrieben haben, verfolgt werden?
Sahar Delijani: Ein Großteil der Familie meines Vaters lebt noch dort: meine Großmutter, eine Tante, Cousins und so weiter. Wenn es um eine Diktatur geht, denkt man immer über mögliche Repressalien nach, besonders wenn man weit weg wohnt. Ich weiß, dass mir nichts passieren kann, aber ich mache mir natürlich Sorgen um meine Familie dort. Da ergeht es mir wie jedem iranischen Schriftsteller oder Aktivisten im Exil. Wir sorgen uns permanent. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, zu sprechen. Das ist die Art und Weise, wie Diktaturen funktionieren. Sie machen einem Angst, da man nicht weiß, wie sie reagieren. Wenn man aber zu viel darüber nachdenkt, lähmt es einen. Ich sollte noch sagen, dass es nicht mein Ziel war, mit diesem Buch ein politisches Statement abzugeben. Obwohl es von den Erfahrungen meiner Familie handelt, wollte ich vor allem einen guten Roman, eine gute Geschichte schreiben.
Die Hälfte des Buches spielt in den 1980er Jahren. Der Rest spielt 2009, '10 und '11. Was denken Sie über die Unruhen nach den Wahlen 2009? Sehen Sie einen Unterschied zwischen dem, was im Iran in den 1980er Jahren und in der jüngeren Vergangenheit geschah?
Sahar Delijani: Der größte Unterschied ist, dass repressive Maßnahmen und Hinrichtungen in den 1980er Jahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Sie wurden nicht unbedingt heimlich begangen - die Leute wussten von ihnen; die Familien wurden informiert - aber sie wurden heimlich durchgeführt, oft nachts in den Gefängnissen, und die Leichen wurden in Massengräbern entsorgt. Es gab zumindest den Versuch, das Töten geheim zu halten. Die aktuellen Unruhen fanden mitten auf der Straße statt. Das Regime misshandelte, verhaftete und tötete Menschen am helllichten Tag. Die Vertreter des Regimes waren wesentlich grausamer, als wäre ihnen alles egal. Es gab nicht einmal den Versuch, etwas zu verbergen. Ich bin kein Politikwissenschaftler, aber ich denke hier zeigt sich eine neue Generation - neue Jungs, neue Wachen -, die wesentlich grausamer und gleichgültiger ist gegenüber dem, was sie tun. Das war eine Art Schock.
Besonders traurig war, dass sich 2009 die Revolution zum dreißigsten Mal jährte. Kurz vor den Wahlen konnte man einen Hauch von Freiheit spüren. Es gab beispielsweise erstmalig Fernsehdebatten der einzelnen Kandidaten. Es fühlte sich an, als würde etwas geschehen. Endlich Reformen umgesetzt werden. Dann geschah diese unglaubliche Maßregelung, und es schien, als habe sich in dreißig Jahren nichts gebessert. Es war sogar noch schlimmer geworden.
Wie oft sind Sie in den Iran zurückgekehrt?
Sahar Delijani: Nachdem wir das Land verlassen hatten, als ich zwölf Jahre alt war, kam ich beinahe jedes Jahr mit meiner Mutter oder Tante zurück, um meinen Vater zu besuchen. Als er nach Amerika zog, haben wir damit aufgehört. Kurz vor den Wahlen 2009 nahm mein Ehemann dann an einer Konferenz in Teheran teil, und ich begleitete ihn. Für ihn war es das erste Mal, für mich das erste Mal seit acht Jahren. Ich erinnere mich, dass es unglaublich ruhig im Land war. Jetzt weiß ich, dass es die Ruhe vor dem Sturm war. 2011 kehrte ich noch einmal zurück, um an der Hochzeit eines Cousins teilzunehmen. Seitdem war ich nicht mehr dort.
Wie ist es für Sie, zurückzukommen?
