Knochenbett
Der 20. Fall für Kay Scarpetta
Der 20. Fall für Rechtsmedizinerin Dr. Kay Scarpetta: Sie ist Zeugin im Prozess gegen einen Öl-Magnaten, der des Mordes an seiner verschwundenen Ehefrau beschuldigt wird. Kurz zuvor war die Forensikerin noch an der Bergung einer...
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Produktinformationen zu „Knochenbett “
Der 20. Fall für Rechtsmedizinerin Dr. Kay Scarpetta: Sie ist Zeugin im Prozess gegen einen Öl-Magnaten, der des Mordes an seiner verschwundenen Ehefrau beschuldigt wird. Kurz zuvor war die Forensikerin noch an der Bergung einer mumifizierten Leiche beteiligt gewesen. Die sterblichen Überreste der Industriellen-Gattin?
»Eine der ungewöhnlichsten Krimiheldinnen überhaupt.«
Der Spiegel
»Eine der ungewöhnlichsten Krimiheldinnen überhaupt.«
Der Spiegel
Klappentext zu „Knochenbett “
Kay Scarpetta ist als Zeugin im Prozess gegen einen Öl-Tycoon geladen, dem der Mord an seiner spurlos verschwundenen Ehefrau vorgeworfen wird. Wenige Stunden zuvor musste die berühmte Rechtsmedizinerin noch unter schwierigsten Umständen die Leiche einer Frau aus dem Bostoner Hafen bergen. Handelt es sich bei der Toten um die vermisste Industriellengattin? Diese Frage stellt sich auch die Anwältin des Angeklagten, die alles daransetzt, Scarpettas Reputation zu untergraben. Fieberhaft beginnt die Leiterin der Gerichtsmedizin mit der Untersuchung der offensichtlich monatelang tiefgefrorenen Mumie, deren Verwesungsprozess nun rasend schnell verläuft. Daneben machen Scarpetta noch ganz andere Probleme zu schaffen: Ihr Chefermittler Pete Marino gerät unter Mordverdacht ins Fadenkreuz des FBI, und ihr eigener Mann Benton Wesley scheint sich von ihr abzuwenden. Steuert Kay Scarpetta auf eine berufliche und private Katastrophe zu?
Lese-Probe zu „Knochenbett “
Knochenbett von Patricia Cornwell Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner
Prolog
22. Oktober 2012
6 Uhr 20
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In der Peace Region im nordwestlichen Alberta, wo der Red Willow River und der Wapiti River zusammentreffen, bricht sich dunkelgrünes Wasser schäumend an den Stämmen umgestürzter Bäume und den grauen sandigen Inselchen mit ihren weißen Kiesstränden. Die Hügel sind dicht mit Schwarzfichten und Espen bewachsen, deren Schösslinge in steilen Winkeln aus Uferböschungen und Felswänden ragen. Ihre schlanken Stämme recken sich der Sonne entgegen, bis irgendwann die Schwerkraft obsiegt und sie jäh abknicken lässt. Totes Holz bedeckt die Ufer und sammelt sich, von der Strömung ein ums andere Mal herumgewirbelt, zwischen geborstenen Baumstümpfen und zersplitterten Ästen, Treibgut, das im endlosen Kreislauf des Lebens, des Werdens und Vergehens, des Verfalls, der Wiederauferstehung und des Todes, stromabwärts getragen wird. Von menschlichen Behausungen fehlt jede Spur; so weit das Auge reicht, kann ich weder die Hinterlassenschaften der Zivilisation, Umweltschäden oder auch nur ein einziges Gebäude erkennen. Ich male mir eine Naturkatastrophe vor siebzig Millionen Jahren aus, bei der eine Herde durchziehender Pachyrhinosaurier, einer nach dem anderen, ihr Leben ausgehaucht hat. Hunderte von ihnen ertranken, zappelnd in Todesangst, als sie versuchten, den Fluss während eines Hochwassers zu überqueren. Ihre gewaltigen Kadaver wurden entweder von Aasfressern vertilgt oder verwesten und zerfielen. Im Laufe der Zeit schoben Erdrutsche und Wassermassen die Knochen dann zusammen, bis sie sich in Gletschersedimente und Ausbuchtungen verwandelten, die vom 8 Granit des Flussbettes und von Geröll kaum noch zu unterscheiden waren. Die Szenen, die auf meinem Computermonitor an mir vorbeiziehen, könnten eine unberührte Wildnis zeigen, in die seit der Kreidezeit niemand mehr einen Fuß gesetzt hat, wenn da nicht noch etwas anderes klar zu sehen wäre: Die Videoaufnahmen wurden von einem Menschen gemacht, der eine Kamera bei sich hatte, während er über das seichte Wasser glitt und in halsbrecherischer Geschwindigkeit Sandbänke, halb aus dem Fluss ragende Felsstücke und tote Bäume umrundete. Es sind keine erkennbaren Einzelheiten vom Rumpf des Schnellboots, dem Fahrer oder den Passagieren an Bord auszumachen. Nur die Metallreling des Achterdecks und der Umriss einer Person, die sich schwarz vom grellen Sonnenlicht abhebt; ein scharf konturierter Schattenriss vor hellem aufgewühltem Wasser und einem weiten blauen Himmel.
Eins
Gerade werfe ich einen Blick auf meine überdimensionale Titanuhr an ihrem Kunststoffband und greife nach meinem Kaffee - schwarz, kein Süßstoff -, als sich auf dem Flur meines runden Institutsgebäudes Schritte nähern. Es steht am westlichen Rand des Campus, der zum Massachusetts Institute of Technology gehört. Wir haben den dritten Montag im Oktober. Draußen ist es noch nicht hell geworden. Sechzehn Stockwerke unter meinem Büro in der obersten Etage, auf dem Memorial Drive, fließt ein steter Strom an Fahrzeugen vorbei. Der Berufsverkehr setzt in Cambridge, völlig unabhängig von Jahreszeit und Wetter, stets schon lange vor Sonnenaufgang ein. Scheinwerfer kriechen am Ufer entlang wie leuchtende Insektenaugen. Das dunkle Wasser des Charles River kräuselt sich, und auf der anderen Seite der Harvard Bridge bildet die Stadt Boston eine glitzernde Barriere zwischen den Horten von Wirtschaft und Bildung und den Häfen und Buchten, die schließlich ins Meer übergehen. Für meine Mitarbeiter ist es eigentlich noch zu früh, außer es ist einer meiner Mordermittler, und ich kann mir keinen vernünftigen Grund vorstellen, der Toby, Sherry oder wer sonst gerade Bereitschaftsdienst hat, auf diese Etage verschlagen haben könnte. Genau genommen habe ich keine Ahnung, wer um Mitternacht seine Schicht angetreten hat. Also versuche ich, mich zu erinnern, welche Autos bei meiner Ankunft vor etwa einer Stunde auf dem Parkplatz standen. Die üblichen weißen SUV und Transporter und eines unserer mobilen Labors, wenn ich mich recht entsinne. Sonst ist mir nichts aufgefallen, weil ich zu sehr mit meinem iPhone beschäftigt war, das mich mit ständigen Signaltönen und Nachrichten an Telefonkonferenzen, Termine und auch daran erinnert hat, dass ich heute noch zum Gericht muss. Situative Unaufmerksamkeit, Folge von Multitasking, sage ich mir gereizt. Ich sollte besser auf meine Umgebung achten, tadle ich mich selbst. Trotzdem muss ich mir nun wirklich nicht auch noch darüber den Kopf zerbrechen, wer im Moment Dienst hat. Verärgert denke ich an meinen Chefermittler Pete Marino, dem es inzwischen offenbar zu lästig geworden ist, den elektronischen Terminkalender zu aktualisieren. Wie schwer kann es denn sein, Namen von einer Datei in die andere zu ziehen, damit ich den Dienstplan vorliegen habe? Er lässt das nun schon geraume Zeit schleifen und verbunkert sich außerdem. Wahrscheinlich sollte ich ihn zum Essen zu mir nach Hause einladen, eines seiner Lieblingsgerichte kochen und ihn fragen, was ihn bedrückt. Allerdings zerrt diese Vorstellung an meiner Geduld, und von der habe ich derzeit viel zu wenig. Ein Geistesgestörter. Oder vielleicht wäre böse das bessere Wort. Ich spitze die Ohren, um herauszufinden, wer sich hier herumdrückt, höre aber nichts. Währenddessen durchforste ich das Internet, klicke Dateien an und grüble immer wieder über dieselben Fragen nach. Allmählich wird mir klar, wie viel Kraft mich das kostet und wie wütend es mich macht. Jetzt hast du ausnahmsweise mal bekommen, was du wolltest. Ich habe wirklich schon viele grausige und abstoßende Dinge gesehen und stecke das alles irgendwie weg. Doch am gestrigen Abend bin ich völlig überrumpelt worden. Es war ein ruhiger Sonntag zu Hause mit Benton, meinem Mann. Musik spielte, und das MacBook stand aufgeklappt auf dem Tisch, nur für den Fall, dass etwas geschehen sollte, von dem ich sofort erfahren musste. Ich war völlig entspannt und in die Aufgabe vertieft, eines seiner Lieblingsgerichte zuzubereiten, risotto con spinaci come lo fanno a sondrio. Während ich darauf wartete, dass das Wasser im Topf kochte, trank ich einen Riesling Geheimrat „J", der mich an unsere kürzliche Wienreise und den emotionsgeladenen Grund dafür erinnerte. Und so schwelgte ich in Erinnerungen an geliebte Menschen, kochte ein köstliches Essen und genoss dabei einen leichten Wein, als um Punkt 18 Uhr 30 Ostküstenzeit die E-Mail mit angehängter Videodatei auf meinem Computer landete. Den Absender kannte ich nicht: BLiDedwood@stealthmail. com. Es gab keine Nachricht, nur einen Betreff: ZU HÄNDEN VON CHIEF MEDICAL EXAMINER KAY SCARPETTA, fett und in Großbuchstaben. Anfangs wusste ich mit dem achtzehnsekündigen Video ohne Ton nichts Rechtes anzufangen, zusammengestückelte Szenen einer Fahrt mit dem Schnellboot in einem mir unbekannten Teil der Welt. Bei der ersten Durchsicht erschien mir der Film harmlos und sagte mir auch nicht viel, und ich war sicher, dass jemand ihn mir versehentlich geschickt hatte. Doch dann stoppte die Aufnahme plötzlich und wurde von einer jpg-Datei abgelöst, einem Bild, das den Betrachter ganz offensichtlich schockieren sollte. Wieder lasse ich eine Suchanfrage in den Cyberspace los, da ich nicht viel Hilfreiches über den Pachyrhinosaurus finden kann, einen pflanzenfressenden