Blutwind / Lars Winkler Bd.1
Eine Frauenleiche am Strand von Kopenhagen. Mit leeren Augenhöhlen. Ein Opfer des "Sandmannes"? Kommissar Lars Winkler und die junge Kollegin Sanne Bissen nehmen die Ermittlungen auf. Nach und nach enthüllen sie eine grauenvolle Familiengeschichte. Und der Sandmann sucht nach neuen Opfern
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Produktinformationen zu „Blutwind / Lars Winkler Bd.1 “
Eine Frauenleiche am Strand von Kopenhagen. Mit leeren Augenhöhlen. Ein Opfer des "Sandmannes"? Kommissar Lars Winkler und die junge Kollegin Sanne Bissen nehmen die Ermittlungen auf. Nach und nach enthüllen sie eine grauenvolle Familiengeschichte. Und der Sandmann sucht nach neuen Opfern
Klappentext zu „Blutwind / Lars Winkler Bd.1 “
Wenn der Blutwind in ihm tobt, gibt es für seine Opfer kein EntkommenAm Strand von Kopenhagen wird eine grotesk zugerichtete Frauenleiche entdeckt, sie wurde auf ungewöhnlich altmodische Weise konserviert, und ihre leeren Augenhöhlen starren ins Nichts. Lars Winkler von der Mordkommission nimmt die Ermittlungen auf, ihm zur Seite steht die junge Polizeibeamtin Sanne Bissen - die Lars auch dann noch ins Vertrauen zieht, als ihm der Fall entzogen wird. Während nach und nach eine Familiengeschichte ans Licht kommt, die grauenvoller kaum sein kann, sucht der Sandmann, vom Blutwind getrieben, weitere Opfer ...
Lese-Probe zu „Blutwind / Lars Winkler Bd.1 “
Blutwind von Jakob MelanderDeutsch von Ulrich Sonnenberg
Mai 1953
Sturm zieht an diesem kühlen Frühjahrsabend über den Øresund und peitscht Schaum auf die Wellenkämme. Tief und rot hängt die Sonne über dem Land, von der Halbinsel Amager ziehen violette Wolkenstreifen auf. Ein Schwarm Silbermöwen schreit im Aufwind und kreist über dem Kadaver, der sich in den Wellen des Sees auf- und abwiegt. Ein Zug Pfadfinder überwindet die Erdwälle um das Fort Charlottenlund, im Gänsemarsch laufen sie über die grasbewachsenen Böschungen. Lemminge, die sich in Reih und Glied durchs Gebüsch arbeiten. Hin und wieder fährt ein Auto auf dem Strandvejen vorbei, sonst ist alles menschenleer.
Die blau gefrorenen, schiefen Knie der kleinen Jungen klirren, sie ducken sich und verschwinden hinter den Kanonenbatterien, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Die erste Möwe stürzt herab, reißt einen Klumpen weißes Fleisch aus dem aufgeblähten Bauch des Kadavers, kurz darauf die nächste. Der Pfadfindertrupp hat den Damm, der zum Strandvejen und zum waldähnlichen Schlosspark Charlottenlund führt, schon fast hinter sich gelassen.
Ein größerer, knochiger Junge bildet die Nachhut, er stolpert den anderen hinterher. Keucht in dem heftigen Sturm. Der Abstand zu den Letzten der Gruppe wächst.
Vorn wird gesungen. Der Wind verweht die Stimmen, schleudert ihm Bruchstücke ins Gesicht.
Ein Dicker und ein Dünner, die wollten wandern gehn
Dem Dicken wurd's lang, seine Hose, die sprang
Der Dünne lief ins Städtchen, küsste alle Mädchen
Doch dann wurd' er frech
Und das war sein Pech
... mehr
Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser -
Denn hier kommt der Dicke mit dem Schlachtermesser
Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser -
Denn hier kommt der Dicke mit dem Schlachtermesser
Die Kolonne schlängelt sich über den Strandvejen und verschwindet zwischen den Baumstämmen. Der Nachzügler muss ein Cabriolet abwarten, das Richtung Norden fährt. Aus dem vorbeifahrenden Wagen lächelt ihm vom Beifahrersitz ein blondes Mädchen zu. Dann ist das Auto verschwunden, und er kann über die Straße gehen.
Das Echo der Stimmen vibriert noch immer zwischen den Bäumen:
Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser ...
Auf der anderen Straßenseite fängt er an zu laufen. Der Rucksack hüpft. Das kalte Metallgestell schlägt ihm gegen die Nieren. Bald gibt es nur noch den Sturm, der durch die Baumkronen fährt, und das heisere Keuchen seines Atems. Den pumpenden Doppelschlag seines Herzens. Vor seinen Augen beginnen die Bäume, sich zu drehen. Eine Baumwurzel greift nach ihm, erwischt seinen Fuß, er stürzt auf den Waldboden. Die krummen Äste strecken sich ihm entgegen, fangen ihn auf. Er will schreien, aber er kann nicht. Sein Mund ist voller Erde und welker Blätter. In einem stummen Schrei um Hilfe streckt er die Arme aus.
Und dann, mit einem Mal, ist es überstanden. Er liegt auf dem nackten Waldboden, ringt nach Atem, stöhnt vor Schmerz, spuckt Erde und Blätter aus. Er ist allein in der Dämmerung. Und in den Baumwipfeln beginnt es zu singen, immer lauter. Er setzt sich auf, umklammert die Knie mit den Händen, verbirgt sein Gesicht. Die schmalen Schultern zittern.
Dann kommen die Stimmen.
Sie heulen mit dem Sturm, schlingen sich um ihn, reiten auf ihm, steigen und fallen in einer langsam kreisenden Kadenz, die mit der Ablösung der sanften Dämmerung durch die Nacht immer lauter wird. Er weiß nicht, wie lange diese rasende Attacke der Stimmen dauert. Er weiß nur, dass er am Ende aufgeben muss, sie ergießen sich über ihn, und er ergibt sich der Dunkelheit und dem Grauen.
Als die Männer mit ihren Hunden und Lampen ihn finden, liegt er auf dem Rücken, mit dem Unterkörper in einem Wasserloch, Speichel am Mund, wild dreinblickende Augen, den Kopf mit Erde verschmiert. Stunden haben sie nach ihm gesucht. Ob er denn nichts gehört hat?
Doch, schluchzt er am Hals des großen Mannes mit dem vertrauten Geruch, sein Großvater trägt ihn im Arm. Die Stimmen. Er hat Stimmen gehört.
Einer der Männer untersucht mit seiner Lampe die Lichtung, wühlt mit einem Fuß in der Erde. Hört mal, sagt er, war das nicht hier, wo die Hipo-Leute den Piloten geschnappt haben ...?
Der Großvater bringt den Mann mit einer Handbewegung und einem Blick zum Schweigen. Großvater, der alles bestimmt; Großvater, der immer alles am besten weiß.
Dann gehen sie zurück zum Haus, wo Mutter wartet. Die Mutter, die niemals spricht.
Teil 1
Samstag, 14. Juni
1
»Sieh mal, Gunnar.«
Johannes' Stimme klang aufgeregt, sein kleiner Körper bebte vor Anspannung. Gunnar lächelte innerlich. Ein Job als Naturführer auf dem Amager Fælled war sein Traumjob gewesen, seit er das Gelände als Pfadfinder erkundet hatte. Viel zu früh aufzustehen und die Freundin im Bett verlassen zu müssen war natürlich nicht so witzig. Aber es lohnte sich. Die Kinder waren mit Leib und Seele bei der Sache, saßen in der Hocke und auf den Knien, schwärmten hinter ihm aus. Nahmen jedes seiner Worte begierig auf, folgten der geringsten Bewegung. Das von Algen durchsetzte Wasser gluckste leise an das sandige, zugewachsene Ufer. Eine leichte Brise sang in den Baumkronen, die über dem Wasser hingen. Auf dem See verfolgte eine einzelne Möwe das seltsame Treiben.
Johannes hockte direkt am Wasser und zeigte auf die trockenen Reste an einem Pflanzenstängel, der sich in der leichten Brise wiegte.
»Sehr schön, Johannes. Kommt alle mal her, kommt und seht euch an, was Johannes gefunden hat.« Gunnar wartete, bis alle Kinder sich dicht um ihn geschart hatten, bevor er fortfuhr: »Das hier ist die Nymphenhaut einer großen braunen Libelle, eines unserer größten Insekten. Libellen durchlaufen eine unvollständige Verwandlung. Das heißt, sie haben kein Puppenstadium.« Er sah sich im Kreis um, um sicherzugehen, dass alle zuhörten. Die Kinder hingen an seinen Lippen. »Sie leben bis zu drei Jahre als Libellennymphen in Wasserläufen und Wasserlöchern. Und wenn sie alt genug sind, so im Mai, Juni und Juli, kriechen sie an Land und schlüpfen aus ihrer Nymphenhaut. Seht ihr die weißen Fäden dort? Das ist das Atemsystem der Nymphen, das sich im letzten Nymphenstadium öffnet, so dass die Libelle schlüpfen kann. Es wird Trachea genannt ...«
»Und wie bewegen sie sich?«, wollte einer der Jungen wissen.
