Liebe kommt auf sanften Pfoten
Roman. Deutsche Erstausgabe
Das Glück kommt auf vier Pfoten. Eine zauberhafte Geschichte über Liebe, Verlust und eine zweite Chance für die Liebe
Juliet versteckt sich. Vor ihrer Familie, vor ihren Freunden, aber vor allem vor der Tatsache, dass Ben nicht...
Juliet versteckt sich. Vor ihrer Familie, vor ihren Freunden, aber vor allem vor der Tatsache, dass Ben nicht...
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Produktinformationen zu „Liebe kommt auf sanften Pfoten “
Das Glück kommt auf vier Pfoten. Eine zauberhafte Geschichte über Liebe, Verlust und eine zweite Chance für die Liebe
Juliet versteckt sich. Vor ihrer Familie, vor ihren Freunden, aber vor allem vor der Tatsache, dass Ben nicht länger an ihrer Seite ist. Witwe mit Anfang dreißig? Das Leben scheint zu Ende. Doch als ihre Mutter Juliet bittet, sich um die Labradorhündin Coco zu kümmern, geraten die Dinge in Bewegung, und Juliets Leben nimmt eine neue Wendung. Ehe sie es sich versieht, hat nicht nur Coco sie um die Pfote gewickelt - plötzlich ist sie Tiersitterin für die Vierbeiner der halben Stadt. Darunter auch die Spaniel-Dame Damson. Und die hat ein äußerst charmantes Herrchen ...
Juliet versteckt sich. Vor ihrer Familie, vor ihren Freunden, aber vor allem vor der Tatsache, dass Ben nicht länger an ihrer Seite ist. Witwe mit Anfang dreißig? Das Leben scheint zu Ende. Doch als ihre Mutter Juliet bittet, sich um die Labradorhündin Coco zu kümmern, geraten die Dinge in Bewegung, und Juliets Leben nimmt eine neue Wendung. Ehe sie es sich versieht, hat nicht nur Coco sie um die Pfote gewickelt - plötzlich ist sie Tiersitterin für die Vierbeiner der halben Stadt. Darunter auch die Spaniel-Dame Damson. Und die hat ein äußerst charmantes Herrchen ...
Klappentext zu „Liebe kommt auf sanften Pfoten “
Das Glück kommt auf vier Pfoten. Eine zauberhafte Geschichte über Liebe, Verlust und eine zweite Chance für die LiebeJuliet versteckt sich. Vor ihrer Familie, vor ihren Freunden, aber vor allem vor der Tatsache, dass Ben nicht länger an ihrer Seite ist. Witwe mit Anfang dreißig? Das Leben scheint zu Ende. Doch als ihre Mutter Juliet bittet, sich um die Labradorhündin Coco zu kümmern, geraten die Dinge in Bewegung, und Juliets Leben nimmt eine neue Wendung. Ehe sie es sich versieht, hat nicht nur Coco sie um die Pfote gewickelt plötzlich ist sie Tiersitterin für die Vierbeiner der halben Stadt. Darunter auch die Spaniel-Dame Damson. Und die hat ein äußerst charmantes Herrchen ...
Lese-Probe zu „Liebe kommt auf sanften Pfoten “
Liebe kommt auf sanften Pfoten von Lucy Dillon ... mehr
1
Bens und Juliets Jack-Russell-Terrier wurde auf den Namen Minton getauft, weil sie auf dem Weg zur Hundeauffangstation im Radio einen schrecklich schlechten Witz über einen Hund namens Minton gehört hatten, der einen Badmin- ton-Federball verschluckt hatte. Er war ein böser Hund gewesen. Bad Minton.