Dinosaurier mit breiter Schnauze, einem verhornten Gesichtspanzer und einem flachen Wulst. Ein ausgesprochen merkwürdiges Geschöpf, das einem zwei Tonnen schweren kurzbeinigen Rhinozeros mit einer grotesken Knochenmaske ähnelte, denke ich mir, als ich die gezeichnete Abbildung betrachte. Ein Reptil mit einem Gesicht, das man nicht leicht liebgewinnt. Allerdings ist es Emma Shubert gelungen, und nun fehlt der achtundvierzigjährigen Paläontologin ein Ohr. Vielleicht ist sie auch tot. Oder beides. Die anonyme Mail wurde direkt ans CFC, das Cambridge Forensic Center, geschickt, dessen Leiterin ich bin. Ich stelle mir vor, wie ein Schnellboot über einen Tausende von Kilometern nordwestlich von hier gelegenen Fluss in einem gottverlassenen Winkel der Erde rast. Ich mustere die überbelichtete gespenstische Gestalt im Heck, die vermutlich auf einer Bank sitzt, und zwar direkt gegenüber der Person mit der Kamera. Wer bist du? Und im nächsten Moment wird der steile, felsige Abhang, wie ich inzwischen weiß, eine Ausgrabungsstätte für Dinosaurier, von einem grausigen und abstoßenden Foto abgelöst. Zwei Das abgetrennte menschliche Ohr ist zart und klar konturiert. Die geschwungene Ohrmuschel ist unbehaart. Ein rechtes Ohr. Vermutlich weiß. Oder hellhäutig, genauer kann ich es nicht feststellen. Wahrscheinlich von einer Frau, ganz sicher nicht das Ohr eines erwachsenen Mannes oder eines Kleinkindes. Allerdings kann ich ein älteres Mädchen oder einen Jungen nicht ausschließen. Das Ohrläppchen ist genau in der Mitte durchstochen. Das blutige Stück Zeitung, auf dem das Ohr fotografiert worden ist, kann ich mühelos als eine Seite der Grande Prairie Herald-Tribune identifizieren, Emma Shuberts Lokalzeitung, während sie im letzten Sommer in der Peace Region im nordwestlichen Kanada gearbeitet hat. Ein Datum erkenne ich nicht, nur den Teil eines Artikels über den Bergkiefernkäfer. Was willst du von mir? Ich arbeite mit dem Verteidigungsministerium zusammen, genauer genommen mit den Armed Forces Medical Examiners, abgekürzt AFME, der Rechtsmedizin des Militärs. Das heißt, dass mein Zuständigkeitsbereich zwar die gesamten Vereinigten Staaten umfasst, aber eindeutig nicht Kanada. Falls Emma Shubert ermordet wurde, werde ich den Fall nicht untersuchen, außer ihre Leiche wird Tausende von Kilometern südöstlich vom Schauplatz ihres Verschwindens aufgefunden, und zwar hier in dieser Gegend. Wer also hat mir das hier geschickt, und was soll ich davon halten oder deshalb unternehmen? Vielleicht das, was ich seit gestern Abend um halb sieben tue. Die Strafverfolgungsbehörden verständigen, grübeln, zornig sein und mich hilflos fühlen. An der Tür des forensischen Computerlabors nebenan öffnet sich klickend ein biometrisches Schloss. Also nicht Toby oder ein anderer Ermittler, sondern meine Nichte Lucy, eine freudige Überraschung, mit der ich nicht gerechnet habe. Denn ich hatte gehört, dass sie mit dem Helikopter wegfliegen wollte, vielleicht nach New York, doch ich bin nicht sicher. In letzter Zeit war sie sehr damit beschäftigt, ihr Landhaus einzurichten, wie sie das gewaltige Anwesen nennt, das sie nordwestlich von hier, in Lincoln, gekauft hat. Außerdem fliegt sie ständig zwischen Texas und hier hin und her, um ihren neuen zweimotorigen Hubschrauber registrieren zu lassen, der vor kurzem geliefert worden ist. Sie hat alle Hände voll zu tun und sagt, ich könne ihr nicht dabei helfen. Meine Nichte hat ihre Geheimnisse. Das war schon immer so, und es entgeht mir nie. Bist du es?, schicke ich ihr eine SMS. Kaffee? Im nächsten Moment steht sie in meiner offenen Tür, schlank und ausgesprochen durchtrainiert in einem engen schwarzen T-Shirt, einer Cargohose aus schwarzer Seide und schwarzen Lederturnschuhen. An ihren kräftigen Unterarmen und Handgelenken treten die Adern hervor. Ihr rötliches, gesträhntes Haar ist noch feucht vom Duschen. Sie sieht aus, als käme sie gerade aus dem Fitnesscenter und sei unterwegs zu einem Rendezvous mit jemandem, den ich nicht kenne. Und dabei ist es noch nicht einmal sieben Uhr morgens. „Guten Morgen." Ich spüre wieder, wie sehr ich mich freue, wenn sie hier ist. „Ich dachte, du fliegst weg." „Du bist früh hier." „Es haben sich histologische Proben angesammelt, die ich abarbeiten muss, was ich aber wahrscheinlich nicht schaffen werde", erwidere ich. „Außerdem muss ich heute Nachmittag zum Gericht. Der Fall Mildred Lott, oder vielleicht sollte ich besser sagen, das Spektakel Mildred Lott. Mich zu einer Aussage zu zwingen, ist nichts weiter als Theater." „Es könnte mehr dahinterstecken." Auf Lucys hübschem Gesicht malt sich ein ziemlich besorgter Ausdruck. „Ja, es wird möglicherweise peinlich. Eigentlich rechne ich sogar damit." Ich sehe sie neugierig an. „Nimm auf jeden Fall Marino mit." Sie ist mitten auf dem dunkelgrauen Teppich stehengeblieben und späht in die geodätische Glaskuppel hinauf. „Wahrscheinlich warst du es, die ich in der letzten Stunde hier habe herumlaufen hören", bohre ich weiter. „Ich hatte schon befürchtet, es könnte ein Unbefugter im Haus sein." Das ist meine Methode, sie zu fragen, was mit ihr los ist. „Ich war es nicht", entgegnet sie. „Ich bin gerade erst angekommen und wollte nur rasch etwas nachschauen." „Keine Ahnung, wer sonst noch hier sein könnte und wer Dienst hat", füge ich hinzu. „Also warst du es nicht? Aber was könnte jemand von der Nachtschicht in dieser Etage wollen?" „Marino ist der Übeltäter. Zumindest diesmal. Mich wundert, dass du seine Spritschleuder auf dem Parkplatz nicht bemerkt hast." Ich spare mir die Antwort, dass da gerade die Richtige redet. Meine Nichte würde nie etwas fahren, was weniger als 500 PS hat, für gewöhnlich V12-Motoren, vorzugsweise italienisch, obwohl ihre letzte Neuererwerbung britischer Herkunft ist. Das glaube ich zumindest, könnte mich aber auch irren. Luxuskarossen sind nicht mein Spezialgebiet. Außerdem habe ich nicht so viel Geld wie sie und würde es auch nicht für Ferrari und Helikopter ausgeben, selbst wenn ich es hätte. „Was macht der denn schon so früh hier?", wundere ich mich. „Er hat letzte Nacht beschlossen, den Dienst zu übernehmen, und Toby nach Hause geschickt." „Was soll das heißen, dass er beschlossen hat, den Dienst zu übernehmen? Er ist doch gestern erst aus Florida zurückgekommen. Warum sollte er Bereitschaftsdienst schieben? Das tut er doch sonst nie." Ich verstehe das alles nicht. „Ein Glück, dass keine wichtigen Fälle reingekommen sind, die es nötig gemacht hätten, zum Tatort zu fahren, denn Marino hat vermutlich geschlafen", sagt sie. „Oder über Twitter Nachrichten verschickt. Was keine gute Idee ist. Nicht mitten in der Nacht, wenn er zu übertriebener Offenherzigkeit neigt." „Ich blicke da nicht mehr durch." „Hat er dir nicht erzählt, dass er in der Ermittlungsabteilung ein aufblasbares AeroBed aufgestellt hat?", fragt sie. „Betten sind hier verboten. Wer Bereitschaft hat, darf nicht schlafen. Seit wann hat er denn Dienst?", wiederhole ich. „Seit er mit seiner Soundso Stress hat." „Wem?" „Oder er bastelt Installationen und möchte nicht mehr Auto fahren." Ich habe keine Ahnung, wovon Lucy spricht. „Was in letzter Zeit häufig passiert." Sie schaut mir in die Augen. „Er hat Soundso bei Twitter kennengelernt und irgendwann von der Liste seiner Follower gestrichen. Sie hat ihn so richtig zum Narren gehalten." „Installationen?" „Minifläschchen, die er zu Installationen verarbeitet, nachdem er den Inhalt ausgetrunken hat. Das hast du aber nicht von mir." Ich erinnere mich an den 11. Juli, Marinos Geburtstag, für ihn noch nie ein freudiges Ereignis, was mit zunehmendem Alter immer schlimmer wird. „Das musst du ihn selbst fragen, Tante Kay", fügt Lucy hinzu, während ich an meinen Besuch in seinem neuen Haus in West Cambridge denke. Ein Holzhaus auf einem briefmarkengroßen Grundstück, mit offenen Kaminen und, wie er nicht müde wird zu betonen, einem echten Parkettboden. Dazu ein ausgebauter Keller, den er mit einer Sauna, einer Werkstatt und einem Sandsack fürs Boxtraining ausgestattet hat. Als ich mit einem Geburtstagskorb bestückt mit selbst gemachter Spargelquiche und einer mit weißer Schokolade gefüllten Bisquitrolle in Salamioptik vorgefahren kam, stand er gerade auf einer Leiter und befestigte eine Lichterkette mit kleinen gläsernen Totenschädeln an der Dachkante. Minifläschchen Crystal-Head-Wodka, die er direkt bei der Destillerie bestellt und zu Installationen verarbeitet, verkündete er, bevor ich ihn danach fragen konnte, als wolle er andeuten, er habe leere Fläschchen gekauft, und zwar zu Hunderten. Vorbereitungen für Halloween, fügte er großspurig hinzu. Ab diesem Moment hätte ich wissen müssen, dass er wieder trank. „Ich weiß nicht mehr, was du heute vorhattest, außer vielleicht eine weitere Schweinefarm in den Ruin zu treiben", sage ich zu Lucy, während ich mich bemühe, nicht an all die schrecklichen Dinge zu denken, die Marino schon im betrunkenen Zustand angestellt hat. „Südwestliches Pennsylvania." Sie schaut sich weiter in meinem Büro um, als ob sich dort ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis etwas verändert hätte. Aber da ist nichts. Zumindest fällt mir nichts ein. Bis auf den Bonsai-Wacholder auf meinem Konferenztisch