König des Windes
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Produktinformationen zu „König des Windes “
Lese-Probe zu „König des Windes “
Fastenzeit des RamadanIn der nordwestlichen Ecke von Afrika, in Marokko, stand ein Stalljunge mit dem Besen in der Hand in dem großen Hof, der zu den Ställen des Sultans gehörte. Der Junge wartete auf den Anbruch der Abenddämmerung.
Er hatte den ganzen Tag lang nichts gegessen, hatte weder die Brustbeeren, die in seinen Turban eingeknotet waren, noch die riesigen Trauben, die über die Palastmauer hinüberwucherten, angerührt. Er hatte nicht einmal gewagt, auf den reichen, warmen Duft der reifenden Granatäpfel zu achten, denn man feierte den heiligen Monat Ramadan, eine festliche Zeit, in der Tag für Tag vom Morgengrauen bis zum Augenblick nach dem Sonnenuntergang alle gläubigen Moslems weder essen noch trinken dürfen.
Agba, so hieß der Junge, dachte nicht an sich selbst, wenn er sich Sorgen um die Fastengebote machte. Sie gehörten zu seiner Religion. Aber als Signor Achmet, der Stallmeister, eines Tages anordnete, dass auch die Pferde fasten sollten, hatten Agbas dunkle Augen vor Wut gebrannt.
"Auf Befehl des Sultans!", hatte der Signor verkündet und dabei Agba leicht auf den Kopf geklopft, weil der Junge so missbilligend guckte.
Von den zwölftausend Pferden in den Ställen des Sultans waren zehn Tiere Agbas Obhut anvertraut. Er fütterte und tränkte sie. Er striegelte ihr Fell und reinigte ihre Ställe. Am liebsten trieb er sie alle aneinandergekoppelt in den Hof zum täglichen Training.
An eines dieser zehn Pferde hatte Agba sein Herz verloren. Es war eine hellbraune Stute, flink wie eine Gazelle, mit Augen, die an dem Jungen hingen, was immer er auch tat. Die anderen neun Tiere führte Agba an einen gemeinsamen Wassertrog zur Tränke. Für seine hellfarbene Stute aber füllte er einen Eimer an der reinen Quelle vor dem Tor des Palastes und hielt ihn dem Tier hin, solange es trank. Die Augenlider der Stute streichelten dabei die Finger des Jungen. Wenn das Pferd genug getrunken hatte, schaute es Agba ein Weilchen an. Das kühle Wasser tropfte dann von dem
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Maul des Tieres auf Agbas Hände.
Um dieser Stute willen machte sich der Junge Sorgen, und deshalb suchte er, die Zeit bis zum Sonnenuntergang mit Arbeit herumzubringen. Der Hof war längst sauber gefegt, aber Agba arbeitete weiter mit seinem Besen aus Palmenblättern, so als wollte er alle seine Gedanken auf einen kleinen Haufen zusammenkehren, den der Wind fortblasen mochte.
Schließlich hängte er seinen Besen an einen eisernen Haken neben eine endlose Reihe von anderen Besen und ging zu der Stute. Ihre Stalltür war fest geschlossen, damit der Duft des reifen Klees nicht zu ihr dringen und der Hunger sie noch mehr quälen konnte. Er fand sie schlafend. Sie lag auf der Seite. Ihr Bauch war straff gespannt durch das kleine Fohlen, das sie bald zur Welt bringen sollte. Agbas Herz wurde schwer, als er bemerkte, dass die Anstrengung des Fastens an der Stute zehrte. Er sah es daran, dass sich über ihren Augen hohle Stellen bildeten. Und ihr Fell war rau geworden.
Aber die Fastenzeit würde ja nun bald vorüber sein! Heute war der letzte Tag des Monats. Eben jetzt sank die Sonne hinter die graugrünen Ölbäume, die den Hof des Sultans umsäumten.
Kein Laut war zu hören, weder von dorther, wo der Palast lag, noch von dem Quartier über den Ställen, wo die Pferdejungen untergebracht waren. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten und nur auf den Sonnenuntergang zu warten. Aber nun begannen als Vorboten der Dämmerung die zarten Stimmen der Insekten zu zirpen, feine Vogelstimmen tönten in die Stille hinein. Dunkle Kröten bliesen Fagott. Grillen zirpten, Waldtauben gurrten. Und fern im Atlasgebirge lachte eine Hyäne. Jetzt konnte es nur noch kurze Zeit dauern.
Agba wandte sich nach Osten, seine Augen hingen an dem Minarett der Moschee. Der Turm stach wie eine Nadel hinein in den blutroten Schein der untergehenden Sonne. Der Junge starrte gebannt darauf, bis seine Augen schmerzten. Schließlich tauchte eine Gestalt, in weiße Gewänder gekleidet, dort oben auf. Der öffentliche Ausrufer! Er stieß in eine Trompete. Viermal rief er in die vier Winde des Himmels hinein, dass der Ramadan zu Ende sei.
Ein wilder Lärm erhob sich. Zwölftausend Pferde merkten im Nu, was gemeint war, und wieherten vor Hunger. In den königlichen Ställen brodelte es wie in einem Ameisenhaufen. Stalljungen erschienen in den Gängen und schwärmten in den Hof hinein. Aus den Kapuzen an ihren Mänteln, aus den Gürteln, die ihre Röcke zusammenhielten, oder auch aus den Hemden zauberten sie Datteln, Rosinen und Mandeln hervor und stopften sie mit geräuschvollem Schmatzen in den Mund. Sie streiften Weintrauben von den Reben. Lärmend aßen sie von dem Überfluss. Einige stießen ihre Gesichter in die Wassertröge und tranken so, als ob sie Pferde wären.