»Na ja, sie haben Beine.« Gunnar lachte. Der nächste Satz war immer ein Erfolg. »Aber wenn sie im Wasser richtig schnell vorwärtskommen wollen, lassen sie einen Riesenpups. Ihr Darmsystem funktioniert nämlich wie ein Düsenmotor. Dann zischen sie nur so ab.« Er zeigte mit der Hand, wie schnell eine Libellennymphe durchs Wasser schießen konnte. Die Kinder warfen sich fast auf den Boden vor Lachen. Nur ein paar Mädchen verzogen die Gesichter und steckten die Köpfe zusammen.
Von hinten zog Ishmael an seinem Anorak.
»Warte einen Moment, Ishmael. Ich will gerade noch ...«
Der Junge zog noch einmal an ihm.
»Gunnar, sieh mal. Was ist das?«
»Wo?« Gunnar drehte sich um.
»Dort!« Der Junge zeigte auf das Ufer. Halb verborgen hinter ein paar Büschen direkt am Wasser leuchtete etwas Schwarzes, Gelbliches im Sonnenlicht. Halb lag es in dem dunklen, ruhigen Wasser.
Es war warm geworden. Er musste den Anorak ausziehen.
»Ich weiß es nicht, Ishmael. Gehen wir hin und sehen nach.«
An der Spitze der Gruppe ging Gunnar das Ufer entlang. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Über ihnen zog ein Flugzeug einen weißen Streifen durch das Blau des Himmels.
»Kinder, ihr wartet besser hier.«
Sie lag nackt auf dem Rücken am Ufer, die untere Hälfte ihrer gespreizten Beine hing im Wasser. Die Haut wachsartig, gelb. Das schwarze Haar hing in trockenen, leblosen Strähnen über dem Gesicht.
Zögernd trat er einen Schritt näher. Eine Fliege stieg aus der dunklen Grube unter ihren Augenbrauen, summte über das ruhige Wasser.
Hinter ihm fing eines der Kinder an zu weinen.
2
John Paul Jones' fallende Basslinie legte den düsteren Hintergrund für Jimmy Pages nervös-prickelnde Gitarrenarbeit. Die Kombination aus Fenderbass und Telecaster dröhnte auf eine unbeschreiblich fantastische Weise im Kopf, die besser war als Drogen und beinahe so gut wie Sex.
Been dazed and confused for so long it's not true
Wanted a woman, never bargained for you
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Ulrik Sommers Kopf auf der anderen Seite des großen dunklen Schreibtischs, eine Silhouette vor dem enormen Panoramafenster. Das Gesicht war eine einzige schwarze Fläche ... abgesehen von den Augen. Sie leuchteten.
»Ja.« Lars wippte mit seinem fast zwei Meter großen, zweiundvierzigjährigen Körper auf den Fußballen, die Augen geschlossen. Das Büro roch nach Linoleum, Staub und altem Schweiß.
Lots of people talkin', few of them know
The soul of a woman was created below
Crescendo. Das gesamte erste Album von Led Zeppelin war auf seiner inneren Festplatte gespeichert, er konnte es an- und abschalten, wie es ihm passte.
Lars öffnete die Augen. Hinter der Silhouette seines alten Freundes, entlang der Ziellinie der Edvard Falcks Gade, waren die Baumkronen des Tivoli zu sehen. Die aufragende Spitze der Schiffsschaukel und die Gondeltropfen des Riesenrads, eingefroren im Morgenlicht über den grünen Bäumen. Dahinter das SAS-Hotel, rechts die Glyptotek und die kleine Oase des Museumsgartens. In der Nacht hatte es geregnet, alles präsentierte sich in frischen und klaren Farben.
Ulriks Gesicht hatte viele Jahre so ausgesehen wie jetzt, und es würde vermutlich auch weiterhin so aussehen. Aber Ulrik und er hatten einen Wendepunkt erreicht. Irgendwo zwischen gestern und heute hatte sich alles verändert.
Allerdings sah es nicht so aus, als hätte Ulrik es verstanden.
»Hm.« Der Stellvertretende Polizeikommissar massierte sich die Stirn, blickte auf seine Schreibunterlage und fingerte am obersten Knopf seiner Uniformjacke. Er räusperte sich.
»Wo bist du gewesen?«
Lars wandte den Blick ab, hustete.
»Ich habe ein Flugzeug nach Athen genommen, mir ein Auto gemietet und bin gefahren, bis es nicht mehr weiterging.«
»Ah ja. Und wo war das?«
»Ist das nicht vollkommen egal?«
»In der Tat ...« Ulrik seufzte. »Ich bin dein Freund.«
»Du kennst es nicht. Kato Vasiliki. Ein kleiner Badeort für Griechen. Kann man überhaupt nichts groß anfangen. Ein Loch.«
Ulrik sah aus, als würde er nachdenken. Das konnte er gut. So aussehen als ob. Mehr als alles andere hatte ihm diese Fähigkeit den zusätzlichen Stern auf den Epauletten verschafft. Dann lächelte er. Über das ganze Gesicht.
»Na, dann ist es ja gut.« Er legte den Füllfederhalter fünf Zentimeter nach rechts und faltete beide Hände auf der Tischplatte. »Ich freue mich, dass du einen schönen Urlaub hattest. Wenn jemand ihn nötig hatte, dann du.« Er hielt einen Moment inne. »Ich bin bereit, so weiterzumachen wie bisher. Ich hoffe ...«
Ulrik sah ihm nicht in die Augen, während er redete. Und Lars hörte nicht zu. Eigentlich merkwürdig, dass er nicht längst auf den Gedanken gekommen war, wie ähnlich Ulrik einem Wiesel sah. Der Mund des Tieres öffnete und schloss sich, aber es kamen keine Laute heraus. Lars horchte in sich hinein, versuchte, die Wut zu finden. Aber sie war verschwunden. Es gab nur ein großes, leeres Loch.
Er war wieder zu Hause.
Die Mundbewegungen des Wiesels wurden zu Lauten, zu Worten.
»... und um dir zu zeigen, dass ich es ernst meine, habe ich das hier für dich zurückgehalten: Ein Mord, du wirst die Ermittlungen leiten. Der Anruf ging vor einer halben Stunde ein. Draußen auf dem Amager Fælled.« Das Wiesel reichte ihm eine dünne Aktenmappe über den Tisch. Lars streckte automatisch die Hand aus, um sie entgegenzunehmen. Ihre Hände berührten sich. Beide wandten den Blick ab.
Ulrik stand auf, strich über seine Uniformjacke.
»Willkommen daheim. Gut, dass du wieder da bist.« Er zögerte. Dann reichte er ihm die Hand. Lars nahm die Aktenmappe in die linke Hand und drückte Ulriks ausgestreckte Hand mit einer mechanischen Bewegung. Er musste hier raus. Sofort.
»Warte«, hielt Ulrik ihn auf. »Wir haben da ein Mädchen aus Kolding. Es heißt, sie sei tüchtig. Sie soll sich ansehen, wie wir in der Großstadt arbeiten. Ich dachte, vielleicht könntest du dich ein bisschen um sie kümmern?« Ulrik schaute auf ein Blatt auf seinem Schreibtisch. »Bissen, Sanne Bissen.«
Lars kniff die Augen zusammen. Seufzte. Genau das hatte ihm noch gefehlt.
»Ich geh runter und such mir einen Dienstwagen.«
Ulrik lächelte. Vermutlich aus Erleichterung.
Lars schwang die Jacke über die Schulter, öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um.
»Ist der Chef in seinem Büro?«
Ulrik, der im Begriff war, sich zu setzen, ließ sich vor Überraschung auf seinen Bürostuhl fallen.
»Öh, heute? Ich glaube ... hat er nicht frei?«
Lars ging, ohne zu antworten, die Tür schnitt den zweiten Teil von Ulriks Frage ab.
Im Vorzimmer blieb er einige Sekunden unentschlossen stehen, dann zog er einen Umschlag aus der Tasche und kratzte sich mit dem Rand an den etwas zu langen Bartstoppeln. Er nickte Ulriks Sekretärin zu, die ein längeres Telefonat führte, ging zu den Postfächern und legte den Umschlag in das Fach des Chefs der Mordkommission.
3
Das Ende des Artillerivej. Das Erwerbsleben bestand hier größtenteils aus Autofriedhöfen, baufälligen, mit Graffiti bemalten Lagergebäuden, die niemand mehr wirklich nutzte, Bushangars und überwucherten Bauplätzen. Auf der anderen Seite des Hafens zeichnete sich das H.-C.-Ørsted-Kraftwerk gegen den tiefblauen Himmel ab. Lars bog auf den Lossepladsvej ab, dann fuhr er einen Feldweg hinaus aufs Amager Fælled. Nach Tokes schnarrenden Anweisungen übers Handy folgte er dem System der Feldwege.
Hinter ihm wirbelten die Reifen Staubwolken auf.Vor ihm öffnete sich die schwarze Fläche des Sees, auf der anderen Seite wuchsen Büsche und Bäume. Am Ufer standen Polizisten in knallgelben Warnwesten. Nach einer Brücke parkte er hinter dem Kleinbus der Kriminaltechniker.
