Seelensplitter
Thriller. Originalausgabe
Die Dämonen der Vergangenheit sind erwacht - und bringen den Tod
"Es wird mich töten, Lina", sagte Carolin. "Uns alle."
Die junge Polizistin Lina Andersen kennt Carolin aus einer Gruppentherapie. Lina hatte schon damals Carolines paranoide...
"Es wird mich töten, Lina", sagte Carolin. "Uns alle."
Die junge Polizistin Lina Andersen kennt Carolin aus einer Gruppentherapie. Lina hatte schon damals Carolines paranoide...
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Produktinformationen zu „Seelensplitter “
Die Dämonen der Vergangenheit sind erwacht - und bringen den Tod
"Es wird mich töten, Lina", sagte Carolin. "Uns alle."
Die junge Polizistin Lina Andersen kennt Carolin aus einer Gruppentherapie. Lina hatte schon damals Carolines paranoide Züge bemerkt, deshalb schickt sie die Frau nun weg. Außerdem will Lina nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Das ist vorbei. Eine Woche später steht Lina vor Carolins Leiche. Die junge Frau wurde brutal ermordet. Als eine weitere ehemalige Teilnehmerin der Therapiegruppe umgebracht wird, kann Lina nicht mehr vor der Vergangenheit fliehen. Die alten Dämonen sind erwacht.
"Es wird mich töten, Lina", sagte Carolin. "Uns alle."
Die junge Polizistin Lina Andersen kennt Carolin aus einer Gruppentherapie. Lina hatte schon damals Carolines paranoide Züge bemerkt, deshalb schickt sie die Frau nun weg. Außerdem will Lina nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Das ist vorbei. Eine Woche später steht Lina vor Carolins Leiche. Die junge Frau wurde brutal ermordet. Als eine weitere ehemalige Teilnehmerin der Therapiegruppe umgebracht wird, kann Lina nicht mehr vor der Vergangenheit fliehen. Die alten Dämonen sind erwacht.
Klappentext zu „Seelensplitter “
Die Dämonen der Vergangenheit sind erwacht - und bringen den Tod"Es wird mich töten, Lina", sagte Carolin. "Uns alle." Die junge Polizistin Lina Andersen kennt Carolin aus einer Gruppentherapie. Lina hatte schon damals Carolines paranoide Züge bemerkt, deshalb schickt sie die Frau nun weg. Außerdem will Lina nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Das ist vorbei. Eine Woche später steht Lina vor Carolins Leiche. Die junge Frau wurde brutal ermordet. Als eine weitere ehemalige Teilnehmerin der Therapiegruppe umgebracht wird, kann Lina nicht mehr vor der Vergangenheit fliehen. Die alten Dämonen sind erwacht ...
Lese-Probe zu „Seelensplitter “
Seelensplitter von Michael Koglin... mehr
1
Es macht einen Haufen Arbeit, nicht aufzufallen.
Die Gardinen waschen, das Wohnzimmer aufräumen, das Geschirr spülen, Blumen gießen, lüften, freundlich die Nachbarn grüßen. Die Dinge im Griff haben.
»Warum, verflucht noch mal, hab ich die Dinge nicht im Griff?«, sagt Lina und blickt zum Tisch, auf dem sich die Fast-Food-Verpackungen der letzten Tage stapeln.
Warum gerät sie in Panik, wenn es an der Tür klingelt? Nur wegen des Geschirrs? Weil sie jederzeit damit rechnet, dass jemand ihr Geheimnis entdeckt und sie dann nicht mehr in Ruhe lässt?
Sie ist einfach nicht gut genug vorbereitet. Nicht auf Besuch, nicht auf das Leben. Nicht darauf, wie man die verdammten Flecken auf der Tischdecke wegbekommt. Wie man dafür sorgt, dass sich der Staub gar nicht erst zu kleinen Kugeln zusammendreht, die andere Menschen »Wollmäuse« nennen. Nicht vorbereitet auf Gespräche, in denen das Wort »Wollmäuse« vorkommt.
Dabei hatte sie es schon mehrere Wochen geschafft. Hintereinander.
Sven war gern gekommen. Hatte sie besucht, und alles war normal. Was man eben »normal« nennen kann bei einer Frau, die mit dreißig nicht verheiratet ist und es auch nie war, die keinen Kinderwagen zu den Coffeeshops schiebt, die sich in ihrem Job wohlfühlt. Weil sie dort nicht auffällt. Soweit eine Polizistin mit brünetten, schulterlangen Haaren und hohen Wangenknochen das »Auffallen« eben verhindern kann.
Nicht übermäßig schminken. Den Leuten nicht zu lange in die Augen sehen. Professionell sein. Den Kollegen mit einem Lächeln das Berichteschreiben abnehmen. Verständnisvoll sein, sich mit nickendem Kopf interessieren. Zuhören. Und sich raushalten. Unbedingt raus- halten.
Auch aus Svens Eheleben.
Nicken, sich den Kinderstress anhören. Noten, Mobbing, Drogen. Und dann die Ehefrau. Die ihren Mann nicht versteht. Nicken, aber die Gespräche auf andere Themen bringen. Abende mit Sven. Reingeschoben. Ganz nach Dienstplan.
»Heute Abend passt es.«
Nicken.
Wenn sie nicht auffallen will, muss sie das Normale auch in der Nachbarschaft lernen.
»Wie geht es Ihrer Frau, Herr Klein?« - »Ja, vielen Dank, dass Sie das Paket entgegengenommen ... was für ein schlimmes Wetter ...« - »Nein, ich habe noch nicht den Richtigen gefunden, aber ich halte die Augen offen. Sie haben nicht zufällig einen Sohn, der ... ja, war nur ein Scherz.«
So schwer ist das doch nicht. Sie muss es jedenfalls versuchen.
