Kindertotenlied
Hochsommerliche Hitze und heftige Gewitter belasten die Menschen im Süden Frankreichs, als ein brutaler Mord geschieht. Eine Professorin der Elite-Universität Marsac liegt ertrunken und grausam gefesselt in der Badewanne. In ihrem Rachen steckt...
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Produktinformationen zu „Kindertotenlied “
Hochsommerliche Hitze und heftige Gewitter belasten die Menschen im Süden Frankreichs, als ein brutaler Mord geschieht. Eine Professorin der Elite-Universität Marsac liegt ertrunken und grausam gefesselt in der Badewanne. In ihrem Rachen steckt eine Taschenlampe. Ohrenbetäubende Musik von Gustav Mahler schallt durch die Nacht. Kindertotenlieder. Beklemmung macht sich in Kommissar Martin Servaz breit. Ist Mahler doch der Lieblingskomponist des hochintelligenten und seit Monaten flüchtigen Serienmörders Julian Hirtmann. Hauptverdächtig ist jedoch ein Student: ausgerechnet der Sohn von Kommissar Servaz' Jugendliebe. Die Ermittlungen führen den Kommissar zu einem mysteriösen Studentenzirkel und zwingen ihn zu einer Reise in die eigene Vergangenheit. Amicus mihi Plato, sed magis amica veritas - Platon ist mir lieb, aber noch lieber ist mir die Wahrheit, lautet sein Motto. Doch die Wahrheit wird ihn in diesem Fall schmerzhaft an die Grenzen des Vorstellbaren bringen.
Lese-Probe zu „Kindertotenlied “
Kindertotenlied von Bernard MinierAus dem Französischen von Thorsten Schmidt
PROLOG
Im Grab
EIN EINZIGER STUMMER Schrei.
Ein Wehklagen. Innerlich schrie sie vor Verzweiflung, brüllte ihre Wut, ihren Schmerz, ihre Einsamkeit heraus ... alles, was ihr im Lauf der Monate immer mehr von ihrer Menschlichkeit geraubt hatte.
Sie flehte auch.
Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen ... Lasst mich hier raus, ich flehe euch an ...
Innerlich schrie und flehte und heulte sie. Aber nur innerlich: In Wirklichkeit drang kein Laut aus ihrer Kehle. Eines Morgens war sie praktisch stumm erwacht. Stumm ... Wo sie doch immer so gern gesprochen hatte, die Wörter ihr doch regelrecht zugeflogen waren, die Wörter und das Lachen ...
In der Dunkelheit setzte sie sich anders hin, um ihre angespannten Muskeln zu entlasten. Sie saß auf dem Boden aus gestampfter Erde und lehnte an einer Steinmauer. Manchmal legte sie sich auch flach hin. Oder sie kroch in eine Ecke zu ihrer schäbigen Matratze. Die meiste Zeit schlief sie, mit angezogenen Beinen. Wenn sie aufstand, streckte sie sich oder ging ein bisschen - vier Schritte auf und ab, nicht mehr, denn ihr Kerker maß zwei auf zwei Meter. Es war angenehm warm; deshalb, aber auch wegen der Geräusche - Brummen, Zischen, Rasseln - wusste sie längst, dass hinter der Tür ein Heizungsraum liegen musste. Sie trug keinerlei Kleidung, war nackt wie ein Neugeborenes. Seit Monaten, seit Jahren vielleicht. Ihre Notdurft verrichtete sie in einen Eimer, und zweimal täglich erhielt sie eine Mahlzeit - außer wenn er verreiste. Da konnte es vorkommen, dass sie mehrere Tage ohne Essen und Trinken auskommen musste, und Hunger und Durst und Todesangst setzten ihr dann zu.
... mehr
Die Tür hatte im unteren Bereich eine Essklappe und in der Mitte einen Spion, durch den er sie beobachtete. Selbst wenn diese beiden Öffnungen geschlossen waren, fielen durch schmale Spalte zwei dünne Lichtstreifen ins Innere, die die Dunkelheit ihres Verlieses etwas weniger undurchdringlich machten. Ihre Augen hatten sich längst an dieses Halbdunkel gewöhnt, sie erkannten Einzelheiten auf dem Boden und an den Wänden, die außer ihr niemand hätte sehen können.
Anfangs hatte sie ihr Gefängnis erkundet, gespannt auf jedes Geräusch gelauert. Sie hatte nach einer Möglichkeit zur Flucht gesucht, nach der kleinsten Schwachstelle in seinem System, der kleinsten Nachlässigkeit. Irgendwann hatte sie damit aufgehört. Es gab keine Schwachstelle, es gab keine Hoffnung. Sie wusste nicht mehr, wie viele Wochen, wie viele Monate seit ihrer Entführung vergangen waren. Seit ihrem Leben davor. Ungefähr einmal pro Woche befahl er ihr, den Arm durch die Essklappe zu strecken, und gab ihr eine Spritze. Es tat weh, weil er ungeschickt und das Mittel dickflüssig war. Gleich darauf verlor sie das Bewusstsein, und wenn sie zu sich kam, saß sie oben im Esszimmer, in dem schweren Sessel mit der hohen Lehne, die Beine und den Oberkörper an den Sitz gefesselt. Gewaschen, parfümiert und angezogen ... Sogar ihr Haar duftete nach Shampoo, selbst ihre normalerweise belegte Zunge und ihr Atem, der sonst bestimmt ekelerregend stank, roch angenehm frisch nach Zahnpasta und Menthol. Ein helles Feuer knisterte im Kamin, auf dem Tisch brannten Kerzen und spiegelten sich in dem dunklen Holz wie Sterne in einem nächtlichen See, und ein köstlicher Duft stieg von den Tellern auf. Immer erklang aus der Stereoanlage klassische Musik. Sobald sie diese Musik hörte, sobald sie das Funkeln der Flammen sah, die saubere Kleidung auf ihrer Haut spürte, begann sie zu speicheln wie ein Pawlowscher Hund. Zumal er sie immer 24 Stunden lang fasten ließ, bevor er sie betäubte und aus ihrem Kerker holte.
Die Schmerzen in ihrem Unterleib verrieten ihr indessen, dass er sich während ihres Schlafs an ihr vergangen hatte. Anfangs hatte dieser Gedanke sie entsetzt, und ihre ersten richtigen Mahlzeiten hatte sie in den Eimer erbrochen, als sie im Keller erwachte. Mittlerweile konnte ihr das nichts mehr anhaben. Manchmal sagte er nichts, dann wieder hielt er endlose Monologe, aber sie hörte ihm nur selten zu: Ihr Gehirn war es nicht mehr gewohnt, einem Gespräch zu folgen. Wie Leitmotive kehrten aber die Wörter Musik, Symphonie, Orchester in seinen Reden wieder - und ebenso ein Name: Mahler.
Wie lange schon war sie eingesperrt? In ihrem Grab gab es weder Tag noch Nacht. Denn das war es: ein Grab. Aus dem sie nicht mehr lebend herauskommen würde, das wusste sie in ihrem Innersten. Seit langem hatte sie jede Hoffnung aufgegeben. Sie erinnerte sich an ihr wunderbares, einfaches Leben in Freiheit. An das letzte Mal, als sie gelacht, Freunde eingeladen, ihre Eltern gesehen hatte, an den Geruch sommerlicher Grillpartys, die Gartenbäume im Abendlicht und die Augen ihres Sohnes bei Sonnenuntergang. Gesichter, Lachen, Spiele ... Sie sah sich mit Männern im Bett, besonders mit einem ... Dieses Leben, das ihr so banal vorgekommen und das doch in jedem Augenblick ein Wunder gewesen war. Warum hatte sie es nicht mehr genossen? Aber ihre Reue kam zu spät. Selbst die Momente von Kummer und Leid waren nichts im Vergleich zu dieser Hölle. Zu diesem lebendigen Begrabensein, jenseits der Welt. Sie ahnte, dass nur ein paar Meter Stein, Beton und Erde sie vom wirklichen Leben trennten, aber gleichzeitig hätten sie Hunderte von Türen, kilometerlange Gänge und Eisengitter nicht radikaler davon ausschließen können.
Dabei hatte es einen Tag gegeben, an dem das Leben und die Welt ganz nah, zum Greifen nah gewesen waren. Aus einem unbekannten Grund hatte er sie Hals über Kopf an einen anderen Ort bringen müssen. In aller Eile hatte er sie angezogen, ihr mit Plastikschellen die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihr einen Jutebeutel über den Kopf gestülpt. Anschließend hatte er sie eine Treppe hinaufgeführt, und dann, plötzlich, hatte sie im Freien gestanden. Im Freien ... Der Schock hätte sie beinahe um den Verstand gebracht.
Als sie die warme Sonne auf ihren nackten Armen und Schultern spürte, durch den Stoff hindurch das Licht schimmern sah, den Geruch von Erde und noch feuchten Feldern, von blühenden Hecken einatmete und das Gezwitscher von Vögeln bei Tagesanbruch, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. So heftig hatte sie geweint, dass sie Rotz und Wasser geheult und damit die Stofftasche völlig durchtränkt hatte.
Dann hatte er sie auf einen Metallboden gelegt, und sie hatte durch die Jute Abgase und Benzin gerochen. Obwohl sie keinen Ton hätte herausbringen können, hatte er sie vorsichtshalber mit Watte geknebelt und ihren Mund mit Heftpflaster zugeklebt. Auch Handgelenke und Knöchel hatte er ihr zusammengebunden, damit sie nicht mit den Füßen gegen das Fahrzeuggehäuse treten konnte. Sie hatte den vibrierenden Motor gespürt, und der Lieferwagen war über holprigen Untergrund gerumpelt, ehe er in eine Straße einbog. Als er plötzlich Gas gab und sie hörte, wie sie von zahlreichen Fahrzeugen überholt wurden, wusste sie, dass sie auf einer Autobahn waren.
Das Schlimmste war die Mautstelle gewesen. Ringsherum hatte sie Stimmen, Musik und Motorgeräusche gehört, ganz nah ... gleich hinter der Fahrzeugwand. Dutzende von Menschen. Frauen, Männer, Kinder ... Nur wenige Zentimeter neben ihr! Sie hörte sie! ... Eine Lawine von Gefühlen überschwemmte sie. Die Leute lachten, plauderten, kamen und gingen, lebendig und frei. Sie ahnten nichts von ihrer Gegenwart, ganz in ihrer Nähe, von ihrem langsamen Sterben, ihrem Sklavendasein ... Wieder begann sie zu weinen. Vor Wut und Verzweiflung. So heftig hatte sie den Kopf geschüttelt, dass er gegen die Wand schlug, und aus ihrer Nase war das Blut auf den verdreckten Boden getropft.