Agba hielt sich von den anderen Jungen fern. Er eilte zu seiner Stute zurück. Langsam ging er auf sie zu, um sie nicht zu erschrecken. Unter der Stelle, wo der Sattel an der Wand hing, fand er den Behälter mit Wasser, den er vor einer Stunde schon geholt und hierhergebracht hatte. Er goss das Wasser in einen Eimer und wartete, bis die Stute aufwachte.
Es war fast so, als hätte das Tier im Traum das Plätschern gehört. Die Stute erwachte mit einem Ruck und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Sie ging auf Agba zu und trank. Dann hob sie den Kopf und ließ das Wasser von ihren Lippen tropfen.
Agba wartete bewegungslos. Er wusste, dass sie mehr und immer noch mehr haben wollte. Ihre dunklen Augen hingen an ihm, als wenn sie sagen wollten: Du bist die Quelle alles Guten!
Ein tiefes Gefühl von Glück überkam Agba. Er nickte, so als verstehe er ihre Gedanken. Dann wartete er, während sie wieder und wieder trank.
Als Agba aus dem Stall kam, führten die anderen Jungen eben ihre Pferde zur Tränke. Er musste sich beeilen, wenn er es schaffen wollte, seine Kornration als Erster zu bekommen. Er nahm eine Tasche aus Hanf, rannte durch eine Unzahl von Gängen und stieg schließlich eine steile Treppe hinab zu der Kornkammer, die im Keller lag. Am Eingang stand Signor Achmet, der Stallmeister. Er war ein dunkler, bärtiger Mann. In der rechten Hand hatte er einen Knotenstock. An seinem Rockgürtel hingen wohl hundert Schlüssel. Als er Agba sah, legte er seine Finger, die so stark waren wie Adlerklauen, auf die Schulter des Jungen.
"Warum isst du nicht wie die anderen Sklaven?", fragte er mit seiner rauen Stimme. Dann ließ er Agba los, sah ihn aber scharf an und schälte sich mit den Fingern eine Orange. Seine glänzenden Augen ließen Agbas Gesicht nicht los, als er dann die Orange geräuschvoll aß, um zu zeigen, wie gut sie schmeckte.
Agba schluckte. Er sah eifrig auf seine braunen Zehen.
"Ist es die Stute?"
Die Augen des Jungen fuhren hoch und trafen Signor Achmet.
"Ist heute Nacht ihre Stunde?"
Langsam und schwer nickte Agba.
"Also dann", sagte Signor Achmet und rieb seinen Mund am Mantel ab, "also dann wirst du diese Nacht nicht in deinem Quartier schlafen."
Der Oberstallmeister suchte den Schlüssel zum Kornspeicher heraus. "Du führst die Stute in den Abfohlstall, bleibst bei ihr und passt gut auf und rufst mich dann, wenn es so weit ist, dass sie das Fohlen bekommen soll. Allahs allgegenwärtiges Auge wird über dir sein."
Agbas Herz flatterte wie ein aufgeregter Vogel. Der Stallmeister vertraute ihm die Stute an! Der Junge vergaß alle Püffe und rauen Worte und verbeugte sich tief. Ungeduldig wartete er darauf zu hören, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Gleich würde die Tür sich öffnen. Er roch schon im Voraus den Duft von Hafer und Gerste.
Der Schlüssel kreischte. Die Tür quietschte. Der reife Geruch des Korns strömte Agba entgegen.
Signor Achmet trat zur Seite. Der Junge schlüpfte hinter ihm her in die Dunkelheit hinein. Schnell fanden seine geübten Hände die guten, gesunden Ähren. Damit füllte er die Tasche. Dann wandte er sich um und flog die Treppe hinauf.
Im Abfohlstall
Aber die Stute wollte das Korn, das Agba brachte, nicht fressen. Sie berührte es nur mit den Lippen, wandte sich ab und schloss müde die Augen.
Während er die anderen Pferde, die ihm anvertraut waren, fütterte und tränkte, dachte Agba besorgt darüber nach, wie schwach die Stute doch war. Er aß seine eigene Mahlzeit, die aus Gerste und Ziegenmilch bestand, und beeilte sich, den Abfohlstall aufzusuchen.
Signor Achmet musste vor ihm da gewesen sein. Der Stall stand weit offen. Eine Laterne hing an einem Haken und verbreitete ein schwaches Licht. Seit dem Frühjahr war der Raum nicht gebraucht worden und roch daher feucht und modrig. Agba kletterte auf die Futterkrippe und warf oben an der Wand ein winziges Fenster auf. Ein Stück Himmel wurde sichtbar. Der Mond guckte in den Stall hinein.
Das ist ein günstiges Zeichen, dachte Agba. Ein neuer Mond - ein neuer Monat! Das Fohlen wird stark und schnell sein. Er atmete tief die Luft der kühlen Sommernacht. Dann machte er sich schnell an die Arbeit. Er füllte Eimer um Eimer mit Sand von den hohen Sandhaufen hinter den Ställen. Hin und her rannte er und warf den Sand auf den Boden im Stall. Darauf legte er Stroh. Er breitete es zunächst sorgsam mit den Händen aus, dann stampfte er es mit den Füßen fest und lief rasch immer wieder im Kreis darauf herum. Schließlich musterte er seine Arbeit kritisch. Das würde ein gutes Lager für die Stute sein!
Als er eben die Krippe mit Heu füllte, schaute Signor Achmet in fliegenden weißen Gewändern herein und prüfte mit seinen knochigen Fingern, wie hoch Agba den Sand aufgeschüttet hatte. Er befühlte das Strohlager.
"Du verschwendest Sand und Stroh", sagte er mit finsterem Blick. "Die Hälfte täte es auch!" Aber Signor Achmet wusste wohl, wie sehr Agba dem Pferd zugetan war, und er verstand den Jungen. "Hol sie nun", befahl er.
