Gottesfurcht / Kommissar Weinzierl Bd.4
Ein Oberbayern-Krimi
Gerade hat Kommissar Weinzirl seinen Dienst im Oberbayerischen angetreten, wird er schon mit einer Mordserie konfrontiert. Bei seinen Ermittlungen erkennt Weinzirl schon bald einen Zusammenhang. Die Opfer waren Schüler der Schnitzschule von Oberammergau.
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Produktinformationen zu „Gottesfurcht / Kommissar Weinzierl Bd.4 “
Gerade hat Kommissar Weinzirl seinen Dienst im Oberbayerischen angetreten, wird er schon mit einer Mordserie konfrontiert. Bei seinen Ermittlungen erkennt Weinzirl schon bald einen Zusammenhang. Die Opfer waren Schüler der Schnitzschule von Oberammergau.
Klappentext zu „Gottesfurcht / Kommissar Weinzierl Bd.4 “
Kommissar Weinzirls vierter Fall - und sein erster in OberbayernKaum tritt Kommissar Weinzirl seinen Dienst im Oberbayrischen an, ist er auch schon mit einer Mordserie konfrontiert. Alle Opfer waren Schüler der Schnitzschule von Oberammergau. Mordet hier ein Wahnsinniger? Welche Rolle spielen die geschnitzten Tiere, die bei den drei Leichen gefunden wurden? Und was soll Weinzirl von "Frau Kassandra" halten, die überzeugt ist, dass die Morde in mystischen Raunächten regelrecht inszeniert wurden?
Lese-Probe zu „Gottesfurcht / Kommissar Weinzierl Bd.4 “
Gottesfurcht von Nicola FörgFuizbuam Dezember 1948
Als Karli den Kopf hob, fiel ein Lichtstrahl auf sein Gesicht. Das Licht kam von hoch oben, dort, wo fast an der Decke des Kellers ein kleines Fenster eingesetzt war. Die Nachmittagssonne spielte mit den Eisblumen auf der Scheibe, das Licht brach sich und sendete feine Strahlen auf den gestampften Lehmboden, wo die vier Buben hockten. Im Schneidersitz auf zusammengefalteten Rupfensäcken.
Karlis Freund Schorschi atmete tief durch und seufzte: »So was möchte ich können. Glasschleifer möcht ich werden und Blumen machen, so wie die. Der Onkel hat’s erzählt, irgendwo weit weg, in irgend so einem Wald da sitzen arme Leute, arm wie wir, und machen Glas. Glas wie im Märchen.«
Hansl, der dritte im Bunde, wandte sich Schorschi zu. »Glasschleifer, du? Du warst noch niemals in Weilheim, wie willst du da in irgendeinen Wald kommen? Bleib lieber bei uns. Schnitzen wir halt was. Das kannst du doch so schön. Das ist ebenso gut wie Glas.«
»Ja schnitzen wir was!«, rief Pauli.
»Und was wollen wir schnitzen?«
Kurze Zeit war es still, bis Karli leise sagte: »Tiere. Die Kathl sagt, Tiere können in diesen Nächten sprechen. Schnitzen wir sprechende Tiere.«
Hansl gab ihm einen Knuff. »Warst bei der Kathl. Da sollen die Kinder aber nicht hin. Die ist ’ne Hexe. Die kann die schwarze Kunst. Die war kürzlich bei der Mutter und wollte sich ein Beil leihen. Die Mutter hätt ihr nie eins gegeben, weil sonst Pech ins Haus kommt. Sie hat nicht mal lügen müssen. Wir haben eh keins.«
»Sie kann auch die weiße Kunst. Sie hat meiner Schwester Josefine die Warzen weggebetet.« Karlis Augen glänzten, fast als hätte er Fieber. »Es ist mir egal, was die Erwachsenen sagen. Ich mag die Kathl.«
Schorschi sah vom einen zum
... mehr
anderen. »Jetzt streitet nicht. Ja, schnitzen wir Tiere.« Er warf jedem der drei anderen ein Prügel Holz hin, und ehrfürchtig verteilte er drei Schnitzmesser. »Die gehören dem Onkel Josef aus Oberammergau. Macht bloß nix kaputt.«
Die Köpfe senkten sich, bis nach einiger Zeit Pauli fragte: »Was schnitzt ihr eigentlich? Ich mach einen Ochs.«
»Ich mach ein Schaf«, sagte Schorschi.
»Und ich einen Esel!«, rief der Hansl.
Karli sah die Freunde an. »Das passt ja: Pauli, der sture Ochs, Schorschi das ängstliche Schaf, Hansl der gewitzte Esel.«
»Ja und du? Was bist dann du?« Hansl stupste ihn mehrmals mit dem Holzstück in die Rippen.
Karlis funkelnde Augen waren noch wilder als sonst. »Ich, ich bin ein Drache, ein Adler, ein Ungeheuer.« Er fuchtelte mit seinem Messer.