aus gebürstetem Stahl ist nichts hinzugekommen. Die Fotos, Urkunden und Zeugnisse, die sie betrachtet, sind noch dieselben. Ebenso wie die Orchideen, Gardenien und die Sagopalme. Mein schwarzer gebogener Schreibtisch mit der laminierten Platte und passendem Ausklappteil steht da wie eh und je. Ebenso wie die Arbeitsfläche aus schwarzem Granit hinter meinem Stuhl, auf die sie nun zusteuert. Vor kurzem habe ich den Mikrodissektion-Laser dort gegen ein ScanScope ausgetauscht, mit dem ich auch Objektträger betrachten kann. Ich beobachte, wie Lucy den Monitor überprüft und ihn ein- und wieder ausschaltet. Sie greift nach der Tastatur, dreht sie um und widmet sich dann meinem treuen Leica-Mikroskop, das ich niemals hergeben werde, weil ich nichts so sehr vertraue wie meinen eigenen Augen. „Schweine und Hühner in Washington County, das gleiche alte Lied", erwidert sie, während sie weitergeht, alles forschend mustert, Dinge zur Hand nimmt und wieder weglegt. „Die Farmer bezahlen einfach die Geldstrafe und machen weiter wie gehabt", fügt sie hinzu. „Du solltest mal mitfliegen und einen Blick auf diese Schweineställe werfen, Zuchtbetriebe, wo die Tiere eingepfercht werden wie die Ölsardinen. Diese Leute behandeln ihre Tiere schändlich, auch die Hunde." Mit einem Zischen trifft eine SMS auf ihrem iPhone ein. Sie liest sie. „Die Abwässer leiten sie dann in Bäche und Flüsse." Sie tippt eine Nachricht mit den Daumen und schmunzelt dabei, als habe sie den Adressaten gern oder fände ihn amüsant. „Hoffentlich erwischen wir diese Arschlöcher in flagranti, damit ihnen der Laden dichtgemacht wird." „Ich hoffe eher, dass du vorsichtig bist." Ihr neu entdecktes Umweltbewusstsein besorgt mich ein wenig. „Wenn man den Lebensunterhalt anderer Leute gefährdet, kann das unerfreuliche Folgen haben." „So wie bei ihr?" Sie deutet auf meinen Computer und die Bilder, die ich darauf betrachte. „Ich habe keine Ahnung", räume ich ein. „Wessen Lebensunterhalt hat Emma Shubert gefährdet?" „Ich weiß nur, dass sie zwei Tage vor ihrem Verschwinden einen Zahn gefunden hat", antworte ich. „Offenbar ist es seit langem der erste in einer sedimentären Schicht, einem sogenannten Knochenbett, entdeckte Zahn. Sie und einige andere Wissenschaftler hatten erst vor einigen Sommern mit den Ausgrabungen dort angefangen." „Ein Knochenbett, das sich als das ergiebigste von allen erweisen könnte", ergänzt Lucy. „Der Begräbnisplatz einer ganzen Dinosaurierherde, deren Tiere alle gleichzeitig gestorben sind, ist etwas wirklich Ungewöhnliches, ja, vielleicht sogar Einmaliges. Es ist eine noch nie da gewesene Chance, vollständige Skelette zusammenzusetzen und damit ein Museum einzurichten, das Touristen, Dinofreunde und Naturliebhaber aus der ganzen Welt anziehen würde. Außer natürlich, das Gelände wäre verseucht, dann käme nämlich niemand." Man kann nichts über Grande Prairie lesen, ohne dass darin nicht die wirtschaftliche Bedeutung der dortigen Erdgas- und Erdölvorkommen erwähnt würde. „Über zweitausendfünfhundert Kilometer lange Pipelines wird synthetisches Rohöl aus den Teersänden von Alberta in die Raffinerien im Mittleren Westen und dann bis zum Golf von Mexiko transportiert", erklärt Lucy und verschwindet in meinem Bad, wo auf der Ablage neben dem Waschbecken eine Kaffeepadmaschine und eine Espressomaschine stehen. „Umweltverschmutzung, Treibhauseffekt, die absolute Zerstörung. „ „Nimm die MonoDose von Illy. In der silbernen Dose", rufe ich ihr nach. „Für mich einen Doppelten." „Ich brauche heute Morgen einen Café Cubano." „Der Rohrzucker ist im Schrank", erwidere ich, trinke den letzten Schluck kalten Kaffee und drücke wieder auf Play. Was habe ich übersehen? Irgendetwas muss da sein. Ich werde dieses Bauchgefühl nicht los und mustere noch einmal die überbelichtete Gestalt, deren Züge im grellen Sonnenschein nicht auszumachen sind. Offenbar ist die Person nicht sehr groß, also entweder eine Frau oder ein zierlich gebauter Mann, ja, vielleicht sogar ein älteres Kind, das einen Sonnenhut mit Schleier und einer breiten Krempe trägt. Er oder sie hält den Hut mit zwei Fingern der linken Hand fest, vielleicht, damit er nicht davongeweht wird, aber ich bin nicht sicher. Ich kann keine Einzelheiten im dunklen Gesicht der Gestalt erkennen. Auch nicht an der Kleidung, nur dass es eine langärmelige Jacke oder ein weites Hemd und eben der Sonnenhut zu sein scheint. Ein kaum wahrzunehmendes Funkeln im rechten Schläfenbereich weist auf eine Brille, womöglich eine Sonnenbrille, hin. Ich weiß also nicht viel mehr als vor etwa zwölf Stunden, als mir der Anhang per E-Mail zugegangen ist. „Vom FBI habe ich nichts mehr gehört, doch Benton hat für heute eine Besprechung anberaumt, vorausgesetzt, ich komme rechtzeitig vom Gericht zurück", übertöne ich das Zischen der Espressomaschine. „Eigentlich eher eine lockere Unterhaltung, denn bis auf das Video ist ja noch nichts passiert." „Doch, ist es", ertönt Lucys Stimme aus dem Bad. „Jemandem ist das Ohr abgeschnitten worden." Drei Der äußere Rand des Ohrs, die Ohrmuschel, ist offenbar säuberlich vom Bindegewebe des Schläfenmuskels abgetrennt worden. Ich habe das Bild so stark vergrößert, wie es möglich war, ohne dass alles verschwimmt. Die sichtbaren Ränder der Schnittwunde wirken scharf und regelmäßig. Ich kann weder bleiche Stellen noch einen Hinweis darauf erkennen, dass das durchtrennte Gewebe umgestülpt oder eingesackt ist, was ich erwarten würde, hätte die Amputation lange nach dem Tod stattgefunden - zum Beispiel, wenn das Ohr von einer einbalsamierten Leiche an der medizinischen Fakultät stammen würde. Das Ohr und das Blut auf der Zeitung sind offenbar neueren Datums. Allerdings kann ich nicht feststellen, ob es sich um Menschenblut handelt, und mit Ohren ist es eine schwierige Sache. Sie sind nicht besonders stark durchblutet, weshalb es durchaus möglich ist, jemandem vor oder nach dem Tod das Ohr abzuschneiden und es wochenlang zu kühlen. Auch dann würde es auf einem Foto noch so frisch aussehen, dass ich unmöglich feststellen könnte, ob das Opfer bei der Amputation noch gelebt hat. Das Bild ist für meine Zwecke absolut ungeeignet, wie ich Lucy erkläre. Ich muss das Ohr selbst untersuchen, die Schnittränder auf körperliche Reaktionen überprüfen und die DNA mit dem National DNA Index (NDIS) und dem Combined DNA Index System (CODIS) abgleichen, nur für den Fall, dass der Besitzer ein Vorstrafenregister hat. „Ich habe bereits aktuelle Fotos von ihr gefunden, und zwar ziemlich viele auf verschiedenen Webseiten. Einige sind entstanden, als sie in diesem Sommer in Alberta gearbeitet hat", lässt Lucy sich aus meinem Bad vernehmen. Wir sprechen so laut, dass wir einander verstehen können. „Aber wir können aus offensichtlichen Gründen keinen Eins-zu-eins-Abgleich vornehmen. Ich muss die Größe und den Winkel noch richtig anpassen, doch die gute Nachricht ist, dass das Übereinanderlegen zumindest eines gebracht hat: Wir können nicht ausschließen, dass sie es ist. Ich habe dir die Datei geschickt", fügt sie hinzu. „Damit du die Vergleiche allen Teilnehmern deiner Besprechung zeigen kannst." „Bist du so gegen fünf zurück?" „Mir war nicht klar, dass ich eingeladen bin", übertönt sie die Geräusche des nächsten sich in Produktion befindlichen Espresso. „Natürlich bist du das." „Und wer sonst noch?" „Einige Agents von der Außenstelle in Boston. Douglas, glaube ich." Damit meine ich Douglas Burke, eine FBI-Agentin, deren Vorname leicht zu Missverständnissen führt. „Keine Ahnung, wer noch. Und Benton." „Ich habe keine Zeit", entgegnet Lucy. „Nicht, wenn sie dabei ist." „Deine Anwesenheit wäre wirklich hilfreich. Was hast du denn für ein Problem mit Douglas?" „Alles. Nein, danke." Da meine Nichte zu Anfang ihrer Karriere als Ermittlerin beim FBI und beim ATF vor die Tür gesetzt worden ist, hegt sie nicht unbedingt freundschaftliche Gefühle für diese Bundesbehörden. Mich bringt das manchmal in die Bredouille, denn schließlich ist mein Mann Criminal Intelligence Analyst, oder Profiler, beim FBI, während ich einen besonderen Reservistenstatus im Verteidigungsministerium innehabe. Also sind wir beide Teil eines Systems, das sie ablehnt und verachtet, der Strafverfolgungsbehörden des Bundes, die sie abgewiesen und gefeuert haben. Um es kurz zu sagen, Lucy Farinelli, meine einzige Nichte, die ich großgezogen habe wie eine eigene Tochter, findet, dass Regeln etwas für Minderbemittelte sind. Sie hat als Agent mit dem Feuer gespielt, und sie tut es auch jetzt als Computergenie. Wenn es sie nicht gäbe, wäre mein Leben öde und leer. „Wir haben es mit jemandem zu tun, der ziemlich gerissen ist." Sie kommt mit zwei Kaffeegläsern und einem kleinen Edelstahlkrug aus dem Bad. „Das klingt gar nicht gut", erwidere ich. „Dass du jemanden für gerissen hältst, hat Seltenheitswert." „Ein hinterhältiger Mensch, der zwar in vielerlei Hinsicht schlau, aber auch zu sehr von sich selbst überzeugt ist, um zu bemerken, was er alles nicht weiß." Sie schenkt starken, süßen Espresso mit einer hellbraunen Schaumschicht darauf ein. Die coladas hat sie sich angewöhnt, als sie vor vielen Jahren in der Außenstelle des ATF in Miami beschäftigt war. Bevor sie in eine üble Schießerei verwickelt