Menschen lassen einander nicht in Ruhe. Sind einfach nicht dafür gemacht.
Die Höhlen haben in den letzten hunderttausend Jahren Türen bekommen. Und Fenster. Und die Menschen haben sich daran gewöhnt, sie zu öffnen und zu schließen. Und weil Fenster und Türen nicht mehr ausreichten, benutzten sie den Computer. Brüllten es in die Welt hinaus. Komm her und sei mein Freund, und ich erzähle dir, was du nicht wissen willst. Und als Gegenleistung darfst du mir deinen Scheiß erzählen.
Und dann kommen die Fragen.
Sie hat nur vier Fragen, aber genau auf die findet sie keine Antwort: Wie hatte das passieren können? Und schleppt man bis in alle Ewigkeit die Seele eines Menschen mit sich herum, für dessen Tod man verantwortlich ist? Dann das Blut. Woher kommt das Blut, das in ihren Träumen unter der Tür hindurchquillt? Und was sind das für Geräusche, die sie hört?
Lina holt einen Müllbeutel aus der Küche und wirft Verpackungen und Essensreste hinein. Burgerkartons, Aluschalen vom Thai-Imbiss unten im Haus, Papptüte mit Resten vom Chop Suey, Plastikschale mit einem Rest Krautsalat, Chipstüte. Eins nach dem anderen.
Sie muss darauf achten, sich vernünftig zu ernähren. Obst zum Beispiel. Auf dem Wochenmarkt einkaufen. Warum nicht mal kochen? Hat sie doch gelernt. Ja, es gab sogar mal eine Zeit, da hat es ihr Spaß gemacht.
Und spazieren gehen. Wie ein normaler Mensch eben. Ohne sich dauernd umzusehen.
Sie hat nur wenige Möbel in die Wohnung gestellt. Ein breites Regal, eine bequeme, sandfarbene Couch und ein Sessel, in den man sich verkriechen kann. Keine Bilder oder Fotos, und auf dem Beistelltisch ein paar eckige Figuren, die sie in einem Kunsttrödel gefunden hat. Menschen mit zusammengeschweißten würfelartigen Körpern mit eckigen Köpfen.
Unten auf der Straße fährt ein Bus vorbei und lässt die Fensterscheiben vibrieren. Langsam setzt der Feierabendverkehr ein. Gut so. Bewegung ist immer gut.
Lina zieht die Gardine zur Seite und sieht hinunter auf die vierspurige Straße.
Ein Junge schiebt seinen in einem ratternden Einkaufswagen sitzenden Kumpel über den Bürgersteig. Aus der U-Bahn-Station streben Männer und Frauen in Businesskleidung in ihren Feierabend. Einige legen einen Zwischenstopp im Supermarkt ein. Stadtauswärts Stop-and-go.
Lina blickt auf die Uhr. In einer Stunde muss sie sich auf den Weg zur Wache machen. Nachtschicht. Mit Alex.
Seit zwei Wochen fahren sie zusammen. In den ersten Tagen war es nicht ganz leicht, seinen Redeschwall zu bremsen, aber inzwischen akzeptiert er, dass sie sich nicht über Politik, Familiengeschichten und schon gar nicht über die Kollegen oder ihr Privatleben unterhalten will.
Privatleben! Was soll das sein? Seitdem sie sich von Sven Emmert getrennt hat . Egal.
Beim Bäcker gegenüber bildet sich eine Schlange, die bis vor die Tür reicht. Angeblich wird da ohne Treibmittel und nach alten Rezepturen gebacken. Treibmittel!
Was treibt sie eigentlich an? Ein normales Leben führen. Nicht auffallen. Sicher sein. Und ein bisschen Anerkennung in dem Job, den sie sich ausgesucht hat.
Es klingelt an der Tür. Lina fährt zusammen und zerrt mit einem Ruck die Gardine zu.
Wer kann das sein? Eine Nachbarin mit einem Paket? Ein verspäteter Zusteller? Sie schaut auf die Straße, doch dort steht kein Wagen, der einem Paketdienst zuzuordnen wäre.
Alex?, denkt sie. Der wird doch wohl nicht auf die Idee kommen, sie zu Hause abzuholen? Wie auch immer, das heftige Zuziehen der Gardine ist möglicherweise auch im Hausflur zu hören gewesen. Tür öffnen. Menschen, die nicht auffallen wollen, öffnen die Tür, wenn es klingelt.
Lina erkennt sie sofort. Sie wirkt verstört, gehetzt, hält sich merkwürdig gebückt, und auf ihrem Gesicht breiten sich hektische Flecken aus.
»Carolin?«
»Du musst aufpassen!«
»Was ist passiert?«
Carolin starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie sagt nichts. Ihr Gesicht ist geschwollen, die feinen Züge kaum noch zu erkennen.
Sie schwankt jetzt leicht und wischt sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Willst du nicht hereinkommen?«
Carolin sagt nichts, sie hebt nur den Arm, um sich am Türrahmen abzustützen. Ihre Fingernägel sind abgekaut, ihre Finger übersät mit kleinen, teils verschorften Schnitten.
Als würde Linas Frage sie erst jetzt erreichen, schüttelt sie den Kopf, und ihr Gesicht verzerrt sich zu einem Grinsen.
»Sieh dich vor, Lina Andersen. Die Monster sind erwacht.«
»Um Gottes willen ... komm doch rein.«
Carolin macht eine Handbewegung zur Tür der Nachbarin und in den Flur.
»Sie schleichen ums Haus, Lina. Sie sind da. Ich höre sie
tuscheln. Wispern. Sie wispern. Das ist irre, was?«
Sie nickt bekräftigend und zieht die Schultern hoch. »Du glaubst mir nicht, oder? Aber jetzt kann mir niemand mehr vorwerfen, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Wie wär's mit einem Kaffee oder ...«
»Du kriegst mich nicht in deine Wohnung«, sagt Carolin und kichert nervös. »Ganz bestimmt nicht.«
Dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und späht über Linas Schulter hinweg in die Wohnung hinein.