»Depp!« Hansl war mit solchen Reden nicht zu beeindrucken. »Außerdem ist bald Weihnachten: Ochs, Esel, Schaf, das passt in die Krippe. Du musst was schnitzen, was in die Krippe passt.«
Die anderen nickten. »Ja, noch ein Schaf oder einen Hütehund, oder ...?«
»Ein Kamel«, fiel Hansl ein. »Das von den Weisen im Mor genland. Das passt zu dir. Ein großes Tier aus der Wüste. Nix von hier. Du passt ja auch nicht zu uns. Wir Filzbuben, der Berliner Hansdampf und du, der Großbauer!«
Karli schoss hoch und packte Hansl an seinen dünnen Handgelenken. »Was, ich pass nicht zu euch? Ich denk wir sind Freunde.«
»Klar, sind wir Freunde. Depp! Ich mein doch bloß. Ein Kamel ist schön und groß und anders und edel, ja edel.«
Karli starrte Hansl an, der wie immer ein wenig spöttisch schaute. Dann sah er in die angstgeweiteten Augen von Schorschi, suchte Pauls stets neugierigen Blick und lenkte schließlich ein. »Einverstanden, ein Kamel.«
Die Augen senkten sich wieder auf die Stücke, bis Schorschi einwarf. »Machen wir morgen weiter. Es ist fast dunkel und kalt, und die Eltern kommen bald aus Achberg zurück. Der Vater mag’s nicht, wenn ich nichtsnutzige Dinge tu. Und schaut: Der Hansl hat schon ganz blaue Finger.«
Hansl zuckte mit den Schultern. »Ja, hab ich immer. Meine Handschuhe hat mein Bruder, der Hermann. Den friert schneller als wie mich.«
»Und deine Knie sind auch blau.«
Hansl legte seine kleinen knochigen Finger auf die Knie und rieb sie ein wenig. »Hast du etwa eine lange Hose für alle Tage?«
Schorschi schüttelte den Kopf. »Bloß der Karli hat eine, oder sogar zwei?«
»Ja und? Also was ist jetzt mit den Tieren? Schnitzen wir morgen weiter?«
»Natürlich!«, sagte Pauli, und plötzlich ging ein Leuchten durch seine Augen. »Wir gründen eine Bruderschaft, die Bruderschaft der unzertrennlichen Tiere.«
»Au ja, der sprechenden unzertrennlichen Tiere. Tiere reden in diesen Nächten!«, stimmte Karli zu.
»Das darf der Herr Pfarrer aber nicht wissen. So was glauben doch bloß Heiden«, flüsterte Schorschi gerade so, als würde ihn der Pfarrer sonst hören.
»Ach der!«, bellte Karli, nahm sein Messer und rittze sich in den Unterarm. »Blutsbrüder der redenden Tiere. Die Unzertrennlichen, Ochs, Esel, Schaf und Kamel. Oder seid ihr zu feig?«
Hansl hatte das Messer schon angesetzt, Paul auch, und Schorschi schaffte es schließlich auch.
Feierlich rieben sie die Arme aneinander und flüsterten die Worte: »Wir sind Ochs, Esel, Schaf und Kamel. Wir haben magische Fähigkeiten. Wir sind die Unzertrennlichen und unbesiegbar.«
Gerhard lächelte. »Horch in di nei, Bua«, hatte seine Mutter gesagt. »Loos gscheid und dann dua eabbas räächts.« In sich reinhören, das klang ihm doch wirklich zu sehr nach Selbstfindungsseminar. Schön, dass wir darüber geredet haben? Aber er wusste, was sein Mutter ihm hatte vermitteln wollen: Folge deiner Intuition, du machst das schon richtig.
Er war gefahren, aber war das nun richtig? So sehr er auch horchte, sein Inneres blieb ihm eine Antwort schuldig. Er war unterwegs an diesem nasskalten Tag. Die Entscheidung war also gefallen. In seinem VW-Bus purzelten einige Rucksäcke durcheinander, sein Mountainbike und Tourenski. Mehr hatte er erst mal nicht dabei. Er hätte wirklich gerne etwas gefühlt: Trauer, Unwohlsein, Unruhe, aber da war nichts. Meine Seele ist ebenso grau wie der Himmel, dachte Gerhard, wahrscheinlich bin ich ein gefühlloser Klotz. Eigentlich hätte er ja erst am 2. Januar anfangen sollen, aber die Aussicht, Weihnachten allein zu verbringen, war wenig prickelnd. Er hätte mit Jo feiern können, aber nach dem Ärger der letzten Tage konnte er sich nicht überwinden anzurufen. So hatte er beschlossen, sich schon mal ein Bild von seiner neuen Arbeitsstelle zu machen.
Er fingerte nach einem Stück Papier, die Mail, auf der die neue Dienststelle die Anschrift seiner Wohnung verzeichnet hatte. Gerhard war froh, dass sie ihm etwas besorgt hatten.
Sein zukünftiger Kollege Peter Baier oder besser dessen Frau hatte das arrangiert.
»Meine Frau ist ein wandelndes Ehrenamt«, hatte Baier am Telefon gesagt. »Orgelverein, Nachhilfe für die Minderbemittelten, Bürger für Bürger, Rentner für Kinder, Bauern für Städter, Mediatoren für die Zwiderwurzen dieser Welt – was weiß ich alles. Meine Frau kann arbeiten wie eine Besessene, darf bloß nichts sein, wo man eventuell Geld damit verdienen würde. Eine Bekannte von ihr, ganz ähnlich, Weinzirl! Ganz ähnlich! Bei denen haben Sie die Wohnung. Skurrile Familie, aber sehr nett. Wird Ihnen gefallen.« Er ließ offen, ob er die Familie oder die Wohnung meinte.
Gerhard hatte sich über Baiers reduzierten Sprechstil mehrfach schon amüsiert. Der Mann schien Verben zu hassen und wenn, dann beschränkte er sich auf sein, haben und Hilfsverben, wenn’s irgendwie ging. Gerhard fand das beruhigend. Kein Schwätzer. Außerdem verstand er Baier: Wenn das Leben zur Routine wurde, dann brauchte man nicht mehr so viele Worte zu verwenden.