Agbas Verbeugung blieb in der Dunkelheit unbemerkt.
"Du rufst mich, wenn das Tier unruhig wird!"
Schnell und leise drehte sich Signor Achmet auf den Hacken herum und verschwand. Seine weißen Mantelzipfel flatterten hinter ihm her wie Mottenflügel.
Der Neumond schaute Agba über die Schultern, als er ging, um die Stute zu holen. Er fand sie geduldig in einer Ecke ihres Stalles. Sie hielt den Kopf gesenkt. Der Schweif war eingezogen. Agba legte seine Hand auf ihren Nacken und führte sie in die Nacht hinaus. Er ging an endlos vielen Ställen vorbei und durch viele Torbogen hindurch, bis sie in dem neuen Quartier ankamen.
An der Tür befiel das Tier ein ängstliches Zittern. Es machte einen schwachen Versuch, rückwärts auszuweichen. Agba hielt die Stute ganz fest. Er summte vor sich hin und versuchte auf diese Weise, seine eigene, namenlose Furcht zu verbergen.
Die Stute war nun im Stall. Sie prüfte vorsichtig das weiche Lager mit ihren Hufen. Dann näherte sie sich der Krippe. Ihre Nüstern weiteten sich, als sie das Heu beschnupperte. Aber sie fraß nicht. Sie berührte das Wasser im Eimer mit den Lippen, aber sie trank nicht. Schließlich zog sie ihre Hufe unter sich zusammen und legte sich mit einem Stöhnen nieder. Ihr Kopf ging unruhig auf und ab. Sie ließ ihn müde ins Stroh sinken. Dann wurde ihr Atem allmählich ruhiger.
Agba stand wachsam. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Mühlrad herum. Er zitterte. Er musste daran denken, wie er und seine Stute eines Tages einer Gazelle begegnet waren. Da hatte er sein Tier neben der Gazelle herreiten lassen. Seine Stute hatte das wilde Ding überholt und hinter sich zurückgelassen. Agba hörte wieder, wie der Wind in seinen Ohren gesungen hatte.
Als er seine Augen schloss, kam ihm die Erinnerung an jenen Tag zurück. Auf dem Heimweg waren sie an einem alten, runzligen Geschichtenerzähler vorbeigekommen. Der Alte kam ganz dicht an Agba heran und sagte mit einer Stimme, die nicht mehr als ein Flüstern war: "Als Allah das Pferd erschuf, sprach er zum Winde: ›Ich will, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut aus dir hervorgehe. Nimm Gestalt an und werde!‹ Und der Wind nahm Gestalt an und so entstand das Pferd."
Diese Worte tanzten Agba im Kopf herum, als er nun dasaß und die schlafende Stute bewachte. "Ich will, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut aus dir hervorgehe. Nimm Gestalt an! Werde! Ich will, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut aus dir hervorgehe! Nimm Gestalt an und werde." In seinem Sinn sprach er die Worte wieder und wieder vor sich hin, so lange, bis mit einem Male die Stallwände sich auseinanderschoben und ganz verschwanden. Und Agba ritt auf dem Südwind. Da war nichts, was ihn aufhalten konnte. Nicht der Palast und nicht die Bäume, weder Hecken noch Flüsse. Nur weiße Wolken gab es und einen blauen, hochgewölbten Torbogen. Der Wind war sein Reitpferd.
Mit einem Seufzer sank Agba in das Stroh. Sein Kopf fiel vornüber. Er schlief.
Ein Fohlen wird geboren
Die Träume des Jungen verwoben sich zu einem immer feineren Gespinst, das sich schließlich in nichts auflöste. Agba schlief fest. Die Kerze in der Laterne sprühte zuckend und erlosch. Der Mond stieg höher und höher. Fledermäuse und Nachtfalter flogen geräuschlos durch die samtschwarze Nacht. Sie gingen auf Jagd nach Insekten. Als das graue Morgenlicht heraufkam, waren sie verschwunden. Ein Chor von krächzenden Krähen löste sie ab.
Agba wachte jäh auf. Die Stallwände standen wieder so, wie sie immer gewesen waren. Auch die Stute lag auf der Seite wie zuvor. Aber ihr Kopf war jetzt hoch aufgerichtet. Sie leckte ein neugeborenes Fohlen trocken. Das Geräusch, das ihre Zunge machte, während sie eifrig über das Fell des kleinen Fohlens strich, füllte die Stille im Raum mit Leben.
Dem Jungen wurde ganz ängstlich zumute. Er fürchtete, das Wunder, das er da erlebte, könnte sich in Morgennebel auflösen, wenn er nur einen Augenblick wagte, seine Augen davon abzuwenden. Oh, wie winzig war das Fohlen! Und so feucht am ganzen Körper, dass man noch nicht sagen konnte, von welcher Farbe es war. Aber die Augen hatte es schon weit auf. Sie waren voller Neugier.
Agba zitterte, als er den kleinen Burschen betrachtete. Es war nicht das erste Mal, dass er ein neugeborenes Fohlen sah. Aber keins war so klein und zierlich gewesen wie dieses hier. Wie aus weiter Ferne hörte er draußen die nackten Füße der Stalljungen vorüberhuschen. Er nahm auch wahr, dass der wilde Eber in seinem Loch hinter den Ställen grunzte und hustete. Agba überlegte, ob es wohl wahr wäre, dass Wildschweine die bösen Geister von Pferden fernhalten können.
Er wagte noch immer nicht, sich zu rühren. Jetzt sah er, wie die Stute sich schwerfällig mühte, auf die Beine zu kommen. Dabei gab sie dem kleinen Ding mit ihrer Nase einen aufmunternden Schubs.