Sahar Delijani: Es macht unglaublich viel Spaß. Ich bin nie zurückgekehrt und habe gedacht: „Sie haben meiner Familie das angetan." Ich hege keinen Groll. Deswegen ist es für mich jedes Mal wundervoll, dort zu sein. Das Land ist unglaublich dynamisch. Zweidrittel der Bevölkerung sind junge Leute in ungefähr meinem Alter. Es gibt so viel Energie, so viel Hoffnung, trotz allem.
Was für eine Haltung konnten Sie auf der Straße feststellen, als Sie 2011 zu Besuch waren?
Sahar Delijani: Ich hatte das Gefühl, die Menschen warteten nur auf die nächste Gelegenheit, rauszukommen. Obwohl es keine Proteste mehr gab, schien nichts abgeschlossen. Jeder machte einen Schritt zurück, versuchte zu analysieren und zu verstehen, was passiert war und überlegte seinen nächsten Zug. Nicht nur auf politischer Ebene - wie z. B. durch geheime Treffen im Untergrund -, sondern auch auf geistiger Ebene. Ich denke, die Menschen glauben nach wie vor daran, dass das Land reformiert werden muss und dass dies zur rechten Zeit geschehen wird. Es sollte auch erwähnt werden, dass die Dinge 2011 anders standen als heute. Die wirtschaftliche Krise des Landes - teils hervorgerufen durch Sanktionen, teils durch mangelnde Vorbereitung der Regierung - führt zu ernsthafter Unzufriedenheit auf den Straßen. 2011 hatte sie das Land noch nicht so hart getroffen.
Welche Haltung konnten Sie gegenüber Amerika und dem Westen feststellen?
Sahar Delijani: Was die iranische Regierung über Amerika sagt, unterscheidet sich sehr von dem, was die Leute fühlen. Das heißt nicht, dass Iraner Amerika automatisch lieben. Den Leuten ist bewusst, dass jede Chance auf eine iranische Demokratie mit dem durch die Amerikaner unterstützten Putsch von 1953, der dem Schah uneingeschränkte Macht verlieh, endete. Aber das ist nichts, über das die Leute jeden Abend bei Tisch reden. Und die Iraner lieben die amerikanische Kultur. Sie lieben amerikanische Kunst und Literatur. Genauso wie französische, englische oder italienische. Sie wollen viel mehr über die Kultur dieser Länder erfahren. Es gibt keinerlei Feindseligkeit.
Was sollen Leser aus Ihrem Buch lernen?
Sahar Delijani: Ich möchte, dass sie erkennen, dass Geschichte überall auf der Welt gleich verläuft. Wir alle wollen dasselbe. Jede Nation hatte ihre Kriege, ihre eigenen Kämpfe um Demokratie und ihr eigenes Ringen um Freiheit. Egal, ob diese Kämpfe in Syrien, Argentinien, Burma, dem Iran oder woanders stattfinden, sie sind alle ähnlich und vermitteln dieselbe Botschaft: dass die Menschen frei leben wollen, dass wir uns alle viel ähnlicher sind, als wir es uns je vorstellen können, dass wir alle dasselbe wollen und alle durch denselben Schmerz gehen müssen, um dorthin zu gelangen. Jeder, der sein Kind im Gefängnis zur Welt bringen und es anschließend abgeben muss, empfindet denselben Schmerz und dieselbe Trauer, egal aus welchem Land er kommt. Das ist die übergeordnete Botschaft: Wir sind alle gleich.
Bei wem sind Sie aufgewachsen?
Sahar Delijani: Während unsere Eltern im Gefängnis saßen, zogen meine Großeltern meinen Bruder und mich groß. Die Geschichte der Kinder, die bei ihren Großeltern leben, bis ihre Eltern aus der Haft entlassen werden, rührt aus dieser Erfahrung. Als meine Eltern wieder frei waren, zogen wir mit ihnen in ein eigenes Haus.
Sie wurden seit Ihrer Kindheit mit diesen Geschichten konfrontiert. Warum haben Sie sich gerade jetzt entschlossen, sie zu erzählen?