Auch deshalb wollte er etwas Neues erproben. Gegen die Routine, gegen die Sprachlosigkeit. Die Stelle war ausgeschrieben gewesen, eine A 13. Gerhard hatte sich eigentlich nur so nebenbei als Gag beworben, in der tiefen Überzeugung, dass ihm für den ersten Kriminalhauptkommissar der Hintern viel zu tief hing. Da würden sich ganz andere Kaliber bewerben. Und nun wollten sie ihn als Nachfolger für Peter Baier. Gerhard war nur abgeordnet für jene Monate, die Baier noch im Dienst sein würde. Er könnte zurück, zumal Evi momentan den Laden in Kempten nur kommissarisch leitete.
Der Deal war einer mit Netz und doppeltem Boden, er war eine Schau-mer-mal-Konstellation. Aber Weilheim war im Prinzip genau nach Gerhards Sinn. Die oberbayerische Kreisstadt war keine Großstadt. Sein Ausflug nach Augsburg hatte ihm schon gereicht. Eine Karriere in München war für ihn undenkbar. Gerhard konnte und wollte dort arbeiten, wo es keine Autobahnkreuze und keine Staus gab. Höchstens mal den Stau hinter einem Traktor oder einer Kuhherde, die unterwegs war zum abendlichen Melken im heimischen Stall. Er hatte mal gelesen, dass der moderne Großstädter ein Jahr seines Lebens in Staus zubrachte. Das war doch pervers!
Er war gerade durch Hohenpeißenberg gefahren. Der Nebel war dick wie in einem Dampfbad, wenn die Düse auf der höchsten Stufe Feuchtigkeit ausspie. Aber so ein Dampfbad war wenigstens warm. Ein Temperaturmesser an einer Bankfiliale zeigte vier Grad an. Gerhards verbogener Scheibenwischer ächzte und zuckte, neue Wischblätter wären kein Luxus. Ein neues Auto wäre auch kein Luxus, aber Gerhard hielt seinem alten VW-Bus seit Jahren die Treue. Schmierte Rostlöcher zu, schweißte Bodenbleche und Auspuff. Er wollte kein Auto mit elektrischen Fensterhebern und eins, das mit affektiertem Scheinwerfer-Aufleuchten quittiert, dass Herrchen auf »Unlock« getippt hatte. Er wollte keine dieser Heizungen mit Digitalanzeige und erst recht keine dieser Damen, die mit schnarrender Stimme vorgaben, wohin er zu fah ren habe. Er hatte sich umgesehen. Es gab keine echten Autos mehr, mit Lenkrad, vier Reifen bis zum Boden und einem Motor, an dem man selber noch dengeln konnte. Es gab nur noch die Spitzfindigkeiten einer Generation von Ingenieuren, die der heimtückischen Elektronik-Göttin huldigten. Und wenn dann so ein 7er BMW am Straßenrand mal wieder seinem perfekten Ausstattungspaket erlegen war, dann war Gerhard schadenfroh. Obwohl er sonst nicht so war. Sein Handy klingelte.
»Herr Weinzirl, gleich auf die Dienststelle. Wir haben eine Leiche. Auspacken können Sie später.«
Gerhard lächelte, auch gut, sogar besser.
Als Gerhard die Inspektion betrat, waren einige Leute versammelt. Ein kleiner Mann mit wachen Augen kam auf ihn zu. Der Mann war höchstens einssiebzig groß, irgendwie hatte sich Gerhard den neuen Kollegen, den ersten Kriminalhauptkommisar Peter Baier, größer vorgestellt.
»So – das Schwäble. Der Herr Weinzirl aus dem Allgäu. Geier, Aasgeier, Allgeier – nix für ungut, mehr wissen wir halt nicht vom Allgäu draußen. Willkommen Herr Weinzirl! Na, das ist ja wenigstens ein bayerischer Name, oder? Man hört, Sie haben einen guten Ruf. Tote Baulöwen im Schnee, Funkenleichen, ein Rad-Psychopath, sind informiert über Ihre Heldentaten. Ja, Herr Weinzirl mehr der Höflichkeiten später, wir haben zu Ihrer Begrüßung gleich mal ’nen Toten im Eibenwald. Die Streife, die alarmiert wurde, hat angerufen. Kommt denen komisch vor. Pack mers!«
Er erhob sich, Zeichen für den Rest der Runde auch aufzustehen. Gesichter zogen an Gerhard vorbei, Hände reckten sich ihm entgegen. »Grüß Gott, auf eine gute Zusammenarbeit.« Gemurmel, durchaus wohlwollende Blicke. »Später kauf mer uns amoi a Hoibe.« Das wars auch schon. Auf zur Tagesordnung.
»Dann wollen wir mal, Herr Kollege.«
Gerhard nickte, schluckte noch ein-, zweimal am Schwäble. Aber für lokalpatriotische Empfindlichkeiten war jetzt keine Zeit. Die Oberbayern in die Feinheiten der Grenzzie hung nach Schwaben einzuweihen, dazu blieb noch genug Zeit. Tagesordnung!
»Eibenwald sagten Sie?«
»Ja, der Eibenwald, steht seit 1939 unter Naturschutz. Ein anderthalb Kilometer langer Weg, vorbei an bis zu tausend Jahre alten Eiben, führt durch das Gebiet. Recht lehrreich das Ganze, oder wussten Sie, dass es männliche Eiben mit gelben Blüten und weibliche Eiben mit roten Früchten gibt. Ich bin da erst im Herbst mit meiner Enkelin durch, die wusste mehr als ich – auch, dass Eiben giftig sind. Hat unser Toter vielleicht zu viel Eiben erwischt?« Er lachte, was bei ihm wie ein Knurren klang, gleichzeitig aber funkelten und tanzten seine Augen.