wurde. „Die Adresse BLiDedwood ist ziemlich verräterisch." Sie stellt ein Glas und den Krug neben meine Tastatur. „Mir sagt sie nichts." „Billy Dedwood", erklärt sie. „Okay." Ich lasse das auf mich wirken. „Und das ist wer?" Lucy umrundet meinen Schreibtisch und tippt auf die Granitplatte hinter mir, so dass die beiden Videoschirme darauf zum Leben erwachen. Bildschirmschoner leuchten rot, golden und blau auf, die Insiginien des CFC und des AFME nebeneinander, ein Hermesstab mit der Waage der Justitia und Spielkarten, Paare von Achtern und Assen, das Blatt des toten Mannes, das Wild Bill Hickok angeblich in der Hand hielt, als er 1876 während eines Pokerspiels erschossen wurde. „Das Logo des AFME." Sie zeigt auf das Kartenspiel auf dem Computerbildschirm. „Wild Bill Hickok, auch Billy genannt, wurde in Deadwood, South Dakota, umgebracht. Und was es bedeutet? Tja, Tante Kay, ich hoffe nur, dass es kein Mensch aus deiner Vergangenheit ist." „Was bringt dich denn auf diesen Gedanken?" „Zum Beispiel, dass derjenige eine vorübergehende kostenlose E-Mail-Adresse benutzt hat, die sich innerhalb von dreißig Minuten von selbst löscht, also praktisch in Luft auflöst?", entgegnet Lucy. „Gut, das ist nicht so ungewöhnlich, weil jeder x-Beliebige so etwas tun könnte. Hinzu kommt aber, dass diese Person dir die E-Mail durch einen kostenlosen und anonymen Server hat zukommen lassen. In diesem Fall war es ein ganz besonders gut abgesicherter, dessen Host-Name nicht zu ermitteln ist. Standort ist Italien." „Also kann niemand auf die Mail antworten, weil das vorübergehende Konto nach dreißig Minuten gelöscht wird und nicht mehr existiert." „Richtig." „Und niemand kann die IP aufspüren und herausfinden, von wo aus die Mail verschickt worden ist", folge ich ihrem Gedankengang. „Genau darauf verlässt sich der Absender." „Und wir sollen annehmen, dass die Mail von jemandem in Italien stammt." „In Rom", ergänzt sie. „Doch das ist nur ein Trick." „Richtig", erwidert sie. „Wer auch immer dir diese Mail geschickt haben mag, er war um halb sieben Uhr gestern Abend unserer Zeit ganz sicher nicht in Rom." „Was ist mit der Schriftart?" Ich betrachte noch einmal die Betreffzeile der Mail. ZU HÄNDEN VON MEDICAL EXAMINER KAY SCARPETTA „Hat die eine Bedeutung?", erkundige ich mich. „Sehr retro. Erinnert an die Fünfziger und Sechziger. Die großen, quadratischen Buchstaben mit den abgerundeten Ecken sollen den Fernsehgeräten jener Zeit ähneln. Deiner Zeit", hänselt sie mich. „Bitte nimm mich so früh am Morgen nicht auf den Arm." „Eurostile wurde von dem italienischen Schriftendesigner Aldo Novarese entwickelt", fährt sie fort. „Die Schrift wurde ursprünglich für eine Schriftgießerei in Turin namens Nebiolo entworfen. „ „Und was heißt das deiner Ansicht nach?" „Keine Ahnung." Sie zuckt die Achseln. „Eine mögliche Verbindung nach Italien?" „Das bezweifle ich. Ich glaube, der Absender ist davon ausgegangen, dass du die wahre IP-Adresse nicht aufspüren kannst", erwidert sie, und ich weiß, was jetzt gleich kommt. Und was sie getan hat. „In anderen Worten", spricht sie weiter, „dass wir den tatsächlichen Ort, von dem sie stammt, nicht in Erfahrung bringen können, nämlich ..." „Lucy", falle ich ihr ins Wort. „Ich möchte nicht, dass du solche Schritte unternimmst." Sie hat es bereits getan. „Diese anonymen kostenlosen Angebote gibt es zuhauf", fährt sie fort, als könnte sie kein Wässerlein trüben. „Ich will nicht, dass du dich in irgendeinen anonymen Server in Italien oder sonst irgendwo einloggst", teile ich ihr rundheraus mit. „Die Mail wurde dir von jemandem geschickt, der Zugriff auf das LAN-Netzwerk am Logan Airport hatte." „Die Mail kam vom Bostoner Flughafen?" „Der Videoclip wurde dir aus dem LAN-Netzwerk am Logan Airport geschickt, das sind mal gerade verdammte zehn Kilometer von hier", bestätigt sie. Also ist es kein Wunder, dass sie dahinter jemanden vermutet, den wir kennen. Ich denke an Bryce Clark, meinen Verwaltungschef, an Pete Marino und an einige andere Forensikexperten in diesem Gebäude. Ein paar Mitarbeiter des CFC waren letzte Woche auf der Jahrestagung der International Association for Identification in Tampa, Florida. Alle sind gestern gemeinsam zurück nach Boston geflogen, und zwar um dieselbe Zeit, als die anonyme Mail ans CFC gesendet wurde. „Irgendwann gestern Abend, kurz vor sechs", erklärt Lucy, „hat sich die betreffende Person in das kostenlose Netzwerk am Flughafen eingeloggt, wie es jeden Tag Tausende von Fluggästen tun. Das bedeutet aber nicht, dass der Absender der Mail sich tatsächlich in einem Terminal oder an Bord eines Flugzeugs befunden hat." Derjenige hätte auch in einem Parkhaus sein können, fährt sie fort, auf einem Gehweg, in einem Wassertaxi, auf einer Fähre am Hafen oder sonst irgendwo innerhalb der Reichweite des Funksignals. Sobald dieser Mensch im Netz war, hat er ein vorübergehendes E-Mail-Konto mit dem Namen BLiDedwood@stealthmail eingerichtet und vermutlich ein Textverarbeitungsprogramm benutzt, um den Betreff in Eurostile zu schreiben und die Zeile anschließend in die Mail einzufügen. „Er hat mit dem Absenden neunundzwanzig Minuten gewartet „, spricht Lucy weiter. „Leider weiß er nun zu seiner Freude, dass die Mail geöffnet worden ist." „Woher weiß er das?" „Weil er keine Rückmeldung, keine Nondelivery-Notice, erhalten hat", entgegnet sie. „Denn die wäre wenige Sekunden bevor das Konto sich selbst gelöscht hat, eingetroffen. Also hat er keinen Grund anzunehmen, dass die Mail nicht geöffnet worden ist." Ihr Tonfall hat sich verändert. Jetzt klingt sie, als wolle sie mich tadeln. „Die Rückmeldung erfolgt sofort, wenn es sich um eine unerwünschte oder mit Viren infizierte Nachricht handelt, die an die Hauptadresse des CFC geht", erinnert sie mich. „Der Zweck der Übung ist, dem Absender den Eindruck zu vermitteln, dass die Mail nicht zugestellt werden konnte. In Wirklichkeit aber landen verdächtige Mails, bis auf wenige und bedauerliche Ausnahmen, in einem Ordner, der bei mir Quarantäne heißt, damit ich sie begutachten und den Grad der Gefährlichkeit einschätzen kann", betont sie, und inzwischen ahne ich, worauf sie hinauswill. „Diese Mail habe ich deshalb nie zu Gesicht bekommen, weil sie nicht im Ordner Quarantäne geendet ist." Mit den wenigen und bedauerlichen Ausnahmen meint sie mich. „Die Firewalls, die ich eingerichtet habe, haben die Mail als unbedenklich eingestuft, und zwar wegen des Betreffs Zu Händen von Chief Medical Examiner Kay Scarpetta", verkündet sie, als ob das meine Schuld wäre, was auch stimmt. „Alles, was direkt an dich adressiert ist, wird nicht auf Spam-Verdacht untersucht oder im Quarantäne-Ordner zwischengelagert, weil das deine Anweisung an mich war. Gegen meinen Wunsch, wie du sicher noch weißt." Sie sieht mir in die Augen, und sie hat recht. Doch das Kind ist nun mal in den Brunnen gefallen. „Siehst du jetzt, welche Folgen es haben kann, wenn ich dir erlaube, meine Sicherheitsmaßnahmen zu unterlaufen?", hakt sie nach. „Ich verstehe, dass du verärgert bist, Lucy. Doch es handelt sich um den einzigen Weg, auf dem die Menschen, insbesondere Polizisten oder Angehörige, mich erreichen können, wenn sie meine direkten Kontaktdaten beim CFC nicht kennen", wiederhole ich zum wohl tausendsten Mal. „Wenn mir jemand etwas zu meinen Händen schickt, will ich ganz sicher nicht, dass es zwischen den Spams untergeht." „Ein Jammer nur, dass du die Mail als Erste geöffnet hast", erwidert Lucy. „Normalerweise wäre Bryce dir zuvorgekommen." „Zum Glück ist er das nicht." Mein Verwaltungschef ist nämlich sehr sensibel und äußerst zart besaitet. „Richtig. Er hat die Mail nicht gesehen, weil er gerade auf dem Rückweg von einer Reise war. Er und einige andere waren eine Woche lang weg", stellt Lucy fest, als ob der Zeitpunkt kein Zufall wäre. „Machst du dir Sorgen, der Absender der Mail könnte wissen, was sich beim CFC so tut?", frage ich. „Richtig." Sie rollt sich einen Stuhl heran und schenkt Kaffee nach. Der frische Grapefruitduft ihres Parfüms steigt mir in die Nase. An ihm erkenne ich stets selbst mit geschlossenen Augen, ob meine Nichte in einem Aufzug oder einem Raum gewesen ist. Der Geruch ist unverwechselbar. „Es wäre leichtsinnig, die Möglichkeit auszuschließen, dass sich jemand für uns und unsere Arbeit hier interessiert", fügt sie hinzu. „Jemand, der Spielchen treibt und denkt, dass er schlauer ist als der liebe Gott. Ein Mensch, der Spaß daran hat, andere in Angst und Schrecken zu versetzen und sie nach seiner Pfeife tanzen zu lassen." Inzwischen steht für mich fest, warum sie sich heute Morgen in meinem Büro herumdrückt. Sie ist gekommen, um etwas nachzuschauen, weil sie überbehütend und außerdem ausgesprochen argwöhnisch ist. Seit Lucy laufen gelernt hat, fordert sie meine Aufmerksamkeit und beobachtet mich mit Argusaugen. „Befürchtest du, Marino könnte in die Sache verwickelt sein? Dass er mir nachspioniert oder mir sonst irgendwie schaden will?" Ich logge mich in meine Mails ein. „Ihm sind zwar alle möglichen Dummheiten zuzutrauen", erwidert sie, als schwebten ihr dabei ein paar ganz bestimmte vor. „Aber für so etwas ist er nicht schlau genug. Welches Motiv sollte er außerdem haben? Die Antwort lautet: gar keins."