Und dann hatte sie ihren Peiniger »danke« sagen hören, und der Lieferwagen war wieder losgefahren. Sie hätte schreien wollen. Am Tag ihres Umzugs war das Wetter schön, sie war sich so gut wie sicher, dass die Pflanzen blühten. Frühling ... Wie viele Jahreszeiten würde sie noch erleben, ehe er ihrer überdrüssig war, ehe sie wahnsinnig wurde, ehe er sie endlich umbrachte ... Sie war sich plötzlich sicher, dass ihre Freunde, ihre Verwandten und die Polizei sie bereits für tot hielten. Ein einziges Wesen auf der Welt wusste, dass sie noch lebte - und das war ein dämonisches Wesen, eine Schlange, ein Incubus. Das Tageslicht würde sie nie mehr wiedersehen.
FREITAG
1
Puppen
Es war da, im schattigen Garten,
Der Schatten des kaltblütig lauernden Mörders,
Schatten auf Schatten auf dem Gras, weniger grün als
Rot vom abendlichen Blut.
In den Bäumen forderte die Syrinx einer Nachtigall
Marsyas und Apollon heraus.
Im Hintergrund malte eine Laube aus Nestern
Und Mistelkugeln
Eine ländliche Szenerie ...
OLIVER WINSHAW HÖRTE auf zu schreiben und zwinkerte. Irgendetwas am Rand seines Gesichtsfeldes hatte seine Aufmerksamkeit erregt - genauer gesagt: abgelenkt. Am Fenster. Ein Blitz draußen. Wie das Blitzlicht eines Fotoapparats.
Das Gewitter brach über Marsac herein.
Wie jeden Abend saß er auch heute an seinem Schreibtisch. Sein Arbeitszimmer lag im ersten Stock des Hauses, das seine Frau und er vor dreißig Jahren im Südwesten Frankreichs gekauft hatten: ein mit Eiche getäfelter Raum, dessen Wände fast vollständig mit Büchern bedeckt waren. Hauptsächlich britische und amerikanische Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts: Coleridge, Tennyson, Robert Burns, Swinburne, Dylan Thomas, Larkin, E. E. Cummings, Pound ...
Er wusste, dass er seinen Göttern niemals würde das Wasser reichen können, aber das machte ihm nichts aus.
Niemals hatte er seine Gedichte irgendjemandem zu lesen gegeben. Der Herbst seines Lebens lag mittlerweile hinter ihm, und der Winter hatte begonnen. Bald würde er im Garten ein großes Feuer machen und die 150 schwarz eingeschlagenen Hefte hineinwerfen. Insgesamt mehr als 20000 Gedichte. 57 Jahre lang jeden Tag eines. Vielleicht das am besten gehütete Geheimnis seines Lebens. Selbst seiner zweiten Frau hatte er sie nicht gezeigt.
Nach all diesen Jahren fragte er sich noch immer, woraus er seine Inspiration geschöpft hatte. Wenn er auf sein Leben zurückblickte, sah er nur eine lange Folge von Tagen, die immer mit einem Gedicht ausklangen, das er am Abend in der Stille seines Arbeitszimmers niederschrieb. Alle waren datiert. Er konnte das heraussuchen, das er am Geburtstag seines Sohnes geschrieben hatte, das vom Todestag seiner ersten Frau, das von dem Tag, an dem er von England nach Frankreich gezogen war ... Er ging nie zu Bett, bevor das Gedicht fertig war - manchmal erst um 1 oder 2 Uhr morgens, selbst als er noch berufstätig war. Er hatte nie viel Schlaf gebraucht, und er hatte keinen körperlich anstrengenden Beruf: Englischprofessor an der Universität Marsac.
Oliver Winshaw wurde bald neunzig.
Er war ein umgänglicher und eleganter alter Herr, den alle kannten. Als er sich in diesem malerischen Universitätsstädtchen niedergelassen hatte, wurde ihm gleich der Spitzname »der Engländer« verliehen. Das war vor der Zeit, als seine Landsleute wie ein Heuschreckenschwarm in diese Gegend einfielen, um alles zu restaurieren, was alte Gemäuer besaß, so dass dieser Spitzname etwas verwässert wurde. Heute war er nur noch einer unter Hunderten von Engländern in diesem Departement. Aber die Wirtschaftskrise veranlasste einen seiner Landsleute nach dem anderen dazu, in Regionen weiterzuziehen, die finanziell gesehen attraktiver waren: Kroatien, Andalusien, und Oliver fragte sich, ob er es wohl noch erleben würde, wieder der einzige Engländer von Marsac zu sein.
Durch den Seerosenteich
gleitet der Schatten ohne Gesicht,
Die lange, schmale und düstre Gestalt,
eine scharfe Klinge im Wasser.
Wieder hielt er inne.
Musik ... Durch das Prasseln des Regens und die zwischen den Rändern des Himmels pendelnden Echos des Donners glaubte er Musik zu hören. Sie konnte nicht von Christine stammen, denn sie schlief längst. Ja, sie kam von draußen, und es war klassische Musik ...
Oliver verzog missbilligend das Gesicht. Die Lautstärke musste voll aufgedreht sein, damit er sie bei Gewitter und geschlossenem Fenster bis in sein Arbeitszimmer hören konnte. Vergeblich versuchte er sich auf sein Gedicht zu konzentrieren - diese verdammte Musik!
Verärgert blickte er erneut zum Fenster. Das zuckende Licht der Blitze fiel durch die Jalousien ins Innere. Durch die Lamellen sah er die Wasserschnüre des Regens. Das Gewitter schien seinen ganzen Grimm an der kleinen Stadt auszulassen, spann sie in einen flüssigen Kokon ein und schnitt sie vom Rest der Welt ab.
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
Er ging zum Fenster und spreizte die Lamellen der Jalousie, um auf die Straße zu schauen. Aus der Ablaufrinne in der Mitte schwappte das Wasser auf die Pflastersteine. Der nächtliche Himmel über den Dächern war durchzuckt von aufflackernden Lichtfäden.
Alle Fenster im Haus gegenüber waren erleuchtet. Wurde dort etwa ein Fest gefeiert? In dem Reihenhaus mit seitlichem Garten, der durch eine hohe Mauer von der Straße getrennt und vor Blicken geschützt war, wohnte eine alleinstehende Frau. Sie war Lehrerin in der Khâgne von Marsac, der Klasse, in der Abiturienten auf die Aufnahmeprüfung bei einer der geisteswissenschaftlichen Elitehochschulen des Landes vorbereitet wurden - und es war die angesehenste Khâgne in der gesamten Region.
Eine schöne Frau Mitte dreißig, im besten Alter. Schlank, brünett, eine elegante Erscheinung. Sie hätte Oliver gefallen, wenn er vierzig Jahre jünger gewesen wäre. Es kam vor, dass er sie heimlich beobachtete, wenn sie sich im Sommer in ihrem Liegestuhl sonnte, vor allen Blicken sicher bis auf seinen, denn der Garten lag direkt unter dem Fenster seines Arbeitszimmers, jenseits des Gässchens und der Mauer. Irgendetwas stimmte nicht. Die vier Stockwerke des Hauses waren erleuchtet. Die Eingangstür, die direkt auf die Straße ging, stand weit offen, und der Widerschein einer kleinen Laterne glänzte auf der regennassen Schwelle.
Aber hinter den Fenstern war niemand zu sehen.
Die seitlichen Fenstertüren vom Wohnzimmer in den Garten waren sperrangelweit geöffnet; sie schlugen im Wind wie die Schwingtüren eines Wildwest-Saloons, und der schräg fallende Regen musste auch im Haus auf den Boden spritzen. Oliver sah, wie die Tropfen auf den Terrassenplatten hüpften und die Grashalme des Rasens niederdrückten.
Bestimmt kam die Musik von dort ... Er spürte, wie sein Puls raste. Sein Blick glitt langsam zum Schwimmbecken. Elf auf sieben Meter. Sandfarbene Fliesen ringsherum. Ein Sprungbrett. Er empfand eine düstere Erregung, wie sie einen überkommt, wenn die tägliche Routine durch etwas Ungewöhnliches unterbrochen wird - und in Olivers Alter bestand das Leben nur noch aus Routine. Sein Blick erkundete den Garten rund um das Becken. Im Hintergrund begann der Wald von Marsac, ein 2700 Hektar großes Areal mit Wanderwegen. Auf dieser Seite gab es keine Mauer, nicht einmal einen Zaun, nur eine undurchdringliche grüne Wand. Das Poolhaus, ein kleiner massiver Bau, der jünger war als der Rest, stand am anderen Ende des Schwimmbeckens auf der rechten Seite.
Jetzt musterte er das Becken. Im peitschenden Regen kräuselte sich die Oberfläche. Oliver kniff die Augen zusammen. Zuerst fragte er sich, was er da sah. Dann erkannte er, dass mehrere Puppen im Wasser schaukelten. Ja, genau das sah er ... Obwohl er wusste, dass es nur Puppen waren, durchrieselte ihn ein unerklärlicher Schauder. Sie trieben nebeneinander, und ihre blassen Kleider schwebten an der Oberfläche des Beckens, die von den Regenpfeilen wie durchsiebt wurde. Oliver und seine Frau waren einmal von dieser Nachbarin zum Kaffee eingeladen worden. Die französische Ehefrau von Winshaw, eine ehemalige Psychologin, hatte eine Erklärung für diese Fülle von Puppen im Haus einer alleinstehenden Frau über dreißig. Auf dem Heimweg hatte sie ihrem Mann gesagt, ihre Nachbarin sei wahrscheinlich eine »Kindfrau«, und Oliver hatte sie gefragt, was sie damit meine. Daraufhin hatte sie Worte benutzt wie »Unreife«, »Flucht vor Verantwortung«, »interessiert sich nur für ihr persönliches Vergnügen« und »hat ein psychisches Trauma erlitten«, und Oliver war kleinlaut geworden, denn ihm waren von jeher Dichter lieber gewesen als Psychologen. Aber, verdammt noch mal, was machten diese Puppen im Swimmingpool?