Peter Baier fuhr über die Ammer hinein nach Tankenrain. Er wies nach links. »Herrschaftzeiten, unser Sorgenkind! Immer mal wieder eine Diskothek, wechselt ständig den Namen, der Ärger bleibt. Die Türken verklopfen die Russlanddeutschen oder umgekehrt. Werden Sie noch mitkriegen.« Am Ortsende zeigte er wieder nach links. »Hahnenbühl, auch was Spezielles. Eigentlich Schwarzbauten, sehr spezielle Bewohner da im Schutz des Waldes. Werden Sie noch mitkriegen.« Und dann ging der Zeigefinger nach rechts, unbestimmt in den Wald hinein. »Da wohnen Sie übrigens.«
Gerhard sah nach rechts. Drei einsame Säulen markierten so was wie eine Einfahrt. Drei windschiefe Säulen, deren Bestimmung so nebulös war wie das nebelfeuchte Wetter.
»Soll mal ein Zaun werden und ein Tor dazu. Irgendwann. Nette Leute, Ihre Vermieter«, sagte Baier.
Der Zusammenhang von Säulen und Vermietern entzog sich Gerhard. Aber das würde alles noch werden mit dem Verständnis. Baier fuhr schnell und sicher durch eine lang gezogene Kurve.
»Haben sie unlängst entschärft, Herrschaftzeiten, die Deppen derrennen sich trotzdem.« Dann bog er nach links ab und gleich noch mal, und es wurde schlagartig noch dunkler, als es an diesem licht- und konturlosen Wintertag schon war. Es war vier Uhr, als sie unter den düsteren Bäumen parkten. Ein Streifenpolizist war vor Ort. »Baier, elende Haubn« kam es von irgendwoher, und Baier knurrte ein »Servus, du meineidiges Arschloch« zurück.
»Alter Freund von mir. Haben zusammen bei unserer ersten PI gelernt«, sagte er in Gerhards Richtung.
Doch – das würde werden mit dem Verständnis. Gerhard empfand jetzt schon Spaß am oberbayerischen Grant. Weniger spaßig war das Wetter. Die feuchte Kälte kroch durch Gerhards Lederjacke, ihn schauderte. Sie gingen einen abschüssigen Weg hinunter, der schlüpfrig war unter Gerhards Turnschuhen. Die Eiben über ihm flüsterten im Wind, als raunten sie sich Geheimnisse zu. Ein kleines Holzschild mit der Aufschrift »Abkürzung« markierte eine Kreuzung. Dort standen noch ein uniformierter Kollege und eine Dame mit wilder Haarpracht, die einen zitternden Rehpinscher auf dem Arm hielt. Gerhard und Baier bogen nach links ab, schritten weiter hinein in das diffuse Licht des Waldes. Der dunklere Weg hob sich wie ein düsteres Band ab von den verwelkten Gräsern am Rande.
Ein Mann saß leicht gekippt in einem hohlen Baum. Der Stamm umgab ihn, schien ihn zu schützen und zu stützen. Der Mann war tot, seine Augen waren geschlossen. Baier und Gerhard blickten auf den Oberkörper, der zur Seite gesunken war, was seiner Haltung die Form eines Fragezeichens gab. Der Mann war etwa Mitte sechzig, eher von kleiner Statur, ein schmaler sehniger Typ. Er trug eine Trekkinghose, Flanellhemd und Weste. Ein Rucksack, der halb offen stand, lehnte links am Baum, rechts war ein Trekkingrad angelehnt. Alles sehr ordentlich, fast symmetrisch, wie arrangiert für ein Gemälde. Ein makabres Gemälde.
Gerhard sah Baier an. »Wieso sind seine Augen geschlossen? Und er sitzt so merkwürdig da.«
Baier nickte. »Kommt mir auch so vor. Irgendetwas ist hier doch nicht ganz normal.«
Inmitten dieser Düsternis erleuchtete plötzlich eine starke Leuchte die Umgebung, und mitten drin flammten ein orangefarbener Daunen-Anorak und ein verwuschelter Kurzhaarschnitt in derselben Farbe auf. Die dazugehörige Frau rief: »Baier, grüß dich! Deine Jungs haben mich angerufen.« Dann gab sie Gerhard die Hand.
»Herr Weinzirl, nehm ich an. Sie wurden hier mit Spannung erwartet. Sandra Feistl, grüß Gott!«
»Sandra Feistl, Notärztin«, sagte Baier in Gerhards Richtung. »Herrschaftzeiten, Sandy, du bringst Farbe in diesen tristen Tag.« Baier strahlte sie an.
Dann richteten sie alle den Blick wieder auf den, der Sandra nun in die Knie gezwungen hatte.
»Woran ist der Mann gestorben?«, fragte Gerhard.
Die rote Sandy zuckte mit den Achseln. »Herzinfarkt, würde ich sagen. Scheint ja ein sportlicher Bursche gewesen zu sein«, sie deutete auf das Rad. »Aber körperliche Anstrengung bei der kalten feuchten Luft. Das freut die Bronchien und die Pumpe nicht immer. Er dürfte in den Morgenstunden, spätestens mittags gestorben sein. Ich glaube, da hast du Herrn Weinzirl zu früh einen Mord versprochen, Baier. Aber so kurz vor Weihnachten muss das auch nicht sein, oder Herr Weinzirl?«
Gerhard machte eine unbestimmte Handbewegung. »Er hat die Augen zu. Hat ihm die jemand zugedrückt? Müssten die nicht offen sein?«
Sandra Feistl blickte überrascht auf. »Ja, äh ...«
Baier mischte sich ein. »Was kreuzt du an Sandy? Natürlich oder nicht. Müssten die Augen nicht wirklich offen sein, Sandy?«
Der Flammkopf richtete sich auf. »Eher scho wia ned«, sagte Sandy und machte ein dickes Kreuz auf dem Totenschein. Nicht natürlicher Tod.