Das Fohlen versuchte aufzustehen. Es stemmte seine Vorderbeine fest auf. Sie rutschten ihm seitlich weg. Jetzt schienen ihm alle Beinchen durcheinanderzugeraten. Aber das Fohlen versuchte es noch einmal und immer wieder. Eine atemlose Sekunde lang stand es auf seinen vier Füßen. Dann verbogen sich die Beine und das Tierchen fiel zu einem kleinen Haufen zusammen. Agba streckte die Hand nach ihm aus. Aber die Stute kam ihm zuvor. Sie stieß das Kleine wieder mit ihrer Nase an. Dann mit der Zunge. Sie schien dem Fohlen zuzunicken. Das Tierchen versuchte es noch einmal. Und stand! Wie spindeldürr war es doch! Man konnte seine Rippen zählen. Es hatte genau die gleichen Höhlen über den Augen wie seine Pferdemutter.
Ich könnte es auf meinen Arm nehmen, dachte Agba. Es ist nicht größer als eine Ziege. Und es hat einen langen Bart, auch genau wie eine Ziege. Lang und seidig. Sein Schweif ist lockig. Das Tier ist über und über von einer einzigen Farbe. Nur - nur eine Stelle... Plötzlich setzte das Herz des Jungen ein paar Schläge lang aus. Auf dem rechten Hinterhuf des Fohlens sah er einen weißen Flecken. Er war nicht größer als eine Mandel, aber er war tatsächlich da! Das weiße Zeichen - das Symbol der Schnelligkeit!
Agba sprang auf seine Füße. Er wäre am liebsten auf den Turm der Moschee hinaufgeklettert, hätte dort die Trompete geblasen und mit Wonne in die vier Winde des Himmels hineingerufen: "Ein Fohlen ist geboren! Und es wird so schnell sein wie der Wind der Wüste, denn an seinem Huf ist das weiße Zeichen! Das weiße Zeichen! Das weiße..."
Eben jetzt drang ein Strahl des aufschimmernden Lichtes durch das Fenster und fiel auf das Neugeborene. Wie rotes Gold flammte das Fell des Tieres auf. Der Sonnenschein legte einen Strahlenkranz um den Kopf des Fohlens.
Agba wurde wieder ängstlich. Er öffnete seinen Mund, aber kein Laut kam daraus hervor. Vielleicht war doch alles nur ein Traum. War das Tier am Ende gar nicht Wirklichkeit? Das goldene Fell. Die Krone von Sonnenstrahlen. War es vielleicht eines der goldenen Pferde des Sonnenwagens?
Ich will es festhalten. Ja, das will ich! Ich kann es aber nur, wenn ich ihm einen Namen gebe, dachte der Junge schnell. Und er nannte das kleine Ding: Sham. Das Wort hatte etwas mit dem arabischen Wort für "Sonne" zu tun.
Kaum hatte Agba dem Fohlen diesen Namen gegeben, da schien das kleine Wesen neue Kraft zu fühlen. Es machte ein paar Schritte und fand heraus, dass seine Mutter ihm Milch geben konnte. Mit kleinen, saugenden Lauten fing das Tier an zu trinken.
Agba war sich bewusst, dass er eigentlich Signor Achmet Bericht erstatten musste, dass er schon längst in der Schlange vor der Kornkammer hätte stehen sollen, um seine Kornration in Empfang zu nehmen. Aber er brachte es nicht über sich, den Zauber des Augenblicks zu zerstören. Er lauschte dem saugenden Geräusch, das das Fohlen machte, und der Stute, die auf trockenem Gras herumkaute; er roch die warmen Körper der Tiere. Agba fand, ein Stall sei ein herrlicher Ort, um geboren zu werden.
Die Weizenähre
Agbas Gedanken wurden jäh unterbrochen. Die Tür zum Stall öffnete sich leise. Signor Achmet! Die Sonne blitzte scharf an seinem Säbel entlang. Ein böses Licht war in seinen Augen, als er jetzt auf den Jungen hinuntersah.
Agba sprang auf die Füße. Er war auf eine Strafpredigt gefasst. Gleich würde er die knochigen Finger auf seinen Schultern fühlen.
Aber des Signors Augen waren schon nicht mehr bei dem Jungen. Der Stallmeister sah wie gebannt auf die Brust des Fohlens. Sein Gesicht erstarrte in Entsetzen. Er schob die Stute beiseite, um das Neugeborene besser prüfen zu können. Schließlich stammelte er ein paar Worte. Jedes davon klang, als schlüge Hagel klirrend auf einen Dachfirst: "Die Weizenähre!", sagte er.
Agba schob sich näher heran. Er bückte sich tief, damit auch er die Brust des kleinen Pferdes genau sehen konnte. Wahrhaftig! Genauso wie der Stallmeister gesagt hatte, war da ein Haarwirbel, der ganz ähnlich aussah wie eine Weizenähre.
"Die Weizenähre!" Signor Achmets Stimme klang heiser. "Das bedeutet Unglück. In der vergangenen Nacht hat mich das Pfeifen der Rohrdommel gewarnt. Und die gelbäugige Eule hat mich auch gewarnt. Unglück wird die Tage des Fohlens heimsuchen. Unglück hängt als dunkle Wolke ganz tief und nah über den königlichen Ställen."
Wieder starrten seine Augen auf die Brust des Neugeborenen. Er ging langsam auf das Fohlen zu und zog dabei den Säbel aus der Scheide.
Agba stieß einen Schrei aus. Ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, warf er sich zwischen Signor Achmet und das kleine Tier. Auf den Knien liegend, hob er das Fohlen, das mit seinen Beinchen einen wilden Wirbel schlug, hoch. Triumphierend zeigte er auf den weißen Flecken am Hinterhuf.
