Kleine Lichter
Kleine Lichter von Roger Willemsen
LESEPROBE
Hier endetmeine Reise zu den Männern. Sie endet bei dir.
Mit dirnehme ich Abschied von allen, die mal meine Liebhaber waren und allen, die nochkommen wollten. Kein großer Bahnhof nötig. Du bist mein letzter Mann. Die Reiseist vorbei. Ich bin angekommen.
Mach dirkeine Gedanken. Schon gar nicht, warum ich dir dies auf Kassetten spreche. Mansoll sie dir vorspielen, solange ich weg bin. So werde ich nicht wirklich wegsein.
Und stördich nicht daran, dass ich ein Wort so verschwenderisch gebrauche, mit dem duso geizig warst. Ich will dir die Liebe erklären, wie man den Krieg erklärt.Das heißt, die Liebe kann ich dir nicht erklären, nur meine. Ich erkläre sie dir inalten Vokabeln. Es geht nicht anders: Wer liebt, wechselt das Jahrhundert.
Was für einAbend! Du solltest die Schwalben segeln sehen, durch die Häuserschluchtentauchen! Gleich wird es regnen. Ich muss die Fenster aufreißen, damit wir denGeruch nicht verpassen. Ich will den Staub für dich einatmen, die WienerSommerhitze. Schwärmen würdest du. Da stehen und schwärmen, und du hättest Recht.
Ich sehe dich an. Du am Fenster, ich hier. In meiner Vorstellungsind wir wieder zusammen, hier in unserer Wiener Wohnung.
Ich könnteso ruhig sein. Könnte barfuß gehen, dich von hinten umarmen und halten. Dukönntest mich später mit deinem Flüstern zum rauschenden Regen in denHalbschlaf schaukeln. Wir könnten weiter ein Leben im Konjunktiv führen, wie esKinder spielen: Du wärest der Mann und ich die Frau, und du kämst nach Hauseund ich würde schon da stehen und wir hätten ...
Du fehlst.Du fehlst, dass es schmerzt, unentwegt. Aber eigentlich hast du immer gefehlt.
Du warstnie genug.
Es ist niegenug. Jetzt -
Entschuldige.Ich hatte so schwere Tage.
Ich kanndas Kommen und Gehen deines Atems hören. Bilde ich mir ein. Das Leben istimmer noch schön in dir. So war es immer: Was mit dir in Berührung kam, verwandeltesich und wurde dir ähnlich und schön.
Traf heutedie alte Frau Koll im Treppenhaus. Ob mir Wien nicht fehle, ob ich nichtverkümmere so weit weg? Was sollte ich sagen, sie blickte so diagnostisch. Obmir »da unten« das heimische Essen nicht fehle und die Muttersprache?
Ich essalles, sag ich, und die Sprache hab ich immer bei mir.
»Sie warenja als junges Mädchen eine Schönheit von erster Qualität, nich?«, antwortet sieund dreht sich weg.
Und was binich heute, sechs Monate, nachdem ich endgültig aufgehört habe, eine junge Frauzu sein? Sieh mich an, du kennst mich doch noch?
Komm, ichnehme dich mit zu unserem Fenster. Komm. Wie dir die Mauersegler gefallenwürden mit ihren todesmutigen Stürzen!
Entschuldige.
Wenn ichmich ganz hinausbeuge, kann ich sehen, wie ihre Flügelspitzen fast dieHauswände streifen. Schwül ist es, die Mücken schwärmen tief.
Keinanderer Vogel ist noch in der Luft. Jetzt wird jeden Augenblick der Regeneinsetzen.
Jeden Tagmache ich mich auf den Weg zu dir. Manchmal, wenn ich in der Bahn sitze oderirgendwo warten muss, gehen meine Gedanken durch die Mauern zu dir. Dahinterliegt der Salon, das Dunkel des Waldes, der Stadtrand, ein See. Manchmalschwimme ich hinaus, tauche tief und kenne deine Welt nicht. Immer verliere ichLicht.
Trotzdembreche ich so gerne zu dir auf. Noch fasse ich dich nicht an, das kann ich nochnicht. Ich sehe dir nur zu. In Erinnerungen an unsere Nächte zu schwelgen fälltmir leichter, solange ich nicht weiß, wie sich deine Haut heute anfühlt, wiedein Körper ist, wenn er nicht antwortet. Die Schwestern wissen es, und siewissen, wie sie mit dir umgehen müssen. So kann ich noch nicht sein.
Du ruhst,trotzdem bist du in Bewegung, und jeder Tag bringt uns unserem ersten Kussnäher, unserem nächsten ersten. Ich stelle mir vor: Das Leben wird in deineLippen fließen, und sie werden auf meinen Lippen flüstern. (...)
© S. FischerVerlag GmbH, Frankfurt am Main 2005
- Autor: Roger Willemsen
- 2005, 2. Aufl., 208 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 310092102X
- ISBN-13: 9783100921024
- Erscheinungsdatum: 10.03.2005
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