Ich sollte die Gendarmerie verständigen, dachte er. Aber was soll ich ihnen sagen? Dass Puppen in einem Schwimmbecken treiben? Da überfiel ihn ein anderer Gedanke. Das war doch nicht normal ... Das ganze Haus hell erleuchtet, niemand zu sehen und diese Puppen ... Wo war eigentlich die Hausherrin? Oliver Winshaw drehte den Riegel und öffnete das Fenster. Sofort schwappte eine Wasserwand ins Zimmer herein. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, er blinzelte, während er den Blick auf das seltsame Treibgut aus reglos starrenden Plastikgesichtern heftete.
Jetzt hörte er auch die Musik ganz deutlich. Er hatte sie schon gehört, auch wenn es nicht sein Lieblingskomponist Mozart war.
Was zum Teufel sollte dieser Zirkus?
Ein Blitz durchschnitt die Nacht, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Krachen eines Donnerschlags. Der Lärm ließ die Scheiben erzittern. Wie ein jäh aufleuchtender Scheinwerfer enthüllte der Blitz eine menschliche Gestalt. Am Beckenrand sitzend, die Hosenbeine ins Wasser eingetaucht, hatte Winshaw sie zunächst nicht bemerkt, da der Schatten des großen Baumes in der Mitte des Gartens sie verschluckte. Ein junger Mann ... Er beugte sich über die im Wasser treibenden Puppen und schien sie zu betrachten. Obwohl Oliver etwa fünfzehn Meter weit weg war, erahnte er seinen verlorenen, verstörten Blick und den aufgerissenen Mund.
Oliver Winshaws Brust war nur noch ein Resonanzkörper, in dem sein Herz hämmerte wie ein rasender Schlagzeuger. Was war hier los? Er stürzte zum Telefon und riss den Hörer herunter.
2
Raymond
ANELKA IST EINE Null«, sagte Pujol. Vincent Espérandieu sah seinen Kollegen an und fragte sich, ob dessen Urteil auf die schwache Leistung des Stürmers oder auf seine Herkunft und die Tatsache zurückzuführen war, dass er aus einer Hochhaussiedlung in der Pariser Banlieue stammte. Pujol mochte keine Hochhaussiedlungen, noch weniger ihre Bewohner.
Trotzdem musste Espérandieu dieses eine Mal zugeben, dass Pujol recht hatte: Anelka war eine Niete. Null. Fertig. Wie übrigens auch der ganze Rest der Mannschaft. Eine einzige Qual, dieses erste Spiel. Nur Martin schien es egal zu sein. Espérandieu sah ihn an und lächelte: Bestimmt kannte sein Chef nicht einmal den Namen des Trainers, den ganz Frankreich seit Monaten ausbuhte und aufs übelste beschimpfte.
»Domenech ist eine verdammte Flasche«, sagte Pujol in diesem Moment, als hätte er Vincents Gedanken gelesen. »2006 sind wir nur deshalb ins Finale eingezogen, weil Zidane und die anderen in der Mannschaft die Führung übernommen hatten. «
Da niemand diese Tatsache bestritt, schlängelte sich der Polizist durch die Menge, um noch ein paar Bier zu holen. Die Bar war rammelvoll. 11. Juni 2010. Tag der Eröffnungsfeier und der ersten Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Darunter auch dasjenige, das gerade über den Bildschirm flimmerte: Uruguay - Frankreich, 0:0 zur Halbzeit. Wieder beobachtete Vincent seinen Chef. Er starrte noch immer auf den Bildschirm. Mit leerem Blick. In Wirklichkeit sah sich Commandant Martin Servaz das Spiel gar nicht an, er tat nur so - und sein Stellvertreter wusste das.
Aber Servaz sah sich nicht nur das Spiel nicht an, er fragte sich auch, was er eigentlich hier verloren hatte.
Er hatte seinem Ermittlungsteam eine Freude machen wollen, indem er mitging. Schon seit Wochen drehten sich sämtliche Gespräche auf den Fluren der Kriminalpolizeiinspektion um die WM. Um die Form der Spieler, desaströse Freundschaftsspiele, unter anderem eine demütigende Niederlage gegen China, die vom Trainer aufgestellten Spieler, das viel zu teure Hotel. Servaz fragte sich schließlich, ob ein Dritter Weltkrieg sie stärker beschäftigt hätte. Vermutlich nicht. Er hoffte, dass die Gauner es genauso hielten und die Zahl der Verbrechen von selbst zurückging, ohne dass irgendjemand intervenieren musste.
Er griff nach dem frischen Glas Bier, das Pujol vor ihn hingestellt hatte, und führte es an die Lippen. Die zweite Halbzeit hatte begonnen. Die Männchen in Blau bewegten sich genauso plan- und ziellos wie zuvor; sie liefen von einem Ende des Spielfelds zum anderen, ohne dass Servaz in diesen Spielzügen die geringste Logik erkennen konnte. Für die Stürmer war er kein Experte, aber sie machten auf ihn einen besonders ungeschickten Eindruck. Irgendwo hatte er gelesen, der Französische Fußballbund müsse für die Anreise und die Unterbringung der Mannschaft über eine Million Dollar berappen, und er hätte gern gewusst, woher dieses Geld kam und ob auch er seinen Obolus würde beitragen müssen. Aber diese Frage schien seine Nachbarn, denen sonst so viel daran lag, dass der Staat mit ihren Steuergeldern verantwortlich umging, weniger zu beschäfitgen als die chronische Erfolglosigkeit der Mannschaft. Servaz versuchte sich doch auf das Spiel zu konzentrieren. Aus dem Fernseher ertönte ununterbrochen ein unangenehmes Brummen, wie von einem riesigen Mückenschwarm. Er hatte sich sagen lassen, das seien die Tausenden von Vuvuzelas der im Stadion versammelten südafrikanischen Fans. Wie konnten sie nur einen solchen Krach machen und vor allem aushalten? Selbst hier war dieses Gedröhne noch vollkommen unerträglich, obwohl es von Mikrophonen und Filtern gedämpft wurde.
Plötzlich flackerten in der Bar die Lichter, und unter lauten Unmutsschreien der Zuschauer verzerrte sich das Bild auf dem Bildschirm und verschwand, um sogleich wieder zu erscheinen. Das Gewitter ... Es kreiste über Toulouse wie ein Schwarm Raben. Ein verstohlenes Lächeln zeigte sich auf Servaz' Gesicht, als er sich vorstellte, dass alle Zuschauer vor ihren Bildschirmen jetzt im Dunkeln säßen und das Spiel nicht weiterverfolgen könnten.
Ohne es zu wollen, wanderten seine zerstreuten Gedanken in eine vertraute, aber gefährliche Zone. Seit mittlerweile 18 Monaten hatte Julian Hirtmann kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben ... Anderthalb Jahre, aber kein Tag war vergangen, an dem der Polizist nicht an ihn gedacht hätte. Der Schweizer war im Winter 2008/2009 aus dem Institut Wargnier entflohen, nur wenige Tage nachdem ihn Servaz in seiner Zelle besucht hatte. Bei dieser Begegnung hatte er verblüfft zur Kenntnis genommen, dass der ehemalige Genfer Staatsanwalt und er eine gemeinsame Passion hatten: die Musik von Gustav Mahler. Und dann war der eine ausgebrochen, und der andere von einer Lawine verschüttet worden.
Achtzehn Monate, dachte er. 540 Tage und ebenso viele Nächte, in denen er unzählige Male denselben Alptraum gehabt hatte. Die Lawine ... Er war in einem Sarg aus Schnee und Eis begraben, die Atemluft wurde bedrohlich knapp und Arme und Beine durch die Kälte taub und starr, als ihn endlich eine Sonde berührte und jemand ungestüm den Schnee über ihm entfernte. Grelles Licht, das ihn blendete, frische Luft, die er mit offenem Mund tief einatmete, und ein Gesicht, eingerahmt in der Öffnung. Das Gesicht von Hirtmann ... Der Schweizer lachte laut auf und sagte: »Adieu, Martin« - und schüttete das Loch wieder zu ...
Es gab einige Variationen, aber der Traum endete immer mehr oder weniger genauso.
In Wirklichkeit hatte er die Lawine überlebt. Aber in seinen Alpträumen starb er. Und in gewisser Weise war in jener Nacht tatsächlich ein Teil von ihm gestorben.
Was machte Hirtmann jetzt gerade? Wo war er? Servaz sah noch einmal erschauernd diese unvorstellbar majestätische Schneelandschaft vor sich ... die schwindelerregend hohen Gipfel hoch über einem abgelegenen Tal ... das Gebäude mit den mächtigen Mauern ... klirrende Riegel in menschenleeren Gängen ... Und dann die Tür, hinter der die vertraute Musik erklang: Gustav Mahler, Servaz' Lieblingskomponist - aber auch der von Julian Hirtmann.
»Höchste Zeit«, sagte Pujol neben ihm.
Servaz warf einen zerstreuten Blick auf den Bildschirm. Ein Spieler verließ das Feld, ein anderer löste ihn ab. Servaz glaubte zu verstehen, dass es sich um besagten Anelka handelte. Er sah in die linke obere Ecke des Bildschirms: 71. Minute - und noch immer 0:0. Daher wahrscheinlich die Anspannung in der Bar. Ein korpulenter Kerl neben ihm, der um die 130 Kilo wiegen mochte und unter seinem roten Bart schweißnass war, klopfte ihm auf die Schulter, als wären sie alte Freunde, und blies ihm seine Alkoholfahne ins Gesicht:
»Wenn ich Trainer wäre, würde ich ihnen in den Hintern treten, damit sich diese Wichser mal ein bisschen bewegen. Nicht mal bei einer WM wollen sie laufen.«
Servaz fragte sich, ob sich sein Nachbar selbst wohl viel bewegte - wenn er sich nicht gerade hierherschleppte oder im Supermarkt an der Ecke Sixpacks kaufte.