Ihre drei Köpfe waren eng zusammengesteckt, und sie starrten den Mann an. Aber der würde ihnen nichts mehr erzählen können. Nichts davon, wie und warum er hier hergekommen war.
Gerhard richtete sich wieder auf. »Wer hat ihn denn gefunden?«
»Die Dame mit dem Rehpinscher, die bei euren Kollegen steht. Sie ist ein bisschen, naja gaga, wunderlich, würde ich sagen. Sie hat mich zugetextet, als ich kam. Sie steht da oben an der Abzweigung. Eine neurotische Persönlichkeit mit Eso-Wahn, scheint mir.« Sandra Feistl zuckte mit den Schultern. »Ich muss, Leute. Hab noch einiges auf meiner Agenda. Herr Weinzirl, hat mich gefreut. Kommen Sie doch mal demnächst zum Bullenstammtisch in die Gogglalm. Da kauf mer uns amoi a Hoibe. Geht da immer recht lustig zu. Manche schießen bei diesen legendären, so genannten Heimatabenden auch mal in die Decke.« Kurz verdunkelte sich ihr Blick. »Gott hab ihn selig, den Vamos.«
Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe by Hermann-Josef Emons Verlag, Köln
Von der Autorin aktualisierte Ausgabe des gleichnamigen Romans
Die Köpfe senkten sich, bis nach einiger Zeit Pauli fragte: »Was schnitzt ihr eigentlich? Ich mach einen Ochs.«
»Ich mach ein Schaf«, sagte Schorschi.
»Und ich einen Esel!«, rief der Hansl.
Karli sah die Freunde an. »Das passt ja: Pauli, der sture Ochs, Schorschi das ängstliche Schaf, Hansl der gewitzte Esel.«
»Ja und du? Was bist dann du?« Hansl stupste ihn mehrmals mit dem Holzstück in die Rippen.
Karlis funkelnde Augen waren noch wilder als sonst. »Ich, ich bin ein Drache, ein Adler, ein Ungeheuer.« Er fuchtelte mit seinem Messer.
»Depp!« Hansl war mit solchen Reden nicht zu beeindrucken. »Außerdem ist bald Weihnachten: Ochs, Esel, Schaf, das passt in die Krippe. Du musst was schnitzen, was in die Krippe passt.«
Die anderen nickten. »Ja, noch ein Schaf oder einen Hütehund, oder ...?«
»Ein Kamel«, fiel Hansl ein. »Das von den Weisen im Mor genland. Das passt zu dir. Ein großes Tier aus der Wüste. Nix von hier. Du passt ja auch nicht zu uns. Wir Filzbuben, der Berliner Hansdampf und du, der Großbauer!«
Karli schoss hoch und packte Hansl an seinen dünnen Handgelenken. »Was, ich pass nicht zu euch? Ich denk wir sind Freunde.«
»Klar, sind wir Freunde. Depp! Ich mein doch bloß. Ein Kamel ist schön und groß und anders und edel, ja edel.«
Karli starrte Hansl an, der wie immer ein wenig spöttisch schaute. Dann sah er in die angstgeweiteten Augen von Schorschi, suchte Pauls stets neugierigen Blick und lenkte schließlich ein. »Einverstanden, ein Kamel.«
Die Augen senkten sich wieder auf die Stücke, bis Schorschi einwarf. »Machen wir morgen weiter. Es ist fast dunkel und kalt, und die Eltern kommen bald aus Achberg zurück. Der Vater mag’s nicht, wenn ich nichtsnutzige Dinge tu. Und schaut: Der Hansl hat schon ganz blaue Finger.«
Hansl zuckte mit den Schultern. »Ja, hab ich immer. Meine Handschuhe hat mein Bruder, der Hermann. Den friert schneller als wie mich.«
»Und deine Knie sind auch blau.«
Hansl legte seine kleinen knochigen Finger auf die Knie und rieb sie ein wenig. »Hast du etwa eine lange Hose für alle Tage?«
Schorschi schüttelte den Kopf. »Bloß der Karli hat eine, oder sogar zwei?«
»Ja und? Also was ist jetzt mit den Tieren? Schnitzen wir morgen weiter?«
»Natürlich!«, sagte Pauli, und plötzlich ging ein Leuchten durch seine Augen. »Wir gründen eine Bruderschaft, die Bruderschaft der unzertrennlichen Tiere.«
»Au ja, der sprechenden unzertrennlichen Tiere. Tiere reden in diesen Nächten!«, stimmte Karli zu.
»Das darf der Herr Pfarrer aber nicht wissen. So was glauben doch bloß Heiden«, flüsterte Schorschi gerade so, als würde ihn der Pfarrer sonst hören.
»Ach der!«, bellte Karli, nahm sein Messer und rittze sich in den Unterarm. »Blutsbrüder der redenden Tiere. Die Unzertrennlichen, Ochs, Esel, Schaf und Kamel. Oder seid ihr zu feig?«
Hansl hatte das Messer schon angesetzt, Paul auch, und Schorschi schaffte es schließlich auch.
