Kommissar Marthaler Band 3: Partitur des Todes
Sechzig Jahre lang wollte Georg Hofmann alles vergessen: seine Kindheit, seine Eltern, sein Land. Doch dann wird auf einem kleinen Schloss bei Paris ein geheimnisvoller, alter Umschlag entdeckt. Darauf ein Name und als...
Sechzig Jahre lang wollte Georg Hofmann alles vergessen: seine Kindheit, seine Eltern, sein Land. Doch dann wird auf einem kleinen Schloss bei Paris ein geheimnisvoller, alter Umschlag entdeckt. Darauf ein Name und als Absender das Wort: Auschwitz. Wenige Tage später geschieht in Frankfurt ein grauenhaftes Verbrechen. Fünf Leichen werden auf einem Boot am Mainufer gefunden. Eine junge Journalistin verschwindet in den Wäldern des Taunus. Und ein Mann taucht auf, den alle für tot gehalten haben. Während Hauptkommissar Marthaler fieberhaft ermittelt, erfährt er von seiner Freundin Tereza eine Neuigkeit, die sein Leben gründlich verändern wird ...
Partitur des Todes von Jan Seghers
LESEPROBE
Es warnichts Ungewöhnliches, was im Morgengrauen des 19. Oktober 1941 in derLiebigstraße im Frankfurter Westend geschah.Dergleichen passierte im Herbst dieses Jahres in vielen deutschen Städten undDörfern. Und doch war es ein Ereignis, welches das Leben des zwölfjährigenGeorg in wenigen Minuten von Grund auf veränderte.
Am Abendzuvor hatte ihm seine Mutter überraschend mitgeteilt, dass er die Nacht bei dembefreundeten Ehepaar im Haus gegenüber verbringen werde, weil sie und der Vateram nächsten Morgen frühzeitig zu einem Verwandtenbesuch aufbrechen würden.Georg hatte seine Waschtasche und einen Schlafanzug eingepackt, dann war er insein Zimmer gegangen, um zu lesen. Kurz vor Mitternacht klopfte es an seinerTür. Als er sich von seinen Eltern verabschiedete, bemerkte er, dass sowohlVater als auch Mutter unruhig wirkten und ihn länger als sonst in die Armeschlossen. Weil er wusste, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagen würden, stellteder Junge keine Fragen. Sein Vater öffnete die Tür zur Straße, warf einen Blickauf die umliegenden Häuser, dann gab er seinem Sohn ein Zeichen. Georgüberquerte die Fahrbahn und schaute sich nicht mehr um.
Gewecktwurde er von dem Lärm, der mit einem Mal von der Straße heraufdrang. EinenMoment lang wusste er nicht, wo er sich befand. Er tastete wie gewohnt nach demSchalter der Nachttischlampe, aber seine Hand griff ins Leere. Georg strich mitden Fingerspitzen über die Bettdecke und merkte, dass es nicht seine eigenewar. Dann öffnete er die Lider und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zugewöhnen. Als er die Umrisse der großen Standuhr erkannte, begann er sich zuerinnern. Er stieg aus dem Bett, ging zum Fenster, schob die Vorhänge ein wenigbeiseite und sah hinunter auf die noch dunkle Straße. Zwei Autos - eineLimousine und ein kleiner Lieferwagen - standen mit eingeschaltetenScheinwerfern und geöffneten Türen vor dem Haus, in dem Georg und seine Elternlebten. Sämtliche Fenster der Wohnung waren erleuchtet. Rechts und links nebendem Eingang konnte man zwei uniformierte Männer erkennen. Beide hatten Gewehre inder Hand.
Zuerstverließ seine Mutter das Haus. Sie hatte ein Kopftuch umgebunden und trug zweischwere Taschen. Ein Mann ging dicht neben ihr her, packte sie schließlich amOberarm und drängte sie auf die Ladefläche des Lieferwagens.
Dann kamsein Vater, gefolgt von einem kleinen Mann, der mit Hut und Mantel bekleidetwar. Beide standen im hellen Rechteck der Eingangstür. Georg sah, wie sein Vatersich umdrehte und ins Haus zeigte. Der kleine Mann schüttelte den Kopf. Er nahmeinem der Uniformierten das Gewehr ab, packte es am Lauf, holte aus undversetzte Georgs Vater mit dem Kolben einen Stoß in den Rücken. Georg öffneteden Mund, aber er schrie nicht. Er sah, wie sein Vater ins Taumeln geriet undvornüber auf die Straße fiel. Er sah, wie der kleine Mann das Gewehr zurückgabund dem Uniformierten zunickte. Dann merkte der Junge, dass seine nackten Füßein einer Pfütze standen. Er hatte alles richtig gemacht. Er hatte gewusst, dasser nicht schreien durfte. Aber sein Wasser hatte er nicht halten können.