Er fragte sich, weshalb er keine Sportsendungen mochte. Etwa weil seine Ex-Frau, Alexandra, im Unterschied zu ihm kein Spiel ihrer Lieblingsmannschaft versäumte? Sie waren sieben Jahre lang zusammen gewesen, obwohl Servaz vom ersten Tag an überzeugt gewesen war, dass ihre Beziehung nicht lange Bestand haben würde. Trotzdem hatten sie geheiratet und sieben Jahre durchgehalten. Er wusste noch immer nicht, wieso sie so lange gebraucht hatten, um das Offensichtliche zuzugeben: Sie passten so schlecht zusammen wie ein Taliban und ein Flittchen. Was war davon heute noch übrig? Außer einer achtzehnjährigen Tochter, auf die er allerdings sehr stolz war. Oh ja, und wie. Auch wenn er sich immer noch nicht an ihren Look, ihre Piercings und ihre Frisuren gewöhnt hatte, schlug sie ihm nach, nicht ihrer Mutter. Sie war eine Leseratte wie er, und wie einst er besuchte auch sie die renommierteste Khâgne in der Region. Marsac. Hier versammelten sich die besten Schüler aus einem Umkreis von hundert Kilometern - manche kamen sogar aus Montpellier oder Bordeaux.
Wenn er genauer darüber nachdachte, musste er zugeben, dass ihn mit seinen 41 Jahren nur zwei Dinge im Leben wirklich interessierten: sein Beruf und seine Tochter. Und Bücher ... Aber mit den Büchern war es etwas anderes, denn sie interessierten ihn nicht nur, sie waren sein Leben.
Genügte das? Was für ein Leben führten die anderen? Er betrachtete den Boden seines Bierglases, wo nur noch Schaum- spuren übrig waren, und er sagte sich, dass er für heute genug gebechert hatte. Er spürte plötzlich das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen, und schlängelte sich durch die Menge zur Toilette. Sie war so verdreckt, dass es ihn ekelte. Ein glatzköpfiger Mann wandte ihm den Rücken zu, und Servaz hörte, wie sein Strahl gegen das Email des Pissoirs traf.
»Was für ein Haufen Nullen«, sagte der Mann, als sich Servaz neben ihm den Hosenschlitz aufknöpfte. »Eine Schande, was die da aufführen.«
Er zog seinen Hosenschlitz zu und ging hinaus, ohne sich die Hände zu waschen. Servaz seifte die seinen ein, spülte sie lange und trocknete sie unter dem Gebläse. Bevor er die Klinke anfasste, die der Mann gerade berührt hatte, zog er sich den Ärmel über die Hand und verließ das WC.
Ein kurzer Blick auf den Bildschirm verriet ihm, dass sich in seiner Abwesenheit nichts getan hatte, obwohl sich das Spiel seinem Ende zuneigte. Die Zuschauer waren nur noch ein vor Frust brodelnder Vulkan. Wenn das so weiterginge, überlegte Servaz, würde es noch Krawalle geben.
Die Leute um ihn herum brüllten Worte wie »Los!«, »Jetzt gib schon den Ball ab, Mann, gib ihn ab!«, »Nach rechts, nach reeeeeechts!« - ein Anzeichen dafür, dass sich endlich etwas tat, als er in seiner Tasche ein vertrautes Vibrieren spürte. Er zog sein Handy heraus. Kein Smartphone, sondern ein gutes altes Nokia-Standardgerät. Das Display leuchtete, ein Anzeichen, dass sich auch hier etwas tat. Der Anruf war bereits auf seine Mailbox umgeleitet worden.
Servaz rief die Servicenummer an.
Erstarrte.
Die Stimme im Telefon ... Es dauerte eine halbe Sekunde, ehe er sie erkannte. Eine halbe Sekunde, die wie eine Ewigkeit war. Raum und Zeit, die sich zusammenzogen, als ob die zwanzig Jahre, seit er sie zum letzten Mal gehört hatte, mit zwei Herzschlägen zu überbrücken wären. Nach all dieser Zeit wurde ihm noch immer ganz mulmig, als er sie hörte.
Alles begann sich um ihn zu drehen. Die Rufe, die Anfeuerungen, das Dröhnen der Vuvuzelas verhallten, verloren sich im Nebel. Die Gegenwart schrumpfte zusammen. Die Stimme sagte:
»Martin? Ich bin's, Marianne ... Ruf mich bitte an. Es ist sehr wichtig. Bitte, bitte ruf mich an, sobald du diese Nachricht abgehört hast ...«
Eine Stimme aus der Vergangenheit - und eine Stimme voller Angst.
Samira Cheung warf die Lederjacke aufs Bett und betrachtete den Fettwanst, der rauchend an den Kopfkissen lehnte.
»Verzieh dich, ich muss zur Arbeit.«
Der Mann, der in ihrem Bett saß, war gut dreißig Jahre älter als sie; er hatte eine ordentliche Wampe und weiße Haare auf der Brust, aber das war Samira egal. Er besorgte es ihr gut - und das war alles, was für sie zählte. Sie selbst war auch keine Schönheit. Seit dem Gymnasium wusste sie, dass die meisten Männer sie hässlich fanden - oder, genauer gesagt, ihr Gesicht für hässlich hielten, während sie von ihrem Körper beinahe unwiderstehlich angezogen wurden. In den seltsam zwiespältigen Empfindungen, die sie Männern einflößte, neigte sich die Waagschale bald zur einen, bald zur anderen Seite. Samira Cheung glich das aus, indem sie mit möglichst vielen Männern ins Bett ging; sie wusste schon länger, dass die bombigsten Typen nicht unbedingt die besten Liebhaber waren, aber genau nach denen suchte sie - nicht nach dem Märchenprinzen.
Das große Bett knarrte, als ihr dickbäuchiger Liebhaber die Laken zurückschlug, die Füße auf den Boden stellte und sich nach seinen Kleidungsstücken reckte, die ordentlich auf einem Stuhl in der Nähe eines Standspiegels lagen, in dem sich ein Teil des Dachbodens spiegelte. Spinnweben, Staub, an einem Balken ein Barocklüster, in dem nur jede zweite Glühbirne brannte, Bastteppiche, eine spanische Kommode und ein Schrank aus einem Trödelladen nahmen den Rest des Zimmers ein. Samira streifte sich eine Hose und ein T-Shirt über und verschwand durch eine Klappe im Fußboden.
»Schnaps oder Kaffee?«, rief sie von unten.
Sie schlüpfte in die rot gestrichene kleine Küche hinein, die durch ihre Enge an eine Schiffskombüse erinnerte, und schaltete die Portionskaffeemaschine an. Abgesehen von der nackten Glühbirne über ihr war das große Haus in Dunkelheit gehüllt. Und zwar aus gutem Grund. Samira hatte diese Ruine, zwanzig Kilometer von Toulouse entfernt, im Vorjahr gekauft. Sie renovierte sie nach und nach (sie wählte ihre gelegentlichen Liebhaber aus verschiedenen Berufsgruppen, darunter waren Elektriker, Installateure, Maurer, Maler, Dachdecker ...) und nutzte gegenwärtig nur ein Fünftel der Wohnfläche.
Alle Zimmer im Erdgeschoss standen leer und waren mit Kunststoffplanen verhängt, an den Wänden standen Gerüste, Farbeimer mit eingetrockneten Schlieren und Werkzeuge - im Obergeschoss sah es genauso aus, und so hatte sie bis auf weiteres ihr Schlafzimmer auf dem Dachboden eingerichtet.
Auf die rote Wand hatte sie mit Hilfe einer Schablone in großen Silberlettern gepinselt: »Baustelle, Betreten verboten«. Auf ihrem T-Shirt prangte die Devise: »I LOVE ME«. Ihre kleinen Brüste schimmerten hindurch. Der Mann stieg mit schweren Schritten die Sprossen der Leiter hinunter, die steil wie auf einem Schiff war. Sie hielt ihm einen dampfenden Espresso hin und biss in einen angeschnittenen, braun angelaufenen Apfel, den sie von der Arbeitsplatte nahm. Dann verschwand sie im Bad. Fünf Minuten später ging sie in den »begehbaren Kleiderschrank «. All ihre Klamotten hingen vorübergehend unter durchsichtigen dünnen Schutzhüllen an langen metallischen Kleiderständern; ihre Dessous und T-Shirts waren in Schubladenschränken aus Plastik verstaut, und ihre Dutzenden von Stiefelpaaren standen nebeneinander an der Wand.
Sie schlüpfte in eine Jeans mit Löchern an den Knien, Stiefeletten mit flachen Absätzen, ein frisches T-Shirt und einen mit Nägeln beschlagenen Gürtel. Dann kam das Holster mit ihrer Dienstwaffe. Und ein Armeeparka als Regenschutz.
»Du bist noch da?«, sagte sie, als sie in die Küche zurückkam.
Der beleibte Mann in den Fünfzigern wischte sich die Marmelade von den Lippen. Er zog Samira an sich und küsste sie, während er ihr seine fleischigen Hände auf den Hintern legte. Sie ließ es einen Moment geschehen, ehe sie sich aus seiner Umklammerung befreite.
»Wann kümmerst du dich um meine Dusche?«
»Dieses Wochenende geht's nicht. Meine Frau kommt von ihrer Schwester zurück.«
»Finde einen Tag. Noch diese Woche.«
»Mein Terminkalender ist voll«, protestierte er.
»Keine Dusche, kein Fick«, drohte sie.
Der Mann runzelte die Stirn.
»Vielleicht Mittwochnachmittag. Mal sehen.«
»Die Schlüssel liegen da, wo sie immer sind.«
Sie wollte gerade noch etwas hinzufügen, als irgendwo eine Mischung aus E-Gitarren-Riffs und Horrorfilmschreien ertönte. Die ersten Takte eines Stücks von Agoraphobic Nosebleed, einer amerikanischen Grindcore-Band. Als sie ihr Handy schließlich fand, war das laute Gebrüll bereits verstummt. Sie betrachtete die angezeigte Nummer: Vincent. Sie wollte ihn gerade zurückrufen, als das Handy vibrierte. Eine SMS:
Ruf mich an.
Das tat sie umgehend.
»Was ist los?«
»Wo bist du?«, fragte er, ohne zu antworten.
»Zu Hause, ich wollte gerade aufbrechen. Ich hab heute Abend Bereitschaftsdienst.« An einem solchen Abend hatten sich natürlich alle Männer in der Mordkommission nach Möglichkeit krankgemeldet. »Und du, schaust du nicht das Spiel an?«
»Wir haben einen Anruf bekommen ...«
Ein Notfall. Bestimmt der diensthabende Staatsanwalt. Pech für die Fußballfans. Auch im Justizpalast liefen sicher die Fernseher heiß. Sie selbst hatte für den Abend nur mit Mühe einen Liebhaber auftreiben können - ganz offensichtlich hatte heute der Fußball dem Sex den Rang abgelaufen.