Sahar Delijani: Wann immer meine Eltern sich mit Leuten trafen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, drehten sich ihre Gespräche früher oder später um „Gefängnis-Geschichten". Einige waren sehr lustig - Anekdoten über die Scherze und Spiele, die sie mit den Wachen trieben. Sie sprachen nicht wirklich über die schlimmen Dinge, die passiert sind, aber es war klar, dass die Hinrichtung meines Onkels eine tiefe Narbe in meiner Familie hinterlassen hat. Sie war stets präsent und ab und zu wurde sie deutlicher. Mir war lange nicht klar, wie wichtig diese Geschichten für mich geworden waren, und manchmal wundere ich mich, warum ich so lange gewartet habe, dieses Buch zu schreiben.
Wie haben Sie das Buch entwickelt?
Sahar Delijani: Ich hatte eigentlich nicht vor, einen Roman zu schreiben. Ich dachte, es wäre vielleicht leichter, mit Kurzgeschichten veröffentlicht zu werden. Die erste war über eine Kette aus Datumssteinen, die mein Vater mir im Gefängnis gebastelt hatte. Nachdem ich diese beendet hatte, schrieb ich eine zweite. Ziemlich bald stellte ich fest, dass ich jedes Mal, wenn ich eine Geschichte schreiben wollte, zu den Ereignissen im Gefängnis zurückkehrte: die Hinrichtung etc. Dann sagte ich meiner Mutter, dass ich über meine Geburt schreiben wolle. Ich hatte die Geschichte zuvor an einem meiner Geburtstage gehört, doch dieses Mal wollte ich mir Notizen machen, während sie erzählt wurde. Und das habe ich dann getan. Ich fuhr nach Kalifornien, um meine Familie zu besuchen, und stellte meiner Mutter alle möglichen Fragen: Was hast du gegessen? Was hast du getragen? Wie war das Leben im Gefängnis von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde, Minute zu Minute? Wie war der Umgang mit den Wachen, den anderen Gefangenen und deinen Zellengenossen? Als ich alle Details beisammen hatte, fing ich an, sie in einen Roman zu verarbeiten.
Wo hört die Biographie auf, und wo fängt der Roman an?
Sahar Delijani: Ich wollte keine Biographie schreiben, sondern vielmehr eine Version dessen, was geschehen war. Also habe ich mir einzelne Szenen und Ereignisse herausgesucht, von denen ich ausging oder die ich ausschmückte. Ich habe mir beispielsweise vorgestellt, wie meine Mutter ihren Vater nach der monatelangen Inhaftierung wiedersah. Das ist niemals wirklich passiert. Es kam mir einfach während des Schreibens. Szenen wie diese schrieben sich wie von selbst. Ich musste nicht viel über sie nachdenken.
War das Schreiben dieses Buches für Sie ein schwieriger Prozess?
Sahar Delijani: Es war sehr hart, da es so persönlich war. Ich wurde oft unsagbar traurig. Die Geschichten aufzuschreiben, die meiner Familie zugestoßen sind, machte sie wesentlich realer, als sie nur zu hören. Als Schriftsteller versetzt man sich permanent in die Lage seiner Figuren. Manchmal musste ich aufhören, spazieren gehen, einen Tee trinken, etwas - irgendetwas - tun, um mich von diesen Geschichten zu distanzieren, die so oder so für mich schon sehr emotional und traurig waren. Abstand zu bewahren, war unglaublich schwer.
Mit wem aus Ihrer Familie haben Sie gesprochen, und haben Sie noch anderweitig recherchiert?
Sahar Delijani: Ich wollte nicht mit zu vielen Leuten sprechen, und deswegen habe ich ausschließlich mit meinen Eltern geredet. Es war ja vor allem ihre Geschichte. Es war faszinierend, wie deutlich sie sich an alles erinnern konnten - was sie im Gefängnis gegessen hatten, was sie getragen hatten, wie früh sie aufstehen mussten, ihre tägliche Routine und so weiter. Ich habe auch zum Iran/Irak-Krieg recherchiert, den Verhaftungen von Dissidenten, den Massenhinrichtungen von 1988 und so weiter. Ich wollte wissen, ob in den letzten Jahren noch mehr Informationen hinzugekommen waren. Zu den Unruhen nach den Wahlen 2009 habe ich einiges nachgelesen und einige Videos zu den Protesten angeschaut und das dann in den entsprechenden Passagen verarbeitet. Doch wirklich viel recherchieren musste ich nicht, denn ich hatte diese Ereignisse in den Nachrichten und im Internet verfolgt, während sie geschahen.
