Todesrosen / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.2
Island-Krimi
Auf dem Grab eines isländischen Freiheitskämpfers wird die nackte Leiche eines Mädchens gefunden. Kommissar Erlendur wird in ausgesprochen heikle Ermittlungen verwickelt, denn namhafte Persönlichkeiten zählen zu den Verdächtigen.
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Produktinformationen zu „Todesrosen / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.2 “
Auf dem Grab eines isländischen Freiheitskämpfers wird die nackte Leiche eines Mädchens gefunden. Kommissar Erlendur wird in ausgesprochen heikle Ermittlungen verwickelt, denn namhafte Persönlichkeiten zählen zu den Verdächtigen.
Klappentext zu „Todesrosen / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.2 “
In einer hellen isländischen Sommernacht wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Sie liegt auf dem mit Blumen geschmückten Grab des isländischen Freiheitskämpfers Jón Sigurðsson. Kommissar Erlendur und seine Kollegen von der Kripo Reykjavík finden schnell heraus, dass es sich bei der Toten um eine Drogenabhängige handelt. Warum aber wurde die Leiche gerade auf dieses Grab gelegt? Was sollte mit dieser Inszenierung erreicht werden? Die Ermittlungen erweisen sich als heikel, denn namhafte Persönlichkeiten gehören zum Kreis der Verdächtigen ...Kommissar Erlendur ermittelt in seinem zweiten Fall.
Lese-Probe zu „Todesrosen / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.2 “
Todesrosen von Arnaldur IndriðasonEins
Sie fanden die Leiche auf dem Friedhof an der Suðurgata auf dem Grab von Jón Sigurðsson. Sie bemerkte sie zuerst, weil sie gerade oben auf ihm saß.
Sie hatten im Hotel Borg gegessen und getanzt und waren von dort aus Händchen haltend die Suðurgata hochgegangen. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie geküsst, was sie zuerst sanft, dann leidenschaftlicher und schließlich ungestüm erwiderte. Gegen drei Uhr hatten sie das Lokal verlassen und sich ihren Weg durch die Menschenmenge in Reykjavíks Innenstadt gebahnt. Der längste Tag des Jahres lag nur ein paar Tage zurück, und das Wetter war herrlich.
... mehr
Er hatte sie zum Abendessen eingeladen. Sie kannten sich nicht besonders gut, es war erst ihre dritte Verabredung. Sie war Teilhaberin eines Software-Unternehmens, in das er sich eingekauft hatte. Beide waren, seit sie zurückdenken konnten, fasziniert von Computern, und sie fanden sich auf Anhieb sympathisch. Nach ein paar Wochen trafen sie sich auf seine Initiative hin zum ersten Mal außerhalb der Arbeit, indem er sie zum Essen einlud. Das Spiel hatten sie danach noch zwei weitere Male wiederholt, aber bereits als sie sich an diesem Abend zu Tisch setzten, war klar, dass er anders ausklingen würde als die anderen, an denen er sie nur im Auto nach Hause gefahren und sich von ihr verabschiedet hatte. Sie waren beide ohne Auto gekommen, denn sie hatte am Telefon vorgeschlagen, dass sie anschließend zu Fuß zu ihr nach Hause gehen und einen Kaffee trinken könnten. Kaffee!, dachte er im Stillen und musste grinsen.
Beim Tanzen war ihnen in der Menschenmenge sehr warm geworden. Sie hatte blonde, kurz geschnittene Haare und ein ovales Gesicht. Ihre schlanke Figur kam in dem beigefarbenen Kostüm und den farblich darauf abgestimmten Nylonstrümpfen gut zur Geltung. Er hatte sich einen Seidenschal um den Hals gelegt, was in ihren Augen ein Zeichen von Eitelkeit war, und trug einen Anzug von Armani, den er tagsüber bei einem Herrenausstatter erstanden hatte, um sie zu beeindrucken. Das war ihm gelungen.
Nachdem sie den Trubel in der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, schlug sie überraschenderweise vor, über den Friedhof zu gehen, um den Weg zu ihr nach Hause abzukürzen. Es war ihm peinlich, dass er beim Küssen eine Erektion bekam, und er hatte Angst, dass sie es merken würde. Es entging ihr auch nicht. Es erinnerte sie an Schulbälle, als sie jünger war, und die Jungs die ganze Zeit, wenn sie mit ihnen
tanzte, einen Ständer hatten. Wie wenig es bei ihnen braucht, hatte sie damals gedacht, und derselbe Gedanke beschlich sie jetzt auch wieder. Auf der Suðurgata war so gut wie kein Verkehr. Sie kletterten über das niedrige Tor an der Nordostecke des Friedhofs, wo der Thoroddsen-Clan tot und begraben lag,
und schlängelten sich zwischen Büschen und Grabsteinen durch, wobei er die ganze Zeit Angst um seinen neuen Anzug hatte.