Signor Achmets Augen zogen sich zusammen. Seine Augenbrauen wurden zu einem einzigen schwarzen Strich. Agba fühlte, dass der Stallmeister in Gedanken beide Zeichen wägte und abschätzte - den weißen Flecken gegen die Weizenähre. Das gute Omen gegen das böse. Sie wogen sich genau auf.
Gerade in diesem Augenblick ließ der wilde Eber ein ärgerliches Quieken hören. Das erinnerte Signor Achmet daran, dass der Eber nur aus dem Grunde in den königlichen Pferdeställen geduldet wurde, weil er in dem Ruf stand, böse Geister von den Pferden fernhalten zu können, indem er die üblen Mächte im eigenen Körper hausen ließ. Verdrießlich steckte der Stallmeister seinen Säbel wieder in die Scheide.
"Möge der böse Geist in den wilden Eber fahren", brummte er.
Agba entfuhr ein tiefer Seufzer.
"Aber die Milch dieser Stute wird dem Fohlen keine Kraft geben", fügte Signor Achmet schnell hinzu. "Die Stute stirbt. Es ist Allahs Wille."
Um dieser Stute willen machte sich der Junge Sorgen, und deshalb suchte er, die Zeit bis zum Sonnenuntergang mit Arbeit herumzubringen. Der Hof war längst sauber gefegt, aber Agba arbeitete weiter mit seinem Besen aus Palmenblättern, so als wollte er alle seine Gedanken auf einen kleinen Haufen zusammenkehren, den der Wind fortblasen mochte.
Schließlich hängte er seinen Besen an einen eisernen Haken neben eine endlose Reihe von anderen Besen und ging zu der Stute. Ihre Stalltür war fest geschlossen, damit der Duft des reifen Klees nicht zu ihr dringen und der Hunger sie noch mehr quälen konnte. Er fand sie schlafend. Sie lag auf der Seite. Ihr Bauch war straff gespannt durch das kleine Fohlen, das sie bald zur Welt bringen sollte. Agbas Herz wurde schwer, als er bemerkte, dass die Anstrengung des Fastens an der Stute zehrte. Er sah es daran, dass sich über ihren Augen hohle Stellen bildeten. Und ihr Fell war rau geworden.
Aber die Fastenzeit würde ja nun bald vorüber sein! Heute war der letzte Tag des Monats. Eben jetzt sank die Sonne hinter die graugrünen Ölbäume, die den Hof des Sultans umsäumten.
Kein Laut war zu hören, weder von dorther, wo der Palast lag, noch von dem Quartier über den Ställen, wo die Pferdejungen untergebracht waren. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten und nur auf den Sonnenuntergang zu warten. Aber nun begannen als Vorboten der Dämmerung die zarten Stimmen der Insekten zu zirpen, feine Vogelstimmen tönten in die Stille hinein. Dunkle Kröten bliesen Fagott. Grillen zirpten, Waldtauben gurrten. Und fern im Atlasgebirge lachte eine Hyäne. Jetzt konnte es nur noch kurze Zeit dauern.
Agba wandte sich nach Osten, seine Augen hingen an dem Minarett der Moschee. Der Turm stach wie eine Nadel hinein in den blutroten Schein der untergehenden Sonne. Der Junge starrte gebannt darauf, bis seine Augen schmerzten. Schließlich tauchte eine Gestalt, in weiße Gewänder gekleidet, dort oben auf. Der öffentliche Ausrufer! Er stieß in eine Trompete. Viermal rief er in die vier Winde des Himmels hinein, dass der Ramadan zu Ende sei.
Ein wilder Lärm erhob sich. Zwölftausend Pferde merkten im Nu, was gemeint war, und wieherten vor Hunger. In den königlichen Ställen brodelte es wie in einem Ameisenhaufen. Stalljungen erschienen in den Gängen und schwärmten in den Hof hinein. Aus den Kapuzen an ihren Mänteln, aus den Gürteln, die ihre Röcke zusammenhielten, oder auch aus den Hemden zauberten sie Datteln, Rosinen und Mandeln hervor und stopften sie mit geräuschvollem Schmatzen in den Mund. Sie streiften Weintrauben von den Reben. Lärmend aßen sie von dem Überfluss. Einige stießen ihre Gesichter in die Wassertröge und tranken so, als ob sie Pferde wären.
Agba hielt sich von den anderen Jungen fern. Er eilte zu seiner Stute zurück. Langsam ging er auf sie zu, um sie nicht zu erschrecken. Unter der Stelle, wo der Sattel an der Wand hing, fand er den Behälter mit Wasser, den er vor einer Stunde schon geholt und hierhergebracht hatte. Er goss das Wasser in einen Eimer und wartete, bis die Stute aufwachte.
Es war fast so, als hätte das Tier im Traum das Plätschern gehört. Die Stute erwachte mit einem Ruck und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Sie ging auf Agba zu und trank. Dann hob sie den Kopf und ließ das Wasser von ihren Lippen tropfen.
Agba wartete bewegungslos. Er wusste, dass sie mehr und immer noch mehr haben wollte. Ihre dunklen Augen hingen an ihm, als wenn sie sagen wollten: Du bist die Quelle alles Guten!
Ein tiefes Gefühl von Glück überkam Agba. Er nickte, so als verstehe er ihre Gedanken. Dann wartete er, während sie wieder und wieder trank.