Gab es während des Schreibens etwas, das sie überrascht hat?
Sahar Delijani: Da ich diese Geschichten schon so lange kenne, sie schon so oft gehört habe, war ich eigentlich an sie gewöhnt. Daher hat mich meine eigene Reaktion überrascht. Ich war erstaunt, wie emotional ich während des Schreibens wurde. Plötzlich wurde mir klar, dass ich über etwas schreiben wollte, dass ich nicht vollständig erfassen konnte. Ich hatte die Ereignisse, die das Leben meiner Familie so stark belasteten, den Tod meines Onkels etwa, niemals wirklich begriffen. Während ich über sie schrieb, war ich überrascht, wie viel ich dabei über mich selbst erfuhr. Ebenso erstaunte mich die Offenheit meiner Eltern. Sie wollten über ihre Erfahrungen reden. Und sie nahmen alles sehr ernst. Zu Beginn war es sehr hart für sie, besonders für meine Mutter. Aber je mehr sie sich darauf einließ, desto offener wurde sie, und es wurde leichter.
Was genau haben Sie über sich herausgefunden beim Schreiben dieses Buches?
Sahar Delijani: Mir war nie bewusst, wie besessen ich von dieser Periode war. Ich bin es immer noch. Ich habe das Gefühl, noch nichts wirklich gesagt zu haben, und könnte ewig über dieses Thema weiterschreiben. Mir wurde auch bewusst, wie sehr sich mein Leben von dem meiner Freunde, die keine ähnlichen Erfahrungen gemacht haben, unterscheidet. Und ich merkte, dass diese Erfahrungen mich und meine Familie in gewisser Weise stärker haben werden lassen. Sie vereinten uns auf eine Art, die mir vorher nicht bewusst war.
Wir haben darüber gesprochen, was Sie überrascht hat, als Sie das Buch schrieben. Was glauben Sie wird Ihre Leser überraschen?
Sahar Delijani: Wenn Sie sich für den Iran interessieren, wird sie mit Sicherheit überraschen, dass die Revolution nicht von Anfang an islamistisch war. Viele andere Kräfte waren ebenso stark involviert. Die Islamisten setzten sich durch, doch ursprünglich ging die Revolution vom Volk aus. Und was das Volk wollte, war, einen einst unberührbaren König zu stürzen. Ich denke, auch die enorme Gewalt und Unterdrückung, die nach der Revolution vom Regime ausging, die Massenexekutionen und so weiter, werden viele Leser überraschen. Und ich hoffe, sie werden erstaunt darüber sein, wie die Menschen damals im Iran gelebt haben und wie sie es heute tun. Ich wollte keinen Fremdenführer schreiben, sondern ein Bild des normalen Lebens zeichnen.
Wie jede andere Nation ist auch der Iran voller Komplikationen und Widersprüche. Meine Eltern, Familie und Freunde gehörten zu einem Teil der iranischen Gesellschaft - säkular, kultiviert, politisch links -, an die man nicht unbedingt denkt, wenn man an den Iran denkt. (Die meisten Westeuropäer oder Amerikaner stellen sich Iraner verschleiert und Hassparolen brüllend vor.) Tatsächlich werden auch viele meiner iranischen Freunde erstaunt sein, über diesen Teil ihrer Gesellschaft zu lesen. Die iranische Gesellschaft ist extrem gespalten, und jeder Teil ist von den anderen isoliert - der säkulare vom religiösen, der reiche vom armen, der alphabetische vom analphabetischen. Daher denke ich, dass auch viele Iraner in dem Buch auf Überraschungen stoßen werden.