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
In der Peace Region im nordwestlichen Alberta, wo der Red Willow River und der Wapiti River zusammentreffen, bricht sich dunkelgrünes Wasser schäumend an den Stämmen umgestürzter Bäume und den grauen sandigen Inselchen mit ihren weißen Kiesstränden. Die Hügel sind dicht mit Schwarzfichten und Espen bewachsen, deren Schösslinge in steilen Winkeln aus Uferböschungen und Felswänden ragen. Ihre schlanken Stämme recken sich der Sonne entgegen, bis irgendwann die Schwerkraft obsiegt und sie jäh abknicken lässt. Totes Holz bedeckt die Ufer und sammelt sich, von der Strömung ein ums andere Mal herumgewirbelt, zwischen geborstenen Baumstümpfen und zersplitterten Ästen, Treibgut, das im endlosen Kreislauf des Lebens, des Werdens und Vergehens, des Verfalls, der Wiederauferstehung und des Todes, stromabwärts getragen wird. Von menschlichen Behausungen fehlt jede Spur; so weit das Auge reicht, kann ich weder die Hinterlassenschaften der Zivilisation, Umweltschäden oder auch nur ein einziges Gebäude erkennen. Ich male mir eine Naturkatastrophe vor siebzig Millionen Jahren aus, bei der eine Herde durchziehender Pachyrhinosaurier, einer nach dem anderen, ihr Leben ausgehaucht hat. Hunderte von ihnen ertranken, zappelnd in Todesangst, als sie versuchten, den Fluss während eines Hochwassers zu überqueren. Ihre gewaltigen Kadaver wurden entweder von Aasfressern vertilgt oder verwesten und zerfielen. Im Laufe der Zeit schoben Erdrutsche und Wassermassen die Knochen dann zusammen, bis sie sich in Gletschersedimente und Ausbuchtungen verwandelten, die vom 8 Granit des Flussbettes und von Geröll kaum noch zu unterscheiden waren. Die Szenen, die auf meinem Computermonitor an mir vorbeiziehen, könnten eine unberührte Wildnis zeigen, in die seit der Kreidezeit niemand mehr einen Fuß gesetzt hat, wenn da nicht noch etwas anderes klar zu sehen wäre: Die Videoaufnahmen wurden von einem Menschen gemacht, der eine Kamera bei sich hatte, während er über das seichte Wasser glitt und in halsbrecherischer Geschwindigkeit Sandbänke, halb aus dem Fluss ragende Felsstücke und tote Bäume umrundete. Es sind keine erkennbaren Einzelheiten vom Rumpf des Schnellboots, dem Fahrer oder den Passagieren an Bord auszumachen. Nur die Metallreling des Achterdecks und der Umriss einer Person, die sich schwarz vom grellen Sonnenlicht abhebt; ein scharf konturierter Schattenriss vor hellem aufgewühltem Wasser und einem weiten blauen Himmel.
Eins
Gerade werfe ich einen Blick auf meine überdimensionale Titanuhr an ihrem Kunststoffband und greife nach meinem Kaffee - schwarz, kein Süßstoff -, als sich auf dem Flur meines runden Institutsgebäudes Schritte nähern. Es steht am westlichen Rand des Campus, der zum Massachusetts Institute of Technology gehört. Wir haben den dritten Montag im Oktober. Draußen ist es noch nicht hell geworden. Sechzehn Stockwerke unter meinem Büro in der obersten Etage, auf dem Memorial Drive, fließt ein steter Strom an Fahrzeugen vorbei. Der Berufsverkehr setzt in Cambridge, völlig unabhängig von Jahreszeit und Wetter, stets schon lange vor Sonnenaufgang ein. Scheinwerfer kriechen am Ufer entlang wie leuchtende Insektenaugen. Das dunkle Wasser des Charles River kräuselt sich, und auf der anderen Seite der Harvard Bridge bildet die Stadt Boston eine glitzernde Barriere zwischen den Horten von Wirtschaft und Bildung und den Häfen und Buchten, die schließlich ins Meer übergehen. Für meine Mitarbeiter ist es eigentlich noch zu früh, außer es ist einer meiner Mordermittler, und ich kann mir keinen vernünftigen Grund vorstellen, der Toby, Sherry oder wer sonst gerade Bereitschaftsdienst hat, auf diese Etage verschlagen haben könnte. Genau genommen habe ich keine Ahnung, wer um Mitternacht seine Schicht angetreten hat. Also versuche ich, mich zu erinnern, welche Autos bei meiner Ankunft vor etwa einer Stunde auf dem Parkplatz standen. Die üblichen weißen SUV und Transporter und eines unserer mobilen Labors, wenn ich mich recht entsinne. Sonst ist mir nichts aufgefallen, weil ich zu sehr mit meinem iPhone beschäftigt war, das mich mit ständigen Signaltönen und Nachrichten an Telefonkonferenzen, Termine und auch daran erinnert hat, dass ich heute noch zum Gericht muss. Situative Unaufmerksamkeit, Folge von Multitasking, sage ich mir gereizt. Ich sollte besser auf meine Umgebung achten, tadle ich mich selbst. Trotzdem muss ich mir nun wirklich nicht auch noch darüber den Kopf zerbrechen, wer im Moment Dienst hat. Verärgert denke ich an meinen Chefermittler Pete Marino, dem es inzwischen offenbar zu lästig geworden ist, den elektronischen Terminkalender zu aktualisieren. Wie schwer kann es denn sein, Namen von einer Datei in die andere zu ziehen, damit ich den Dienstplan vorliegen habe? Er lässt das nun schon geraume Zeit schleifen und verbunkert sich außerdem. Wahrscheinlich sollte ich ihn zum Essen zu mir nach Hause einladen, eines seiner Lieblingsgerichte kochen und ihn fragen, was ihn bedrückt. Allerdings zerrt diese Vorstellung an meiner Geduld, und von der habe ich derzeit viel zu wenig. Ein Geistesgestörter. Oder vielleicht wäre böse das bessere Wort. Ich spitze die Ohren, um herauszufinden, wer sich hier herumdrückt, höre aber nichts. Währenddessen durchforste ich das Internet, klicke Dateien an und grüble immer wieder über dieselben Fragen nach. Allmählich wird mir klar, wie viel Kraft mich das kostet und wie wütend es mich macht. Jetzt hast du ausnahmsweise mal bekommen, was du wolltest. Ich habe wirklich schon viele grausige und abstoßende Dinge gesehen und stecke das alles irgendwie weg. Doch am gestrigen Abend bin ich völlig überrumpelt worden. Es war ein ruhiger Sonntag zu Hause mit Benton, meinem Mann. Musik spielte, und das MacBook stand aufgeklappt auf dem Tisch, nur für den Fall, dass etwas geschehen sollte, von dem ich sofort erfahren musste. Ich war völlig entspannt und in die Aufgabe vertieft, eines seiner Lieblingsgerichte zuzubereiten, risotto con spinaci come lo fanno a sondrio. Während ich darauf wartete, dass das Wasser im Topf kochte, trank ich einen Riesling Geheimrat „J", der mich an unsere kürzliche Wienreise und den emotionsgeladenen Grund dafür erinnerte. Und so schwelgte ich in Erinnerungen an geliebte Menschen, kochte ein köstliches Essen und genoss dabei einen leichten Wein, als um Punkt 18 Uhr 30 Ostküstenzeit die E-Mail mit angehängter Videodatei auf meinem Computer landete. Den Absender kannte ich nicht: BLiDedwood@stealthmail. com. Es gab keine Nachricht, nur einen Betreff: ZU HÄNDEN VON CHIEF MEDICAL EXAMINER KAY SCARPETTA, fett und in Großbuchstaben. Anfangs wusste ich mit dem achtzehnsekündigen Video ohne Ton nichts Rechtes anzufangen, zusammengestückelte Szenen einer Fahrt mit dem Schnellboot in einem mir unbekannten Teil der Welt. Bei der ersten Durchsicht erschien mir der Film harmlos und sagte mir auch nicht viel, und ich war sicher, dass jemand ihn mir versehentlich geschickt hatte. Doch dann stoppte die Aufnahme plötzlich und wurde von einer jpg-Datei abgelöst, einem Bild, das den Betrachter ganz offensichtlich schockieren sollte. Wieder lasse ich eine Suchanfrage in den Cyberspace los, da ich nicht viel Hilfreiches über den Pachyrhinosaurus finden kann, einen pflanzenfressenden Dinosaurier mit breiter Schnauze, einem verhornten Gesichtspanzer und einem flachen Wulst. Ein ausgesprochen merkwürdiges Geschöpf, das einem zwei Tonnen schweren kurzbeinigen Rhinozeros mit einer grotesken Knochenmaske ähnelte, denke ich mir, als ich die gezeichnete Abbildung betrachte. Ein Reptil mit einem Gesicht, das man nicht leicht liebgewinnt. Allerdings ist es Emma Shubert gelungen, und nun fehlt der achtundvierzigjährigen Paläontologin ein Ohr. Vielleicht ist sie auch tot. Oder beides. Die anonyme Mail wurde direkt ans CFC, das Cambridge Forensic Center, geschickt, dessen Leiterin ich bin. Ich stelle mir vor, wie ein Schnellboot über einen Tausende von Kilometern nordwestlich von hier gelegenen Fluss in einem gottverlassenen Winkel der Erde rast. Ich mustere die überbelichtete gespenstische Gestalt im Heck, die vermutlich auf einer Bank sitzt, und zwar direkt gegenüber der Person mit der Kamera. Wer bist du? Und im nächsten Moment wird der steile, felsige Abhang, wie ich inzwischen weiß, eine Ausgrabungsstätte für Dinosaurier, von einem grausigen und abstoßenden Foto abgelöst. Zwei Das abgetrennte menschliche Ohr ist zart und klar konturiert. Die geschwungene Ohrmuschel ist unbehaart. Ein rechtes Ohr. Vermutlich weiß. Oder hellhäutig, genauer kann ich es nicht feststellen. Wahrscheinlich von einer Frau, ganz sicher nicht das Ohr eines erwachsenen Mannes oder eines Kleinkindes. Allerdings kann ich ein älteres Mädchen oder einen Jungen nicht ausschließen. Das Ohrläppchen ist genau in der Mitte durchstochen. Das blutige Stück Zeitung, auf dem das Ohr fotografiert worden ist, kann ich mühelos als eine Seite der Grande Prairie Herald-Tribune identifizieren, Emma