Feierlich rieben sie die Arme aneinander und flüsterten die Worte: »Wir sind Ochs, Esel, Schaf und Kamel. Wir haben magische Fähigkeiten. Wir sind die Unzertrennlichen und unbesiegbar.«
Gerhard lächelte. »Horch in di nei, Bua«, hatte seine Mutter gesagt. »Loos gscheid und dann dua eabbas räächts.« In sich reinhören, das klang ihm doch wirklich zu sehr nach Selbstfindungsseminar. Schön, dass wir darüber geredet haben? Aber er wusste, was sein Mutter ihm hatte vermitteln wollen: Folge deiner Intuition, du machst das schon richtig.
Er war gefahren, aber war das nun richtig? So sehr er auch horchte, sein Inneres blieb ihm eine Antwort schuldig. Er war unterwegs an diesem nasskalten Tag. Die Entscheidung war also gefallen. In seinem VW-Bus purzelten einige Rucksäcke durcheinander, sein Mountainbike und Tourenski. Mehr hatte er erst mal nicht dabei. Er hätte wirklich gerne etwas gefühlt: Trauer, Unwohlsein, Unruhe, aber da war nichts. Meine Seele ist ebenso grau wie der Himmel, dachte Gerhard, wahrscheinlich bin ich ein gefühlloser Klotz. Eigentlich hätte er ja erst am 2. Januar anfangen sollen, aber die Aussicht, Weihnachten allein zu verbringen, war wenig prickelnd. Er hätte mit Jo feiern können, aber nach dem Ärger der letzten Tage konnte er sich nicht überwinden anzurufen. So hatte er beschlossen, sich schon mal ein Bild von seiner neuen Arbeitsstelle zu machen.
Er fingerte nach einem Stück Papier, die Mail, auf der die neue Dienststelle die Anschrift seiner Wohnung verzeichnet hatte. Gerhard war froh, dass sie ihm etwas besorgt hatten.
Sein zukünftiger Kollege Peter Baier oder besser dessen Frau hatte das arrangiert.
»Meine Frau ist ein wandelndes Ehrenamt«, hatte Baier am Telefon gesagt. »Orgelverein, Nachhilfe für die Minderbemittelten, Bürger für Bürger, Rentner für Kinder, Bauern für Städter, Mediatoren für die Zwiderwurzen dieser Welt – was weiß ich alles. Meine Frau kann arbeiten wie eine Besessene, darf bloß nichts sein, wo man eventuell Geld damit verdienen würde. Eine Bekannte von ihr, ganz ähnlich, Weinzirl! Ganz ähnlich! Bei denen haben Sie die Wohnung. Skurrile Familie, aber sehr nett. Wird Ihnen gefallen.« Er ließ offen, ob er die Familie oder die Wohnung meinte.
Gerhard hatte sich über Baiers reduzierten Sprechstil mehrfach schon amüsiert. Der Mann schien Verben zu hassen und wenn, dann beschränkte er sich auf sein, haben und Hilfsverben, wenn’s irgendwie ging. Gerhard fand das beruhigend. Kein Schwätzer. Außerdem verstand er Baier: Wenn das Leben zur Routine wurde, dann brauchte man nicht mehr so viele Worte zu verwenden.
Auch deshalb wollte er etwas Neues erproben. Gegen die Routine, gegen die Sprachlosigkeit. Die Stelle war ausgeschrieben gewesen, eine A 13. Gerhard hatte sich eigentlich nur so nebenbei als Gag beworben, in der tiefen Überzeugung, dass ihm für den ersten Kriminalhauptkommissar der Hintern viel zu tief hing. Da würden sich ganz andere Kaliber bewerben. Und nun wollten sie ihn als Nachfolger für Peter Baier. Gerhard war nur abgeordnet für jene Monate, die Baier noch im Dienst sein würde. Er könnte zurück, zumal Evi momentan den Laden in Kempten nur kommissarisch leitete.
Der Deal war einer mit Netz und doppeltem Boden, er war eine Schau-mer-mal-Konstellation. Aber Weilheim war im Prinzip genau nach Gerhards Sinn. Die oberbayerische Kreisstadt war keine Großstadt. Sein Ausflug nach Augsburg hatte ihm schon gereicht. Eine Karriere in München war für ihn undenkbar. Gerhard konnte und wollte dort arbeiten, wo es keine Autobahnkreuze und keine Staus gab. Höchstens mal den Stau hinter einem Traktor oder einer Kuhherde, die unterwegs war zum abendlichen Melken im heimischen Stall. Er hatte mal gelesen, dass der moderne Großstädter ein Jahr seines Lebens in Staus zubrachte. Das war doch pervers!
Er war gerade durch Hohenpeißenberg gefahren. Der Nebel war dick wie in einem Dampfbad, wenn die Düse auf der höchsten Stufe Feuchtigkeit ausspie. Aber so ein Dampfbad war wenigstens warm. Ein Temperaturmesser an einer Bankfiliale zeigte vier Grad an. Gerhards verbogener Scheibenwischer ächzte und zuckte, neue Wischblätter wären kein Luxus. Ein neues Auto wäre auch kein Luxus, aber Gerhard hielt seinem alten VW-Bus seit Jahren die Treue. Schmierte Rostlöcher zu, schweißte Bodenbleche und Auspuff. Er wollte kein Auto mit elektrischen Fensterhebern und eins, das mit affektiertem Scheinwerfer-Aufleuchten quittiert, dass Herrchen auf »Unlock« getippt hatte. Er wollte keine dieser Heizungen mit Digitalanzeige und erst recht keine dieser Damen, die mit schnarrender Stimme vorgaben, wohin er zu fah ren habe. Er hatte sich umgesehen. Es gab keine echten Autos mehr, mit Lenkrad, vier Reifen bis zum Boden und einem Motor, an dem man selber noch dengeln konnte. Es gab nur noch die Spitzfindigkeiten einer Generation von Ingenieuren, die der heimtückischen Elektronik-Göttin huldigten. Und wenn dann so ein 7er BMW am Straßenrand mal wieder seinem perfekten Ausstattungspaket erlegen war, dann war Gerhard schadenfroh. Obwohl er sonst nicht so war. Sein Handy klingelte.