Haben Sie noch Ihnen nahestehende Verwandte im Iran? Und machen Sie sich Sorgen, Sie könnten wegen dem, was Sie geschrieben haben, verfolgt werden?
Sahar Delijani: Ein Großteil der Familie meines Vaters lebt noch dort: meine Großmutter, eine Tante, Cousins und so weiter. Wenn es um eine Diktatur geht, denkt man immer über mögliche Repressalien nach, besonders wenn man weit weg wohnt. Ich weiß, dass mir nichts passieren kann, aber ich mache mir natürlich Sorgen um meine Familie dort. Da ergeht es mir wie jedem iranischen Schriftsteller oder Aktivisten im Exil. Wir sorgen uns permanent. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, zu sprechen. Das ist die Art und Weise, wie Diktaturen funktionieren. Sie machen einem Angst, da man nicht weiß, wie sie reagieren. Wenn man aber zu viel darüber nachdenkt, lähmt es einen. Ich sollte noch sagen, dass es nicht mein Ziel war, mit diesem Buch ein politisches Statement abzugeben. Obwohl es von den Erfahrungen meiner Familie handelt, wollte ich vor allem einen guten Roman, eine gute Geschichte schreiben.
Die Hälfte des Buches spielt in den 1980er Jahren. Der Rest spielt 2009, '10 und '11. Was denken Sie über die Unruhen nach den Wahlen 2009? Sehen Sie einen Unterschied zwischen dem, was im Iran in den 1980er Jahren und in der jüngeren Vergangenheit geschah?
Sahar Delijani: Der größte Unterschied ist, dass repressive Maßnahmen und Hinrichtungen in den 1980er Jahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Sie wurden nicht unbedingt heimlich begangen - die Leute wussten von ihnen; die Familien wurden informiert - aber sie wurden heimlich durchgeführt, oft nachts in den Gefängnissen, und die Leichen wurden in Massengräbern entsorgt. Es gab zumindest den Versuch, das Töten geheim zu halten. Die aktuellen Unruhen fanden mitten auf der Straße statt. Das Regime misshandelte, verhaftete und tötete Menschen am helllichten Tag. Die Vertreter des Regimes waren wesentlich grausamer, als wäre ihnen alles egal. Es gab nicht einmal den Versuch, etwas zu verbergen. Ich bin kein Politikwissenschaftler, aber ich denke hier zeigt sich eine neue Generation - neue Jungs, neue Wachen -, die wesentlich grausamer und gleichgültiger ist gegenüber dem, was sie tun. Das war eine Art Schock.
Besonders traurig war, dass sich 2009 die Revolution zum dreißigsten Mal jährte. Kurz vor den Wahlen konnte man einen Hauch von Freiheit spüren. Es gab beispielsweise erstmalig Fernsehdebatten der einzelnen Kandidaten. Es fühlte sich an, als würde etwas geschehen. Endlich Reformen umgesetzt werden. Dann geschah diese unglaubliche Maßregelung, und es schien, als habe sich in dreißig Jahren nichts gebessert. Es war sogar noch schlimmer geworden.
Wie oft sind Sie in den Iran zurückgekehrt?
Sahar Delijani: Nachdem wir das Land verlassen hatten, als ich zwölf Jahre alt war, kam ich beinahe jedes Jahr mit meiner Mutter oder Tante zurück, um meinen Vater zu besuchen. Als er nach Amerika zog, haben wir damit aufgehört. Kurz vor den Wahlen 2009 nahm mein Ehemann dann an einer Konferenz in Teheran teil, und ich begleitete ihn. Für ihn war es das erste Mal, für mich das erste Mal seit acht Jahren. Ich erinnere mich, dass es unglaublich ruhig im Land war. Jetzt weiß ich, dass es die Ruhe vor dem Sturm war. 2011 kehrte ich noch einmal zurück, um an der Hochzeit eines Cousins teilzunehmen. Seitdem war ich nicht mehr dort.