»Der Staatsanwalt hat angerufen?«, fragte sie. »Worum geht's?«
»Nein, nicht der Staatsanwalt.«
»Ach nein?«
In Espérandieus Stimme lag eine ungewohnte Anspannung.
»Ich erklär's dir. Du brauchst nicht ins Präsidium zu fahren. Steig ins Auto und komm direkt zu uns. Hast du was zu schreiben?«
Ohne ihren Gast, der neben ihr allmählich ungeduldig wurde, weiter zu beachten, zog sie eine Küchenschublade auf und fischte einen Kugelschreiber und ein Post-it heraus.
»Warte ... Ja, bin so weit.«
»Ich geb dir die Adresse durch, und du stößt dort zu uns.«
»Ich höre.«
Sie zog eine Braue hoch, als sie die Adresse notierte.
»Marsac? Das ist ja echt jwd. ... Wer hat euch angerufen, Vincent? «
»Ich werd's dir erklären. Wir sind schon unterwegs. Komm so schnell wie möglich.«
Hinter dem Fenster leuchtete ein Blitz auf.
»Wir? Wer ist wir?«
»Martin und ich.«
»Alles klar. Ich beeil mich.«
Sie legte auf. Irgendetwas stimmte nicht.
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2014 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Die Tür hatte im unteren Bereich eine Essklappe und in der Mitte einen Spion, durch den er sie beobachtete. Selbst wenn diese beiden Öffnungen geschlossen waren, fielen durch schmale Spalte zwei dünne Lichtstreifen ins Innere, die die Dunkelheit ihres Verlieses etwas weniger undurchdringlich machten. Ihre Augen hatten sich längst an dieses Halbdunkel gewöhnt, sie erkannten Einzelheiten auf dem Boden und an den Wänden, die außer ihr niemand hätte sehen können.
Anfangs hatte sie ihr Gefängnis erkundet, gespannt auf jedes Geräusch gelauert. Sie hatte nach einer Möglichkeit zur Flucht gesucht, nach der kleinsten Schwachstelle in seinem System, der kleinsten Nachlässigkeit. Irgendwann hatte sie damit aufgehört. Es gab keine Schwachstelle, es gab keine Hoffnung. Sie wusste nicht mehr, wie viele Wochen, wie viele Monate seit ihrer Entführung vergangen waren. Seit ihrem Leben davor. Ungefähr einmal pro Woche befahl er ihr, den Arm durch die Essklappe zu strecken, und gab ihr eine Spritze. Es tat weh, weil er ungeschickt und das Mittel dickflüssig war. Gleich darauf verlor sie das Bewusstsein, und wenn sie zu sich kam, saß sie oben im Esszimmer, in dem schweren Sessel mit der hohen Lehne, die Beine und den Oberkörper an den Sitz gefesselt. Gewaschen, parfümiert und angezogen ... Sogar ihr Haar duftete nach Shampoo, selbst ihre normalerweise belegte Zunge und ihr Atem, der sonst bestimmt ekelerregend stank, roch angenehm frisch nach Zahnpasta und Menthol. Ein helles Feuer knisterte im Kamin, auf dem Tisch brannten Kerzen und spiegelten sich in dem dunklen Holz wie Sterne in einem nächtlichen See, und ein köstlicher Duft stieg von den Tellern auf. Immer erklang aus der Stereoanlage klassische Musik. Sobald sie diese Musik hörte, sobald sie das Funkeln der Flammen sah, die saubere Kleidung auf ihrer Haut spürte, begann sie zu speicheln wie ein Pawlowscher Hund. Zumal er sie immer 24 Stunden lang fasten ließ, bevor er sie betäubte und aus ihrem Kerker holte.
Die Schmerzen in ihrem Unterleib verrieten ihr indessen, dass er sich während ihres Schlafs an ihr vergangen hatte. Anfangs hatte dieser Gedanke sie entsetzt, und ihre ersten richtigen Mahlzeiten hatte sie in den Eimer erbrochen, als sie im Keller erwachte. Mittlerweile konnte ihr das nichts mehr anhaben. Manchmal sagte er nichts, dann wieder hielt er endlose Monologe, aber sie hörte ihm nur selten zu: Ihr Gehirn war es nicht mehr gewohnt, einem Gespräch zu folgen. Wie Leitmotive kehrten aber die Wörter Musik, Symphonie, Orchester in seinen Reden wieder - und ebenso ein Name: Mahler.
Wie lange schon war sie eingesperrt? In ihrem Grab gab es weder Tag noch Nacht. Denn das war es: ein Grab. Aus dem sie nicht mehr lebend herauskommen würde, das wusste sie in ihrem Innersten. Seit langem hatte sie jede Hoffnung aufgegeben. Sie erinnerte sich an ihr wunderbares, einfaches Leben in Freiheit. An das letzte Mal, als sie gelacht, Freunde eingeladen, ihre Eltern gesehen hatte, an den Geruch sommerlicher Grillpartys, die Gartenbäume im Abendlicht und die Augen ihres Sohnes bei Sonnenuntergang. Gesichter, Lachen, Spiele ... Sie sah sich mit Männern im Bett, besonders mit einem ... Dieses Leben, das ihr so banal vorgekommen und das doch in jedem Augenblick ein Wunder gewesen war. Warum hatte sie es nicht mehr genossen? Aber ihre Reue kam zu spät. Selbst die Momente von Kummer und Leid waren nichts im Vergleich zu dieser Hölle. Zu diesem lebendigen Begrabensein, jenseits der Welt. Sie ahnte, dass nur ein paar Meter Stein, Beton und Erde sie vom wirklichen Leben trennten, aber gleichzeitig hätten sie Hunderte von Türen, kilometerlange Gänge und Eisengitter nicht radikaler davon ausschließen können.
Dabei hatte es einen Tag gegeben, an dem das Leben und die Welt ganz nah, zum Greifen nah gewesen waren. Aus einem unbekannten Grund hatte er sie Hals über Kopf an einen anderen Ort bringen müssen. In aller Eile hatte er sie angezogen, ihr mit Plastikschellen die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihr einen Jutebeutel über den Kopf gestülpt. Anschließend hatte er sie eine Treppe hinaufgeführt, und dann, plötzlich, hatte sie im Freien gestanden. Im Freien ... Der Schock hätte sie beinahe um den Verstand gebracht.
Als sie die warme Sonne auf ihren nackten Armen und Schultern spürte, durch den Stoff hindurch das Licht schimmern sah, den Geruch von Erde und noch feuchten Feldern, von blühenden Hecken einatmete und das Gezwitscher von Vögeln bei Tagesanbruch, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. So heftig hatte sie geweint, dass sie Rotz und Wasser geheult und damit die Stofftasche völlig durchtränkt hatte.
Dann hatte er sie auf einen Metallboden gelegt, und sie hatte durch die Jute Abgase und Benzin gerochen. Obwohl sie keinen Ton hätte herausbringen können, hatte er sie vorsichtshalber mit Watte geknebelt und ihren Mund mit Heftpflaster zugeklebt. Auch Handgelenke und Knöchel hatte er ihr zusammengebunden, damit sie nicht mit den Füßen gegen das Fahrzeuggehäuse treten konnte. Sie hatte den vibrierenden Motor gespürt, und der Lieferwagen war über holprigen Untergrund gerumpelt, ehe er in eine Straße einbog. Als er plötzlich Gas gab und sie hörte, wie sie von zahlreichen Fahrzeugen überholt wurden, wusste sie, dass sie auf einer Autobahn waren.
Das Schlimmste war die Mautstelle gewesen. Ringsherum hatte sie Stimmen, Musik und Motorgeräusche gehört, ganz nah ... gleich hinter der Fahrzeugwand. Dutzende von Menschen. Frauen, Männer, Kinder ... Nur wenige Zentimeter neben ihr! Sie hörte sie! ... Eine Lawine von Gefühlen überschwemmte sie. Die Leute lachten, plauderten, kamen und gingen, lebendig und frei. Sie ahnten nichts von ihrer Gegenwart, ganz in ihrer Nähe, von ihrem langsamen Sterben, ihrem Sklavendasein ... Wieder begann sie zu weinen. Vor Wut und Verzweiflung. So heftig hatte sie den Kopf geschüttelt, dass er gegen die Wand schlug, und aus ihrer Nase war das Blut auf den verdreckten Boden getropft.
Und dann hatte sie ihren Peiniger »danke« sagen hören, und der Lieferwagen war wieder losgefahren. Sie hätte schreien wollen. Am Tag ihres Umzugs war das Wetter schön, sie war sich so gut wie sicher, dass die Pflanzen blühten. Frühling ... Wie viele Jahreszeiten würde sie noch erleben, ehe er ihrer überdrüssig war, ehe sie wahnsinnig wurde, ehe er sie endlich umbrachte ... Sie war sich plötzlich sicher, dass ihre Freunde, ihre Verwandten und die Polizei sie bereits für tot hielten. Ein einziges Wesen auf der Welt wusste, dass sie noch lebte - und das war ein dämonisches Wesen, eine Schlange, ein Incubus. Das Tageslicht würde sie nie mehr wiedersehen.
FREITAG
1
Puppen
Es war da, im schattigen Garten,
Der Schatten des kaltblütig lauernden Mörders,
Schatten auf Schatten auf dem Gras, weniger grün als
Rot vom abendlichen Blut.
In den Bäumen forderte die Syrinx einer Nachtigall
Marsyas und Apollon heraus.
Im Hintergrund malte eine Laube aus Nestern
Und Mistelkugeln
Eine ländliche Szenerie ...
OLIVER WINSHAW HÖRTE auf zu schreiben und zwinkerte. Irgendetwas am Rand seines Gesichtsfeldes hatte seine Aufmerksamkeit erregt - genauer gesagt: abgelenkt. Am Fenster. Ein Blitz draußen. Wie das Blitzlicht eines Fotoapparats.
Das Gewitter brach über Marsac herein.