»Bad Minton!«, hatte Ben fröhlich gerufen. »Einen besseren Namen für einen Hund gibt's einfach nicht!«
Sie hatten gerade Longhampton verlassen und waren an dem großen Kirschbaum vorbeigefahren, der die Spitze des Hügels in ein rosafarbenes Blütenmeer tauchte. Das war vor drei Jahren gewesen, am Maifeiertag - der erste Tag seit Monaten, den Ben sich freigenommen hatte. Juliet konnte sich noch genau an seinen Blick erinnern, als Ben im Auto zu ihr herübergesehen hatte. Die Lachfältchen an seinen Augen hatten gezeigt, wie köstlich er sich über diesen albernen Witz amüsierte. »Bad Minton! Hast du den Witz verstanden, Jools? Badminton? Haha, hahaha!«
Jener Moment hatte sich in ihr Gehirn eingebrannt, weil er zwei typische Eigenschaften Bens verdeutlicht hatte. Einmal war da sein Gelächter gewesen, in das er als echter Naturbursche mit einem robusten Körperbau oft und unerwartet ausgebrochen war. Dies war so ansteckend gewesen, dass auch Juliet immer hatte mitlachen müssen; gleich vom ersten Mal an, als sie sein Lachen in der Schule - nach einem ebenso schlechten Witz - zum ersten Mal gehört hatte.
Der zweite Punkt war der Kirschbaum gewesen. Ben hatte ihn geliebt. Als Landschaftsgärtner hatte er ohnehin eine abgöttische Leidenschaft für Bäume im Allgemeinen gehegt, doch dieser Kirschbaum war von allen Bäumen in der ganzen Stadt sein Lieblingsbaum gewesen. Nicht ein einziges Mal waren sie in all den Jahren im Frühling an diesem Baum vorbeigefahren, ohne dass Ben Juliet das Versprechen abgenommen hatte, dass, sollte er vor ihr sterben, sie einen solchen Kirschbaum pflanzen müsse, damit sie beim Blick auf die rosafarbenen Blütenkaskaden wenigstens ein Mal im Jahr glücklich sei.
Im Augenblick konnte Juliet den Gedanken daran nicht ertragen. Sie hatte sich eine neue Strecke ausgesucht, um aus Longhampton hinauszufahren, weil allein schon der Anblick dieses Kirschbaumes dazu führte, dass ihr am Lenkrad die Tränen kamen und diese ihr die Sicht gefährlich verschleierten.
Der ungepflegte kleine Terrier, der ihnen in der Auffangstation gezeigt worden war, hieß eigentlich Dodger. Zwischen ihm und Ben war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so war aus Dodger kurzerhand Minton geworden. Mit seiner eifrigen, lernbegierigen Art und dem kurzen Wackelschwanz sah er genau wie der Typ Hund aus, der auf der Stelle einen Federball verschlucken würde, nur um sein Herrchen zum Lachen zu bringen. Noch während sie mit der Managerin der Auffangstation im Gespräch gewesen waren, hatte er das volle Programm von »Sitz!«, »Platz!« und »Gib Pfötchen!« dargeboten.
Von seinem Körbchen aus starrte Minton Juliet traurig an. Sein Fell war sahnefarben, mit Ausnahme eines einzigen braunen Flecks rund um das linke Auge. Darum hatte Juliet »Pirat« oder »Captain Hook« vorgeschlagen, doch diese Namen waren auf taube Ohren gestoßen; Minton und Ben hatten einander längst schon Pfötchen gegeben.
Von jenem Augenblick an war Minton Bens Hund gewesen. Und das, obwohl Juliet Minton Futter gab, hinter ihm sauber machte und ihm die Socken aus dem Maul zerrte. Ben nahm ihn zur Arbeit mit - wobei Minton im Kastenwagen vorn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen durfte -, und beim Spazierengehen passte sich der kleine Terrier sofort Bens langen Schritten an. Dennoch waren Minton und Juliet seitdem beste Freunde. Manchmal fragte sie sich sogar, wer hier auf wen aufpasste.
»Juliet, du siehst müde aus. Isst du auch genug?«
Sie sah zu Minton hinüber und nickte.
»Juliet!«
Juliet kniff die Augen zusammen. Sie hätte schwören können, dass Minton gerade die Augen verdreht hatte.