Dienächsten vierundsechzig Jahre seines Lebens würde Georg bemüht sein, mit dieserNacht auch seine Eltern zu vergessen.
Eins
AlsMonsieur Hofmann an diesem Morgen versuchte, ein Stück von dem großenluftgetrockneten Schinken abzuschneiden, das er für Mademoiselle Blanchemitnehmen wollte, rutschte die Klinge ab und fuhr ihm geradewegs in die Hand.Reglos sah er zu, wie sich das Blut in seiner Handfläche sammelte und auf dieTischplatte tropfte. Er griff nach einem sauberen Geschirrtuch und wickelte esum die Wunde. Dann ging er ins Badezimmer, setzte sich auf den Rand der Wanneund wartete einen Moment. Schließlich nahm er ein großes Pflaster aus demSpiegelschrank und klebte es zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand.Ein kleines Missgeschick, mehr nicht. Als die Spuren des Unfalls beseitigt waren,hatte er diesen auch schon fast wieder vergessen.
Kaum eineZeit im Jahr mochte Monsieur Hofmann lieber als den zu Ende gehenden Mai undden beginnenden Juni. Endlich konnte man sicher sein, dass die kalten Tagevorüber waren und der Winter keine unverhoffte Kehrtwende mehr machen würde.Der Himmel über Paris war so blau, wie er nur vermochte, das Grün der Bäume warnoch frisch, und die kühlen Winde, die vom Kanal herüberwehten, machten dasAtmen leicht. Mit einem Satz: Das Wetter war so gemäßigt, wie es einem Mannseines Alters guttat.
Heute warSonntag, der 29. Mai des Jahres 2005. Monsieur Hofmann war aufgeregt und guterDinge. Am Abend würde er zum ersten Mal in einem Fernsehstudio sitzen undAuskunft über sich geben. Noch wusste er nicht, welche Folgen dieser Tag fürihn haben sollte. Dennoch hatte ihn eine kleine Unruhe erfasst, die er sowohlmochte, als auch zu unterdrücken suchte.
Er war nochein halbes Stündchen früher aufgestanden als sonst, hatte die grünenFensterläden geöffnet und einen ersten Blick über die Dächer der Stadt und überden Père Lachaise geworfen,wo die hellen Steine der Grabmale in der Sonne leuchteten. Er war in die Küchegegangen, hatte den Kessel mit Wasser gefüllt und auf den Herd gestellt. Als ersich rasiert und die Zähne geputzt hatte, hatte er den Kopf gehoben und gelauscht.Für einen Moment hatte er befürchtet, zum ersten Mal vergessen zu haben, denHerd einzuschalten, aber dann hatte ihm das Pfeifen des Kessels signalisiert,dass er noch Herr seiner Sinne war und das Wasser zur gewohnten Zeit heiß.
Die ersteTasse Kaffee hatte er im Stehen getrunken, dann war er zurück ins Bad gegangen,um eine Dusche zu nehmen. Er war stolz darauf, dass man ihn schon immer alsreinlich bezeichnet hatte, und versuchte, diesem Ruf auch im Alter gerecht zuwerden. Seine Hosen waren stets frisch gewaschen, seine Hemden gebügelt und dieSchuhe geputzt. Umso mehr ärgerte er sich nun, als er entdeckte, dass ein wenigvon dem Blut auf seine Hose getropft war, sodass er sich noch einmal umkleidenmusste.
Schließlichsetzte er seinen Strohhut auf, zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss,stieg die vier Stockwerke hinab und betrat eine Minute später die Place Nadaud, an der er seit überdreißig Jahren wohnte.
Wie nahezujeden Morgen begann er seinen Gang durchs Viertel mit einem Besuch im Journal,einer Bar gegenüber der Metro-Station. Als er sah, dass Sandrinedie Morgenschicht hatte, lächelte er und nickte ihr zu. Wie immer nahm er die neuesteAusgabe von Le Monde vom Haken, bestellte eine Tartineund einen Milchkaffee und war bereits in die Lektüre vertieft, noch bevor ihm Sandrine das Gewünschte gebracht hatte. Im Fernseher, derunter der Decke befestigt war, lief die Wiederholung eines Fußballspiels vomVorabend, aber keiner der wenigen Gäste, die sich im Journal befanden, schautehin. Als er sein Frühstück beendet hatte, legte Monsieur Hofmann die Zeche undein Trinkgeld, das er bereits abgezählt hatte, auf den kleinen Plastikteller,grüßte noch einmal und machte sich auf den Weg.