Shuberts Lokalzeitung, während sie im letzten Sommer in der Peace Region im nordwestlichen Kanada gearbeitet hat. Ein Datum erkenne ich nicht, nur den Teil eines Artikels über den Bergkiefernkäfer. Was willst du von mir? Ich arbeite mit dem Verteidigungsministerium zusammen, genauer genommen mit den Armed Forces Medical Examiners, abgekürzt AFME, der Rechtsmedizin des Militärs. Das heißt, dass mein Zuständigkeitsbereich zwar die gesamten Vereinigten Staaten umfasst, aber eindeutig nicht Kanada. Falls Emma Shubert ermordet wurde, werde ich den Fall nicht untersuchen, außer ihre Leiche wird Tausende von Kilometern südöstlich vom Schauplatz ihres Verschwindens aufgefunden, und zwar hier in dieser Gegend. Wer also hat mir das hier geschickt, und was soll ich davon halten oder deshalb unternehmen? Vielleicht das, was ich seit gestern Abend um halb sieben tue. Die Strafverfolgungsbehörden verständigen, grübeln, zornig sein und mich hilflos fühlen. An der Tür des forensischen Computerlabors nebenan öffnet sich klickend ein biometrisches Schloss. Also nicht Toby oder ein anderer Ermittler, sondern meine Nichte Lucy, eine freudige Überraschung, mit der ich nicht gerechnet habe. Denn ich hatte gehört, dass sie mit dem Helikopter wegfliegen wollte, vielleicht nach New York, doch ich bin nicht sicher. In letzter Zeit war sie sehr damit beschäftigt, ihr Landhaus einzurichten, wie sie das gewaltige Anwesen nennt, das sie nordwestlich von hier, in Lincoln, gekauft hat. Außerdem fliegt sie ständig zwischen Texas und hier hin und her, um ihren neuen zweimotorigen Hubschrauber registrieren zu lassen, der vor kurzem geliefert worden ist. Sie hat alle Hände voll zu tun und sagt, ich könne ihr nicht dabei helfen. Meine Nichte hat ihre Geheimnisse. Das war schon immer so, und es entgeht mir nie. Bist du es?, schicke ich ihr eine SMS. Kaffee? Im nächsten Moment steht sie in meiner offenen Tür, schlank und ausgesprochen durchtrainiert in einem engen schwarzen T-Shirt, einer Cargohose aus schwarzer Seide und schwarzen Lederturnschuhen. An ihren kräftigen Unterarmen und Handgelenken treten die Adern hervor. Ihr rötliches, gesträhntes Haar ist noch feucht vom Duschen. Sie sieht aus, als käme sie gerade aus dem Fitnesscenter und sei unterwegs zu einem Rendezvous mit jemandem, den ich nicht kenne. Und dabei ist es noch nicht einmal sieben Uhr morgens. „Guten Morgen." Ich spüre wieder, wie sehr ich mich freue, wenn sie hier ist. „Ich dachte, du fliegst weg." „Du bist früh hier." „Es haben sich histologische Proben angesammelt, die ich abarbeiten muss, was ich aber wahrscheinlich nicht schaffen werde", erwidere ich. „Außerdem muss ich heute Nachmittag zum Gericht. Der Fall Mildred Lott, oder vielleicht sollte ich besser sagen, das Spektakel Mildred Lott. Mich zu einer Aussage zu zwingen, ist nichts weiter als Theater." „Es könnte mehr dahinterstecken." Auf Lucys hübschem Gesicht malt sich ein ziemlich besorgter Ausdruck. „Ja, es wird möglicherweise peinlich. Eigentlich rechne ich sogar damit." Ich sehe sie neugierig an. „Nimm auf jeden Fall Marino mit." Sie ist mitten auf dem dunkelgrauen Teppich stehengeblieben und späht in die geodätische Glaskuppel hinauf. „Wahrscheinlich warst du es, die ich in der letzten Stunde hier habe herumlaufen hören", bohre ich weiter. „Ich hatte schon befürchtet, es könnte ein Unbefugter im Haus sein." Das ist meine Methode, sie zu fragen, was mit ihr los ist. „Ich war es nicht", entgegnet sie. „Ich bin gerade erst angekommen und wollte nur rasch etwas nachschauen." „Keine Ahnung, wer sonst noch hier sein könnte und wer Dienst hat", füge ich hinzu. „Also warst du es nicht? Aber was könnte jemand von der Nachtschicht in dieser Etage wollen?" „Marino ist der Übeltäter. Zumindest diesmal. Mich wundert, dass du seine Spritschleuder auf dem Parkplatz nicht bemerkt hast." Ich spare mir die Antwort, dass da gerade die Richtige redet. Meine Nichte würde nie etwas fahren, was weniger als 500 PS hat, für gewöhnlich V12-Motoren, vorzugsweise italienisch, obwohl ihre letzte Neuererwerbung britischer Herkunft ist. Das glaube ich zumindest, könnte mich aber auch irren. Luxuskarossen sind nicht mein Spezialgebiet. Außerdem habe ich nicht so viel Geld wie sie und würde es auch nicht für Ferrari und Helikopter ausgeben, selbst wenn ich es hätte. „Was macht der denn schon so früh hier?", wundere ich mich. „Er hat letzte Nacht beschlossen, den Dienst zu übernehmen, und Toby nach Hause geschickt." „Was soll das heißen, dass er beschlossen hat, den Dienst zu übernehmen? Er ist doch gestern erst aus Florida zurückgekommen. Warum sollte er Bereitschaftsdienst schieben? Das tut er doch sonst nie." Ich verstehe das alles nicht. „Ein Glück, dass keine wichtigen Fälle reingekommen sind, die es nötig gemacht hätten, zum Tatort zu fahren, denn Marino hat vermutlich geschlafen", sagt sie. „Oder über Twitter Nachrichten verschickt. Was keine gute Idee ist. Nicht mitten in der Nacht, wenn er zu übertriebener Offenherzigkeit neigt." „Ich blicke da nicht mehr durch." „Hat er dir nicht erzählt, dass er in der Ermittlungsabteilung ein aufblasbares AeroBed aufgestellt hat?", fragt sie. „Betten sind hier verboten. Wer Bereitschaft hat, darf nicht schlafen. Seit wann hat er denn Dienst?", wiederhole ich. „Seit er mit seiner Soundso Stress hat." „Wem?" „Oder er bastelt Installationen und möchte nicht mehr Auto fahren." Ich habe keine Ahnung, wovon Lucy spricht. „Was in letzter Zeit häufig passiert." Sie schaut mir in die Augen. „Er hat Soundso bei Twitter kennengelernt und irgendwann von der Liste seiner Follower gestrichen. Sie hat ihn so richtig zum Narren gehalten." „Installationen?" „Minifläschchen, die er zu Installationen verarbeitet, nachdem er den Inhalt ausgetrunken hat. Das hast du aber nicht von mir." Ich erinnere mich an den 11. Juli, Marinos Geburtstag, für ihn noch nie ein freudiges Ereignis, was mit zunehmendem Alter immer schlimmer wird. „Das musst du ihn selbst fragen, Tante Kay", fügt Lucy hinzu, während ich an meinen Besuch in seinem neuen Haus in West Cambridge denke. Ein Holzhaus auf einem briefmarkengroßen Grundstück, mit offenen Kaminen und, wie er nicht müde wird zu betonen, einem echten Parkettboden. Dazu ein ausgebauter Keller, den er mit einer Sauna, einer Werkstatt und einem Sandsack fürs Boxtraining ausgestattet hat. Als ich mit einem Geburtstagskorb bestückt mit selbst gemachter Spargelquiche und einer mit weißer Schokolade gefüllten Bisquitrolle in Salamioptik vorgefahren kam, stand er gerade auf einer Leiter und befestigte eine Lichterkette mit kleinen gläsernen Totenschädeln an der Dachkante. Minifläschchen Crystal-Head-Wodka, die er direkt bei der Destillerie bestellt und zu Installationen verarbeitet, verkündete er, bevor ich ihn danach fragen konnte, als wolle er andeuten, er habe leere Fläschchen gekauft, und zwar zu Hunderten. Vorbereitungen für Halloween, fügte er großspurig hinzu. Ab diesem Moment hätte ich wissen müssen, dass er wieder trank. „Ich weiß nicht mehr, was du heute vorhattest, außer vielleicht eine weitere Schweinefarm in den Ruin zu treiben", sage ich zu Lucy, während ich mich bemühe, nicht an all die schrecklichen Dinge zu denken, die Marino schon im betrunkenen Zustand angestellt hat. „Südwestliches Pennsylvania." Sie schaut sich weiter in meinem Büro um, als ob sich dort ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis etwas verändert hätte. Aber da ist nichts. Zumindest fällt mir nichts ein. Bis auf den Bonsai-Wacholder auf meinem Konferenztisch aus gebürstetem Stahl ist nichts hinzugekommen. Die Fotos, Urkunden und Zeugnisse, die sie betrachtet, sind noch dieselben. Ebenso wie die Orchideen, Gardenien und die Sagopalme. Mein schwarzer gebogener Schreibtisch mit der laminierten Platte und passendem Ausklappteil steht da wie eh und je. Ebenso wie die Arbeitsfläche aus schwarzem Granit hinter meinem Stuhl, auf die sie nun zusteuert. Vor kurzem habe ich den Mikrodissektion-Laser dort gegen ein ScanScope ausgetauscht, mit dem ich auch Objektträger betrachten kann. Ich beobachte, wie Lucy den Monitor überprüft und ihn ein- und wieder ausschaltet. Sie greift nach der Tastatur, dreht sie um und widmet sich dann meinem treuen Leica-Mikroskop, das ich niemals hergeben werde, weil ich nichts so sehr vertraue wie meinen eigenen Augen. „Schweine und Hühner in Washington County, das gleiche alte Lied", erwidert sie, während sie weitergeht, alles forschend mustert, Dinge zur Hand nimmt und wieder weglegt. „Die Farmer bezahlen einfach die Geldstrafe und machen weiter wie gehabt", fügt sie hinzu. „Du solltest mal mitfliegen und einen Blick auf diese Schweineställe werfen, Zuchtbetriebe, wo die Tiere eingepfercht werden wie die Ölsardinen. Diese Leute behandeln ihre Tiere schändlich, auch die Hunde." Mit einem Zischen trifft eine SMS auf ihrem iPhone ein. Sie liest sie. „Die Abwässer leiten sie dann in Bäche und Flüsse." Sie tippt eine Nachricht mit den Daumen und schmunzelt dabei, als