»Okay, Toke, ich bin da.«
Lars zog die Handbremse und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor stotterte und starb. Einen Moment trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad, dann stieg er aus. Vor ihm beschrieb der Weg eine Linkskurve. Hinter der Reihe von Fahrzeugen ein dichtes Unterholz aus kleinen Bäumen und Büschen. Tokes helles, strubbeliges Haar tauchte aus dem Grün auf.
Lars schlug die Wagentür zu und ging auf ihn zu.
»Wie sieht's aus?«
»Besser, du schaust es dir selbst an.« Toke hob das Absperrband, ließ Lars darunter durchkriechen und ging durch das dichte Gebüsch auf das Seeufer zu. »Ach ja, willkommen zurück.« Toke bog einen Ast zur Seite, um Lars vorbeizulassen. »War's ... hattest du eine schöne Reise?« Lars antwortete nicht, und Toke fuhr fort, ohne seine Tonlage zu ändern: »Ein Naturführer hat sie gefunden. Er wollte sich mit einer
4. Klasse der Peder-Lykkes-Schule ein paar Tümpel ansehen. Er sitzt in einem der Wagen, wenn du mit ihm reden willst?«
»An einem Samstag?«
»Das ist der einzige Tag, an dem er Zeit für die Führungen hat.« Toke zuckte die Achseln.
Lars brummte, wich einem Schlammloch aus.
»Ist sie bewegt worden?«
»Nein. Er sagt, er hätte nichts angefasst. So, da sind wir.«
Das Wasser war voller Algen, still breitete es sich vor ihnen aus und stöhnte unter der Junisonne. Über ihnen schrie ein Kiebitz. Am Ufer herrschte hektische Aktivität. Allan Raben, der sehr leicht ins Schwitzen kam, untersuchte vornüber- gebeugt irgendetwas am Boden zwischen Gebüsch und Ufer. Ein paar uniformierte Beamte standen abseits und teilten sich Kaffee aus einer Thermoskanne. Drei Kriminaltechniker in weißen Overalls, Gesichtsmasken und Plastiküberschuhen sicherten Spuren. Frelsén stand im Teich, über einen länglichen, gelblich weißen Körper gebeugt, der aus dem Wasser ragte und halb am Ufer lag. Als Einziger trug er Gummistiefel. Seine goldgefasste Brille hing ihm auf der Nase, das Haar stand ihm vom Kopf ab. Einer der Techniker winkte Lars zu. Seine Zähne leuchteten in dem dunklen Gesicht.
»Hej, Lars! Schön, dich wiederzusehen. Wir sind fast fertig, dann könnt ihr kommen.«
»Okay, Bint.« Lars wandte sich an Toke. »Lass den Naturführer gehen. Sag ihm, es könnte sein, dass wir ihn später noch sprechen müssen. Wo ist diese ... Bissen?«
»Bissen?«
»Sanne Bissen. Die Polizeiassistentin aus Kolding.«
»Genau hier«, ertönte eine raue Frauenstimme hinter ihm. Das Jütländische war nicht so auffällig, wie er erwartet hatte.
Lars drehte sich um. Hinter ihm stand eine hübsche blonde Frau und streckte die Hand aus. Er ergriff sie. Ein fester, trockener Händedruck. Sie war groß, beinahe schlaksig, ihr dichtes Haar fiel über Nacken und Ohren, sie hatte es sich aus dem Gesicht gekämmt, so dass man ihre lebendigen grauen Augen sah. Ein Meer aus Sommersprossen war über Nase und Wangen verstreut. Sie trug Jeans und viel zu große Gummistiefel.
»Du musst Lars sein.« Sie lächelte. Lars versuchte, ihr Lächeln zu erwidern. Es ging überraschend gut.
»Willkommen.« Dann deutete er mit einem Nicken in Richtung Leiche und sah sie an. Mal sehen, was sie draufhatte. »Kannst du mir einen schnellen Überblick geben?«
Sanne schaute von Toke zu Frelsén, der durch das flache Wasser auf sie zuwatete. Der Rechtsmediziner zog im Gehen die Latexhandschuhe aus.
»Ja, also ...«
»Nun lass doch das Mädchen in Ruhe.« Frelsén stopfte die Handschuhe in seine Gesäßtasche. »Ein interessanter Fall. Sie wurde konserviert. Die gleiche Methode, die bei Leichen angewandt wird, die für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt werden.«
»Du meinst, wir haben es hier mit einer Art Störung der Totenruhe zu tun?« Sannes Wangen röteten sich.
»Menschen, die ihren Körper der Wissenschaft vermachen, verlassen das Jammertal dieser Welt selten mit einer Kugel im Herzen.« Frelsén schob sich mit dem Zeigefinger die Brille wieder die Nase hoch. »Sehr hübsch. Direkt über der linken Brust. Bint hat eine feine Korona aus Pulverrückständen am Einschussloch gefunden. Außerdem wurden ihre Augen entfernt.«
Es wurde still.
»Bint?«, fragte Sanne nach einer Weile. Ihre Stimme bebte nur ein wenig.
»Wallid Bint«, erklärte Lars. »Wir benutzen nur selten seinen Vornamen. Okay«, sagte er an Frelsén gewandt. »Kannst du es mir bitte genau erklären?«
»Kommt mal mit.« Frelsén bedeutete ihnen, ihm zu folgen, und ging wieder ins Wasser, auf die andere Seite der Leiche. Lars, Sanne und Toke stellten sich ans Ufer. Allan blieb ein Stück entfernt stehen.
Ein Duft, der irgendwie an Krankenhaus erinnerte, hing über dem Wasser, vermischt mit dem Geruch von Algen. Lars sah nach unten.
Sie lag auf dem Rücken, nackt, mit leicht gespreizten Beinen und vorgedrücktem Brustkorb, weil sie auf einer Wurzel lag. Die gummiartige Haut hatte eine unnatürlich gelblich weiße Tönung. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knien, der Rest des Körpers lag an Land. Entweder hatte sie eine sehr spärliche Behaarung, oder das dunkle Schamhaar hatte nach einer Rasur erst wieder begonnen zu wachsen. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, und ihre Unterarme waren senkrecht ausgestreckt. Das Gesicht war zu einem Ausdruck von Entsetzen und Abscheu verzerrt. Über der linken Brust war das ausgefaserte Einschussloch der Kugel zu erkennen.
»Junge Frau«, sagte Frelsén. »Vermutlich Osteuropäerin, wahrscheinlich Prostituierte. Todesursache: ein einzelner Schuss ins Herz. Nach dem Zustand der Haut zu urteilen hat sie nicht länger als acht Stunden hier gelegen.« Er hob den Unterschenkel der Leiche, bis ihre Zehen aus dem Wasser ragten. Alle sahen die runzlige Haut, bemerkten aber auch, dass die Verwesung noch nicht sehr fortgeschritten war. Frelsén zog eine kleine Maglite aus der Brusttasche und leuchtete in die Mischung aus Schlamm, Tang und Sand unter ihrer linken Schulter. Dort glitzerte etwas.
»Bint meint, es sei Glas.«
Lars blickte über den kleinen See auf Ørestaden, das hinter der flachen Böschung lag.
»Wie lange ...?«
Frelsén richtete sich auf.
»... sie schon tot ist? Das erfordert weitere Untersuchungen. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es allerdings für vertretbar, folgende Reihenfolge festzuhalten: Zunächst wurden ihre Augen entfernt - vermutlich unter Betäubung, da die Schnitte sehr sauber sind -, danach wurde sie erschossen.«
»Hat sie ... war sie bei Bewusstsein ... währenddessen?« Sanne räusperte sich.
»Als ihr die Augen entfernt wurden? Kaum. Danach? Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ja.«
»Pfui Teufel«, flüsterte Allan hinter ihnen. Sogar die Techniker hatten ihre Arbeit unterbrochen.
Lars hob die Stimme. »Wie wurde sie hierhertransportiert? «
Allan las von seinem Notizblock ab.
»Dort drüben wurde etwas Schweres durchs Gebüsch gezogen. Bint fand ein paar Kleiderfasern, möglicherweise von einer Autodecke. Außerdem gibt es noch Fußabdrücke, Größe 45. Und oben am Schotterweg haben wir ein paar Reifen- spuren gefunden.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter.
»Gut«, sagte Lars. »Lasst die Hunde kommen. Mal sehen, ob die etwas finden.«
Frelsén rieb sich die Hände.
»Willkommen daheim, Lars. Komm mal her, hier runter«, kommandierte er mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete. Hinter ihnen balancierten ein paar Sanitäter eine Bahre die bewachsene Böschung hinunter.
Lars schloss die Augen. Wünschte sich zurück nach Kato Vasiliki, zurück in Nikkis Strandrestaurant, zurück an den Ort, an dem es nichts zu tun gab, außer Frappé und Amstel- Halbe zu trinken und über das Wasser auf Patras zu schauen.