Auf dem Friedhof ruhten die Angehörigen der ärmeren Schichten Seite an Seite mit respektablen Bürgern, Dichtern, Beamten, Kaufleuten, die alte dänische Familiennamen trugen, sowie Politikern und Ganoven. Sie empfand den Friedhof als eine grüne Oase mitten im Stadtgetümmel, besonders jetzt im Sommer, wenn die Bäume in vollem Laub standen. Sie hatte nichts weiter im Sinn gehabt, als den Weg abzukürzen, doch nun schien ihr plötzlich etwas anderes ganz besonders naheliegend. Die Nacht war warm und hell, sie war beschwipst und er ganz offensichtlich bereit. Sie schlug vor, sich hinzusetzen und sich etwas auszuruhen. Er fiel sichtlich aus allen Wolken. Ihr war nicht deswegen die Idee gekommen,
weil sie auf dem Friedhof waren, so war sie nicht. Himmel, sie war doch nicht nekrophil! Aber sie hatte oft Lust verspürt, es irgendwann einmal in einer Sommernacht draußen in der Natur unter freiem Himmel zu machen, erklärte sie später dem unangenehmen Kriminalbeamten mit dem Hut, diesem Erlendur. Dort herrschte einfach Frieden, hatte sie ihm erklärt, und ein Friedhof sei ja schließlich auch Natur.
Der Mann überlegte nicht lange, obwohl ihm für einen kurzen Augenblick wieder der neue, teure Anzug einfiel. Sie legten sich im Schutz eines hochgewachsenen Baums ins Gras, aber zogen sich nicht aus. Sie öffnete den Reißverschluss an seiner Hose, zog sich den Schlüpfer aus und setzte sich auf ihn. Mein Gott, wie komisch, es zwischen all diesen Leichen zu treiben, dachte er. Mein über alles geliebter Mann, las sie auf einem bemoosten Grabstein ihr direkt gegenüber. Ruhe in Frieden.
Sie sah die Leiche nicht sofort. Nach kurzer Zeit, kaum mehr als ein, zwei Minuten, kam es ihr so vor, als höre sie seitlich in einiger Entfernung ein Geräusch, und sie warf einen raschen Blick in die Richtung. Sie legte dem Mann die Hand auf den Mund, um sein Stöhnen zu unterdrücken, saß bewegungslos auf ihm und lauschte. Sie starrte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und glaubte,
jemanden zum Friedhofstor wegrennen zu sehen. Von der Friedhofsmauer glitt ihr Blick nach rechts über die Gräber und blieb an etwas Weißem hängen, einem weißen Fleck, der sich von der Umgebung abhob und der halb verdeckt zu sein schien.
Sie rollte sich von ihm herunter und schlüpfte wieder in ihren Slip. Er zog den Reißverschluss hoch und stand auf. »Was ist los?«, fragte er flüsternd.
»Da ist jemand«, sagte sie leise. Sie klang ängstlich. »Lass uns gehen.«
Während sie über den Friedhof hasteten, behielt sie das Weiße im Auge und machte den Mann darauf aufmerksam. Sie überlegten, um was es sich wohl handeln könnte und ob sie hingehen und sich das näher ansehen oder einfach wie geplant zu ihr nach Hause gehen sollten.»Lass uns das machen«, sagte er.»Was? Uns das ansehen?«
»Nein, lass uns zu dir nach Hause gehen.«
»Kann es sein, dass da …? Liegt da vielleicht ein Mensch? Kann das sein?«»Ich kann nichts erkennen.«
Ihre Neugier war jedoch geweckt. Später wünschte sie, sie hätte sich da herausgehalten, doch sie konnte nicht anders, sie musste einfach nachsehen, was da lag. Vielleicht war da ja jemand, der Hilfe brauchte. Sie ging auf das Weiße zu, und er folgte ihr. Beim Näherkommen nahm es deutlichere Konturen an, und ihr stockte der Atem, als sie sah, um was es sich handelte.