habe sie den Adressaten gern oder fände ihn amüsant. „Hoffentlich erwischen wir diese Arschlöcher in flagranti, damit ihnen der Laden dichtgemacht wird." „Ich hoffe eher, dass du vorsichtig bist." Ihr neu entdecktes Umweltbewusstsein besorgt mich ein wenig. „Wenn man den Lebensunterhalt anderer Leute gefährdet, kann das unerfreuliche Folgen haben." „So wie bei ihr?" Sie deutet auf meinen Computer und die Bilder, die ich darauf betrachte. „Ich habe keine Ahnung", räume ich ein. „Wessen Lebensunterhalt hat Emma Shubert gefährdet?" „Ich weiß nur, dass sie zwei Tage vor ihrem Verschwinden einen Zahn gefunden hat", antworte ich. „Offenbar ist es seit langem der erste in einer sedimentären Schicht, einem sogenannten Knochenbett, entdeckte Zahn. Sie und einige andere Wissenschaftler hatten erst vor einigen Sommern mit den Ausgrabungen dort angefangen." „Ein Knochenbett, das sich als das ergiebigste von allen erweisen könnte", ergänzt Lucy. „Der Begräbnisplatz einer ganzen Dinosaurierherde, deren Tiere alle gleichzeitig gestorben sind, ist etwas wirklich Ungewöhnliches, ja, vielleicht sogar Einmaliges. Es ist eine noch nie da gewesene Chance, vollständige Skelette zusammenzusetzen und damit ein Museum einzurichten, das Touristen, Dinofreunde und Naturliebhaber aus der ganzen Welt anziehen würde. Außer natürlich, das Gelände wäre verseucht, dann käme nämlich niemand." Man kann nichts über Grande Prairie lesen, ohne dass darin nicht die wirtschaftliche Bedeutung der dortigen Erdgas- und Erdölvorkommen erwähnt würde. „Über zweitausendfünfhundert Kilometer lange Pipelines wird synthetisches Rohöl aus den Teersänden von Alberta in die Raffinerien im Mittleren Westen und dann bis zum Golf von Mexiko transportiert", erklärt Lucy und verschwindet in meinem Bad, wo auf der Ablage neben dem Waschbecken eine Kaffeepadmaschine und eine Espressomaschine stehen. „Umweltverschmutzung, Treibhauseffekt, die absolute Zerstörung. „ „Nimm die MonoDose von Illy. In der silbernen Dose", rufe ich ihr nach. „Für mich einen Doppelten." „Ich brauche heute Morgen einen Café Cubano." „Der Rohrzucker ist im Schrank", erwidere ich, trinke den letzten Schluck kalten Kaffee und drücke wieder auf Play. Was habe ich übersehen? Irgendetwas muss da sein. Ich werde dieses Bauchgefühl nicht los und mustere noch einmal die überbelichtete Gestalt, deren Züge im grellen Sonnenschein nicht auszumachen sind. Offenbar ist die Person nicht sehr groß, also entweder eine Frau oder ein zierlich gebauter Mann, ja, vielleicht sogar ein älteres Kind, das einen Sonnenhut mit Schleier und einer breiten Krempe trägt. Er oder sie hält den Hut mit zwei Fingern der linken Hand fest, vielleicht, damit er nicht davongeweht wird, aber ich bin nicht sicher. Ich kann keine Einzelheiten im dunklen Gesicht der Gestalt erkennen. Auch nicht an der Kleidung, nur dass es eine langärmelige Jacke oder ein weites Hemd und eben der Sonnenhut zu sein scheint. Ein kaum wahrzunehmendes Funkeln im rechten Schläfenbereich weist auf eine Brille, womöglich eine Sonnenbrille, hin. Ich weiß also nicht viel mehr als vor etwa zwölf Stunden, als mir der Anhang per E-Mail zugegangen ist. „Vom FBI habe ich nichts mehr gehört, doch Benton hat für heute eine Besprechung anberaumt, vorausgesetzt, ich komme rechtzeitig vom Gericht zurück", übertöne ich das Zischen der Espressomaschine. „Eigentlich eher eine lockere Unterhaltung, denn bis auf das Video ist ja noch nichts passiert." „Doch, ist es", ertönt Lucys Stimme aus dem Bad. „Jemandem ist das Ohr abgeschnitten worden." Drei Der äußere Rand des Ohrs, die Ohrmuschel, ist offenbar säuberlich vom Bindegewebe des Schläfenmuskels abgetrennt worden. Ich habe das Bild so stark vergrößert, wie es möglich war, ohne dass alles verschwimmt. Die sichtbaren Ränder der Schnittwunde wirken scharf und regelmäßig. Ich kann weder bleiche Stellen noch einen Hinweis darauf erkennen, dass das durchtrennte Gewebe umgestülpt oder eingesackt ist, was ich erwarten würde, hätte die Amputation lange nach dem Tod stattgefunden - zum Beispiel, wenn das Ohr von einer einbalsamierten Leiche an der medizinischen Fakultät stammen würde. Das Ohr und das Blut auf der Zeitung sind offenbar neueren Datums. Allerdings kann ich nicht feststellen, ob es sich um Menschenblut handelt, und mit Ohren ist es eine schwierige Sache. Sie sind nicht besonders stark durchblutet, weshalb es durchaus möglich ist, jemandem vor oder nach dem Tod das Ohr abzuschneiden und es wochenlang zu kühlen. Auch dann würde es auf einem Foto noch so frisch aussehen, dass ich unmöglich feststellen könnte, ob das Opfer bei der Amputation noch gelebt hat. Das Bild ist für meine Zwecke absolut ungeeignet, wie ich Lucy erkläre. Ich muss das Ohr selbst untersuchen, die Schnittränder auf körperliche Reaktionen überprüfen und die DNA mit dem National DNA Index (NDIS) und dem Combined DNA Index System (CODIS) abgleichen, nur für den Fall, dass der Besitzer ein Vorstrafenregister hat. „Ich habe bereits aktuelle Fotos von ihr gefunden, und zwar ziemlich viele auf verschiedenen Webseiten. Einige sind entstanden, als sie in diesem Sommer in Alberta gearbeitet hat", lässt Lucy sich aus meinem Bad vernehmen. Wir sprechen so laut, dass wir einander verstehen können. „Aber wir können aus offensichtlichen Gründen keinen Eins-zu-eins-Abgleich vornehmen. Ich muss die Größe und den Winkel noch richtig anpassen, doch die gute Nachricht ist, dass das Übereinanderlegen zumindest eines gebracht hat: Wir können nicht ausschließen, dass sie es ist. Ich habe dir die Datei geschickt", fügt sie hinzu. „Damit du die Vergleiche allen Teilnehmern deiner Besprechung zeigen kannst." „Bist du so gegen fünf zurück?" „Mir war nicht klar, dass ich eingeladen bin", übertönt sie die Geräusche des nächsten sich in Produktion befindlichen Espresso. „Natürlich bist du das." „Und wer sonst noch?" „Einige Agents von der Außenstelle in Boston. Douglas, glaube ich." Damit meine ich Douglas Burke, eine FBI-Agentin, deren Vorname leicht zu Missverständnissen führt. „Keine Ahnung, wer noch. Und Benton." „Ich habe keine Zeit", entgegnet Lucy. „Nicht, wenn sie dabei ist." „Deine Anwesenheit wäre wirklich hilfreich. Was hast du denn für ein Problem mit Douglas?" „Alles. Nein, danke." Da meine Nichte zu Anfang ihrer Karriere als Ermittlerin beim FBI und beim ATF vor die Tür gesetzt worden ist, hegt sie nicht unbedingt freundschaftliche Gefühle für diese Bundesbehörden. Mich bringt das manchmal in die Bredouille, denn schließlich ist mein Mann Criminal Intelligence Analyst, oder Profiler, beim FBI, während ich einen besonderen Reservistenstatus im Verteidigungsministerium innehabe. Also sind wir beide Teil eines Systems, das sie ablehnt und verachtet, der Strafverfolgungsbehörden des Bundes, die sie abgewiesen und gefeuert haben. Um es kurz zu sagen, Lucy Farinelli, meine einzige Nichte, die ich großgezogen habe wie eine eigene Tochter, findet, dass Regeln etwas für Minderbemittelte sind. Sie hat als Agent mit dem Feuer gespielt, und sie tut es auch jetzt als Computergenie. Wenn es sie nicht gäbe, wäre mein Leben öde und leer. „Wir haben es mit jemandem zu tun, der ziemlich gerissen ist." Sie kommt mit zwei Kaffeegläsern und einem kleinen Edelstahlkrug aus dem Bad. „Das klingt gar nicht gut", erwidere ich. „Dass du jemanden für gerissen hältst, hat Seltenheitswert." „Ein hinterhältiger Mensch, der zwar in vielerlei Hinsicht schlau, aber auch zu sehr von sich selbst überzeugt ist, um zu bemerken, was er alles nicht weiß." Sie schenkt starken, süßen Espresso mit einer hellbraunen Schaumschicht darauf ein. Die coladas hat sie sich angewöhnt, als sie vor vielen Jahren in der Außenstelle des ATF in Miami beschäftigt war. Bevor sie in eine üble Schießerei verwickelt wurde. „Die Adresse BLiDedwood ist ziemlich verräterisch." Sie stellt ein Glas und den Krug neben meine Tastatur. „Mir sagt sie nichts." „Billy Dedwood", erklärt sie. „Okay." Ich lasse das auf mich wirken. „Und das ist wer?" Lucy umrundet meinen Schreibtisch und tippt auf die Granitplatte hinter mir, so dass die beiden Videoschirme darauf zum Leben erwachen. Bildschirmschoner leuchten rot, golden und blau auf, die Insiginien des CFC und des AFME nebeneinander, ein Hermesstab mit der Waage der Justitia und Spielkarten, Paare von Achtern und Assen, das Blatt des toten Mannes, das Wild Bill Hickok angeblich in der Hand hielt, als er 1876 während eines Pokerspiels erschossen wurde. „Das Logo des AFME." Sie zeigt auf das Kartenspiel auf dem Computerbildschirm. „Wild Bill Hickok, auch Billy genannt, wurde in Deadwood, South Dakota, umgebracht. Und was es bedeutet? Tja, Tante Kay, ich hoffe nur, dass es kein Mensch aus deiner Vergangenheit ist." „Was bringt dich denn auf diesen Gedanken?" „Zum Beispiel, dass derjenige eine vorübergehende kostenlose E-Mail-Adresse benutzt hat, die sich innerhalb von dreißig Minuten von selbst löscht, also praktisch in Luft auflöst?", entgegnet Lucy. „Gut, das ist nicht so ungewöhnlich, weil