Wie jeden Abend saß er auch heute an seinem Schreibtisch. Sein Arbeitszimmer lag im ersten Stock des Hauses, das seine Frau und er vor dreißig Jahren im Südwesten Frankreichs gekauft hatten: ein mit Eiche getäfelter Raum, dessen Wände fast vollständig mit Büchern bedeckt waren. Hauptsächlich britische und amerikanische Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts: Coleridge, Tennyson, Robert Burns, Swinburne, Dylan Thomas, Larkin, E. E. Cummings, Pound ...
Er wusste, dass er seinen Göttern niemals würde das Wasser reichen können, aber das machte ihm nichts aus.
Niemals hatte er seine Gedichte irgendjemandem zu lesen gegeben. Der Herbst seines Lebens lag mittlerweile hinter ihm, und der Winter hatte begonnen. Bald würde er im Garten ein großes Feuer machen und die 150 schwarz eingeschlagenen Hefte hineinwerfen. Insgesamt mehr als 20000 Gedichte. 57 Jahre lang jeden Tag eines. Vielleicht das am besten gehütete Geheimnis seines Lebens. Selbst seiner zweiten Frau hatte er sie nicht gezeigt.
Nach all diesen Jahren fragte er sich noch immer, woraus er seine Inspiration geschöpft hatte. Wenn er auf sein Leben zurückblickte, sah er nur eine lange Folge von Tagen, die immer mit einem Gedicht ausklangen, das er am Abend in der Stille seines Arbeitszimmers niederschrieb. Alle waren datiert. Er konnte das heraussuchen, das er am Geburtstag seines Sohnes geschrieben hatte, das vom Todestag seiner ersten Frau, das von dem Tag, an dem er von England nach Frankreich gezogen war ... Er ging nie zu Bett, bevor das Gedicht fertig war - manchmal erst um 1 oder 2 Uhr morgens, selbst als er noch berufstätig war. Er hatte nie viel Schlaf gebraucht, und er hatte keinen körperlich anstrengenden Beruf: Englischprofessor an der Universität Marsac.
Oliver Winshaw wurde bald neunzig.
Er war ein umgänglicher und eleganter alter Herr, den alle kannten. Als er sich in diesem malerischen Universitätsstädtchen niedergelassen hatte, wurde ihm gleich der Spitzname »der Engländer« verliehen. Das war vor der Zeit, als seine Landsleute wie ein Heuschreckenschwarm in diese Gegend einfielen, um alles zu restaurieren, was alte Gemäuer besaß, so dass dieser Spitzname etwas verwässert wurde. Heute war er nur noch einer unter Hunderten von Engländern in diesem Departement. Aber die Wirtschaftskrise veranlasste einen seiner Landsleute nach dem anderen dazu, in Regionen weiterzuziehen, die finanziell gesehen attraktiver waren: Kroatien, Andalusien, und Oliver fragte sich, ob er es wohl noch erleben würde, wieder der einzige Engländer von Marsac zu sein.
Durch den Seerosenteich
gleitet der Schatten ohne Gesicht,
Die lange, schmale und düstre Gestalt,
eine scharfe Klinge im Wasser.
Wieder hielt er inne.
Musik ... Durch das Prasseln des Regens und die zwischen den Rändern des Himmels pendelnden Echos des Donners glaubte er Musik zu hören. Sie konnte nicht von Christine stammen, denn sie schlief längst. Ja, sie kam von draußen, und es war klassische Musik ...
Oliver verzog missbilligend das Gesicht. Die Lautstärke musste voll aufgedreht sein, damit er sie bei Gewitter und geschlossenem Fenster bis in sein Arbeitszimmer hören konnte. Vergeblich versuchte er sich auf sein Gedicht zu konzentrieren - diese verdammte Musik!
Verärgert blickte er erneut zum Fenster. Das zuckende Licht der Blitze fiel durch die Jalousien ins Innere. Durch die Lamellen sah er die Wasserschnüre des Regens. Das Gewitter schien seinen ganzen Grimm an der kleinen Stadt auszulassen, spann sie in einen flüssigen Kokon ein und schnitt sie vom Rest der Welt ab.
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
Er ging zum Fenster und spreizte die Lamellen der Jalousie, um auf die Straße zu schauen. Aus der Ablaufrinne in der Mitte schwappte das Wasser auf die Pflastersteine. Der nächtliche Himmel über den Dächern war durchzuckt von aufflackernden Lichtfäden.
Alle Fenster im Haus gegenüber waren erleuchtet. Wurde dort etwa ein Fest gefeiert? In dem Reihenhaus mit seitlichem Garten, der durch eine hohe Mauer von der Straße getrennt und vor Blicken geschützt war, wohnte eine alleinstehende Frau. Sie war Lehrerin in der Khâgne von Marsac, der Klasse, in der Abiturienten auf die Aufnahmeprüfung bei einer der geisteswissenschaftlichen Elitehochschulen des Landes vorbereitet wurden - und es war die angesehenste Khâgne in der gesamten Region.
Eine schöne Frau Mitte dreißig, im besten Alter. Schlank, brünett, eine elegante Erscheinung. Sie hätte Oliver gefallen, wenn er vierzig Jahre jünger gewesen wäre. Es kam vor, dass er sie heimlich beobachtete, wenn sie sich im Sommer in ihrem Liegestuhl sonnte, vor allen Blicken sicher bis auf seinen, denn der Garten lag direkt unter dem Fenster seines Arbeitszimmers, jenseits des Gässchens und der Mauer. Irgendetwas stimmte nicht. Die vier Stockwerke des Hauses waren erleuchtet. Die Eingangstür, die direkt auf die Straße ging, stand weit offen, und der Widerschein einer kleinen Laterne glänzte auf der regennassen Schwelle.
Aber hinter den Fenstern war niemand zu sehen.
Die seitlichen Fenstertüren vom Wohnzimmer in den Garten waren sperrangelweit geöffnet; sie schlugen im Wind wie die Schwingtüren eines Wildwest-Saloons, und der schräg fallende Regen musste auch im Haus auf den Boden spritzen. Oliver sah, wie die Tropfen auf den Terrassenplatten hüpften und die Grashalme des Rasens niederdrückten.
Bestimmt kam die Musik von dort ... Er spürte, wie sein Puls raste. Sein Blick glitt langsam zum Schwimmbecken. Elf auf sieben Meter. Sandfarbene Fliesen ringsherum. Ein Sprungbrett. Er empfand eine düstere Erregung, wie sie einen überkommt, wenn die tägliche Routine durch etwas Ungewöhnliches unterbrochen wird - und in Olivers Alter bestand das Leben nur noch aus Routine. Sein Blick erkundete den Garten rund um das Becken. Im Hintergrund begann der Wald von Marsac, ein 2700 Hektar großes Areal mit Wanderwegen. Auf dieser Seite gab es keine Mauer, nicht einmal einen Zaun, nur eine undurchdringliche grüne Wand. Das Poolhaus, ein kleiner massiver Bau, der jünger war als der Rest, stand am anderen Ende des Schwimmbeckens auf der rechten Seite.
Jetzt musterte er das Becken. Im peitschenden Regen kräuselte sich die Oberfläche. Oliver kniff die Augen zusammen. Zuerst fragte er sich, was er da sah. Dann erkannte er, dass mehrere Puppen im Wasser schaukelten. Ja, genau das sah er ... Obwohl er wusste, dass es nur Puppen waren, durchrieselte ihn ein unerklärlicher Schauder. Sie trieben nebeneinander, und ihre blassen Kleider schwebten an der Oberfläche des Beckens, die von den Regenpfeilen wie durchsiebt wurde. Oliver und seine Frau waren einmal von dieser Nachbarin zum Kaffee eingeladen worden. Die französische Ehefrau von Winshaw, eine ehemalige Psychologin, hatte eine Erklärung für diese Fülle von Puppen im Haus einer alleinstehenden Frau über dreißig. Auf dem Heimweg hatte sie ihrem Mann gesagt, ihre Nachbarin sei wahrscheinlich eine »Kindfrau«, und Oliver hatte sie gefragt, was sie damit meine. Daraufhin hatte sie Worte benutzt wie »Unreife«, »Flucht vor Verantwortung«, »interessiert sich nur für ihr persönliches Vergnügen« und »hat ein psychisches Trauma erlitten«, und Oliver war kleinlaut geworden, denn ihm waren von jeher Dichter lieber gewesen als Psychologen. Aber, verdammt noch mal, was machten diese Puppen im Swimmingpool?
Ich sollte die Gendarmerie verständigen, dachte er. Aber was soll ich ihnen sagen? Dass Puppen in einem Schwimmbecken treiben? Da überfiel ihn ein anderer Gedanke. Das war doch nicht normal ... Das ganze Haus hell erleuchtet, niemand zu sehen und diese Puppen ... Wo war eigentlich die Hausherrin? Oliver Winshaw drehte den Riegel und öffnete das Fenster. Sofort schwappte eine Wasserwand ins Zimmer herein. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, er blinzelte, während er den Blick auf das seltsame Treibgut aus reglos starrenden Plastikgesichtern heftete.
Jetzt hörte er auch die Musik ganz deutlich. Er hatte sie schon gehört, auch wenn es nicht sein Lieblingskomponist Mozart war.
Was zum Teufel sollte dieser Zirkus?
Ein Blitz durchschnitt die Nacht, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Krachen eines Donnerschlags. Der Lärm ließ die Scheiben erzittern. Wie ein jäh aufleuchtender Scheinwerfer enthüllte der Blitz eine menschliche Gestalt. Am Beckenrand sitzend, die Hosenbeine ins Wasser eingetaucht, hatte Winshaw sie zunächst nicht bemerkt, da der Schatten des großen Baumes in der Mitte des Gartens sie verschluckte. Ein junger Mann ... Er beugte sich über die im Wasser treibenden Puppen und schien sie zu betrachten. Obwohl Oliver etwa fünfzehn Meter weit weg war, erahnte er seinen verlorenen, verstörten Blick und den aufgerissenen Mund.
Oliver Winshaws Brust war nur noch ein Resonanzkörper, in dem sein Herz hämmerte wie ein rasender Schlagzeuger. Was war hier los? Er stürzte zum Telefon und riss den Hörer herunter.
2
Raymond
ANELKA IST EINE Null«, sagte Pujol. Vincent Espérandieu sah seinen Kollegen an und fragte sich, ob dessen Urteil auf die schwache Leistung des Stürmers oder auf seine Herkunft und die Tatsache zurückzuführen war, dass er aus einer Hochhaussiedlung in der Pariser Banlieue stammte. Pujol mochte keine Hochhaussiedlungen, noch weniger ihre Bewohner.