»Das ist ein Mädchen«, sagte sie wie zu sich selber. »Ein nacktes junges Mädchen.«
Sie traten näher heran und standen nun ganz dicht vor der Leiche.
»Ist sie tot?«, fragte er. »Hallo«, rief er, »hallo! Fräulein, hallo!«
Für sie klang es so, als würde er nach einer Kellnerin rufen. Das hatte er an diesem Abend auch im Restaurant schon einige Male gemacht. Ihr war das unangenehm gewesen, weil es sich in ihren Augen um nichts weiter als um Imponiergehabe handelte. Sie hatte es aber geflissentlich überhört, dochjetzt störte es sie total.
Das Mädchen war ganz offensichtlich tot, das sah und spürte sie. Sie trat ganz dicht heran, bückte sich und blickte der Toten ins Gesicht. Dick aufgetragener, dunkelblauer Lidschatten unter schwarzen Augenbrauen, sehr viel Rouge auf den Wangen, flammend roter Lippenstift. Das Mädchen
war vielleicht knapp über zwanzig. Die Augen waren geschlossen.
Alles an ihr wirkte tot. Der schmale, kreidebleiche Körper lag leicht gekrümmt halb auf der Seite, mit dem Rücken ihnen zugewandt. Die Arme, zart wie Blumenstängel, lagen neben dem Kopf. Man hätte ihre Rippenknochen unter der gedehnten Haut zählen können. Das schwarze, schulterlange Haar war wirr und schmutzig. Sie hatte lange, dünne Beine, und auf einer Pobacke befand sich etwas Rotes, eine Tätowierung, die wie der Buchstabe J aussah.
Sie standen eine Weile wortlos neben der Leiche. Das arme Mädchen, dachte sie. Aus dem Kaffee wird heute Abend also nichts, dachte er.»Weißt du, wer das ist?«
»Ich? Wieso denn? Ich kenn die doch überhaupt nicht!«, antwortete er verwundert. »Wie kommst du auf die Idee?«
»Ich meine nicht das Mädchen, sondern ihn«, sagte sie und deutete auf die Grabstele. »Jón Sigurðsson. Islands Ehre, Schwert und Schild. Präsident Jón.«
Das Mädchen lag auf dem Grab des isländischen Freiheitskämpfers und Wegbereiters der Unabhängigkeit. Die Grabstätte war umzäunt mit einem niedrigen kleinen Gitter, und das Grabmal bestand aus einer drei Meter hohen Stele aus bräunlichem Marmor. Mitten darauf war eine kupferne runde Platte mit Jón Sigurðsson im Profil. Ihr kam es so vor, als schiele er verächtlich zu ihnen herunter. Die Friedhofsverwaltung war für die Grabpflege und die Blumenbepflanzung zuständig, und so kurz nach dem Nationalfeiertag war der große Kranz, den der isländische Staatspräsident jedes Jahr am 17. Juni dort niederlegte, noch nicht entfernt worden. Das Mädchen lag nackt und weiß in einem Blumenmeer, das zu welken begonnen hatte. Ein leichter Geruch von Moder lag in der Luft.
»Hast du dein Handy dabei?«, fragte sie.
»Nein, ich hab es heute Abend gar nicht mitgenommen«, entgegnete er.
»Ich glaube, ich hab meins dabei.« Sie fischte ein zierliches Handy aus ihrem schicken Handtäschchen und schaltete es ein.
»Scheiße, unter welcher Nummer erreicht man noch mal die Polizei? Die soll sich doch schon wieder geändert haben. Ist es noch die 11166, oder muss man schon die neue wählen, die 112?«»Keine Ahnung«, sagte er.
Was für ein Armleuchter ist das eigentlich?, dachte sie, der ist völlig von der Rolle.
»Ich versuch’s mal mit der 112«, sagte sie laut und tippte die Nummer ein.»Notruf«, war die Antwort.
Plötzlich kamen ihr Bedenken, denn ihr fiel ein, dass die Nummern von eingehenden Anrufen bestimmt registriert würden. Sogar die simpelsten Handys konnten mindestens ein Dutzend, wenn nicht mehr, Rufnummern speichern. So ein System gab es bestimmt auch bei der Notrufzentrale. Sie war sich aber keineswegs sicher, ob sie in diesen Leichenfund verwickelt werden wollte, nicht noch mehr, als es bereits der Fall war.»Notruf«, hieß es wieder.