jeder x-Beliebige so etwas tun könnte. Hinzu kommt aber, dass diese Person dir die E-Mail durch einen kostenlosen und anonymen Server hat zukommen lassen. In diesem Fall war es ein ganz besonders gut abgesicherter, dessen Host-Name nicht zu ermitteln ist. Standort ist Italien." „Also kann niemand auf die Mail antworten, weil das vorübergehende Konto nach dreißig Minuten gelöscht wird und nicht mehr existiert." „Richtig." „Und niemand kann die IP aufspüren und herausfinden, von wo aus die Mail verschickt worden ist", folge ich ihrem Gedankengang. „Genau darauf verlässt sich der Absender." „Und wir sollen annehmen, dass die Mail von jemandem in Italien stammt." „In Rom", ergänzt sie. „Doch das ist nur ein Trick." „Richtig", erwidert sie. „Wer auch immer dir diese Mail geschickt haben mag, er war um halb sieben Uhr gestern Abend unserer Zeit ganz sicher nicht in Rom." „Was ist mit der Schriftart?" Ich betrachte noch einmal die Betreffzeile der Mail. ZU HÄNDEN VON MEDICAL EXAMINER KAY SCARPETTA „Hat die eine Bedeutung?", erkundige ich mich. „Sehr retro. Erinnert an die Fünfziger und Sechziger. Die großen, quadratischen Buchstaben mit den abgerundeten Ecken sollen den Fernsehgeräten jener Zeit ähneln. Deiner Zeit", hänselt sie mich. „Bitte nimm mich so früh am Morgen nicht auf den Arm." „Eurostile wurde von dem italienischen Schriftendesigner Aldo Novarese entwickelt", fährt sie fort. „Die Schrift wurde ursprünglich für eine Schriftgießerei in Turin namens Nebiolo entworfen. „ „Und was heißt das deiner Ansicht nach?" „Keine Ahnung." Sie zuckt die Achseln. „Eine mögliche Verbindung nach Italien?" „Das bezweifle ich. Ich glaube, der Absender ist davon ausgegangen, dass du die wahre IP-Adresse nicht aufspüren kannst", erwidert sie, und ich weiß, was jetzt gleich kommt. Und was sie getan hat. „In anderen Worten", spricht sie weiter, „dass wir den tatsächlichen Ort, von dem sie stammt, nicht in Erfahrung bringen können, nämlich ..." „Lucy", falle ich ihr ins Wort. „Ich möchte nicht, dass du solche Schritte unternimmst." Sie hat es bereits getan. „Diese anonymen kostenlosen Angebote gibt es zuhauf", fährt sie fort, als könnte sie kein Wässerlein trüben. „Ich will nicht, dass du dich in irgendeinen anonymen Server in Italien oder sonst irgendwo einloggst", teile ich ihr rundheraus mit. „Die Mail wurde dir von jemandem geschickt, der Zugriff auf das LAN-Netzwerk am Logan Airport hatte." „Die Mail kam vom Bostoner Flughafen?" „Der Videoclip wurde dir aus dem LAN-Netzwerk am Logan Airport geschickt, das sind mal gerade verdammte zehn Kilometer von hier", bestätigt sie. Also ist es kein Wunder, dass sie dahinter jemanden vermutet, den wir kennen. Ich denke an Bryce Clark, meinen Verwaltungschef, an Pete Marino und an einige andere Forensikexperten in diesem Gebäude. Ein paar Mitarbeiter des CFC waren letzte Woche auf der Jahrestagung der International Association for Identification in Tampa, Florida. Alle sind gestern gemeinsam zurück nach Boston geflogen, und zwar um dieselbe Zeit, als die anonyme Mail ans CFC gesendet wurde. „Irgendwann gestern Abend, kurz vor sechs", erklärt Lucy, „hat sich die betreffende Person in das kostenlose Netzwerk am Flughafen eingeloggt, wie es jeden Tag Tausende von Fluggästen tun. Das bedeutet aber nicht, dass der Absender der Mail sich tatsächlich in einem Terminal oder an Bord eines Flugzeugs befunden hat." Derjenige hätte auch in einem Parkhaus sein können, fährt sie fort, auf einem Gehweg, in einem Wassertaxi, auf einer Fähre am Hafen oder sonst irgendwo innerhalb der Reichweite des Funksignals. Sobald dieser Mensch im Netz war, hat er ein vorübergehendes E-Mail-Konto mit dem Namen BLiDedwood@stealthmail eingerichtet und vermutlich ein Textverarbeitungsprogramm benutzt, um den Betreff in Eurostile zu schreiben und die Zeile anschließend in die Mail einzufügen. „Er hat mit dem Absenden neunundzwanzig Minuten gewartet „, spricht Lucy weiter. „Leider weiß er nun zu seiner Freude, dass die Mail geöffnet worden ist." „Woher weiß er das?" „Weil er keine Rückmeldung, keine Nondelivery-Notice, erhalten hat", entgegnet sie. „Denn die wäre wenige Sekunden bevor das Konto sich selbst gelöscht hat, eingetroffen. Also hat er keinen Grund anzunehmen, dass die Mail nicht geöffnet worden ist." Ihr Tonfall hat sich verändert. Jetzt klingt sie, als wolle sie mich tadeln. „Die Rückmeldung erfolgt sofort, wenn es sich um eine unerwünschte oder mit Viren infizierte Nachricht handelt, die an die Hauptadresse des CFC geht", erinnert sie mich. „Der Zweck der Übung ist, dem Absender den Eindruck zu vermitteln, dass die Mail nicht zugestellt werden konnte. In Wirklichkeit aber landen verdächtige Mails, bis auf wenige und bedauerliche Ausnahmen, in einem Ordner, der bei mir Quarantäne heißt, damit ich sie begutachten und den Grad der Gefährlichkeit einschätzen kann", betont sie, und inzwischen ahne ich, worauf sie hinauswill. „Diese Mail habe ich deshalb nie zu Gesicht bekommen, weil sie nicht im Ordner Quarantäne geendet ist." Mit den wenigen und bedauerlichen Ausnahmen meint sie mich. „Die Firewalls, die ich eingerichtet habe, haben die Mail als unbedenklich eingestuft, und zwar wegen des Betreffs Zu Händen von Chief Medical Examiner Kay Scarpetta", verkündet sie, als ob das meine Schuld wäre, was auch stimmt. „Alles, was direkt an dich adressiert ist, wird nicht auf Spam-Verdacht untersucht oder im Quarantäne-Ordner zwischengelagert, weil das deine Anweisung an mich war. Gegen meinen Wunsch, wie du sicher noch weißt." Sie sieht mir in die Augen, und sie hat recht. Doch das Kind ist nun mal in den Brunnen gefallen. „Siehst du jetzt, welche Folgen es haben kann, wenn ich dir erlaube, meine Sicherheitsmaßnahmen zu unterlaufen?", hakt sie nach. „Ich verstehe, dass du verärgert bist, Lucy. Doch es handelt sich um den einzigen Weg, auf dem die Menschen, insbesondere Polizisten oder Angehörige, mich erreichen können, wenn sie meine direkten Kontaktdaten beim CFC nicht kennen", wiederhole ich zum wohl tausendsten Mal. „Wenn mir jemand etwas zu meinen Händen schickt, will ich ganz sicher nicht, dass es zwischen den Spams untergeht." „Ein Jammer nur, dass du die Mail als Erste geöffnet hast", erwidert Lucy. „Normalerweise wäre Bryce dir zuvorgekommen." „Zum Glück ist er das nicht." Mein Verwaltungschef ist nämlich sehr sensibel und äußerst zart besaitet. „Richtig. Er hat die Mail nicht gesehen, weil er gerade auf dem Rückweg von einer Reise war. Er und einige andere waren eine Woche lang weg", stellt Lucy fest, als ob der Zeitpunkt kein Zufall wäre. „Machst du dir Sorgen, der Absender der Mail könnte wissen, was sich beim CFC so tut?", frage ich. „Richtig." Sie rollt sich einen Stuhl heran und schenkt Kaffee nach. Der frische Grapefruitduft ihres Parfüms steigt mir in die Nase. An ihm erkenne ich stets selbst mit geschlossenen Augen, ob meine Nichte in einem Aufzug oder einem Raum gewesen ist. Der Geruch ist unverwechselbar. „Es wäre leichtsinnig, die Möglichkeit auszuschließen, dass sich jemand für uns und unsere Arbeit hier interessiert", fügt sie hinzu. „Jemand, der Spielchen treibt und denkt, dass er schlauer ist als der liebe Gott. Ein Mensch, der Spaß daran hat, andere in Angst und Schrecken zu versetzen und sie nach seiner Pfeife tanzen zu lassen." Inzwischen steht für mich fest, warum sie sich heute Morgen in meinem Büro herumdrückt. Sie ist gekommen, um etwas nachzuschauen, weil sie überbehütend und außerdem ausgesprochen argwöhnisch ist. Seit Lucy laufen gelernt hat, fordert sie meine Aufmerksamkeit und beobachtet mich mit Argusaugen. „Befürchtest du, Marino könnte in die Sache verwickelt sein? Dass er mir nachspioniert oder mir sonst irgendwie schaden will?" Ich logge mich in meine Mails ein. „Ihm sind zwar alle möglichen Dummheiten zuzutrauen", erwidert sie, als schwebten ihr dabei ein paar ganz bestimmte vor. „Aber für so etwas ist er nicht schlau genug. Welches Motiv sollte er außerdem haben? Die Antwort lautet: gar keins."
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
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Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Patricia Cornwell, 1956 in Miami, Florida, geboren, arbeitete als Polizeireporterin und in der Rechtsmedizin, bevor sie mit ihren bahnbrechenden Thrillern um die Gerichtsmedizinerin Dr. Kay Scarpetta begann. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin war sie Leiterin der Abteilung für Angewandte Forensik an der National Forensic Academy der University of Tennessee. Patricia Cornwells Bücher wurden mit allen renommierten Preisen ausgezeichnet und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Zuletzt erschienen die Kay-Scarpetta-Romane Bastard und Blut. Knochenbett ist der zwanzigste Scarpetta-Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 2014, 1, 448 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955691713
- ISBN-13: 9783955691714
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