Trotzdem musste Espérandieu dieses eine Mal zugeben, dass Pujol recht hatte: Anelka war eine Niete. Null. Fertig. Wie übrigens auch der ganze Rest der Mannschaft. Eine einzige Qual, dieses erste Spiel. Nur Martin schien es egal zu sein. Espérandieu sah ihn an und lächelte: Bestimmt kannte sein Chef nicht einmal den Namen des Trainers, den ganz Frankreich seit Monaten ausbuhte und aufs übelste beschimpfte.
»Domenech ist eine verdammte Flasche«, sagte Pujol in diesem Moment, als hätte er Vincents Gedanken gelesen. »2006 sind wir nur deshalb ins Finale eingezogen, weil Zidane und die anderen in der Mannschaft die Führung übernommen hatten. «
Da niemand diese Tatsache bestritt, schlängelte sich der Polizist durch die Menge, um noch ein paar Bier zu holen. Die Bar war rammelvoll. 11. Juni 2010. Tag der Eröffnungsfeier und der ersten Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Darunter auch dasjenige, das gerade über den Bildschirm flimmerte: Uruguay - Frankreich, 0:0 zur Halbzeit. Wieder beobachtete Vincent seinen Chef. Er starrte noch immer auf den Bildschirm. Mit leerem Blick. In Wirklichkeit sah sich Commandant Martin Servaz das Spiel gar nicht an, er tat nur so - und sein Stellvertreter wusste das.
Aber Servaz sah sich nicht nur das Spiel nicht an, er fragte sich auch, was er eigentlich hier verloren hatte.
Er hatte seinem Ermittlungsteam eine Freude machen wollen, indem er mitging. Schon seit Wochen drehten sich sämtliche Gespräche auf den Fluren der Kriminalpolizeiinspektion um die WM. Um die Form der Spieler, desaströse Freundschaftsspiele, unter anderem eine demütigende Niederlage gegen China, die vom Trainer aufgestellten Spieler, das viel zu teure Hotel. Servaz fragte sich schließlich, ob ein Dritter Weltkrieg sie stärker beschäftigt hätte. Vermutlich nicht. Er hoffte, dass die Gauner es genauso hielten und die Zahl der Verbrechen von selbst zurückging, ohne dass irgendjemand intervenieren musste.
Er griff nach dem frischen Glas Bier, das Pujol vor ihn hingestellt hatte, und führte es an die Lippen. Die zweite Halbzeit hatte begonnen. Die Männchen in Blau bewegten sich genauso plan- und ziellos wie zuvor; sie liefen von einem Ende des Spielfelds zum anderen, ohne dass Servaz in diesen Spielzügen die geringste Logik erkennen konnte. Für die Stürmer war er kein Experte, aber sie machten auf ihn einen besonders ungeschickten Eindruck. Irgendwo hatte er gelesen, der Französische Fußballbund müsse für die Anreise und die Unterbringung der Mannschaft über eine Million Dollar berappen, und er hätte gern gewusst, woher dieses Geld kam und ob auch er seinen Obolus würde beitragen müssen. Aber diese Frage schien seine Nachbarn, denen sonst so viel daran lag, dass der Staat mit ihren Steuergeldern verantwortlich umging, weniger zu beschäfitgen als die chronische Erfolglosigkeit der Mannschaft. Servaz versuchte sich doch auf das Spiel zu konzentrieren. Aus dem Fernseher ertönte ununterbrochen ein unangenehmes Brummen, wie von einem riesigen Mückenschwarm. Er hatte sich sagen lassen, das seien die Tausenden von Vuvuzelas der im Stadion versammelten südafrikanischen Fans. Wie konnten sie nur einen solchen Krach machen und vor allem aushalten? Selbst hier war dieses Gedröhne noch vollkommen unerträglich, obwohl es von Mikrophonen und Filtern gedämpft wurde.
Plötzlich flackerten in der Bar die Lichter, und unter lauten Unmutsschreien der Zuschauer verzerrte sich das Bild auf dem Bildschirm und verschwand, um sogleich wieder zu erscheinen. Das Gewitter ... Es kreiste über Toulouse wie ein Schwarm Raben. Ein verstohlenes Lächeln zeigte sich auf Servaz' Gesicht, als er sich vorstellte, dass alle Zuschauer vor ihren Bildschirmen jetzt im Dunkeln säßen und das Spiel nicht weiterverfolgen könnten.
Ohne es zu wollen, wanderten seine zerstreuten Gedanken in eine vertraute, aber gefährliche Zone. Seit mittlerweile 18 Monaten hatte Julian Hirtmann kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben ... Anderthalb Jahre, aber kein Tag war vergangen, an dem der Polizist nicht an ihn gedacht hätte. Der Schweizer war im Winter 2008/2009 aus dem Institut Wargnier entflohen, nur wenige Tage nachdem ihn Servaz in seiner Zelle besucht hatte. Bei dieser Begegnung hatte er verblüfft zur Kenntnis genommen, dass der ehemalige Genfer Staatsanwalt und er eine gemeinsame Passion hatten: die Musik von Gustav Mahler. Und dann war der eine ausgebrochen, und der andere von einer Lawine verschüttet worden.
Achtzehn Monate, dachte er. 540 Tage und ebenso viele Nächte, in denen er unzählige Male denselben Alptraum gehabt hatte. Die Lawine ... Er war in einem Sarg aus Schnee und Eis begraben, die Atemluft wurde bedrohlich knapp und Arme und Beine durch die Kälte taub und starr, als ihn endlich eine Sonde berührte und jemand ungestüm den Schnee über ihm entfernte. Grelles Licht, das ihn blendete, frische Luft, die er mit offenem Mund tief einatmete, und ein Gesicht, eingerahmt in der Öffnung. Das Gesicht von Hirtmann ... Der Schweizer lachte laut auf und sagte: »Adieu, Martin« - und schüttete das Loch wieder zu ...
Es gab einige Variationen, aber der Traum endete immer mehr oder weniger genauso.
In Wirklichkeit hatte er die Lawine überlebt. Aber in seinen Alpträumen starb er. Und in gewisser Weise war in jener Nacht tatsächlich ein Teil von ihm gestorben.
Was machte Hirtmann jetzt gerade? Wo war er? Servaz sah noch einmal erschauernd diese unvorstellbar majestätische Schneelandschaft vor sich ... die schwindelerregend hohen Gipfel hoch über einem abgelegenen Tal ... das Gebäude mit den mächtigen Mauern ... klirrende Riegel in menschenleeren Gängen ... Und dann die Tür, hinter der die vertraute Musik erklang: Gustav Mahler, Servaz' Lieblingskomponist - aber auch der von Julian Hirtmann.
»Höchste Zeit«, sagte Pujol neben ihm.
Servaz warf einen zerstreuten Blick auf den Bildschirm. Ein Spieler verließ das Feld, ein anderer löste ihn ab. Servaz glaubte zu verstehen, dass es sich um besagten Anelka handelte. Er sah in die linke obere Ecke des Bildschirms: 71. Minute - und noch immer 0:0. Daher wahrscheinlich die Anspannung in der Bar. Ein korpulenter Kerl neben ihm, der um die 130 Kilo wiegen mochte und unter seinem roten Bart schweißnass war, klopfte ihm auf die Schulter, als wären sie alte Freunde, und blies ihm seine Alkoholfahne ins Gesicht:
»Wenn ich Trainer wäre, würde ich ihnen in den Hintern treten, damit sich diese Wichser mal ein bisschen bewegen. Nicht mal bei einer WM wollen sie laufen.«
Servaz fragte sich, ob sich sein Nachbar selbst wohl viel bewegte - wenn er sich nicht gerade hierherschleppte oder im Supermarkt an der Ecke Sixpacks kaufte.
Er fragte sich, weshalb er keine Sportsendungen mochte. Etwa weil seine Ex-Frau, Alexandra, im Unterschied zu ihm kein Spiel ihrer Lieblingsmannschaft versäumte? Sie waren sieben Jahre lang zusammen gewesen, obwohl Servaz vom ersten Tag an überzeugt gewesen war, dass ihre Beziehung nicht lange Bestand haben würde. Trotzdem hatten sie geheiratet und sieben Jahre durchgehalten. Er wusste noch immer nicht, wieso sie so lange gebraucht hatten, um das Offensichtliche zuzugeben: Sie passten so schlecht zusammen wie ein Taliban und ein Flittchen. Was war davon heute noch übrig? Außer einer achtzehnjährigen Tochter, auf die er allerdings sehr stolz war. Oh ja, und wie. Auch wenn er sich immer noch nicht an ihren Look, ihre Piercings und ihre Frisuren gewöhnt hatte, schlug sie ihm nach, nicht ihrer Mutter. Sie war eine Leseratte wie er, und wie einst er besuchte auch sie die renommierteste Khâgne in der Region. Marsac. Hier versammelten sich die besten Schüler aus einem Umkreis von hundert Kilometern - manche kamen sogar aus Montpellier oder Bordeaux.
Wenn er genauer darüber nachdachte, musste er zugeben, dass ihn mit seinen 41 Jahren nur zwei Dinge im Leben wirklich interessierten: sein Beruf und seine Tochter. Und Bücher ... Aber mit den Büchern war es etwas anderes, denn sie interessierten ihn nicht nur, sie waren sein Leben.
Genügte das? Was für ein Leben führten die anderen? Er betrachtete den Boden seines Bierglases, wo nur noch Schaum- spuren übrig waren, und er sagte sich, dass er für heute genug gebechert hatte. Er spürte plötzlich das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen, und schlängelte sich durch die Menge zur Toilette. Sie war so verdreckt, dass es ihn ekelte. Ein glatzköpfiger Mann wandte ihm den Rücken zu, und Servaz hörte, wie sein Strahl gegen das Email des Pissoirs traf.
»Was für ein Haufen Nullen«, sagte der Mann, als sich Servaz neben ihm den Hosenschlitz aufknöpfte. »Eine Schande, was die da aufführen.«
Er zog seinen Hosenschlitz zu und ging hinaus, ohne sich die Hände zu waschen. Servaz seifte die seinen ein, spülte sie lange und trocknete sie unter dem Gebläse. Bevor er die Klinke anfasste, die der Mann gerade berührt hatte, zog er sich den Ärmel über die Hand und verließ das WC.