Als Agba aus dem Stall kam, führten die anderen Jungen eben ihre Pferde zur Tränke. Er musste sich beeilen, wenn er es schaffen wollte, seine Kornration als Erster zu bekommen. Er nahm eine Tasche aus Hanf, rannte durch eine Unzahl von Gängen und stieg schließlich eine steile Treppe hinab zu der Kornkammer, die im Keller lag. Am Eingang stand Signor Achmet, der Stallmeister. Er war ein dunkler, bärtiger Mann. In der rechten Hand hatte er einen Knotenstock. An seinem Rockgürtel hingen wohl hundert Schlüssel. Als er Agba sah, legte er seine Finger, die so stark waren wie Adlerklauen, auf die Schulter des Jungen.
"Warum isst du nicht wie die anderen Sklaven?", fragte er mit seiner rauen Stimme. Dann ließ er Agba los, sah ihn aber scharf an und schälte sich mit den Fingern eine Orange. Seine glänzenden Augen ließen Agbas Gesicht nicht los, als er dann die Orange geräuschvoll aß, um zu zeigen, wie gut sie schmeckte.
Agba schluckte. Er sah eifrig auf seine braunen Zehen.
"Ist es die Stute?"
Die Augen des Jungen fuhren hoch und trafen Signor Achmet.
"Ist heute Nacht ihre Stunde?"
Langsam und schwer nickte Agba.
"Also dann", sagte Signor Achmet und rieb seinen Mund am Mantel ab, "also dann wirst du diese Nacht nicht in deinem Quartier schlafen."
Der Oberstallmeister suchte den Schlüssel zum Kornspeicher heraus. "Du führst die Stute in den Abfohlstall, bleibst bei ihr und passt gut auf und rufst mich dann, wenn es so weit ist, dass sie das Fohlen bekommen soll. Allahs allgegenwärtiges Auge wird über dir sein."
Agbas Herz flatterte wie ein aufgeregter Vogel. Der Stallmeister vertraute ihm die Stute an! Der Junge vergaß alle Püffe und rauen Worte und verbeugte sich tief. Ungeduldig wartete er darauf zu hören, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Gleich würde die Tür sich öffnen. Er roch schon im Voraus den Duft von Hafer und Gerste.
Der Schlüssel kreischte. Die Tür quietschte. Der reife Geruch des Korns strömte Agba entgegen.
Signor Achmet trat zur Seite. Der Junge schlüpfte hinter ihm her in die Dunkelheit hinein. Schnell fanden seine geübten Hände die guten, gesunden Ähren. Damit füllte er die Tasche. Dann wandte er sich um und flog die Treppe hinauf.
Im Abfohlstall
Aber die Stute wollte das Korn, das Agba brachte, nicht fressen. Sie berührte es nur mit den Lippen, wandte sich ab und schloss müde die Augen.
Während er die anderen Pferde, die ihm anvertraut waren, fütterte und tränkte, dachte Agba besorgt darüber nach, wie schwach die Stute doch war. Er aß seine eigene Mahlzeit, die aus Gerste und Ziegenmilch bestand, und beeilte sich, den Abfohlstall aufzusuchen.
Signor Achmet musste vor ihm da gewesen sein. Der Stall stand weit offen. Eine Laterne hing an einem Haken und verbreitete ein schwaches Licht. Seit dem Frühjahr war der Raum nicht gebraucht worden und roch daher feucht und modrig. Agba kletterte auf die Futterkrippe und warf oben an der Wand ein winziges Fenster auf. Ein Stück Himmel wurde sichtbar. Der Mond guckte in den Stall hinein.
Das ist ein günstiges Zeichen, dachte Agba. Ein neuer Mond - ein neuer Monat! Das Fohlen wird stark und schnell sein. Er atmete tief die Luft der kühlen Sommernacht. Dann machte er sich schnell an die Arbeit. Er füllte Eimer um Eimer mit Sand von den hohen Sandhaufen hinter den Ställen. Hin und her rannte er und warf den Sand auf den Boden im Stall. Darauf legte er Stroh. Er breitete es zunächst sorgsam mit den Händen aus, dann stampfte er es mit den Füßen fest und lief rasch immer wieder im Kreis darauf herum. Schließlich musterte er seine Arbeit kritisch. Das würde ein gutes Lager für die Stute sein!
Als er eben die Krippe mit Heu füllte, schaute Signor Achmet in fliegenden weißen Gewändern herein und prüfte mit seinen knochigen Fingern, wie hoch Agba den Sand aufgeschüttet hatte. Er befühlte das Strohlager.
"Du verschwendest Sand und Stroh", sagte er mit finsterem Blick. "Die Hälfte täte es auch!" Aber Signor Achmet wusste wohl, wie sehr Agba dem Pferd zugetan war, und er verstand den Jungen. "Hol sie nun", befahl er.
Agbas Verbeugung blieb in der Dunkelheit unbemerkt.
"Du rufst mich, wenn das Tier unruhig wird!"
Schnell und leise drehte sich Signor Achmet auf den Hacken herum und verschwand. Seine weißen Mantelzipfel flatterten hinter ihm her wie Mottenflügel.
Der Neumond schaute Agba über die Schultern, als er ging, um die Stute zu holen. Er fand sie geduldig in einer Ecke ihres Stalles. Sie hielt den Kopf gesenkt. Der Schweif war eingezogen. Agba legte seine Hand auf ihren Nacken und führte sie in die Nacht hinaus. Er ging an endlos vielen Ställen vorbei und durch viele Torbogen hindurch, bis sie in dem neuen Quartier ankamen.
An der Tür befiel das Tier ein ängstliches Zittern. Es machte einen schwachen Versuch, rückwärts auszuweichen. Agba hielt die Stute ganz fest. Er summte vor sich hin und versuchte auf diese Weise, seine eigene, namenlose Furcht zu verbergen.