»Es ist niemand da«, beteuert Lina.
Auch ich könnte jetzt vor einer fremden Tür stehen und Geister beschwören, denkt Lina, und ich bin jeden Tag näher dran.
Möglich, dass die Monster wirklich da sind. Und möglich auch, dass sie selbst nur ein paar Monate braucht, um sie zu sehen. Zu erleben, wie die Monster ihr zuwinken.
»Du bist doch Polizistin«, sagt Carolin und fügt ein gemurmeltes »schöne Polizistin ...« hinzu.
»Ich mag nicht mit dir im Flur ...«
»Verstehe«, sagt Carolin.
»Also komm schon rein.«
Dabei will sie gar nicht, dass Carolin ihre Wohnung betritt. Sie muss sich vorbereiten. Ihre Uniform anziehen und sich das Gesicht aus Normalität überstülpen. Nicht auffallen. Nichts Besonderes sein.
Gott sei Dank, sie schüttelt den Kopf, denkt Lina. Wortlos macht Carolin auf dem Absatz kehrt und stürzt grußlos die Stufen hinunter.
Im Dienst sind diese Dinge klar einzuordnen. Paranoia befällt die Alkoholiker und die Demenzkranken. Und die Einsamen. Bereits acht Mal waren sie gerufen worden, weil der Fernsehapparat den Anrufer beobachtete, weil Frauen, Ehemänner oder Vergewaltiger in Gebüschen lauerten, Töchter mit Messern hinter ihren Vätern her waren oder weil Hackgeräusche durch die Wand drangen.
»Seit Wochen geht das so. Fremde junge Männer gehen da rein und kommen nie wieder raus. Die machen Wurst.«
Lina mag die Demenzkranken, die sich auf ihrer Reise ins Vergessen freuen, wenn sie ihre Blicke auf ihre Uniform heften können. Etwas, an das sie sich meist erinnern, während Kinder und Enkel, soweit vorhanden, oft bereits Fremde geworden sind. Und Lina hört ihnen zu. Sehr zum Leidwesen ihrer Kollegen, die gewöhnlich aus dem Fenster sehen, während sie sich mit ihnen unterhält und versucht, ihnen ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit zu geben. Die meisten ihrer Kollegen halten das für gefährlich.
»Der Notruf ist nicht die Telefonseelsorge«, hatte Lüders erst letzte Woche im Wagen geraunt. »Wenn du deren beste Freundin sein willst, werden sie schon morgen wieder einen Fremden in der Wohnung melden, weil es mit den Polizisten so nett war.«
Linas letzter »Kunde« hat vor zwei Tagen einen Haufen Essensreste in eine Plastiktüte geworfen, sie ihnen in die Hand gedrückt und ihren Kollegen Alex aufgefordert, den Inhalt in einem Labor untersuchen zu lassen. Die Supermarktkette vergifte gezielt Menschen, die zu viel wüssten.
So ganz Unrecht hat der Mann ja nicht.
Eine andere ältere »Kundin« hatte auf ein Schild »Ich rede nicht mit euch« geschrieben und es auf einen Stuhl vor den Fernseher gesetzt. Auch daran war eigentlich nichts auszusetzen. Gerufen worden waren sie von einer Nachbarin, weil die Lautstärke des Fernsehers bis zum Anschlag aufgedreht war und die Nachbarin gehört hatte, dass die alte Frau gegen die Stimmen anschrie.
Aber Carolin? Soweit Lina weiß, gibt es keine Alkoholprobleme, keine schwere psychische Erkrankung. Doch es gibt einen Tanz auf der Borderline. Selbstverletzungen. Das Gefühl, nichts wert zu sein. Endlich etwas wert sein zu wollen. Darum hat Carolin an der Therapie teilgenommen.
Die Therapie. Da ist es raus, das Wort. Setzt sich wieder fest in ihren Gedanken. Du bist krank, Lina. Du bist nicht normal. Pass auf. Bring dich nicht um. Öffne dich, damit alle hineinsehen können. Damit du selber hineinsehen kannst. Aber verbirg, was du getan hast!
Lina geht ans Fenster, kann Carolin jedoch nirgends mehr sehen.
Hoffentlich irrt sie jetzt nicht durch die Gegend. Hoffentlich lässt sie die Finger von Alkohol und Tabletten. Warum habe ich sie nicht in die psychiatrische Notambulanz gebracht?, denkt sie. Weil ich noch nicht im Dienst bin, noch keine Uniform trage. Weil ich mich da raushalten sollte.
Lina beschließt, sich am nächsten Tag darum zu kümmern.
Sie geht ins Bad, duscht, zieht eine gebügelte Bluse aus dem Schrank, nimmt die Uniform vom Kleiderbügel. Sie zieht sich nicht mehr im Umkleideraum der Wache um, seitdem eine Kollegin begehrliche Blicke auf ihre Brüste geworfen hat.
Lina stellt sich vor den Spiegel und zieht ein wenig Kajal über das Lid, tupft Make-up ins Gesicht, verreibt es mit den Fingerspitzen und bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Sie findet ihr Gesicht etwas zu rundlich, zu sanft. Harte Kinnkonturen, die Nase ein wenig energischer, das wäre ... aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.
In der Schule hatte sie es gefreut, dass ihre Mitschüler sie nur verstohlen taxierten und sich nicht trauten, sie anzusprechen. Eine Zeit lang hatte sie sich damals unnahbar gefühlt, unbesiegbar. Hatte vergessen, was sich da immer wieder in ihrer Magengrube zu verkriechen schien.