Wie ist es für Sie, zurückzukommen?
Sahar Delijani: Es macht unglaublich viel Spaß. Ich bin nie zurückgekehrt und habe gedacht: „Sie haben meiner Familie das angetan." Ich hege keinen Groll. Deswegen ist es für mich jedes Mal wundervoll, dort zu sein. Das Land ist unglaublich dynamisch. Zweidrittel der Bevölkerung sind junge Leute in ungefähr meinem Alter. Es gibt so viel Energie, so viel Hoffnung, trotz allem.
Was für eine Haltung konnten Sie auf der Straße feststellen, als Sie 2011 zu Besuch waren?
Sahar Delijani: Ich hatte das Gefühl, die Menschen warteten nur auf die nächste Gelegenheit, rauszukommen. Obwohl es keine Proteste mehr gab, schien nichts abgeschlossen. Jeder machte einen Schritt zurück, versuchte zu analysieren und zu verstehen, was passiert war und überlegte seinen nächsten Zug. Nicht nur auf politischer Ebene - wie z. B. durch geheime Treffen im Untergrund -, sondern auch auf geistiger Ebene. Ich denke, die Menschen glauben nach wie vor daran, dass das Land reformiert werden muss und dass dies zur rechten Zeit geschehen wird. Es sollte auch erwähnt werden, dass die Dinge 2011 anders standen als heute. Die wirtschaftliche Krise des Landes - teils hervorgerufen durch Sanktionen, teils durch mangelnde Vorbereitung der Regierung - führt zu ernsthafter Unzufriedenheit auf den Straßen. 2011 hatte sie das Land noch nicht so hart getroffen.
Welche Haltung konnten Sie gegenüber Amerika und dem Westen feststellen?
Sahar Delijani: Was die iranische Regierung über Amerika sagt, unterscheidet sich sehr von dem, was die Leute fühlen. Das heißt nicht, dass Iraner Amerika automatisch lieben. Den Leuten ist bewusst, dass jede Chance auf eine iranische Demokratie mit dem durch die Amerikaner unterstützten Putsch von 1953, der dem Schah uneingeschränkte Macht verlieh, endete. Aber das ist nichts, über das die Leute jeden Abend bei Tisch reden. Und die Iraner lieben die amerikanische Kultur. Sie lieben amerikanische Kunst und Literatur. Genauso wie französische, englische oder italienische. Sie wollen viel mehr über die Kultur dieser Länder erfahren. Es gibt keinerlei Feindseligkeit.
Was sollen Leser aus Ihrem Buch lernen?
Sahar Delijani: Ich möchte, dass sie erkennen, dass Geschichte überall auf der Welt gleich verläuft. Wir alle wollen dasselbe. Jede Nation hatte ihre Kriege, ihre eigenen Kämpfe um Demokratie und ihr eigenes Ringen um Freiheit. Egal, ob diese Kämpfe in Syrien, Argentinien, Burma, dem Iran oder woanders stattfinden, sie sind alle ähnlich und vermitteln dieselbe Botschaft: dass die Menschen frei leben wollen, dass wir uns alle viel ähnlicher sind, als wir es uns je vorstellen können, dass wir alle dasselbe wollen und alle durch denselben Schmerz gehen müssen, um dorthin zu gelangen. Jeder, der sein Kind im Gefängnis zur Welt bringen und es anschließend abgeben muss, empfindet denselben Schmerz und dieselbe Trauer, egal aus welchem Land er kommt. Das ist die übergeordnete Botschaft: Wir sind alle gleich.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sahar Delijani
- 2014, 320 Seiten, Maße: 13,6 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übers. v. Juliane Gräbener-Müller
- Übersetzer: Juliane Gräbener-Müller
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426199734
- ISBN-13: 9783426199732
- Erscheinungsdatum: 03.03.2014
Rezension zu „Kinder des Jacarandabaums “
"Der Roman ist das Psychogramm einer unfreien Gesellschaft." Die Zeit, 03.07.2014
Kommentar zu "Kinder des Jacarandabaums"
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