Die Stute war nun im Stall. Sie prüfte vorsichtig das weiche Lager mit ihren Hufen. Dann näherte sie sich der Krippe. Ihre Nüstern weiteten sich, als sie das Heu beschnupperte. Aber sie fraß nicht. Sie berührte das Wasser im Eimer mit den Lippen, aber sie trank nicht. Schließlich zog sie ihre Hufe unter sich zusammen und legte sich mit einem Stöhnen nieder. Ihr Kopf ging unruhig auf und ab. Sie ließ ihn müde ins Stroh sinken. Dann wurde ihr Atem allmählich ruhiger.
Agba stand wachsam. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Mühlrad herum. Er zitterte. Er musste daran denken, wie er und seine Stute eines Tages einer Gazelle begegnet waren. Da hatte er sein Tier neben der Gazelle herreiten lassen. Seine Stute hatte das wilde Ding überholt und hinter sich zurückgelassen. Agba hörte wieder, wie der Wind in seinen Ohren gesungen hatte.
Als er seine Augen schloss, kam ihm die Erinnerung an jenen Tag zurück. Auf dem Heimweg waren sie an einem alten, runzligen Geschichtenerzähler vorbeigekommen. Der Alte kam ganz dicht an Agba heran und sagte mit einer Stimme, die nicht mehr als ein Flüstern war: "Als Allah das Pferd erschuf, sprach er zum Winde: ›Ich will, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut aus dir hervorgehe. Nimm Gestalt an und werde!‹ Und der Wind nahm Gestalt an und so entstand das Pferd."
Diese Worte tanzten Agba im Kopf herum, als er nun dasaß und die schlafende Stute bewachte. "Ich will, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut aus dir hervorgehe. Nimm Gestalt an! Werde! Ich will, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut aus dir hervorgehe! Nimm Gestalt an und werde." In seinem Sinn sprach er die Worte wieder und wieder vor sich hin, so lange, bis mit einem Male die Stallwände sich auseinanderschoben und ganz verschwanden. Und Agba ritt auf dem Südwind. Da war nichts, was ihn aufhalten konnte. Nicht der Palast und nicht die Bäume, weder Hecken noch Flüsse. Nur weiße Wolken gab es und einen blauen, hochgewölbten Torbogen. Der Wind war sein Reitpferd.
Mit einem Seufzer sank Agba in das Stroh. Sein Kopf fiel vornüber. Er schlief.
Ein Fohlen wird geboren
Die Träume des Jungen verwoben sich zu einem immer feineren Gespinst, das sich schließlich in nichts auflöste. Agba schlief fest. Die Kerze in der Laterne sprühte zuckend und erlosch. Der Mond stieg höher und höher. Fledermäuse und Nachtfalter flogen geräuschlos durch die samtschwarze Nacht. Sie gingen auf Jagd nach Insekten. Als das graue Morgenlicht heraufkam, waren sie verschwunden. Ein Chor von krächzenden Krähen löste sie ab.
Agba wachte jäh auf. Die Stallwände standen wieder so, wie sie immer gewesen waren. Auch die Stute lag auf der Seite wie zuvor. Aber ihr Kopf war jetzt hoch aufgerichtet. Sie leckte ein neugeborenes Fohlen trocken. Das Geräusch, das ihre Zunge machte, während sie eifrig über das Fell des kleinen Fohlens strich, füllte die Stille im Raum mit Leben.
Dem Jungen wurde ganz ängstlich zumute. Er fürchtete, das Wunder, das er da erlebte, könnte sich in Morgennebel auflösen, wenn er nur einen Augenblick wagte, seine Augen davon abzuwenden. Oh, wie winzig war das Fohlen! Und so feucht am ganzen Körper, dass man noch nicht sagen konnte, von welcher Farbe es war. Aber die Augen hatte es schon weit auf. Sie waren voller Neugier.
Agba zitterte, als er den kleinen Burschen betrachtete. Es war nicht das erste Mal, dass er ein neugeborenes Fohlen sah. Aber keins war so klein und zierlich gewesen wie dieses hier. Wie aus weiter Ferne hörte er draußen die nackten Füße der Stalljungen vorüberhuschen. Er nahm auch wahr, dass der wilde Eber in seinem Loch hinter den Ställen grunzte und hustete. Agba überlegte, ob es wohl wahr wäre, dass Wildschweine die bösen Geister von Pferden fernhalten können.
Er wagte noch immer nicht, sich zu rühren. Jetzt sah er, wie die Stute sich schwerfällig mühte, auf die Beine zu kommen. Dabei gab sie dem kleinen Ding mit ihrer Nase einen aufmunternden Schubs.
Das Fohlen versuchte aufzustehen. Es stemmte seine Vorderbeine fest auf. Sie rutschten ihm seitlich weg. Jetzt schienen ihm alle Beinchen durcheinanderzugeraten. Aber das Fohlen versuchte es noch einmal und immer wieder. Eine atemlose Sekunde lang stand es auf seinen vier Füßen. Dann verbogen sich die Beine und das Tierchen fiel zu einem kleinen Haufen zusammen. Agba streckte die Hand nach ihm aus. Aber die Stute kam ihm zuvor. Sie stieß das Kleine wieder mit ihrer Nase an. Dann mit der Zunge. Sie schien dem Fohlen zuzunicken. Das Tierchen versuchte es noch einmal. Und stand! Wie spindeldürr war es doch! Man konnte seine Rippen zählen. Es hatte genau die gleichen Höhlen über den Augen wie seine Pferdemutter.
Ich könnte es auf meinen Arm nehmen, dachte Agba. Es ist nicht größer als eine Ziege. Und es hat einen langen Bart, auch genau wie eine Ziege. Lang und seidig. Sein Schweif ist lockig. Das Tier ist über und über von einer einzigen Farbe. Nur - nur eine Stelle... Plötzlich setzte das Herz des Jungen ein paar Schläge lang aus. Auf dem rechten Hinterhuf des Fohlens sah er einen weißen Flecken. Er war nicht größer als eine Mandel, aber er war tatsächlich da! Das weiße Zeichen - das Symbol der Schnelligkeit!