Jetzt weiß sie, wie es geht, unbesiegbar zu sein: Sich einfach nicht dem Kampf zu stellen. Mitzulaufen. Nichts Besonderes zu sein, keine besonderen Leistungen vorzuweisen.
Lina füllt Kaffee in die Espressokanne, gibt drei Kardamomkapseln hinzu und stellt sie auf den Herd.
Ihr Alltagsritual, das den Dienst einläutet.
Die Maschine stößt fauchend den Dampf durch das Sieb. Lina trinkt gerade den ersten Schluck, als es wieder an der Tür klingelt.
»Carolin, ich kann nichts für dich tun«, sagt sie, nimmt noch einen Schluck und eilt dann doch zur Tür, um sie zu öffnen.
»Es tut mir leid, aber ich muss ...«
»Arbeit, ich weiß.«
»Alex?«
»Ich habe Licht gesehen.«
»Ich finde den Weg zur Wache sehr gut allein«, sagt sie etwas schärfer.
Sein »Kommt nicht wieder vor« kommentiert sie nicht weiter.
Alex ist ein angenehmer Kollege, doch wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, ist es klug, rechtzeitig die Grenzen abzustecken. Nur nicht zu viel Privates reinbringen, das führt zu nichts.
Eine Stunde später sind sie unterwegs zum ersten Einsatzort. Unfall mit Fahrerflucht. Keine Personenschäden.
Routinebericht. Das Fahrzeug des Geschädigten wurde geschnitten und dann touchiert, leider hat er nur einen Teil des Nummernschildes erkennen können.
Sie beruhigen den aufgeregten Mann, machen sich Notizen für den Bericht, fotografieren und fahren zurück zur Wache. Die Kollegen warten schon mit den üblichen blöden Scherzen.
Gegen halb elf läuft die erste Meldung über nächtliche Ruhestörung ein.
»Sind früh dran«, sagt der Wachhabende vom Dienst. »Zwei Nachbarn haben unabhängig voneinander angerufen. Gepolter in der Wohnung, dann ein lauter Knall. Einer hat von einer Explosion gesprochen. Von Rauch war aber nicht die Rede.«
Dann reicht er Lina den Zettel mit Name und Adresse über den Tisch. Kostja Behrmann.
Zehn Minuten später stehen Lina und Alex vor der nur angelehnten Wohnungstür. Kein Licht in der Wohnung. Keine Geräusche.
Alex ruft laut: »Hallo, hier ist die Polizei!« Als niemand antwortet, betritt er die Wohnung. Lina leuchtet hinter ihm mit der Taschenlampe den Flur aus, als sie Alex' Schrei hört.
»Mein Gott!«
»Was ist?«, fragt Lina alarmiert und eilt zu ihm. Das Licht der Taschenlampe fällt in sein entsetztes Gesicht. Er steht im Türrahmen des hinteren Zimmers und stützt sich ab.
»Was ist?«, wiederholt Lina.
»Geh besser nicht ins Schlafzimmer«, sagte Alex. »Die Spiegel, die Wände ... da ist alles ... voller Blut und ... es ist grauenhaft!«
»Eine Explosion?«, fragt Lina.
Der Lichtstrahl zuckt durch den Flur. Da ist irgendetwas, das hier nicht hingehört, denkt sie und wendet ihren Blick von ihrem blassen und immer noch mit entsetzt aufgerissenen Augen dastehenden Kollegen ab.
Der zitternde Lichtkegel wandert über die Garderobe, an der ein tropfnasser Mantel und ein Schal hängen. Daneben ein wolkenförmiges Schlüsselbrett. Ein Flur wie unzählige andere, eine lieblos eingerichtete Schleuse, in der man den Arbeitstag abschütteln und an den Haken hängen will.
Sie richtet ihre Lampe auf das Foto über dem Schlüsselbrett und braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen, was sie sieht.
» Um Himmels willen!«, sagt Alex, der hinter ihr steht und sich räuspern muss, um weitersprechen zu können. »Scheiße, Lina, auf dem Foto ... das bist ja du!«
ES ist hinter ihr im Schrank. Brennt mit seinen Augen Kreise in ihre Haut. Leuchtende Kreise. Sie stechen. Riechen nach verbranntem Fleisch.
Gut so. So kann sie es niemals vergessen. Wird sich auf ewig daran erinnern. Ihr ganzes Leben lang. Sie schließt die Augen, ballt die rechte Faust und nimmt es sich ganz fest vor. Die aufglimmenden und brennenden Kreise in ihrem Rücken werden ihr dabei helfen. Ganz bestimmt.
Die Zeichen sind ein Schatz, denkt sie. Mein Schatz.
Es gibt Schätze, die werden in den Rücken geschnitten. So ist das eben.
Ihr Rücken ist eine Fackel. Wenn alle schlafen und träumen, leuchtet sie durch die Nacht. Die Fackel auf ihrem Rücken macht, dass die dunklen Dinge da draußen einen Schatten bekommen. Schatten, in denen man sich verbergen kann.
Nur das Warten ist nicht schön. Auch ES muss geduldig sein.
Sie sitzt auf dem Bett und kämmt ihre Puppe.
»Willst du Zöpfe?«, fragt sie.
Die Puppe sieht sie lächelnd an.
»Willst du? Na?«
Sie schlägt den Kopf der Puppe auf die Bettkante.
»Rede schon, du Vieh. Oder soll ich sie dir ausreißen? Göre!«
Sie hört ES atmen. Und die Kreise auf ihrem Rücken glimmen auf.
Schritte auf dem Flur, vorsichtig wird die Türklinke heruntergedrückt. Jetzt darf sie nicht hinsehen. Weiterkämmen. Er steht in der Tür.
»Na, meine Prinzessin.«
Nicht hochsehen. Weiterkämmen.