»Äh, hier auf dem Friedhof in der Suðurgata liegt eine Leiche auf dem Grab von Jón Sigurðsson «, sagte sie und brach das Gespräch abrupt ab.
Aber damit war die Sache nicht ausgestanden, das wusste sie nur zu gut. Der Mann, den sie zum Friedhofstor hatte hinaushuschen sehen, ging ihr nicht aus dem Kopf. Das Tor befand sich ganz in der Nähe von Jón Sigurðsson Grab. Sie war Zeugin, und das war ihr gar nicht recht. Trotzdem drückte sie auf Wahlwiederholung.»Notruf«, hieß es ein weiteres Mal.
Vorbemerkung:
In Island duzt heutzutage jeder jeden.
Man redet sich nur mit dem Vornamen an.
Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten.
Dieses Buch erscheint auch als Lübbe AudioeditionLübbein der Verlagsgruppe Lübbe
Titel der isländischen Originalausgabe:dau‡arósirFür die Originalausgabe:
Copyright © 1998 by Arnaldur Indri‡ason
Originalverlag Vaka-Helgafell, Reykjavík
Aus dem Isländischen von Coletta BürlingFür die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. kg,Bergisch GladbachSatz: Dörlemann Satz, LemfördeGesetzt aus der dtl Documenta
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Alle Rechte, auch die der fotomechanischen
und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten.Printed in Germanyisbn 978-3-7857-1612-05 4 3 2 1
Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Beim Tanzen war ihnen in der Menschenmenge sehr warm geworden. Sie hatte blonde, kurz geschnittene Haare und ein ovales Gesicht. Ihre schlanke Figur kam in dem beigefarbenen Kostüm und den farblich darauf abgestimmten Nylonstrümpfen gut zur Geltung. Er hatte sich einen Seidenschal um den Hals gelegt, was in ihren Augen ein Zeichen von Eitelkeit war, und trug einen Anzug von Armani, den er tagsüber bei einem Herrenausstatter erstanden hatte, um sie zu beeindrucken. Das war ihm gelungen.
Nachdem sie den Trubel in der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, schlug sie überraschenderweise vor, über den Friedhof zu gehen, um den Weg zu ihr nach Hause abzukürzen. Es war ihm peinlich, dass er beim Küssen eine Erektion bekam, und er hatte Angst, dass sie es merken würde. Es entging ihr auch nicht. Es erinnerte sie an Schulbälle, als sie jünger war, und die Jungs die ganze Zeit, wenn sie mit ihnen
tanzte, einen Ständer hatten. Wie wenig es bei ihnen braucht, hatte sie damals gedacht, und derselbe Gedanke beschlich sie jetzt auch wieder. Auf der Suðurgata war so gut wie kein Verkehr. Sie kletterten über das niedrige Tor an der Nordostecke des Friedhofs, wo der Thoroddsen-Clan tot und begraben lag,
und schlängelten sich zwischen Büschen und Grabsteinen durch, wobei er die ganze Zeit Angst um seinen neuen Anzug hatte.
Auf dem Friedhof ruhten die Angehörigen der ärmeren Schichten Seite an Seite mit respektablen Bürgern, Dichtern, Beamten, Kaufleuten, die alte dänische Familiennamen trugen, sowie Politikern und Ganoven. Sie empfand den Friedhof als eine grüne Oase mitten im Stadtgetümmel, besonders jetzt im Sommer, wenn die Bäume in vollem Laub standen. Sie hatte nichts weiter im Sinn gehabt, als den Weg abzukürzen, doch nun schien ihr plötzlich etwas anderes ganz besonders naheliegend. Die Nacht war warm und hell, sie war beschwipst und er ganz offensichtlich bereit. Sie schlug vor, sich hinzusetzen und sich etwas auszuruhen. Er fiel sichtlich aus allen Wolken. Ihr war nicht deswegen die Idee gekommen,
weil sie auf dem Friedhof waren, so war sie nicht. Himmel, sie war doch nicht nekrophil! Aber sie hatte oft Lust verspürt, es irgendwann einmal in einer Sommernacht draußen in der Natur unter freiem Himmel zu machen, erklärte sie später dem unangenehmen Kriminalbeamten mit dem Hut, diesem Erlendur. Dort herrschte einfach Frieden, hatte sie ihm erklärt, und ein Friedhof sei ja schließlich auch Natur.