Widerwillig riss sie sich von Mintons Anblick los und schaute ihre Mutter an. Diane saß auf einem mit einem Tuch abgedeckten Stuhl, die Knie fest aneinandergepresst. Die Züge ihres eigentlich gütigen Gesichts waren angespannt vor Sorge - und der Anstrengung, diese zu verbergen. Ben hatte über seine Schwiegermutter immer gesagt, dass für sie selten das Glas halb voll war, sondern dass sie eher zu den Menschen gehörte, für die das Glas stets halb leer war und eben aus Glas bestand - kurzum, für ihn war sie von Natur aus besorgt.
»Du isst gar nichts«, fuhr Diane fort. »Ich habe gerade einen Blick in deinen Kühlschrank geworfen. Dort steht immer noch das ganze Essen, das ich dir letzte Woche gebracht habe. Und das jetzt abgelaufen ist. Dabei waren das wirklich tolle Sachen«, fügte Diane ein wenig verbittert hinzu. »Alles Fertiggerichte von M&S. Du hättest nicht einmal selbst kochen müssen.«
»Mum, mir geht's gut. Oder sehe ich etwa aus, als würde ich gleich verhungern?«
Diane schielte zu ihrer Tochter hinüber. »Ja«, erwiderte sie schließlich. »Eigentlich siehst du so aus.«
Juliet wusste jedoch genau, dass dem nicht so war. Während der zehn Jahre, in denen sie als professioneller Caterer gearbeitet und sich auf Gourmetgebäck und Cupcakes für Hochzeiten spezialisiert hatte, hatte sie sich einige Speckröllchen zugelegt, die selbst jetzt noch nicht abgebaut waren. Zugegeben - ihr war einfach nicht danach, sich ein Steak mit Kidney Pie reinzuziehen, auch wenn es sich dabei um eine Luxusvariante mit Bio-Zutaten handelte. Im Gegensatz dazu war es jedoch erstaunlich, wie gut sie immer noch KitKats hinunterbekam. Davon konnte sie dann auch gleich eine ganze Packung futtern. Was sie manchmal auch tat. Schließlich war niemand da, der sie davon abhielt.
Juliet sah auf ihre Hände hinunter, die nun tatsächlich älter und dünner aussahen. Rund um ihren goldenen Ehering hatten sich feine Fältchen gebildet. Das waren Witwenhände, wie sie im Buche standen. Diese Erkenntnis verschaffte ihr eine morbide Zufriedenheit; dies war etwas, was sie allen Leuten entgegenhalten konnte, deren Mienen ihr zu verstehen gaben: Aber du bist doch noch zu jung, um eine Witwe zu sein! Als ob der Verlust des einen Menschen, der ihr Leben gewesen war, irgendwie weniger verheerend, weniger real sein sollte, nur weil sie erst einunddreißig Jahre alt war.
»Du musst auch mal an die frische Luft gehen.« Diane machte eine bedeutungsvolle Pause. »Minton braucht mehr Bewegung. Du lässt ihn im Stich, wenn du ihn nur hier bei dir einsperrst.«
Jede noch so kleine Andeutung, sie würde Bens Hund vernachlässigen, zwang Juliet automatisch zu einer Antwort. »Ich gehe mit ihm Gassi!«, protestierte sie.
»Wann denn?«
»Wenn ich bei Tesc...« Sie biss sich auf die Lippe und schaute auf.
Ihre Blicke trafen sich, und sie sah Dianes kummervollen Blick. Juliet war sofort klar, dass sie Bescheid wusste. Es hatte also keinen Sinn, die Sache zu leugnen. Mehr noch: Die Miene ihrer Mutter - verwirrt, nicht nur mitleidig - führte dazu, dass sie das Kinn reckte und zu Ende sprach.
»Wenn ich bei Tesco einkaufen gehe. Dann gehe ich mit ihm Gassi.«
»Und wann gehst du zu Tesco?«, beharrte Diane.
Juliet schwieg.