Agba sprang auf seine Füße. Er wäre am liebsten auf den Turm der Moschee hinaufgeklettert, hätte dort die Trompete geblasen und mit Wonne in die vier Winde des Himmels hineingerufen: "Ein Fohlen ist geboren! Und es wird so schnell sein wie der Wind der Wüste, denn an seinem Huf ist das weiße Zeichen! Das weiße Zeichen! Das weiße..."
Eben jetzt drang ein Strahl des aufschimmernden Lichtes durch das Fenster und fiel auf das Neugeborene. Wie rotes Gold flammte das Fell des Tieres auf. Der Sonnenschein legte einen Strahlenkranz um den Kopf des Fohlens.
Agba wurde wieder ängstlich. Er öffnete seinen Mund, aber kein Laut kam daraus hervor. Vielleicht war doch alles nur ein Traum. War das Tier am Ende gar nicht Wirklichkeit? Das goldene Fell. Die Krone von Sonnenstrahlen. War es vielleicht eines der goldenen Pferde des Sonnenwagens?
Ich will es festhalten. Ja, das will ich! Ich kann es aber nur, wenn ich ihm einen Namen gebe, dachte der Junge schnell. Und er nannte das kleine Ding: Sham. Das Wort hatte etwas mit dem arabischen Wort für "Sonne" zu tun.
Kaum hatte Agba dem Fohlen diesen Namen gegeben, da schien das kleine Wesen neue Kraft zu fühlen. Es machte ein paar Schritte und fand heraus, dass seine Mutter ihm Milch geben konnte. Mit kleinen, saugenden Lauten fing das Tier an zu trinken.
Agba war sich bewusst, dass er eigentlich Signor Achmet Bericht erstatten musste, dass er schon längst in der Schlange vor der Kornkammer hätte stehen sollen, um seine Kornration in Empfang zu nehmen. Aber er brachte es nicht über sich, den Zauber des Augenblicks zu zerstören. Er lauschte dem saugenden Geräusch, das das Fohlen machte, und der Stute, die auf trockenem Gras herumkaute; er roch die warmen Körper der Tiere. Agba fand, ein Stall sei ein herrlicher Ort, um geboren zu werden.
Die Weizenähre
Agbas Gedanken wurden jäh unterbrochen. Die Tür zum Stall öffnete sich leise. Signor Achmet! Die Sonne blitzte scharf an seinem Säbel entlang. Ein böses Licht war in seinen Augen, als er jetzt auf den Jungen hinuntersah.
Agba sprang auf die Füße. Er war auf eine Strafpredigt gefasst. Gleich würde er die knochigen Finger auf seinen Schultern fühlen.
Aber des Signors Augen waren schon nicht mehr bei dem Jungen. Der Stallmeister sah wie gebannt auf die Brust des Fohlens. Sein Gesicht erstarrte in Entsetzen. Er schob die Stute beiseite, um das Neugeborene besser prüfen zu können. Schließlich stammelte er ein paar Worte. Jedes davon klang, als schlüge Hagel klirrend auf einen Dachfirst: "Die Weizenähre!", sagte er.
Agba schob sich näher heran. Er bückte sich tief, damit auch er die Brust des kleinen Pferdes genau sehen konnte. Wahrhaftig! Genauso wie der Stallmeister gesagt hatte, war da ein Haarwirbel, der ganz ähnlich aussah wie eine Weizenähre.
"Die Weizenähre!" Signor Achmets Stimme klang heiser. "Das bedeutet Unglück. In der vergangenen Nacht hat mich das Pfeifen der Rohrdommel gewarnt. Und die gelbäugige Eule hat mich auch gewarnt. Unglück wird die Tage des Fohlens heimsuchen. Unglück hängt als dunkle Wolke ganz tief und nah über den königlichen Ställen."
Wieder starrten seine Augen auf die Brust des Neugeborenen. Er ging langsam auf das Fohlen zu und zog dabei den Säbel aus der Scheide.
Agba stieß einen Schrei aus. Ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, warf er sich zwischen Signor Achmet und das kleine Tier. Auf den Knien liegend, hob er das Fohlen, das mit seinen Beinchen einen wilden Wirbel schlug, hoch. Triumphierend zeigte er auf den weißen Flecken am Hinterhuf.
Signor Achmets Augen zogen sich zusammen. Seine Augenbrauen wurden zu einem einzigen schwarzen Strich. Agba fühlte, dass der Stallmeister in Gedanken beide Zeichen wägte und abschätzte - den weißen Flecken gegen die Weizenähre. Das gute Omen gegen das böse. Sie wogen sich genau auf.
Gerade in diesem Augenblick ließ der wilde Eber ein ärgerliches Quieken hören. Das erinnerte Signor Achmet daran, dass der Eber nur aus dem Grunde in den königlichen Pferdeställen geduldet wurde, weil er in dem Ruf stand, böse Geister von den Pferden fernhalten zu können, indem er die üblen Mächte im eigenen Körper hausen ließ. Verdrießlich steckte der Stallmeister seinen Säbel wieder in die Scheide.
"Möge der böse Geist in den wilden Eber fahren", brummte er.
Agba entfuhr ein tiefer Seufzer.
"Aber die Milch dieser Stute wird dem Fohlen keine Kraft geben", fügte Signor Achmet schnell hinzu. "Die Stute stirbt. Es ist Allahs Wille."
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Marguerite Henry
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2006, 1, 155 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570132552
- ISBN-13: 9783570132555
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