»Welchen Finger willst du heute?«
»Ach, egal.«
»Kleines, ich nehme den Zeigefinger, der ist nicht so groß, ja?«
»Darf ich ihn nass machen? Es tut dann nicht so weh.«
»Ja, mach ihn mit der Zunge nass«, sagt der Schwarze Ritter. »Das mag ich.«
»Und sehen die Zwerge wieder durch das Schlüsselloch?« »Oh ja, sie sehen uns zu.«
Und da war noch jemand, der ihnen zusah. Aber das verriet sie nicht. Sonst hörten die Kreise auf ihrem Rücken auf zu brennen. Und das durfte auf keinen Fall passieren.
»Zieh jetzt dein Prinzessinnenkleid an«, sagt er und hält ihr den Finger vor den Mund.
Jetzt tut er es, denkt sie. Und ES wird wieder wütend werden.
© 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
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Es macht einen Haufen Arbeit, nicht aufzufallen.
Die Gardinen waschen, das Wohnzimmer aufräumen, das Geschirr spülen, Blumen gießen, lüften, freundlich die Nachbarn grüßen. Die Dinge im Griff haben.
»Warum, verflucht noch mal, hab ich die Dinge nicht im Griff?«, sagt Lina und blickt zum Tisch, auf dem sich die Fast-Food-Verpackungen der letzten Tage stapeln.
Warum gerät sie in Panik, wenn es an der Tür klingelt? Nur wegen des Geschirrs? Weil sie jederzeit damit rechnet, dass jemand ihr Geheimnis entdeckt und sie dann nicht mehr in Ruhe lässt?
Sie ist einfach nicht gut genug vorbereitet. Nicht auf Besuch, nicht auf das Leben. Nicht darauf, wie man die verdammten Flecken auf der Tischdecke wegbekommt. Wie man dafür sorgt, dass sich der Staub gar nicht erst zu kleinen Kugeln zusammendreht, die andere Menschen »Wollmäuse« nennen. Nicht vorbereitet auf Gespräche, in denen das Wort »Wollmäuse« vorkommt.
Dabei hatte sie es schon mehrere Wochen geschafft. Hintereinander.
Sven war gern gekommen. Hatte sie besucht, und alles war normal. Was man eben »normal« nennen kann bei einer Frau, die mit dreißig nicht verheiratet ist und es auch nie war, die keinen Kinderwagen zu den Coffeeshops schiebt, die sich in ihrem Job wohlfühlt. Weil sie dort nicht auffällt. Soweit eine Polizistin mit brünetten, schulterlangen Haaren und hohen Wangenknochen das »Auffallen« eben verhindern kann.
Nicht übermäßig schminken. Den Leuten nicht zu lange in die Augen sehen. Professionell sein. Den Kollegen mit einem Lächeln das Berichteschreiben abnehmen. Verständnisvoll sein, sich mit nickendem Kopf interessieren. Zuhören. Und sich raushalten. Unbedingt raus- halten.
Auch aus Svens Eheleben.
Nicken, sich den Kinderstress anhören. Noten, Mobbing, Drogen. Und dann die Ehefrau. Die ihren Mann nicht versteht. Nicken, aber die Gespräche auf andere Themen bringen. Abende mit Sven. Reingeschoben. Ganz nach Dienstplan.
»Heute Abend passt es.«
Nicken.
Wenn sie nicht auffallen will, muss sie das Normale auch in der Nachbarschaft lernen.
»Wie geht es Ihrer Frau, Herr Klein?« - »Ja, vielen Dank, dass Sie das Paket entgegengenommen ... was für ein schlimmes Wetter ...« - »Nein, ich habe noch nicht den Richtigen gefunden, aber ich halte die Augen offen. Sie haben nicht zufällig einen Sohn, der ... ja, war nur ein Scherz.«
So schwer ist das doch nicht. Sie muss es jedenfalls versuchen.
Menschen lassen einander nicht in Ruhe. Sind einfach nicht dafür gemacht.
Die Höhlen haben in den letzten hunderttausend Jahren Türen bekommen. Und Fenster. Und die Menschen haben sich daran gewöhnt, sie zu öffnen und zu schließen. Und weil Fenster und Türen nicht mehr ausreichten, benutzten sie den Computer. Brüllten es in die Welt hinaus. Komm her und sei mein Freund, und ich erzähle dir, was du nicht wissen willst. Und als Gegenleistung darfst du mir deinen Scheiß erzählen.
Und dann kommen die Fragen.
Sie hat nur vier Fragen, aber genau auf die findet sie keine Antwort: Wie hatte das passieren können? Und schleppt man bis in alle Ewigkeit die Seele eines Menschen mit sich herum, für dessen Tod man verantwortlich ist? Dann das Blut. Woher kommt das Blut, das in ihren Träumen unter der Tür hindurchquillt? Und was sind das für Geräusche, die sie hört?
Lina holt einen Müllbeutel aus der Küche und wirft Verpackungen und Essensreste hinein. Burgerkartons, Aluschalen vom Thai-Imbiss unten im Haus, Papptüte mit Resten vom Chop Suey, Plastikschale mit einem Rest Krautsalat, Chipstüte. Eins nach dem anderen.
Sie muss darauf achten, sich vernünftig zu ernähren. Obst zum Beispiel. Auf dem Wochenmarkt einkaufen. Warum nicht mal kochen? Hat sie doch gelernt. Ja, es gab sogar mal eine Zeit, da hat es ihr Spaß gemacht.
Und spazieren gehen. Wie ein normaler Mensch eben. Ohne sich dauernd umzusehen.
Sie hat nur wenige Möbel in die Wohnung gestellt. Ein breites Regal, eine bequeme, sandfarbene Couch und ein Sessel, in den man sich verkriechen kann. Keine Bilder oder Fotos, und auf dem Beistelltisch ein paar eckige Figuren, die sie in einem Kunsttrödel gefunden hat. Menschen mit zusammengeschweißten würfelartigen Körpern mit eckigen Köpfen.