»Kathy Gibbon hat dich gesehen«, fuhr ihre Mutter unbeirrt fort. »Als sie von ihrer Nachtschicht im Krankenhaus nach Hause ging. Da hat sie dich auf dem Parkplatz gesehen. Oh, Juliet! Wer erledigt denn seine Einkäufe um vier Uhr in der Früh?«
»Diejenigen, die gern in den Supermarkt gehen, wenn es dort schön leer und ruhig ist. Wenn der Laden nicht voller Leute ist, die einen fragen, wie man so etwas verkraftet.« Juliet klopfte sich auf den Schoß, und schon sprang Minton neben ihr aufs Sofa und lehnte sich mit seinem kleinen Körper an sie. »Minton stört das nicht. Er hat einen dieser Bälle, die von innen beleuchtet sind. Das ist lustig. Nicht wahr?«, fuhr Juliet, an Minton gerichtet, fort.
Minton schloss vor Vergnügen die Augen, als sie ihn hinter den Ohren kraulte. Minton glücklich zu machen war nicht schwierig.
»Ich mache mir auch eher Sorgen um dich, wenn du mitten in der Nacht allein durch die Gegend wanderst.« Dianes Stimme zitterte, da sich in ihrem Kopf offensichtlich sämtliche Horrorszenarien abspielten, die einer Frau und einem kleinen Hund im Longhamptoner Einkaufszentrum zu so später Stunde zustoßen könnten. »Dir könnte dabei sonst was passieren!«
Angesichts dieser Ironie hätte Juliet beinahe lachen müssen. Würde man sie überfallen, so käme sie wenigstens auf andere Gedanken.
»Mum, was wäre denn das Schlimmste, was mir zustoßen könnte? Mein Mann ist vor acht Monaten gestorben; ich bin eine Köchin, die arbeitsunfähig ist, weil sie keinen Geschmackssinn mehr hat, und unser Haus, in dem wir bis ans sogenannte Ende unserer Tage leben wollten, wird angesichts des Immobilienmarktes für immer an mir hängenbleiben. Die Gefahr, überfallen zu werden, macht mir keine Angst. Ich könnte das Schmerzensgeld eigentlich sogar ganz gut brauchen, um damit ein neues Badezimmer zu finanzieren.«
Entsetzt riss Diane die Augen hinter ihrer Brille auf, und Juliet vermisste Ben zum fünften Mal an diesem Tag, dieses Mal wegen seines unglaublich schwarzen Humors. Genauer betrachtet waren sie beide sogar die Einzigen in der Familie gewesen, die überhaupt über Humor verfügten.
Es sind diese kleinen Dinge, die ich seit deinem Tod vermisse, dachte sie und kämpfte gegen die Wehmut an, die mit einem Mal über sie kam - selbst jetzt. Ich kann mich einfach nicht an Augenblicke wie diesen gewöhnen, wenn ich mich noch mieser fühle, als wenn ich allein bin, weil ich genau weiß, dass du jetzt gelacht hättest und dies einer unserer Insiderwitze geworden wäre.
Beim Gedanken an die vielen Insiderwitze, die über fünfzehn Jahre hinweg zusammengekommen und nun von einer Sekunde auf die andere verloren waren, zuckte Juliet zusammen.
»Hat es im Einkaufszentrum Überfälle gegeben?«, fragte Diane entsetzt.
»Nein, Mum, da ist alles total sicher.« Juliet hätte sich ohrfeigen können: Dies würde nun ein weiterer Punkt auf Dianes und Louises Liste von Orten werden, die für Toby zu gefährlich waren. Dazu zählten schon das Kinderparadies, in dem irgendein Kleinkind eine Murmel verschluckt hatte, das Café an der High Street, in dem Hunde erlaubt waren, und nun auch das Einkaufszentrum.
Anstatt sich hinzulegen, drehte sich Minton unauf hörlich auf Juliets Schoß, um eine gemütliche Schlafposition zu finden. Früher hatte er Gesellschaft stets geliebt, doch mittlerweile schien er Juliets Abneigung gegenüber Besuchern, die ihre Einsamkeit störten, zu teilen.