4
Es war beinahe sieben, als Lars endlich die Haustür am Folmer Bendtsens Plads 2 aufschloss. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, rumpelte eine S-Bahn von der Haltestelle Nørrebro los. Der Lärm und der Luftdruck ließen die Aushänger der Zeitungen am Kiosk nebenan flattern. Eine einzelne Zeitungsseite wurde auf die Fahrbahn geweht.Aus dem Ring-Café im Erdgeschoss rechts war Flaschenklirren zu hören. Ein Besoffener wurde von seinen Kumpels beruhigt. Mit einer müden Bewegung schob Lars die Tür auf, griff nach der Tüte aus dem Thai-Take-away und stapfte in die zweite Etage. Der erste Arbeitstag nach zwei Monaten Urlaub. Er schaffte es kaum über die Schwelle.
Nach dem Abtransport der Leiche hatte Lars Allan losgeschickt. Zum Copenhagen Danhostel Amager und zu den Kleingärtnervereinen. Laut Frelsén war die Leiche nach Mitternacht an den Fundort gebracht worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand etwas gesehen hatte, war verschwindend gering. Trotzdem musste gefragt werden. Wie immer. Sanne und Toke fuhren mit einem Polaroidfoto des Gesichts der Toten nach Vesterbro, sie sollten es dort den Mädchen auf der Straße zeigen. Hoffentlich gab es jemanden, der sie kannte. Wenn nicht, konnte sich die Identifizierung hinziehen. Er selbst war sämtliche Berichte über verschwundene Personen aus den letzten drei Monaten durchgegangen. Ohne Resultat.
Weder Allan noch Sanne und Toke waren zurückgekommen, und nach viel zu vielen Tassen Kaffee und viel zu vielen Berichten - Ulrik kam zwei Mal zu ihm ins Büro, sie hatten lediglich wenige, eher einsilbige Sätze gewechselt - war er aufgestanden und gegangen.
Ein dumpfer, leicht muffiger Geruch schlug ihm entgegen, als die Tür aufging. Er hatte die Wohnung nicht mehr betreten, seit er seine Sachen hierhergebracht hatte ... am Abend, bevor er nach Athen geflogen war.
Die Wohnung bestand aus einem kleinen Flur, zwei Zimmern zur Straße, einem Schlafzimmer und einer Küche zum Hof. Das winzige Badezimmer befand sich links, direkt neben der Wohnungstür. Unglaublich, dass es der Stadtsanierungsbehörde gelungen war, hier eine Dusche unterzubringen. Alles würde nass werden, aber immerhin gab es ein Badezimmer.
Im ersten Zimmer standen die Umzugskartons mit der Stereoanlage und den LPs, außerdem ein Tisch. Er stellte die Tüte mit dem Essen auf den Tisch, ließ sich auf einen Stuhl fallen, streifte seine Sneakers ab und warf seine Jacke in die Ecke. Steckte sich eine King's an und legte die Beine hoch.
Ahh.
Während ihm das Nikotin durch den Körper strömte und ins Gehirn schoss, sah er sich um. Raufasertapete, achtziger Jahre. Die Farbe an den Wänden und der Decke war vermutlich irgendwann einmal weiß gewesen, doch nach knapp dreißig Jahren und unzähligen Zigaretten hatte sie einen unbestimmbar gelblichen Ton angenommen. Dagegen musste etwas getan werden. Er stand mit der Zigarette im Mundwinkel auf, schob die Hände in die Hosentaschen und ging durch die Tür in das andere Zimmer. Noch mehr Kartons, ein zerschlissenes Sofa, der Fernseher. Er öffnete die Balkontür. Die Türangeln kreischten. Der Zigarettenrauch vermischte sich mit Benzingestank und dem Geruch des warmen Asphalts. Ein auberginefarbener Toyota, der kurz vorm Auseinanderfallen war, tuckerte klappernd in den Kreisel. Straßen, Bürgersteige, Häuser, alles war durchgebacken, stank nach stickiger Sonnenhitze. Lars rollte die Hemdsärmel auf und zog an seiner Zigarette. Betrachtete die Aussicht über den Folmer Bendtsens Plads unter der Hochbahn, an dem der Ørnevej auf die Bregnerødgade traf. Auf der anderen Seite des Kreisels das Geschäft eines Gemüsehändlers, außerdem ein Laden, der laut Firmenschild Auspufftöpfe verkaufte.
Das sollte also nun sein Zuhause sein ...
Er schnipste die Kippe vom Balkon und ging wieder in die Wohnung, ließ die Tür offen stehen. Er schaute in die Küche. Eine Kopenhagener Standardküche mit zwei schmalen Fenstern zu einem dunklen Hof. Er stellte die Milch in den Kühlschrank, den Kaffee und die Haferflocken in den von einer fettigen Schicht überzogenen Oberschrank. Dann suchte er den Umzugskarton mit dem Geschirr, fischte einen Teller und eine Gabel heraus und wusch sie ab.
Das Bild der toten Frau wollte nicht verschwinden. Nackt und verletzlich am Ufer, die leeren Augenhöhlen starrten ins Nichts. Lars trocknete die Gabel ab, legte sie auf den Teller und ging ins Wohnzimmer. Er hatte Hunger, aber erst musste er die Stereoanlage aufbauen. Ohne Musik ging es nicht.
Er fand das flache Regal, stellte Verstärker, Vorverstärker und Lautsprecher an ihren Platz, verkabelte die einzelnen Teile und steckte den Stecker in die Dose. Jetzt fehlte nur noch der Plattenspieler. Der alte Rega P1. Er hob ihn aus dem Umzugskarton, platzierte ihn neben den Verstärker aufs Regal, steckte die Kabel ein.
Es dauerte eine Weile, bis er den Karton mit den LPs gefunden hatte, doch schließlich setzte er die Nadel auf Get Yer Ya-Ya's Out und konnte sich seinem Hühnchen mit Cashewnüssen und scharfem Chili widmen.
Nach dem Essen schloss er im zweiten Zimmer den Fernseher an. Er drehte ihn so, dass er vom Tisch aus den Bildschirm sehen konnte, und stellte den Ton leise. Eine dieser Heimwerker-Sendungen. Ein Schauspieler half einem Buchhalter, eine überdachte Terrasse für sein Reihenhaus zu bauen. Lars verschränkte die Hände im Nacken und wippte auf dem Stuhl.
Wieso hatte der Täter ihre Augen entfernt? Hatte sie etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte? Was sie nicht sehen durfte?
Er blies einen ausgefransten Rauchring an die Decke.
In der Wohnung über ihm tat es einen gewaltigen Schlag, gefolgt von lautstarkem Fluchen.
Noch zwei Monate in diesem Vakuum, dann war er weg.
Mai 1953
Er saß auf dem Sofa, seit Großvater und die Männer ihn am Abend zuvor aus dem Wald geholt hatten. Am Morgen hatte der Großvater einen kurzen Blick auf ihn geworfen. Dann hatte er sich seine Arzttasche gegriffen und war zu seinen Krankenbesuchen aufgebrochen. Mutter starrt in ihrem Schaukelstuhl in die Luft. Wie immer.
Krii krii, krii krii, Mutter schaukelt hin und her. Er steht auf und streichelt ihr über die porzellanblasse Wange. Die schlaffe Haut bebt, entzieht sich seinen Fingern.
Sie muss sich stärken. Er zieht die Jacke an, geht in die Küche. Gießt Wasser in einen Topf und macht Feuer in dem alten gusseisernen Ofen. Heißer Saft. Aus den Tassen mit den englischen Motiven, die zu benutzen Großvater ihnen verboten hat.
Auf dem Weg in den Keller schaut er zu Mutter hinein. Sie sitzt da, wie er sie verlassen hat, mit versteinerter Miene, die Hände im Schoß gefaltet. Der Schaukelstuhl in der leeren Stube. Sonnenlicht fällt durchs Fenster, Rechtecke und Quadrate auf den breiten Bodendielen. Der Staub tanzt im Licht. Er läuft in den Keller, bemüht sich, den ganzen Krempel, den Großvater im Keller aufbewahrt, zu ignorieren. Findet die Tasse und die Untertasse in der Vitrine.
Rennt die Treppen hinauf. Die Stimmen vermeiden.
In der Küche kocht das Wasser. Er füllt die Tassen zur Hälfte mit Ribena, dem Schwarze-Johannisbeeren-Saft, und gießt ihn mit Wasser auf. Zerbröselt einen Zwieback in der dicken Saftmischung. Er hat den Teelöffel bereits in der Hand, als er die Scharte in der Untertasse bemerkt. Am Rand ist ein Splitter herausgeschlagen, der Sprung breitet sich aus, zieht sich durch die Glasur. Ein plötzlicher Wutanfall steigt in ihm auf. Heute hat alles perfekt zu sein. Er stößt die Tasse von der Untertasse. Saft und Zwieback-Krümel schwappen über den Küchentisch. Die Untertasse landet in der Spüle, zersplittert. Zerschlagenes Porzellan klirrt im Ausguss.
Noch einmal muss er in den Keller, muss sich in seinen Knickerbockers an Großvaters Sachen vorbeidrücken.