Unten auf der Straße fährt ein Bus vorbei und lässt die Fensterscheiben vibrieren. Langsam setzt der Feierabendverkehr ein. Gut so. Bewegung ist immer gut.
Lina zieht die Gardine zur Seite und sieht hinunter auf die vierspurige Straße.
Ein Junge schiebt seinen in einem ratternden Einkaufswagen sitzenden Kumpel über den Bürgersteig. Aus der U-Bahn-Station streben Männer und Frauen in Businesskleidung in ihren Feierabend. Einige legen einen Zwischenstopp im Supermarkt ein. Stadtauswärts Stop-and-go.
Lina blickt auf die Uhr. In einer Stunde muss sie sich auf den Weg zur Wache machen. Nachtschicht. Mit Alex.
Seit zwei Wochen fahren sie zusammen. In den ersten Tagen war es nicht ganz leicht, seinen Redeschwall zu bremsen, aber inzwischen akzeptiert er, dass sie sich nicht über Politik, Familiengeschichten und schon gar nicht über die Kollegen oder ihr Privatleben unterhalten will.
Privatleben! Was soll das sein? Seitdem sie sich von Sven Emmert getrennt hat . Egal.
Beim Bäcker gegenüber bildet sich eine Schlange, die bis vor die Tür reicht. Angeblich wird da ohne Treibmittel und nach alten Rezepturen gebacken. Treibmittel!
Was treibt sie eigentlich an? Ein normales Leben führen. Nicht auffallen. Sicher sein. Und ein bisschen Anerkennung in dem Job, den sie sich ausgesucht hat.
Es klingelt an der Tür. Lina fährt zusammen und zerrt mit einem Ruck die Gardine zu.
Wer kann das sein? Eine Nachbarin mit einem Paket? Ein verspäteter Zusteller? Sie schaut auf die Straße, doch dort steht kein Wagen, der einem Paketdienst zuzuordnen wäre.
Alex?, denkt sie. Der wird doch wohl nicht auf die Idee kommen, sie zu Hause abzuholen? Wie auch immer, das heftige Zuziehen der Gardine ist möglicherweise auch im Hausflur zu hören gewesen. Tür öffnen. Menschen, die nicht auffallen wollen, öffnen die Tür, wenn es klingelt.
Lina erkennt sie sofort. Sie wirkt verstört, gehetzt, hält sich merkwürdig gebückt, und auf ihrem Gesicht breiten sich hektische Flecken aus.
»Carolin?«
»Du musst aufpassen!«
»Was ist passiert?«
Carolin starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie sagt nichts. Ihr Gesicht ist geschwollen, die feinen Züge kaum noch zu erkennen.
Sie schwankt jetzt leicht und wischt sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Willst du nicht hereinkommen?«
Carolin sagt nichts, sie hebt nur den Arm, um sich am Türrahmen abzustützen. Ihre Fingernägel sind abgekaut, ihre Finger übersät mit kleinen, teils verschorften Schnitten.
Als würde Linas Frage sie erst jetzt erreichen, schüttelt sie den Kopf, und ihr Gesicht verzerrt sich zu einem Grinsen.
»Sieh dich vor, Lina Andersen. Die Monster sind erwacht.«
»Um Gottes willen ... komm doch rein.«
Carolin macht eine Handbewegung zur Tür der Nachbarin und in den Flur.
»Sie schleichen ums Haus, Lina. Sie sind da. Ich höre sie
tuscheln. Wispern. Sie wispern. Das ist irre, was?«
Sie nickt bekräftigend und zieht die Schultern hoch. »Du glaubst mir nicht, oder? Aber jetzt kann mir niemand mehr vorwerfen, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Wie wär's mit einem Kaffee oder ...«
»Du kriegst mich nicht in deine Wohnung«, sagt Carolin und kichert nervös. »Ganz bestimmt nicht.«
Dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und späht über Linas Schulter hinweg in die Wohnung hinein.
»Es ist niemand da«, beteuert Lina.
Auch ich könnte jetzt vor einer fremden Tür stehen und Geister beschwören, denkt Lina, und ich bin jeden Tag näher dran.
Möglich, dass die Monster wirklich da sind. Und möglich auch, dass sie selbst nur ein paar Monate braucht, um sie zu sehen. Zu erleben, wie die Monster ihr zuwinken.
»Du bist doch Polizistin«, sagt Carolin und fügt ein gemurmeltes »schöne Polizistin ...« hinzu.
»Ich mag nicht mit dir im Flur ...«
»Verstehe«, sagt Carolin.
»Also komm schon rein.«
Dabei will sie gar nicht, dass Carolin ihre Wohnung betritt. Sie muss sich vorbereiten. Ihre Uniform anziehen und sich das Gesicht aus Normalität überstülpen. Nicht auffallen. Nichts Besonderes sein.
Gott sei Dank, sie schüttelt den Kopf, denkt Lina. Wortlos macht Carolin auf dem Absatz kehrt und stürzt grußlos die Stufen hinunter.
Im Dienst sind diese Dinge klar einzuordnen. Paranoia befällt die Alkoholiker und die Demenzkranken. Und die Einsamen. Bereits acht Mal waren sie gerufen worden, weil der Fernsehapparat den Anrufer beobachtete, weil Frauen, Ehemänner oder Vergewaltiger in Gebüschen lauerten, Töchter mit Messern hinter ihren Vätern her waren oder weil Hackgeräusche durch die Wand drangen.
»Seit Wochen geht das so. Fremde junge Männer gehen da rein und kommen nie wieder raus. Die machen Wurst.«
Lina mag die Demenzkranken, die sich auf ihrer Reise ins Vergessen freuen, wenn sie ihre Blicke auf ihre Uniform heften können. Etwas, an das sie sich meist erinnern, während Kinder und Enkel, soweit vorhanden, oft bereits Fremde geworden sind. Und Lina hört ihnen zu. Sehr zum Leidwesen ihrer Kollegen, die gewöhnlich aus dem Fenster sehen, während sie sich mit ihnen unterhält und versucht, ihnen ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit zu geben. Die meisten ihrer Kollegen halten das für gefährlich.