Der Mann überlegte nicht lange, obwohl ihm für einen kurzen Augenblick wieder der neue, teure Anzug einfiel. Sie legten sich im Schutz eines hochgewachsenen Baums ins Gras, aber zogen sich nicht aus. Sie öffnete den Reißverschluss an seiner Hose, zog sich den Schlüpfer aus und setzte sich auf ihn. Mein Gott, wie komisch, es zwischen all diesen Leichen zu treiben, dachte er. Mein über alles geliebter Mann, las sie auf einem bemoosten Grabstein ihr direkt gegenüber. Ruhe in Frieden.
Sie sah die Leiche nicht sofort. Nach kurzer Zeit, kaum mehr als ein, zwei Minuten, kam es ihr so vor, als höre sie seitlich in einiger Entfernung ein Geräusch, und sie warf einen raschen Blick in die Richtung. Sie legte dem Mann die Hand auf den Mund, um sein Stöhnen zu unterdrücken, saß bewegungslos auf ihm und lauschte. Sie starrte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und glaubte,
jemanden zum Friedhofstor wegrennen zu sehen. Von der Friedhofsmauer glitt ihr Blick nach rechts über die Gräber und blieb an etwas Weißem hängen, einem weißen Fleck, der sich von der Umgebung abhob und der halb verdeckt zu sein schien.
Sie rollte sich von ihm herunter und schlüpfte wieder in ihren Slip. Er zog den Reißverschluss hoch und stand auf. »Was ist los?«, fragte er flüsternd.
»Da ist jemand«, sagte sie leise. Sie klang ängstlich. »Lass uns gehen.«
Während sie über den Friedhof hasteten, behielt sie das Weiße im Auge und machte den Mann darauf aufmerksam. Sie überlegten, um was es sich wohl handeln könnte und ob sie hingehen und sich das näher ansehen oder einfach wie geplant zu ihr nach Hause gehen sollten.»Lass uns das machen«, sagte er.»Was? Uns das ansehen?«
»Nein, lass uns zu dir nach Hause gehen.«
»Kann es sein, dass da …? Liegt da vielleicht ein Mensch? Kann das sein?«»Ich kann nichts erkennen.«
Ihre Neugier war jedoch geweckt. Später wünschte sie, sie hätte sich da herausgehalten, doch sie konnte nicht anders, sie musste einfach nachsehen, was da lag. Vielleicht war da ja jemand, der Hilfe brauchte. Sie ging auf das Weiße zu, und er folgte ihr. Beim Näherkommen nahm es deutlichere Konturen an, und ihr stockte der Atem, als sie sah, um was es sich handelte.
»Das ist ein Mädchen«, sagte sie wie zu sich selber. »Ein nacktes junges Mädchen.«
Sie traten näher heran und standen nun ganz dicht vor der Leiche.
»Ist sie tot?«, fragte er. »Hallo«, rief er, »hallo! Fräulein, hallo!«
Für sie klang es so, als würde er nach einer Kellnerin rufen. Das hatte er an diesem Abend auch im Restaurant schon einige Male gemacht. Ihr war das unangenehm gewesen, weil es sich in ihren Augen um nichts weiter als um Imponiergehabe handelte. Sie hatte es aber geflissentlich überhört, dochjetzt störte es sie total.
Das Mädchen war ganz offensichtlich tot, das sah und spürte sie. Sie trat ganz dicht heran, bückte sich und blickte der Toten ins Gesicht. Dick aufgetragener, dunkelblauer Lidschatten unter schwarzen Augenbrauen, sehr viel Rouge auf den Wangen, flammend roter Lippenstift. Das Mädchen
war vielleicht knapp über zwanzig. Die Augen waren geschlossen.
Alles an ihr wirkte tot. Der schmale, kreidebleiche Körper lag leicht gekrümmt halb auf der Seite, mit dem Rücken ihnen zugewandt. Die Arme, zart wie Blumenstängel, lagen neben dem Kopf. Man hätte ihre Rippenknochen unter der gedehnten Haut zählen können. Das schwarze, schulterlange Haar war wirr und schmutzig. Sie hatte lange, dünne Beine, und auf einer Pobacke befand sich etwas Rotes, eine Tätowierung, die wie der Buchstabe J aussah.