Unten an der Treppe steht die Tür der Vitrine offen. Hatte er sie vorhin geschlossen? Aus dem Wohnzimmer dringt das monotone Knirschen des Schaukelstuhls. Er greift nach der letzten Untertasse, seine Finger schließen sich um das Porzellan und streifen dabei einen Nagel, der ganz hinten in der Ecke herausragt. Mit einem leisen Klicken versinkt der Nagel, und die Vitrine dreht sich auf ihn zu. Dahinter ein schwarzes Loch in der Wand. Abgestandene Luft strömt ihm entgegen, Verwesung und Chemikalien.
Er findet einen Kerzenstummel im Regal neben dem Schrank, zündet ihn an. Die Dunkelheit ist so groß, dass sie die Strahlen der Flamme verschluckt.Vorsichtig setzt er einen Fuß auf einen der Regalböden, steigt hinauf. Durch die Öffnung in der Wand sieht er die obersten Stufen einer Treppe unter sich.
Fünfzehn Stufen zählt er, bevor er sich auf die Treppe wagt und sich mit dem Kerzenstummel vortastet, den er wie einen Schild vor sich trägt. Unstete Formen tanzen auf der Grenze des Lichtkreises, erwachen mit jedem Flickflack, den die Flamme schlägt, zum Leben.An den Wänden Regale, Schachteln und Kisten mit Zetteln und aufgemalten Bezeichnungen: Cyclotol, Husqvarna, Composition B. Andere, die er nicht kennt. Hirtenberger 5,6 x 50 Mag.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München.
Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser -
Denn hier kommt der Dicke mit dem Schlachtermesser
Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser -
Denn hier kommt der Dicke mit dem Schlachtermesser
Die Kolonne schlängelt sich über den Strandvejen und verschwindet zwischen den Baumstämmen. Der Nachzügler muss ein Cabriolet abwarten, das Richtung Norden fährt. Aus dem vorbeifahrenden Wagen lächelt ihm vom Beifahrersitz ein blondes Mädchen zu. Dann ist das Auto verschwunden, und er kann über die Straße gehen.
Das Echo der Stimmen vibriert noch immer zwischen den Bäumen:
Dünner, Dünner, um dein Leben lauf besser ...
Auf der anderen Straßenseite fängt er an zu laufen. Der Rucksack hüpft. Das kalte Metallgestell schlägt ihm gegen die Nieren. Bald gibt es nur noch den Sturm, der durch die Baumkronen fährt, und das heisere Keuchen seines Atems. Den pumpenden Doppelschlag seines Herzens. Vor seinen Augen beginnen die Bäume, sich zu drehen. Eine Baumwurzel greift nach ihm, erwischt seinen Fuß, er stürzt auf den Waldboden. Die krummen Äste strecken sich ihm entgegen, fangen ihn auf. Er will schreien, aber er kann nicht. Sein Mund ist voller Erde und welker Blätter. In einem stummen Schrei um Hilfe streckt er die Arme aus.
Und dann, mit einem Mal, ist es überstanden. Er liegt auf dem nackten Waldboden, ringt nach Atem, stöhnt vor Schmerz, spuckt Erde und Blätter aus. Er ist allein in der Dämmerung. Und in den Baumwipfeln beginnt es zu singen, immer lauter. Er setzt sich auf, umklammert die Knie mit den Händen, verbirgt sein Gesicht. Die schmalen Schultern zittern.
Dann kommen die Stimmen.
Sie heulen mit dem Sturm, schlingen sich um ihn, reiten auf ihm, steigen und fallen in einer langsam kreisenden Kadenz, die mit der Ablösung der sanften Dämmerung durch die Nacht immer lauter wird. Er weiß nicht, wie lange diese rasende Attacke der Stimmen dauert. Er weiß nur, dass er am Ende aufgeben muss, sie ergießen sich über ihn, und er ergibt sich der Dunkelheit und dem Grauen.
Als die Männer mit ihren Hunden und Lampen ihn finden, liegt er auf dem Rücken, mit dem Unterkörper in einem Wasserloch, Speichel am Mund, wild dreinblickende Augen, den Kopf mit Erde verschmiert. Stunden haben sie nach ihm gesucht. Ob er denn nichts gehört hat?
Doch, schluchzt er am Hals des großen Mannes mit dem vertrauten Geruch, sein Großvater trägt ihn im Arm. Die Stimmen. Er hat Stimmen gehört.
Einer der Männer untersucht mit seiner Lampe die Lichtung, wühlt mit einem Fuß in der Erde. Hört mal, sagt er, war das nicht hier, wo die Hipo-Leute den Piloten geschnappt haben ...?
Der Großvater bringt den Mann mit einer Handbewegung und einem Blick zum Schweigen. Großvater, der alles bestimmt; Großvater, der immer alles am besten weiß.
Dann gehen sie zurück zum Haus, wo Mutter wartet. Die Mutter, die niemals spricht.
Teil 1
Samstag, 14. Juni
1
»Sieh mal, Gunnar.«
Johannes' Stimme klang aufgeregt, sein kleiner Körper bebte vor Anspannung. Gunnar lächelte innerlich. Ein Job als Naturführer auf dem Amager Fælled war sein Traumjob gewesen, seit er das Gelände als Pfadfinder erkundet hatte. Viel zu früh aufzustehen und die Freundin im Bett verlassen zu müssen war natürlich nicht so witzig. Aber es lohnte sich. Die Kinder waren mit Leib und Seele bei der Sache, saßen in der Hocke und auf den Knien, schwärmten hinter ihm aus. Nahmen jedes seiner Worte begierig auf, folgten der geringsten Bewegung. Das von Algen durchsetzte Wasser gluckste leise an das sandige, zugewachsene Ufer. Eine leichte Brise sang in den Baumkronen, die über dem Wasser hingen. Auf dem See verfolgte eine einzelne Möwe das seltsame Treiben.
Johannes hockte direkt am Wasser und zeigte auf die trockenen Reste an einem Pflanzenstängel, der sich in der leichten Brise wiegte.
»Sehr schön, Johannes. Kommt alle mal her, kommt und seht euch an, was Johannes gefunden hat.« Gunnar wartete, bis alle Kinder sich dicht um ihn geschart hatten, bevor er fortfuhr: »Das hier ist die Nymphenhaut einer großen braunen Libelle, eines unserer größten Insekten. Libellen durchlaufen eine unvollständige Verwandlung. Das heißt, sie haben kein Puppenstadium.« Er sah sich im Kreis um, um sicherzugehen, dass alle zuhörten. Die Kinder hingen an seinen Lippen. »Sie leben bis zu drei Jahre als Libellennymphen in Wasserläufen und Wasserlöchern. Und wenn sie alt genug sind, so im Mai, Juni und Juli, kriechen sie an Land und schlüpfen aus ihrer Nymphenhaut. Seht ihr die weißen Fäden dort? Das ist das Atemsystem der Nymphen, das sich im letzten Nymphenstadium öffnet, so dass die Libelle schlüpfen kann. Es wird Trachea genannt ...«
»Und wie bewegen sie sich?«, wollte einer der Jungen wissen.
»Na ja, sie haben Beine.« Gunnar lachte. Der nächste Satz war immer ein Erfolg. »Aber wenn sie im Wasser richtig schnell vorwärtskommen wollen, lassen sie einen Riesenpups. Ihr Darmsystem funktioniert nämlich wie ein Düsenmotor. Dann zischen sie nur so ab.« Er zeigte mit der Hand, wie schnell eine Libellennymphe durchs Wasser schießen konnte. Die Kinder warfen sich fast auf den Boden vor Lachen. Nur ein paar Mädchen verzogen die Gesichter und steckten die Köpfe zusammen.
Von hinten zog Ishmael an seinem Anorak.
»Warte einen Moment, Ishmael. Ich will gerade noch ...«
Der Junge zog noch einmal an ihm.
»Gunnar, sieh mal. Was ist das?«
»Wo?« Gunnar drehte sich um.
»Dort!« Der Junge zeigte auf das Ufer. Halb verborgen hinter ein paar Büschen direkt am Wasser leuchtete etwas Schwarzes, Gelbliches im Sonnenlicht. Halb lag es in dem dunklen, ruhigen Wasser.
Es war warm geworden. Er musste den Anorak ausziehen.
»Ich weiß es nicht, Ishmael. Gehen wir hin und sehen nach.«
An der Spitze der Gruppe ging Gunnar das Ufer entlang. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Über ihnen zog ein Flugzeug einen weißen Streifen durch das Blau des Himmels.
»Kinder, ihr wartet besser hier.«
Sie lag nackt auf dem Rücken am Ufer, die untere Hälfte ihrer gespreizten Beine hing im Wasser. Die Haut wachsartig, gelb. Das schwarze Haar hing in trockenen, leblosen Strähnen über dem Gesicht.
Zögernd trat er einen Schritt näher. Eine Fliege stieg aus der dunklen Grube unter ihren Augenbrauen, summte über das ruhige Wasser.
Hinter ihm fing eines der Kinder an zu weinen.
2
John Paul Jones' fallende Basslinie legte den düsteren Hintergrund für Jimmy Pages nervös-prickelnde Gitarrenarbeit. Die Kombination aus Fenderbass und Telecaster dröhnte auf eine unbeschreiblich fantastische Weise im Kopf, die besser war als Drogen und beinahe so gut wie Sex.