»Herr Weinzirl, gleich auf die Dienststelle. Wir haben eine Leiche. Auspacken können Sie später.«
Gerhard lächelte, auch gut, sogar besser.
Als Gerhard die Inspektion betrat, waren einige Leute versammelt. Ein kleiner Mann mit wachen Augen kam auf ihn zu. Der Mann war höchstens einssiebzig groß, irgendwie hatte sich Gerhard den neuen Kollegen, den ersten Kriminalhauptkommisar Peter Baier, größer vorgestellt.
»So – das Schwäble. Der Herr Weinzirl aus dem Allgäu. Geier, Aasgeier, Allgeier – nix für ungut, mehr wissen wir halt nicht vom Allgäu draußen. Willkommen Herr Weinzirl! Na, das ist ja wenigstens ein bayerischer Name, oder? Man hört, Sie haben einen guten Ruf. Tote Baulöwen im Schnee, Funkenleichen, ein Rad-Psychopath, sind informiert über Ihre Heldentaten. Ja, Herr Weinzirl mehr der Höflichkeiten später, wir haben zu Ihrer Begrüßung gleich mal ’nen Toten im Eibenwald. Die Streife, die alarmiert wurde, hat angerufen. Kommt denen komisch vor. Pack mers!«
Er erhob sich, Zeichen für den Rest der Runde auch aufzustehen. Gesichter zogen an Gerhard vorbei, Hände reckten sich ihm entgegen. »Grüß Gott, auf eine gute Zusammenarbeit.« Gemurmel, durchaus wohlwollende Blicke. »Später kauf mer uns amoi a Hoibe.« Das wars auch schon. Auf zur Tagesordnung.
»Dann wollen wir mal, Herr Kollege.«
Gerhard nickte, schluckte noch ein-, zweimal am Schwäble. Aber für lokalpatriotische Empfindlichkeiten war jetzt keine Zeit. Die Oberbayern in die Feinheiten der Grenzzie hung nach Schwaben einzuweihen, dazu blieb noch genug Zeit. Tagesordnung!
»Eibenwald sagten Sie?«
»Ja, der Eibenwald, steht seit 1939 unter Naturschutz. Ein anderthalb Kilometer langer Weg, vorbei an bis zu tausend Jahre alten Eiben, führt durch das Gebiet. Recht lehrreich das Ganze, oder wussten Sie, dass es männliche Eiben mit gelben Blüten und weibliche Eiben mit roten Früchten gibt. Ich bin da erst im Herbst mit meiner Enkelin durch, die wusste mehr als ich – auch, dass Eiben giftig sind. Hat unser Toter vielleicht zu viel Eiben erwischt?« Er lachte, was bei ihm wie ein Knurren klang, gleichzeitig aber funkelten und tanzten seine Augen.
Peter Baier fuhr über die Ammer hinein nach Tankenrain. Er wies nach links. »Herrschaftzeiten, unser Sorgenkind! Immer mal wieder eine Diskothek, wechselt ständig den Namen, der Ärger bleibt. Die Türken verklopfen die Russlanddeutschen oder umgekehrt. Werden Sie noch mitkriegen.« Am Ortsende zeigte er wieder nach links. »Hahnenbühl, auch was Spezielles. Eigentlich Schwarzbauten, sehr spezielle Bewohner da im Schutz des Waldes. Werden Sie noch mitkriegen.« Und dann ging der Zeigefinger nach rechts, unbestimmt in den Wald hinein. »Da wohnen Sie übrigens.«
Gerhard sah nach rechts. Drei einsame Säulen markierten so was wie eine Einfahrt. Drei windschiefe Säulen, deren Bestimmung so nebulös war wie das nebelfeuchte Wetter.
»Soll mal ein Zaun werden und ein Tor dazu. Irgendwann. Nette Leute, Ihre Vermieter«, sagte Baier.
Der Zusammenhang von Säulen und Vermietern entzog sich Gerhard. Aber das würde alles noch werden mit dem Verständnis. Baier fuhr schnell und sicher durch eine lang gezogene Kurve.
»Haben sie unlängst entschärft, Herrschaftzeiten, die Deppen derrennen sich trotzdem.« Dann bog er nach links ab und gleich noch mal, und es wurde schlagartig noch dunkler, als es an diesem licht- und konturlosen Wintertag schon war. Es war vier Uhr, als sie unter den düsteren Bäumen parkten. Ein Streifenpolizist war vor Ort. »Baier, elende Haubn« kam es von irgendwoher, und Baier knurrte ein »Servus, du meineidiges Arschloch« zurück.
»Alter Freund von mir. Haben zusammen bei unserer ersten PI gelernt«, sagte er in Gerhards Richtung.
Doch – das würde werden mit dem Verständnis. Gerhard empfand jetzt schon Spaß am oberbayerischen Grant. Weniger spaßig war das Wetter. Die feuchte Kälte kroch durch Gerhards Lederjacke, ihn schauderte. Sie gingen einen abschüssigen Weg hinunter, der schlüpfrig war unter Gerhards Turnschuhen. Die Eiben über ihm flüsterten im Wind, als raunten sie sich Geheimnisse zu. Ein kleines Holzschild mit der Aufschrift »Abkürzung« markierte eine Kreuzung. Dort standen noch ein uniformierter Kollege und eine Dame mit wilder Haarpracht, die einen zitternden Rehpinscher auf dem Arm hielt. Gerhard und Baier bogen nach links ab, schritten weiter hinein in das diffuse Licht des Waldes. Der dunklere Weg hob sich wie ein düsteres Band ab von den verwelkten Gräsern am Rande.