»Der Notruf ist nicht die Telefonseelsorge«, hatte Lüders erst letzte Woche im Wagen geraunt. »Wenn du deren beste Freundin sein willst, werden sie schon morgen wieder einen Fremden in der Wohnung melden, weil es mit den Polizisten so nett war.«
Linas letzter »Kunde« hat vor zwei Tagen einen Haufen Essensreste in eine Plastiktüte geworfen, sie ihnen in die Hand gedrückt und ihren Kollegen Alex aufgefordert, den Inhalt in einem Labor untersuchen zu lassen. Die Supermarktkette vergifte gezielt Menschen, die zu viel wüssten.
So ganz Unrecht hat der Mann ja nicht.
Eine andere ältere »Kundin« hatte auf ein Schild »Ich rede nicht mit euch« geschrieben und es auf einen Stuhl vor den Fernseher gesetzt. Auch daran war eigentlich nichts auszusetzen. Gerufen worden waren sie von einer Nachbarin, weil die Lautstärke des Fernsehers bis zum Anschlag aufgedreht war und die Nachbarin gehört hatte, dass die alte Frau gegen die Stimmen anschrie.
Aber Carolin? Soweit Lina weiß, gibt es keine Alkoholprobleme, keine schwere psychische Erkrankung. Doch es gibt einen Tanz auf der Borderline. Selbstverletzungen. Das Gefühl, nichts wert zu sein. Endlich etwas wert sein zu wollen. Darum hat Carolin an der Therapie teilgenommen.
Die Therapie. Da ist es raus, das Wort. Setzt sich wieder fest in ihren Gedanken. Du bist krank, Lina. Du bist nicht normal. Pass auf. Bring dich nicht um. Öffne dich, damit alle hineinsehen können. Damit du selber hineinsehen kannst. Aber verbirg, was du getan hast!
Lina geht ans Fenster, kann Carolin jedoch nirgends mehr sehen.
Hoffentlich irrt sie jetzt nicht durch die Gegend. Hoffentlich lässt sie die Finger von Alkohol und Tabletten. Warum habe ich sie nicht in die psychiatrische Notambulanz gebracht?, denkt sie. Weil ich noch nicht im Dienst bin, noch keine Uniform trage. Weil ich mich da raushalten sollte.
Lina beschließt, sich am nächsten Tag darum zu kümmern.
Sie geht ins Bad, duscht, zieht eine gebügelte Bluse aus dem Schrank, nimmt die Uniform vom Kleiderbügel. Sie zieht sich nicht mehr im Umkleideraum der Wache um, seitdem eine Kollegin begehrliche Blicke auf ihre Brüste geworfen hat.
Lina stellt sich vor den Spiegel und zieht ein wenig Kajal über das Lid, tupft Make-up ins Gesicht, verreibt es mit den Fingerspitzen und bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Sie findet ihr Gesicht etwas zu rundlich, zu sanft. Harte Kinnkonturen, die Nase ein wenig energischer, das wäre ... aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.
In der Schule hatte sie es gefreut, dass ihre Mitschüler sie nur verstohlen taxierten und sich nicht trauten, sie anzusprechen. Eine Zeit lang hatte sie sich damals unnahbar gefühlt, unbesiegbar. Hatte vergessen, was sich da immer wieder in ihrer Magengrube zu verkriechen schien.
Jetzt weiß sie, wie es geht, unbesiegbar zu sein: Sich einfach nicht dem Kampf zu stellen. Mitzulaufen. Nichts Besonderes zu sein, keine besonderen Leistungen vorzuweisen.
Lina füllt Kaffee in die Espressokanne, gibt drei Kardamomkapseln hinzu und stellt sie auf den Herd.
Ihr Alltagsritual, das den Dienst einläutet.
Die Maschine stößt fauchend den Dampf durch das Sieb. Lina trinkt gerade den ersten Schluck, als es wieder an der Tür klingelt.
»Carolin, ich kann nichts für dich tun«, sagt sie, nimmt noch einen Schluck und eilt dann doch zur Tür, um sie zu öffnen.
»Es tut mir leid, aber ich muss ...«
»Arbeit, ich weiß.«
»Alex?«
»Ich habe Licht gesehen.«
»Ich finde den Weg zur Wache sehr gut allein«, sagt sie etwas schärfer.
Sein »Kommt nicht wieder vor« kommentiert sie nicht weiter.
Alex ist ein angenehmer Kollege, doch wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, ist es klug, rechtzeitig die Grenzen abzustecken. Nur nicht zu viel Privates reinbringen, das führt zu nichts.
Eine Stunde später sind sie unterwegs zum ersten Einsatzort. Unfall mit Fahrerflucht. Keine Personenschäden.
Routinebericht. Das Fahrzeug des Geschädigten wurde geschnitten und dann touchiert, leider hat er nur einen Teil des Nummernschildes erkennen können.
Sie beruhigen den aufgeregten Mann, machen sich Notizen für den Bericht, fotografieren und fahren zurück zur Wache. Die Kollegen warten schon mit den üblichen blöden Scherzen.
Gegen halb elf läuft die erste Meldung über nächtliche Ruhestörung ein.
»Sind früh dran«, sagt der Wachhabende vom Dienst. »Zwei Nachbarn haben unabhängig voneinander angerufen. Gepolter in der Wohnung, dann ein lauter Knall. Einer hat von einer Explosion gesprochen. Von Rauch war aber nicht die Rede.«
Dann reicht er Lina den Zettel mit Name und Adresse über den Tisch. Kostja Behrmann.