Been dazed and confused for so long it's not true
Wanted a woman, never bargained for you
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Ulrik Sommers Kopf auf der anderen Seite des großen dunklen Schreibtischs, eine Silhouette vor dem enormen Panoramafenster. Das Gesicht war eine einzige schwarze Fläche ... abgesehen von den Augen. Sie leuchteten.
»Ja.« Lars wippte mit seinem fast zwei Meter großen, zweiundvierzigjährigen Körper auf den Fußballen, die Augen geschlossen. Das Büro roch nach Linoleum, Staub und altem Schweiß.
Lots of people talkin', few of them know
The soul of a woman was created below
Crescendo. Das gesamte erste Album von Led Zeppelin war auf seiner inneren Festplatte gespeichert, er konnte es an- und abschalten, wie es ihm passte.
Lars öffnete die Augen. Hinter der Silhouette seines alten Freundes, entlang der Ziellinie der Edvard Falcks Gade, waren die Baumkronen des Tivoli zu sehen. Die aufragende Spitze der Schiffsschaukel und die Gondeltropfen des Riesenrads, eingefroren im Morgenlicht über den grünen Bäumen. Dahinter das SAS-Hotel, rechts die Glyptotek und die kleine Oase des Museumsgartens. In der Nacht hatte es geregnet, alles präsentierte sich in frischen und klaren Farben.
Ulriks Gesicht hatte viele Jahre so ausgesehen wie jetzt, und es würde vermutlich auch weiterhin so aussehen. Aber Ulrik und er hatten einen Wendepunkt erreicht. Irgendwo zwischen gestern und heute hatte sich alles verändert.
Allerdings sah es nicht so aus, als hätte Ulrik es verstanden.
»Hm.« Der Stellvertretende Polizeikommissar massierte sich die Stirn, blickte auf seine Schreibunterlage und fingerte am obersten Knopf seiner Uniformjacke. Er räusperte sich.
»Wo bist du gewesen?«
Lars wandte den Blick ab, hustete.
»Ich habe ein Flugzeug nach Athen genommen, mir ein Auto gemietet und bin gefahren, bis es nicht mehr weiterging.«
»Ah ja. Und wo war das?«
»Ist das nicht vollkommen egal?«
»In der Tat ...« Ulrik seufzte. »Ich bin dein Freund.«
»Du kennst es nicht. Kato Vasiliki. Ein kleiner Badeort für Griechen. Kann man überhaupt nichts groß anfangen. Ein Loch.«
Ulrik sah aus, als würde er nachdenken. Das konnte er gut. So aussehen als ob. Mehr als alles andere hatte ihm diese Fähigkeit den zusätzlichen Stern auf den Epauletten verschafft. Dann lächelte er. Über das ganze Gesicht.
»Na, dann ist es ja gut.« Er legte den Füllfederhalter fünf Zentimeter nach rechts und faltete beide Hände auf der Tischplatte. »Ich freue mich, dass du einen schönen Urlaub hattest. Wenn jemand ihn nötig hatte, dann du.« Er hielt einen Moment inne. »Ich bin bereit, so weiterzumachen wie bisher. Ich hoffe ...«
Ulrik sah ihm nicht in die Augen, während er redete. Und Lars hörte nicht zu. Eigentlich merkwürdig, dass er nicht längst auf den Gedanken gekommen war, wie ähnlich Ulrik einem Wiesel sah. Der Mund des Tieres öffnete und schloss sich, aber es kamen keine Laute heraus. Lars horchte in sich hinein, versuchte, die Wut zu finden. Aber sie war verschwunden. Es gab nur ein großes, leeres Loch.
Er war wieder zu Hause.
Die Mundbewegungen des Wiesels wurden zu Lauten, zu Worten.
»... und um dir zu zeigen, dass ich es ernst meine, habe ich das hier für dich zurückgehalten: Ein Mord, du wirst die Ermittlungen leiten. Der Anruf ging vor einer halben Stunde ein. Draußen auf dem Amager Fælled.« Das Wiesel reichte ihm eine dünne Aktenmappe über den Tisch. Lars streckte automatisch die Hand aus, um sie entgegenzunehmen. Ihre Hände berührten sich. Beide wandten den Blick ab.
Ulrik stand auf, strich über seine Uniformjacke.
»Willkommen daheim. Gut, dass du wieder da bist.« Er zögerte. Dann reichte er ihm die Hand. Lars nahm die Aktenmappe in die linke Hand und drückte Ulriks ausgestreckte Hand mit einer mechanischen Bewegung. Er musste hier raus. Sofort.
»Warte«, hielt Ulrik ihn auf. »Wir haben da ein Mädchen aus Kolding. Es heißt, sie sei tüchtig. Sie soll sich ansehen, wie wir in der Großstadt arbeiten. Ich dachte, vielleicht könntest du dich ein bisschen um sie kümmern?« Ulrik schaute auf ein Blatt auf seinem Schreibtisch. »Bissen, Sanne Bissen.«
Lars kniff die Augen zusammen. Seufzte. Genau das hatte ihm noch gefehlt.
»Ich geh runter und such mir einen Dienstwagen.«
Ulrik lächelte. Vermutlich aus Erleichterung.
Lars schwang die Jacke über die Schulter, öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um.
»Ist der Chef in seinem Büro?«
Ulrik, der im Begriff war, sich zu setzen, ließ sich vor Überraschung auf seinen Bürostuhl fallen.
»Öh, heute? Ich glaube ... hat er nicht frei?«
Lars ging, ohne zu antworten, die Tür schnitt den zweiten Teil von Ulriks Frage ab.
Im Vorzimmer blieb er einige Sekunden unentschlossen stehen, dann zog er einen Umschlag aus der Tasche und kratzte sich mit dem Rand an den etwas zu langen Bartstoppeln. Er nickte Ulriks Sekretärin zu, die ein längeres Telefonat führte, ging zu den Postfächern und legte den Umschlag in das Fach des Chefs der Mordkommission.
3
Das Ende des Artillerivej. Das Erwerbsleben bestand hier größtenteils aus Autofriedhöfen, baufälligen, mit Graffiti bemalten Lagergebäuden, die niemand mehr wirklich nutzte, Bushangars und überwucherten Bauplätzen. Auf der anderen Seite des Hafens zeichnete sich das H.-C.-Ørsted-Kraftwerk gegen den tiefblauen Himmel ab. Lars bog auf den Lossepladsvej ab, dann fuhr er einen Feldweg hinaus aufs Amager Fælled. Nach Tokes schnarrenden Anweisungen übers Handy folgte er dem System der Feldwege.
Hinter ihm wirbelten die Reifen Staubwolken auf.Vor ihm öffnete sich die schwarze Fläche des Sees, auf der anderen Seite wuchsen Büsche und Bäume. Am Ufer standen Polizisten in knallgelben Warnwesten. Nach einer Brücke parkte er hinter dem Kleinbus der Kriminaltechniker.
»Okay, Toke, ich bin da.«
Lars zog die Handbremse und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor stotterte und starb. Einen Moment trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad, dann stieg er aus. Vor ihm beschrieb der Weg eine Linkskurve. Hinter der Reihe von Fahrzeugen ein dichtes Unterholz aus kleinen Bäumen und Büschen. Tokes helles, strubbeliges Haar tauchte aus dem Grün auf.
Lars schlug die Wagentür zu und ging auf ihn zu.
»Wie sieht's aus?«
»Besser, du schaust es dir selbst an.« Toke hob das Absperrband, ließ Lars darunter durchkriechen und ging durch das dichte Gebüsch auf das Seeufer zu. »Ach ja, willkommen zurück.« Toke bog einen Ast zur Seite, um Lars vorbeizulassen. »War's ... hattest du eine schöne Reise?« Lars antwortete nicht, und Toke fuhr fort, ohne seine Tonlage zu ändern: »Ein Naturführer hat sie gefunden. Er wollte sich mit einer
4. Klasse der Peder-Lykkes-Schule ein paar Tümpel ansehen. Er sitzt in einem der Wagen, wenn du mit ihm reden willst?«
»An einem Samstag?«
»Das ist der einzige Tag, an dem er Zeit für die Führungen hat.« Toke zuckte die Achseln.
Lars brummte, wich einem Schlammloch aus.
»Ist sie bewegt worden?«
»Nein. Er sagt, er hätte nichts angefasst. So, da sind wir.«
Das Wasser war voller Algen, still breitete es sich vor ihnen aus und stöhnte unter der Junisonne. Über ihnen schrie ein Kiebitz. Am Ufer herrschte hektische Aktivität. Allan Raben, der sehr leicht ins Schwitzen kam, untersuchte vornüber- gebeugt irgendetwas am Boden zwischen Gebüsch und Ufer. Ein paar uniformierte Beamte standen abseits und teilten sich Kaffee aus einer Thermoskanne. Drei Kriminaltechniker in weißen Overalls, Gesichtsmasken und Plastiküberschuhen sicherten Spuren. Frelsén stand im Teich, über einen länglichen, gelblich weißen Körper gebeugt, der aus dem Wasser ragte und halb am Ufer lag. Als Einziger trug er Gummistiefel. Seine goldgefasste Brille hing ihm auf der Nase, das Haar stand ihm vom Kopf ab. Einer der Techniker winkte Lars zu. Seine Zähne leuchteten in dem dunklen Gesicht.