Ein Mann saß leicht gekippt in einem hohlen Baum. Der Stamm umgab ihn, schien ihn zu schützen und zu stützen. Der Mann war tot, seine Augen waren geschlossen. Baier und Gerhard blickten auf den Oberkörper, der zur Seite gesunken war, was seiner Haltung die Form eines Fragezeichens gab. Der Mann war etwa Mitte sechzig, eher von kleiner Statur, ein schmaler sehniger Typ. Er trug eine Trekkinghose, Flanellhemd und Weste. Ein Rucksack, der halb offen stand, lehnte links am Baum, rechts war ein Trekkingrad angelehnt. Alles sehr ordentlich, fast symmetrisch, wie arrangiert für ein Gemälde. Ein makabres Gemälde.
Gerhard sah Baier an. »Wieso sind seine Augen geschlossen? Und er sitzt so merkwürdig da.«
Baier nickte. »Kommt mir auch so vor. Irgendetwas ist hier doch nicht ganz normal.«
Inmitten dieser Düsternis erleuchtete plötzlich eine starke Leuchte die Umgebung, und mitten drin flammten ein orangefarbener Daunen-Anorak und ein verwuschelter Kurzhaarschnitt in derselben Farbe auf. Die dazugehörige Frau rief: »Baier, grüß dich! Deine Jungs haben mich angerufen.« Dann gab sie Gerhard die Hand.
»Herr Weinzirl, nehm ich an. Sie wurden hier mit Spannung erwartet. Sandra Feistl, grüß Gott!«
»Sandra Feistl, Notärztin«, sagte Baier in Gerhards Richtung. »Herrschaftzeiten, Sandy, du bringst Farbe in diesen tristen Tag.« Baier strahlte sie an.
Dann richteten sie alle den Blick wieder auf den, der Sandra nun in die Knie gezwungen hatte.
»Woran ist der Mann gestorben?«, fragte Gerhard.
Die rote Sandy zuckte mit den Achseln. »Herzinfarkt, würde ich sagen. Scheint ja ein sportlicher Bursche gewesen zu sein«, sie deutete auf das Rad. »Aber körperliche Anstrengung bei der kalten feuchten Luft. Das freut die Bronchien und die Pumpe nicht immer. Er dürfte in den Morgenstunden, spätestens mittags gestorben sein. Ich glaube, da hast du Herrn Weinzirl zu früh einen Mord versprochen, Baier. Aber so kurz vor Weihnachten muss das auch nicht sein, oder Herr Weinzirl?«
Gerhard machte eine unbestimmte Handbewegung. »Er hat die Augen zu. Hat ihm die jemand zugedrückt? Müssten die nicht offen sein?«
Sandra Feistl blickte überrascht auf. »Ja, äh ...«
Baier mischte sich ein. »Was kreuzt du an Sandy? Natürlich oder nicht. Müssten die Augen nicht wirklich offen sein, Sandy?«
Der Flammkopf richtete sich auf. »Eher scho wia ned«, sagte Sandy und machte ein dickes Kreuz auf dem Totenschein. Nicht natürlicher Tod.
Ihre drei Köpfe waren eng zusammengesteckt, und sie starrten den Mann an. Aber der würde ihnen nichts mehr erzählen können. Nichts davon, wie und warum er hier hergekommen war.
Gerhard richtete sich wieder auf. »Wer hat ihn denn gefunden?«
»Die Dame mit dem Rehpinscher, die bei euren Kollegen steht. Sie ist ein bisschen, naja gaga, wunderlich, würde ich sagen. Sie hat mich zugetextet, als ich kam. Sie steht da oben an der Abzweigung. Eine neurotische Persönlichkeit mit Eso-Wahn, scheint mir.« Sandra Feistl zuckte mit den Schultern. »Ich muss, Leute. Hab noch einiges auf meiner Agenda. Herr Weinzirl, hat mich gefreut. Kommen Sie doch mal demnächst zum Bullenstammtisch in die Gogglalm. Da kauf mer uns amoi a Hoibe. Geht da immer recht lustig zu. Manche schießen bei diesen legendären, so genannten Heimatabenden auch mal in die Decke.« Kurz verdunkelte sich ihr Blick. »Gott hab ihn selig, den Vamos.«
Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe by Hermann-Josef Emons Verlag, Köln
Von der Autorin aktualisierte Ausgabe des gleichnamigen Romans
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Autoren-Porträt von Nicola Förg
Förg, NicolaNicola Förg ist im Oberallgäu aufgewachsen. Neben ihren sehr erfolgreichen Krimis hat sie auch Reiseführer und Bildbände veröffentlicht. Als freie Reisejournalistin arbeitete sie für namhafte Tageszeitungen und Magazine. Mit ihrer Familie sowie Ponys, diversen Kaninchen und Katzen lebt die Autorin auf einem Anwesen im südwestlichen Eck Oberbayerns, dort, wo man schon mit dem Ostallgäu flirtet. Bei Goldmann erscheint ihre Kommissar-Weinzirl-Reihe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicola Förg
- 2010, Überarb. Neuausg., 285 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442470145
- ISBN-13: 9783442470143
- Erscheinungsdatum: 16.08.2010
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