Er lief dieschattige Avenue Gambetta hinab und bog an deren unteremEnde ab in den breiten Boulevard de Ménilmontant. Vorihm ging eine junge Frau mit dunkler Haut. Sie trug ein blaues Kostüm mitweißen Punkten. Sie hielt die Hand eines kleinen schwarzen Mädchens, das sichgelegentlich zu Monsieur Hofmann umwandte. Er lächelte der Kleinen zu, aber ihrGesicht zeigte nur ungerührte Neugier. Der Alte warf einen kurzen Blick auf dieBeine der Mutter, dann dachte er an den Tod.
Er dachtean seine Beerdigung und an die Freunde und Bekannten, die an seinem Grab stehenwürden. Er hoffte, dass es an diesem Tag nicht regnen würde und sich niemandbeeilen musste, nach Hause zu kommen. Die Sonne sollte scheinen, aber es sollteauch einen Baum geben, unter dem man im Schatten zusammenrücken konnte. Nachhersollte man gemessenen Schrittes den Friedhof verlassen und irgendwo noch gemeinsametwas trinken, um ein paar Erinnerungen an den Verstorbenen auszutauschen. Mansollte den Tag seiner Beerdigung als einen schönen Tag im Gedächtnis behalten.So wünschte es sich Monsieur Hofmann.
Ein paarMenschen würden um ihn trauern, aber man würde dem Viertel nicht anmerken, dassgerade jemand gestorben war, der hier seit Jahrzehnten gelebt hatte. Am nächstenMorgen würden die Händler wieder ihre Marktstände aufbauen, die Pizzabotenwürden mit ihren roten Mopeds durch die Straßen flitzen, die Afrikaner von derStraßenreinigung würden mit ihren Besen die Bürgersteige fegen und dieRestaurantbesitzer ihre Stühle auf die Straße stellen. Alles würde soweitergehen wie bisher.
Beunruhigteihn dieser Gedanke? Ja und nein. Monsieur Hofmann war davon überzeugt, dass nurderjenige das Leben zu schätzen wusste, der sich seiner Endlichkeit bewusstwar. Wenn man jung war, musste man gelegentlich an den Tod denken, um vorlauter Übermut nicht einfältig zu werden. Wenn man alt war, musste man an ihndenken, um seine Tage zu genießen und nicht griesgrämig zu werden. Dennochbedauerte er manchmal, nicht an das ewige Leben zu glauben. Obwohl es hier imQuartier wahrscheinlich mehr Gotteshäuser, mehr Kirchen, Synagogen, Moscheenund Tempel als irgendwo sonst in der Stadt gab, gehörte er keinerReligionsgemeinschaft an und glaubte weder an die Wiederauferstehung des Leibesnoch der Seele. Er glaubte, dass man nur wenige Spuren hinterließ und dass auchdiese Spuren rasch verblassten. Monsieur Hofmann war fünfundsiebzig Jahre alt,erfreute sich guter Gesundheit und hoffte, noch lange zu leben. Dennoch gab eseinen Wunsch, der größer war als dieser. Was auch geschehen würde, er wolltevor seiner Freundin Mademoiselle Blanche sterben.
Er verließsein Viertel nur noch selten, machte aber einmal im Jahr, immer um Osternherum, eine Rundreise über die Friedhöfe der Stadt, um die Gräber jener Frauenund Männer zu besuchen, die ihm in den vergangenen Jahrzehnten nahegestanden hatten. Die meisten von ihnen waren Kellnerund Tänzerinnen gewesen. Monsieur Hofmann hatte bis vor wenigen Jahren einkleines Revuetheater am Fuße des Montmartre betrieben, und so war es nurnatürlich, dass sich sein Bekanntenkreis aus Menschen zusammensetzte, die inderselben Branche arbeiteten wie er selbst.
©Wunderlich Verlag
- Autor: Jan Seghers
- 2008, 3. Aufl., 480 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805208391
- ISBN-13: 9783805208390
- Erscheinungsdatum: 15.01.2008
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