»Hej, Lars! Schön, dich wiederzusehen. Wir sind fast fertig, dann könnt ihr kommen.«
»Okay, Bint.« Lars wandte sich an Toke. »Lass den Naturführer gehen. Sag ihm, es könnte sein, dass wir ihn später noch sprechen müssen. Wo ist diese ... Bissen?«
»Bissen?«
»Sanne Bissen. Die Polizeiassistentin aus Kolding.«
»Genau hier«, ertönte eine raue Frauenstimme hinter ihm. Das Jütländische war nicht so auffällig, wie er erwartet hatte.
Lars drehte sich um. Hinter ihm stand eine hübsche blonde Frau und streckte die Hand aus. Er ergriff sie. Ein fester, trockener Händedruck. Sie war groß, beinahe schlaksig, ihr dichtes Haar fiel über Nacken und Ohren, sie hatte es sich aus dem Gesicht gekämmt, so dass man ihre lebendigen grauen Augen sah. Ein Meer aus Sommersprossen war über Nase und Wangen verstreut. Sie trug Jeans und viel zu große Gummistiefel.
»Du musst Lars sein.« Sie lächelte. Lars versuchte, ihr Lächeln zu erwidern. Es ging überraschend gut.
»Willkommen.« Dann deutete er mit einem Nicken in Richtung Leiche und sah sie an. Mal sehen, was sie draufhatte. »Kannst du mir einen schnellen Überblick geben?«
Sanne schaute von Toke zu Frelsén, der durch das flache Wasser auf sie zuwatete. Der Rechtsmediziner zog im Gehen die Latexhandschuhe aus.
»Ja, also ...«
»Nun lass doch das Mädchen in Ruhe.« Frelsén stopfte die Handschuhe in seine Gesäßtasche. »Ein interessanter Fall. Sie wurde konserviert. Die gleiche Methode, die bei Leichen angewandt wird, die für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt werden.«
»Du meinst, wir haben es hier mit einer Art Störung der Totenruhe zu tun?« Sannes Wangen röteten sich.
»Menschen, die ihren Körper der Wissenschaft vermachen, verlassen das Jammertal dieser Welt selten mit einer Kugel im Herzen.« Frelsén schob sich mit dem Zeigefinger die Brille wieder die Nase hoch. »Sehr hübsch. Direkt über der linken Brust. Bint hat eine feine Korona aus Pulverrückständen am Einschussloch gefunden. Außerdem wurden ihre Augen entfernt.«
Es wurde still.
»Bint?«, fragte Sanne nach einer Weile. Ihre Stimme bebte nur ein wenig.
»Wallid Bint«, erklärte Lars. »Wir benutzen nur selten seinen Vornamen. Okay«, sagte er an Frelsén gewandt. »Kannst du es mir bitte genau erklären?«
»Kommt mal mit.« Frelsén bedeutete ihnen, ihm zu folgen, und ging wieder ins Wasser, auf die andere Seite der Leiche. Lars, Sanne und Toke stellten sich ans Ufer. Allan blieb ein Stück entfernt stehen.
Ein Duft, der irgendwie an Krankenhaus erinnerte, hing über dem Wasser, vermischt mit dem Geruch von Algen. Lars sah nach unten.
Sie lag auf dem Rücken, nackt, mit leicht gespreizten Beinen und vorgedrücktem Brustkorb, weil sie auf einer Wurzel lag. Die gummiartige Haut hatte eine unnatürlich gelblich weiße Tönung. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knien, der Rest des Körpers lag an Land. Entweder hatte sie eine sehr spärliche Behaarung, oder das dunkle Schamhaar hatte nach einer Rasur erst wieder begonnen zu wachsen. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, und ihre Unterarme waren senkrecht ausgestreckt. Das Gesicht war zu einem Ausdruck von Entsetzen und Abscheu verzerrt. Über der linken Brust war das ausgefaserte Einschussloch der Kugel zu erkennen.
»Junge Frau«, sagte Frelsén. »Vermutlich Osteuropäerin, wahrscheinlich Prostituierte. Todesursache: ein einzelner Schuss ins Herz. Nach dem Zustand der Haut zu urteilen hat sie nicht länger als acht Stunden hier gelegen.« Er hob den Unterschenkel der Leiche, bis ihre Zehen aus dem Wasser ragten. Alle sahen die runzlige Haut, bemerkten aber auch, dass die Verwesung noch nicht sehr fortgeschritten war. Frelsén zog eine kleine Maglite aus der Brusttasche und leuchtete in die Mischung aus Schlamm, Tang und Sand unter ihrer linken Schulter. Dort glitzerte etwas.
»Bint meint, es sei Glas.«
Lars blickte über den kleinen See auf Ørestaden, das hinter der flachen Böschung lag.
»Wie lange ...?«
Frelsén richtete sich auf.
»... sie schon tot ist? Das erfordert weitere Untersuchungen. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es allerdings für vertretbar, folgende Reihenfolge festzuhalten: Zunächst wurden ihre Augen entfernt - vermutlich unter Betäubung, da die Schnitte sehr sauber sind -, danach wurde sie erschossen.«
»Hat sie ... war sie bei Bewusstsein ... währenddessen?« Sanne räusperte sich.
»Als ihr die Augen entfernt wurden? Kaum. Danach? Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ja.«
»Pfui Teufel«, flüsterte Allan hinter ihnen. Sogar die Techniker hatten ihre Arbeit unterbrochen.
Lars hob die Stimme. »Wie wurde sie hierhertransportiert? «
Allan las von seinem Notizblock ab.
»Dort drüben wurde etwas Schweres durchs Gebüsch gezogen. Bint fand ein paar Kleiderfasern, möglicherweise von einer Autodecke. Außerdem gibt es noch Fußabdrücke, Größe 45. Und oben am Schotterweg haben wir ein paar Reifen- spuren gefunden.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter.
»Gut«, sagte Lars. »Lasst die Hunde kommen. Mal sehen, ob die etwas finden.«
Frelsén rieb sich die Hände.
»Willkommen daheim, Lars. Komm mal her, hier runter«, kommandierte er mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete. Hinter ihnen balancierten ein paar Sanitäter eine Bahre die bewachsene Böschung hinunter.
Lars schloss die Augen. Wünschte sich zurück nach Kato Vasiliki, zurück in Nikkis Strandrestaurant, zurück an den Ort, an dem es nichts zu tun gab, außer Frappé und Amstel- Halbe zu trinken und über das Wasser auf Patras zu schauen.
4
Es war beinahe sieben, als Lars endlich die Haustür am Folmer Bendtsens Plads 2 aufschloss. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, rumpelte eine S-Bahn von der Haltestelle Nørrebro los. Der Lärm und der Luftdruck ließen die Aushänger der Zeitungen am Kiosk nebenan flattern. Eine einzelne Zeitungsseite wurde auf die Fahrbahn geweht.Aus dem Ring-Café im Erdgeschoss rechts war Flaschenklirren zu hören. Ein Besoffener wurde von seinen Kumpels beruhigt. Mit einer müden Bewegung schob Lars die Tür auf, griff nach der Tüte aus dem Thai-Take-away und stapfte in die zweite Etage. Der erste Arbeitstag nach zwei Monaten Urlaub. Er schaffte es kaum über die Schwelle.
Nach dem Abtransport der Leiche hatte Lars Allan losgeschickt. Zum Copenhagen Danhostel Amager und zu den Kleingärtnervereinen. Laut Frelsén war die Leiche nach Mitternacht an den Fundort gebracht worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand etwas gesehen hatte, war verschwindend gering. Trotzdem musste gefragt werden. Wie immer. Sanne und Toke fuhren mit einem Polaroidfoto des Gesichts der Toten nach Vesterbro, sie sollten es dort den Mädchen auf der Straße zeigen. Hoffentlich gab es jemanden, der sie kannte. Wenn nicht, konnte sich die Identifizierung hinziehen. Er selbst war sämtliche Berichte über verschwundene Personen aus den letzten drei Monaten durchgegangen. Ohne Resultat.
Weder Allan noch Sanne und Toke waren zurückgekommen, und nach viel zu vielen Tassen Kaffee und viel zu vielen Berichten - Ulrik kam zwei Mal zu ihm ins Büro, sie hatten lediglich wenige, eher einsilbige Sätze gewechselt - war er aufgestanden und gegangen.
Ein dumpfer, leicht muffiger Geruch schlug ihm entgegen, als die Tür aufging. Er hatte die Wohnung nicht mehr betreten, seit er seine Sachen hierhergebracht hatte ... am Abend, bevor er nach Athen geflogen war.
Die Wohnung bestand aus einem kleinen Flur, zwei Zimmern zur Straße, einem Schlafzimmer und einer Küche zum Hof. Das winzige Badezimmer befand sich links, direkt neben der Wohnungstür. Unglaublich, dass es der Stadtsanierungsbehörde gelungen war, hier eine Dusche unterzubringen. Alles würde nass werden, aber immerhin gab es ein Badezimmer.