Ein kurzer Blick auf den Bildschirm verriet ihm, dass sich in seiner Abwesenheit nichts getan hatte, obwohl sich das Spiel seinem Ende zuneigte. Die Zuschauer waren nur noch ein vor Frust brodelnder Vulkan. Wenn das so weiterginge, überlegte Servaz, würde es noch Krawalle geben.
Die Leute um ihn herum brüllten Worte wie »Los!«, »Jetzt gib schon den Ball ab, Mann, gib ihn ab!«, »Nach rechts, nach reeeeeechts!« - ein Anzeichen dafür, dass sich endlich etwas tat, als er in seiner Tasche ein vertrautes Vibrieren spürte. Er zog sein Handy heraus. Kein Smartphone, sondern ein gutes altes Nokia-Standardgerät. Das Display leuchtete, ein Anzeichen, dass sich auch hier etwas tat. Der Anruf war bereits auf seine Mailbox umgeleitet worden.
Servaz rief die Servicenummer an.
Erstarrte.
Die Stimme im Telefon ... Es dauerte eine halbe Sekunde, ehe er sie erkannte. Eine halbe Sekunde, die wie eine Ewigkeit war. Raum und Zeit, die sich zusammenzogen, als ob die zwanzig Jahre, seit er sie zum letzten Mal gehört hatte, mit zwei Herzschlägen zu überbrücken wären. Nach all dieser Zeit wurde ihm noch immer ganz mulmig, als er sie hörte.
Alles begann sich um ihn zu drehen. Die Rufe, die Anfeuerungen, das Dröhnen der Vuvuzelas verhallten, verloren sich im Nebel. Die Gegenwart schrumpfte zusammen. Die Stimme sagte:
»Martin? Ich bin's, Marianne ... Ruf mich bitte an. Es ist sehr wichtig. Bitte, bitte ruf mich an, sobald du diese Nachricht abgehört hast ...«
Eine Stimme aus der Vergangenheit - und eine Stimme voller Angst.
Samira Cheung warf die Lederjacke aufs Bett und betrachtete den Fettwanst, der rauchend an den Kopfkissen lehnte.
»Verzieh dich, ich muss zur Arbeit.«
Der Mann, der in ihrem Bett saß, war gut dreißig Jahre älter als sie; er hatte eine ordentliche Wampe und weiße Haare auf der Brust, aber das war Samira egal. Er besorgte es ihr gut - und das war alles, was für sie zählte. Sie selbst war auch keine Schönheit. Seit dem Gymnasium wusste sie, dass die meisten Männer sie hässlich fanden - oder, genauer gesagt, ihr Gesicht für hässlich hielten, während sie von ihrem Körper beinahe unwiderstehlich angezogen wurden. In den seltsam zwiespältigen Empfindungen, die sie Männern einflößte, neigte sich die Waagschale bald zur einen, bald zur anderen Seite. Samira Cheung glich das aus, indem sie mit möglichst vielen Männern ins Bett ging; sie wusste schon länger, dass die bombigsten Typen nicht unbedingt die besten Liebhaber waren, aber genau nach denen suchte sie - nicht nach dem Märchenprinzen.
Das große Bett knarrte, als ihr dickbäuchiger Liebhaber die Laken zurückschlug, die Füße auf den Boden stellte und sich nach seinen Kleidungsstücken reckte, die ordentlich auf einem Stuhl in der Nähe eines Standspiegels lagen, in dem sich ein Teil des Dachbodens spiegelte. Spinnweben, Staub, an einem Balken ein Barocklüster, in dem nur jede zweite Glühbirne brannte, Bastteppiche, eine spanische Kommode und ein Schrank aus einem Trödelladen nahmen den Rest des Zimmers ein. Samira streifte sich eine Hose und ein T-Shirt über und verschwand durch eine Klappe im Fußboden.
»Schnaps oder Kaffee?«, rief sie von unten.
Sie schlüpfte in die rot gestrichene kleine Küche hinein, die durch ihre Enge an eine Schiffskombüse erinnerte, und schaltete die Portionskaffeemaschine an. Abgesehen von der nackten Glühbirne über ihr war das große Haus in Dunkelheit gehüllt. Und zwar aus gutem Grund. Samira hatte diese Ruine, zwanzig Kilometer von Toulouse entfernt, im Vorjahr gekauft. Sie renovierte sie nach und nach (sie wählte ihre gelegentlichen Liebhaber aus verschiedenen Berufsgruppen, darunter waren Elektriker, Installateure, Maurer, Maler, Dachdecker ...) und nutzte gegenwärtig nur ein Fünftel der Wohnfläche.
Alle Zimmer im Erdgeschoss standen leer und waren mit Kunststoffplanen verhängt, an den Wänden standen Gerüste, Farbeimer mit eingetrockneten Schlieren und Werkzeuge - im Obergeschoss sah es genauso aus, und so hatte sie bis auf weiteres ihr Schlafzimmer auf dem Dachboden eingerichtet.
Auf die rote Wand hatte sie mit Hilfe einer Schablone in großen Silberlettern gepinselt: »Baustelle, Betreten verboten«. Auf ihrem T-Shirt prangte die Devise: »I LOVE ME«. Ihre kleinen Brüste schimmerten hindurch. Der Mann stieg mit schweren Schritten die Sprossen der Leiter hinunter, die steil wie auf einem Schiff war. Sie hielt ihm einen dampfenden Espresso hin und biss in einen angeschnittenen, braun angelaufenen Apfel, den sie von der Arbeitsplatte nahm. Dann verschwand sie im Bad. Fünf Minuten später ging sie in den »begehbaren Kleiderschrank «. All ihre Klamotten hingen vorübergehend unter durchsichtigen dünnen Schutzhüllen an langen metallischen Kleiderständern; ihre Dessous und T-Shirts waren in Schubladenschränken aus Plastik verstaut, und ihre Dutzenden von Stiefelpaaren standen nebeneinander an der Wand.
Sie schlüpfte in eine Jeans mit Löchern an den Knien, Stiefeletten mit flachen Absätzen, ein frisches T-Shirt und einen mit Nägeln beschlagenen Gürtel. Dann kam das Holster mit ihrer Dienstwaffe. Und ein Armeeparka als Regenschutz.
»Du bist noch da?«, sagte sie, als sie in die Küche zurückkam.
Der beleibte Mann in den Fünfzigern wischte sich die Marmelade von den Lippen. Er zog Samira an sich und küsste sie, während er ihr seine fleischigen Hände auf den Hintern legte. Sie ließ es einen Moment geschehen, ehe sie sich aus seiner Umklammerung befreite.
»Wann kümmerst du dich um meine Dusche?«
»Dieses Wochenende geht's nicht. Meine Frau kommt von ihrer Schwester zurück.«
»Finde einen Tag. Noch diese Woche.«
»Mein Terminkalender ist voll«, protestierte er.
»Keine Dusche, kein Fick«, drohte sie.
Der Mann runzelte die Stirn.
»Vielleicht Mittwochnachmittag. Mal sehen.«
»Die Schlüssel liegen da, wo sie immer sind.«
Sie wollte gerade noch etwas hinzufügen, als irgendwo eine Mischung aus E-Gitarren-Riffs und Horrorfilmschreien ertönte. Die ersten Takte eines Stücks von Agoraphobic Nosebleed, einer amerikanischen Grindcore-Band. Als sie ihr Handy schließlich fand, war das laute Gebrüll bereits verstummt. Sie betrachtete die angezeigte Nummer: Vincent. Sie wollte ihn gerade zurückrufen, als das Handy vibrierte. Eine SMS:
Ruf mich an.
Das tat sie umgehend.
»Was ist los?«
»Wo bist du?«, fragte er, ohne zu antworten.
»Zu Hause, ich wollte gerade aufbrechen. Ich hab heute Abend Bereitschaftsdienst.« An einem solchen Abend hatten sich natürlich alle Männer in der Mordkommission nach Möglichkeit krankgemeldet. »Und du, schaust du nicht das Spiel an?«
»Wir haben einen Anruf bekommen ...«
Ein Notfall. Bestimmt der diensthabende Staatsanwalt. Pech für die Fußballfans. Auch im Justizpalast liefen sicher die Fernseher heiß. Sie selbst hatte für den Abend nur mit Mühe einen Liebhaber auftreiben können - ganz offensichtlich hatte heute der Fußball dem Sex den Rang abgelaufen.
»Der Staatsanwalt hat angerufen?«, fragte sie. »Worum geht's?«
»Nein, nicht der Staatsanwalt.«
»Ach nein?«
In Espérandieus Stimme lag eine ungewohnte Anspannung.
»Ich erklär's dir. Du brauchst nicht ins Präsidium zu fahren. Steig ins Auto und komm direkt zu uns. Hast du was zu schreiben?«
Ohne ihren Gast, der neben ihr allmählich ungeduldig wurde, weiter zu beachten, zog sie eine Küchenschublade auf und fischte einen Kugelschreiber und ein Post-it heraus.
»Warte ... Ja, bin so weit.«
»Ich geb dir die Adresse durch, und du stößt dort zu uns.«
»Ich höre.«
Sie zog eine Braue hoch, als sie die Adresse notierte.
»Marsac? Das ist ja echt jwd. ... Wer hat euch angerufen, Vincent? «
»Ich werd's dir erklären. Wir sind schon unterwegs. Komm so schnell wie möglich.«
Hinter dem Fenster leuchtete ein Blitz auf.
»Wir? Wer ist wir?«
»Martin und ich.«
»Alles klar. Ich beeil mich.«
Sie legte auf. Irgendetwas stimmte nicht.
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2014 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
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Autoren-Porträt von Bernard Minier
Bernard Minier ist im Südwesten Frankreichs, in den Ausläufern der Pyrenäen, aufgewachsen. Er schreibt seit seiner Kindheit und ist bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Bernard Minier lebt in der Nähe von Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernard Minier
- 2014, 655 Seiten, Maße: 15,4 x 21,9 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Übersetzer: Thorsten M. Schmidt
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968802970
Rezension zu „Kindertotenlied “
Der leidenschaftliche Musikanhänger, Kunst- und Comic-Liebhaber Minier versteht es blendend, den Leser tief in die Geschehnisse zu versetzen und erweist sich einmal mehr als exzellenter Erzähler und Meister der Spannung. Fuldaer Zeitung, 30.08.2014
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