Zehn Minuten später stehen Lina und Alex vor der nur angelehnten Wohnungstür. Kein Licht in der Wohnung. Keine Geräusche.
Alex ruft laut: »Hallo, hier ist die Polizei!« Als niemand antwortet, betritt er die Wohnung. Lina leuchtet hinter ihm mit der Taschenlampe den Flur aus, als sie Alex' Schrei hört.
»Mein Gott!«
»Was ist?«, fragt Lina alarmiert und eilt zu ihm. Das Licht der Taschenlampe fällt in sein entsetztes Gesicht. Er steht im Türrahmen des hinteren Zimmers und stützt sich ab.
»Was ist?«, wiederholt Lina.
»Geh besser nicht ins Schlafzimmer«, sagte Alex. »Die Spiegel, die Wände ... da ist alles ... voller Blut und ... es ist grauenhaft!«
»Eine Explosion?«, fragt Lina.
Der Lichtstrahl zuckt durch den Flur. Da ist irgendetwas, das hier nicht hingehört, denkt sie und wendet ihren Blick von ihrem blassen und immer noch mit entsetzt aufgerissenen Augen dastehenden Kollegen ab.
Der zitternde Lichtkegel wandert über die Garderobe, an der ein tropfnasser Mantel und ein Schal hängen. Daneben ein wolkenförmiges Schlüsselbrett. Ein Flur wie unzählige andere, eine lieblos eingerichtete Schleuse, in der man den Arbeitstag abschütteln und an den Haken hängen will.
Sie richtet ihre Lampe auf das Foto über dem Schlüsselbrett und braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen, was sie sieht.
» Um Himmels willen!«, sagt Alex, der hinter ihr steht und sich räuspern muss, um weitersprechen zu können. »Scheiße, Lina, auf dem Foto ... das bist ja du!«
ES ist hinter ihr im Schrank. Brennt mit seinen Augen Kreise in ihre Haut. Leuchtende Kreise. Sie stechen. Riechen nach verbranntem Fleisch.
Gut so. So kann sie es niemals vergessen. Wird sich auf ewig daran erinnern. Ihr ganzes Leben lang. Sie schließt die Augen, ballt die rechte Faust und nimmt es sich ganz fest vor. Die aufglimmenden und brennenden Kreise in ihrem Rücken werden ihr dabei helfen. Ganz bestimmt.
Die Zeichen sind ein Schatz, denkt sie. Mein Schatz.
Es gibt Schätze, die werden in den Rücken geschnitten. So ist das eben.
Ihr Rücken ist eine Fackel. Wenn alle schlafen und träumen, leuchtet sie durch die Nacht. Die Fackel auf ihrem Rücken macht, dass die dunklen Dinge da draußen einen Schatten bekommen. Schatten, in denen man sich verbergen kann.
Nur das Warten ist nicht schön. Auch ES muss geduldig sein.
Sie sitzt auf dem Bett und kämmt ihre Puppe.
»Willst du Zöpfe?«, fragt sie.
Die Puppe sieht sie lächelnd an.
»Willst du? Na?«
Sie schlägt den Kopf der Puppe auf die Bettkante.
»Rede schon, du Vieh. Oder soll ich sie dir ausreißen? Göre!«
Sie hört ES atmen. Und die Kreise auf ihrem Rücken glimmen auf.
Schritte auf dem Flur, vorsichtig wird die Türklinke heruntergedrückt. Jetzt darf sie nicht hinsehen. Weiterkämmen. Er steht in der Tür.
»Na, meine Prinzessin.«
Nicht hochsehen. Weiterkämmen.
»Welchen Finger willst du heute?«
»Ach, egal.«
»Kleines, ich nehme den Zeigefinger, der ist nicht so groß, ja?«
»Darf ich ihn nass machen? Es tut dann nicht so weh.«
»Ja, mach ihn mit der Zunge nass«, sagt der Schwarze Ritter. »Das mag ich.«
»Und sehen die Zwerge wieder durch das Schlüsselloch?« »Oh ja, sie sehen uns zu.«
Und da war noch jemand, der ihnen zusah. Aber das verriet sie nicht. Sonst hörten die Kreise auf ihrem Rücken auf zu brennen. Und das durfte auf keinen Fall passieren.
»Zieh jetzt dein Prinzessinnenkleid an«, sagt er und hält ihr den Finger vor den Mund.
Jetzt tut er es, denkt sie. Und ES wird wieder wütend werden.
© 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
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Autoren-Porträt von Michael Koglin
Koglin, MichaelMichael Koglin lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Hamburg. Neben Kriminalromanen hat er Kurzgeschichten, Kinder- und Sachbücher sowie zahlreiche Drehbücher und Theaterstücke verfasst. Er wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Bekannt wurde Michael Koglin nicht zuletzt mit der »Dinner for One«-Reihe, schwarzhumorigen Krimis mit dem Personal des bekannten Silvester-Sketches. Sehr erfolgreich ist seine Serie um den Hamburger Kommissar Mangold, die mit dem Band »Bluttaufe« begonnen hat. Mehr Informationen zum Autor unter www.michael-koglin.de .
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Koglin
- 2012, 320 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442478170
- ISBN-13: 9783442478170
- Erscheinungsdatum: 19.11.2012
Rezension zu „Seelensplitter “
"Mörderische Unterhaltung, die große Mengen an Adrenalin freisetzt und einen stundenlang schaudern lässt - die Bücher des Hamburgers rauben einem den Schlaf und sollten unbedingt verfilmt werden. Das verspricht einen Genuss, der ein echter Knaller ist und einen vom Anfang bis zum Ende fesselt. Die Topliga der US-amerikanischen Thrillerautoren sollte vor Michael Koglin das große Zittern bekommen, denn er erfindet Spannung neu."
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