Im ersten Zimmer standen die Umzugskartons mit der Stereoanlage und den LPs, außerdem ein Tisch. Er stellte die Tüte mit dem Essen auf den Tisch, ließ sich auf einen Stuhl fallen, streifte seine Sneakers ab und warf seine Jacke in die Ecke. Steckte sich eine King's an und legte die Beine hoch.
Ahh.
Während ihm das Nikotin durch den Körper strömte und ins Gehirn schoss, sah er sich um. Raufasertapete, achtziger Jahre. Die Farbe an den Wänden und der Decke war vermutlich irgendwann einmal weiß gewesen, doch nach knapp dreißig Jahren und unzähligen Zigaretten hatte sie einen unbestimmbar gelblichen Ton angenommen. Dagegen musste etwas getan werden. Er stand mit der Zigarette im Mundwinkel auf, schob die Hände in die Hosentaschen und ging durch die Tür in das andere Zimmer. Noch mehr Kartons, ein zerschlissenes Sofa, der Fernseher. Er öffnete die Balkontür. Die Türangeln kreischten. Der Zigarettenrauch vermischte sich mit Benzingestank und dem Geruch des warmen Asphalts. Ein auberginefarbener Toyota, der kurz vorm Auseinanderfallen war, tuckerte klappernd in den Kreisel. Straßen, Bürgersteige, Häuser, alles war durchgebacken, stank nach stickiger Sonnenhitze. Lars rollte die Hemdsärmel auf und zog an seiner Zigarette. Betrachtete die Aussicht über den Folmer Bendtsens Plads unter der Hochbahn, an dem der Ørnevej auf die Bregnerødgade traf. Auf der anderen Seite des Kreisels das Geschäft eines Gemüsehändlers, außerdem ein Laden, der laut Firmenschild Auspufftöpfe verkaufte.
Das sollte also nun sein Zuhause sein ...
Er schnipste die Kippe vom Balkon und ging wieder in die Wohnung, ließ die Tür offen stehen. Er schaute in die Küche. Eine Kopenhagener Standardküche mit zwei schmalen Fenstern zu einem dunklen Hof. Er stellte die Milch in den Kühlschrank, den Kaffee und die Haferflocken in den von einer fettigen Schicht überzogenen Oberschrank. Dann suchte er den Umzugskarton mit dem Geschirr, fischte einen Teller und eine Gabel heraus und wusch sie ab.
Das Bild der toten Frau wollte nicht verschwinden. Nackt und verletzlich am Ufer, die leeren Augenhöhlen starrten ins Nichts. Lars trocknete die Gabel ab, legte sie auf den Teller und ging ins Wohnzimmer. Er hatte Hunger, aber erst musste er die Stereoanlage aufbauen. Ohne Musik ging es nicht.
Er fand das flache Regal, stellte Verstärker, Vorverstärker und Lautsprecher an ihren Platz, verkabelte die einzelnen Teile und steckte den Stecker in die Dose. Jetzt fehlte nur noch der Plattenspieler. Der alte Rega P1. Er hob ihn aus dem Umzugskarton, platzierte ihn neben den Verstärker aufs Regal, steckte die Kabel ein.
Es dauerte eine Weile, bis er den Karton mit den LPs gefunden hatte, doch schließlich setzte er die Nadel auf Get Yer Ya-Ya's Out und konnte sich seinem Hühnchen mit Cashewnüssen und scharfem Chili widmen.
Nach dem Essen schloss er im zweiten Zimmer den Fernseher an. Er drehte ihn so, dass er vom Tisch aus den Bildschirm sehen konnte, und stellte den Ton leise. Eine dieser Heimwerker-Sendungen. Ein Schauspieler half einem Buchhalter, eine überdachte Terrasse für sein Reihenhaus zu bauen. Lars verschränkte die Hände im Nacken und wippte auf dem Stuhl.
Wieso hatte der Täter ihre Augen entfernt? Hatte sie etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte? Was sie nicht sehen durfte?
Er blies einen ausgefransten Rauchring an die Decke.
In der Wohnung über ihm tat es einen gewaltigen Schlag, gefolgt von lautstarkem Fluchen.
Noch zwei Monate in diesem Vakuum, dann war er weg.
Mai 1953
Er saß auf dem Sofa, seit Großvater und die Männer ihn am Abend zuvor aus dem Wald geholt hatten. Am Morgen hatte der Großvater einen kurzen Blick auf ihn geworfen. Dann hatte er sich seine Arzttasche gegriffen und war zu seinen Krankenbesuchen aufgebrochen. Mutter starrt in ihrem Schaukelstuhl in die Luft. Wie immer.
Krii krii, krii krii, Mutter schaukelt hin und her. Er steht auf und streichelt ihr über die porzellanblasse Wange. Die schlaffe Haut bebt, entzieht sich seinen Fingern.
Sie muss sich stärken. Er zieht die Jacke an, geht in die Küche. Gießt Wasser in einen Topf und macht Feuer in dem alten gusseisernen Ofen. Heißer Saft. Aus den Tassen mit den englischen Motiven, die zu benutzen Großvater ihnen verboten hat.
Auf dem Weg in den Keller schaut er zu Mutter hinein. Sie sitzt da, wie er sie verlassen hat, mit versteinerter Miene, die Hände im Schoß gefaltet. Der Schaukelstuhl in der leeren Stube. Sonnenlicht fällt durchs Fenster, Rechtecke und Quadrate auf den breiten Bodendielen. Der Staub tanzt im Licht. Er läuft in den Keller, bemüht sich, den ganzen Krempel, den Großvater im Keller aufbewahrt, zu ignorieren. Findet die Tasse und die Untertasse in der Vitrine.
Rennt die Treppen hinauf. Die Stimmen vermeiden.
In der Küche kocht das Wasser. Er füllt die Tassen zur Hälfte mit Ribena, dem Schwarze-Johannisbeeren-Saft, und gießt ihn mit Wasser auf. Zerbröselt einen Zwieback in der dicken Saftmischung. Er hat den Teelöffel bereits in der Hand, als er die Scharte in der Untertasse bemerkt. Am Rand ist ein Splitter herausgeschlagen, der Sprung breitet sich aus, zieht sich durch die Glasur. Ein plötzlicher Wutanfall steigt in ihm auf. Heute hat alles perfekt zu sein. Er stößt die Tasse von der Untertasse. Saft und Zwieback-Krümel schwappen über den Küchentisch. Die Untertasse landet in der Spüle, zersplittert. Zerschlagenes Porzellan klirrt im Ausguss.
Noch einmal muss er in den Keller, muss sich in seinen Knickerbockers an Großvaters Sachen vorbeidrücken.
Unten an der Treppe steht die Tür der Vitrine offen. Hatte er sie vorhin geschlossen? Aus dem Wohnzimmer dringt das monotone Knirschen des Schaukelstuhls. Er greift nach der letzten Untertasse, seine Finger schließen sich um das Porzellan und streifen dabei einen Nagel, der ganz hinten in der Ecke herausragt. Mit einem leisen Klicken versinkt der Nagel, und die Vitrine dreht sich auf ihn zu. Dahinter ein schwarzes Loch in der Wand. Abgestandene Luft strömt ihm entgegen, Verwesung und Chemikalien.
Er findet einen Kerzenstummel im Regal neben dem Schrank, zündet ihn an. Die Dunkelheit ist so groß, dass sie die Strahlen der Flamme verschluckt.Vorsichtig setzt er einen Fuß auf einen der Regalböden, steigt hinauf. Durch die Öffnung in der Wand sieht er die obersten Stufen einer Treppe unter sich.
Fünfzehn Stufen zählt er, bevor er sich auf die Treppe wagt und sich mit dem Kerzenstummel vortastet, den er wie einen Schild vor sich trägt. Unstete Formen tanzen auf der Grenze des Lichtkreises, erwachen mit jedem Flickflack, den die Flamme schlägt, zum Leben.An den Wänden Regale, Schachteln und Kisten mit Zetteln und aufgemalten Bezeichnungen: Cyclotol, Husqvarna, Composition B. Andere, die er nicht kennt. Hirtenberger 5,6 x 50 Mag.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München.
... weniger
Autoren-Porträt von Jakob Melander
Jakob Melander, 1965 geboren, studierte Komparatistik an der Universität Kopenhagen und war jahrelang Gitarrist in mehreren dänischen Rock- und Punkbands.Ulrich Sonnenberg, geb. 1955, arbeitete nach seiner Buchhändlerlehre mehrere Jahre in Kopenhagen und war bis Ende 2003 Verkaufsleiter der Verlage Suhrkamp und Insel in Frankfurt am Main. Seit Anfang 2004 lebt und arbeitet er als freier Übersetzer, Herausgeber und Publizist in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jakob Melander
- 2013, 379 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Ulrich Sonnenberg
- Übersetzer: Ulrich Sonnenberg
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442479576
- ISBN-13: 9783442479573
- Erscheinungsdatum: 16.12.2013
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