Sie standen eine Weile wortlos neben der Leiche. Das arme Mädchen, dachte sie. Aus dem Kaffee wird heute Abend also nichts, dachte er.»Weißt du, wer das ist?«
»Ich? Wieso denn? Ich kenn die doch überhaupt nicht!«, antwortete er verwundert. »Wie kommst du auf die Idee?«
»Ich meine nicht das Mädchen, sondern ihn«, sagte sie und deutete auf die Grabstele. »Jón Sigurðsson. Islands Ehre, Schwert und Schild. Präsident Jón.«
Das Mädchen lag auf dem Grab des isländischen Freiheitskämpfers und Wegbereiters der Unabhängigkeit. Die Grabstätte war umzäunt mit einem niedrigen kleinen Gitter, und das Grabmal bestand aus einer drei Meter hohen Stele aus bräunlichem Marmor. Mitten darauf war eine kupferne runde Platte mit Jón Sigurðsson im Profil. Ihr kam es so vor, als schiele er verächtlich zu ihnen herunter. Die Friedhofsverwaltung war für die Grabpflege und die Blumenbepflanzung zuständig, und so kurz nach dem Nationalfeiertag war der große Kranz, den der isländische Staatspräsident jedes Jahr am 17. Juni dort niederlegte, noch nicht entfernt worden. Das Mädchen lag nackt und weiß in einem Blumenmeer, das zu welken begonnen hatte. Ein leichter Geruch von Moder lag in der Luft.
»Hast du dein Handy dabei?«, fragte sie.
»Nein, ich hab es heute Abend gar nicht mitgenommen«, entgegnete er.
»Ich glaube, ich hab meins dabei.« Sie fischte ein zierliches Handy aus ihrem schicken Handtäschchen und schaltete es ein.
»Scheiße, unter welcher Nummer erreicht man noch mal die Polizei? Die soll sich doch schon wieder geändert haben. Ist es noch die 11166, oder muss man schon die neue wählen, die 112?«»Keine Ahnung«, sagte er.
Was für ein Armleuchter ist das eigentlich?, dachte sie, der ist völlig von der Rolle.
»Ich versuch’s mal mit der 112«, sagte sie laut und tippte die Nummer ein.»Notruf«, war die Antwort.
Plötzlich kamen ihr Bedenken, denn ihr fiel ein, dass die Nummern von eingehenden Anrufen bestimmt registriert würden. Sogar die simpelsten Handys konnten mindestens ein Dutzend, wenn nicht mehr, Rufnummern speichern. So ein System gab es bestimmt auch bei der Notrufzentrale. Sie war sich aber keineswegs sicher, ob sie in diesen Leichenfund verwickelt werden wollte, nicht noch mehr, als es bereits der Fall war.»Notruf«, hieß es wieder.
»Äh, hier auf dem Friedhof in der Suðurgata liegt eine Leiche auf dem Grab von Jón Sigurðsson «, sagte sie und brach das Gespräch abrupt ab.
Aber damit war die Sache nicht ausgestanden, das wusste sie nur zu gut. Der Mann, den sie zum Friedhofstor hatte hinaushuschen sehen, ging ihr nicht aus dem Kopf. Das Tor befand sich ganz in der Nähe von Jón Sigurðsson Grab. Sie war Zeugin, und das war ihr gar nicht recht. Trotzdem drückte sie auf Wahlwiederholung.»Notruf«, hieß es ein weiteres Mal.
Vorbemerkung:
In Island duzt heutzutage jeder jeden.
Man redet sich nur mit dem Vornamen an.
Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten.
Dieses Buch erscheint auch als Lübbe AudioeditionLübbein der Verlagsgruppe Lübbe
Titel der isländischen Originalausgabe:dau‡arósirFür die Originalausgabe:
Copyright © 1998 by Arnaldur Indri‡ason
Originalverlag Vaka-Helgafell, Reykjavík
Aus dem Isländischen von Coletta BürlingFür die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. kg,Bergisch GladbachSatz: Dörlemann Satz, LemfördeGesetzt aus der dtl Documenta
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Alle Rechte, auch die der fotomechanischen
und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten.Printed in Germanyisbn 978-3-7857-1612-05 4 3 2 1
Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de
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Autoren-Porträt von Arnaldur Indridason
Der preisgekrönte Schriftsteller Arnaldur Indriðason, geboren 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor in Reykjavik. Coletta Bürling ist die langjährige ehemalige Leiterin des Goethe-Instituts Reykjavik. Seit dessen Schließung übersetzte sie bereits zahlreiche Werke aus dem Isländischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arnaldur Indridason
- 2009, 5. Aufl., 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Coletta Bürling
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404163451
- ISBN-13: 9783404163458
- Erscheinungsdatum: 05.10.2009
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