»Das arme Kerlchen.« Diane seufzte. »Schläft er immer noch an Bens ...«
»Ja«, unterbrach Juliet sie schnell. »Soll ich uns eine Tasse Tee kochen?« Sie stand auf und war erleichtert, sich bewegen zu können.
Diane und Minton folgten ihr in die Küche, die immer noch weder Küchenschränke noch einen anständigen Fußboden besaß. Ganz zu schweigen von Fliesen. Ben und sie hatten sich am Tag vor seinem Tod das Hirn zermartert auf der Suche nach Ideen für ihre ideale Küche. In der Annahme, dort bald schon neue Küchenschränke aufzubauen, hatten sie unbekümmert die alte, schäbige MDF-Küchenzeile herausgerissen. An den nackten, aber immerhin verputzten Wänden hingen herausgerissene Magazinseiten, die sie mit Tesa befestigt hatten und die mittlerweile ziemlich zerknittert und zerfleddert waren.
Ohne hinzuschauen, wusste Juliet, dass ihre Mutter das Chaos um sie herum musterte und die losen Kabel und scharfen Kanten kritisch beäugte. Juliets Schwester Louise war ein paarmal mit Toby, ihrem Sohn, hier gewesen, hatte aber streng darauf geachtet, dass Toby zu seiner eigenen Sicherheit schön im Wohnzimmer oder in seinem Buggy angeschnallt blieb.
»Ich könnte deinen Dad bitten herzukommen, damit er sich um den Putz kümmert«, schlug Diane vor, als sei ihr das Problem erst jetzt ins Auge gesprungen. »Mit Spachtelmasse kann er ganz gut umgehen.«
»Das ist wirklich nett, aber nicht nötig.« Juliet zog den Stecker des Toasters aus dem Netzadapter und schloss stattdessen nun den Wasserkocher an den Strom an. Eric, ihr Vater, schaute bereits einmal pro Woche vorbei, um für sie den Garten zu machen. Das war okay; es war schon ein Running Gag in der Familie, dass Juliet das krasse Gegenteil eines grünen Daumens besaß, und außerdem kümmerte sich Eric gern um die Gartenarbeit. Er behauptete, es nicht mit ansehen zu können, wie die viele Arbeit, die Ben in den Garten gesteckt hatte, vom Unkraut zunichtegemacht wurde. Insgeheim vermutete Juliet jedoch, dass er verhindern wollte, dass sie mit scharfen Werkzeugen hantierte. Seit Bens Tod war sie so sehr neben der Spur, dass sie sich beim Rasenmähen wahrscheinlich einen Fuß abtrennen würde.
Die Renovierungsarbeiten waren jedoch etwas völlig anderes, und sie wehrte sich strikt gegen jede Einmischung ihrer Familie - ganz gleich, wie gut es alle mit ihr meinten. Sie und Ben hatten große Pläne für die Küche gehabt; sie sollte das Herzstück ihres ersten richtigen eigenen Hauses werden. Sie hatten einen Original-Aga-Ofen kaufen wollen (cremefarben, gebraucht, aber gut in Schuss), auf dem ein Wasserkessel pfeifen und sich vorn eine Stange zum Trocknen von Geschirrtüchern befinden sollte. Minton hätte sich im Winter gemütlich davor zusammenrollen können, und sie selbst hätte auf dem Ofen Marmelade gekocht und Pfannkuchen gebacken. Wenn sie die Augen schloss, hörte Juliet immer noch Ben, der ihr erklärte, wie er die original viktorianischen Kacheln renovieren, maßgeschneiderte Regale zimmern und für sie ein wahres Bäckerparadies bauen wollte.
Das waren die ursprünglichen Pläne gewesen. Im Augenblick benutzte Juliet jedoch immer noch den Toaster und den Reisewasserkocher, die sie schon im College besessen hatte.
»Es ist besser, wenn alles so bleibt, wie es ist«, erklärte sie stur und spürte beinahe körperlich den verzweifelten Blick ihrer Mutter, den sie über das Chaos schweifen ließ.
»Aber du musst hier irgendwie leben können, Schatz«, entgegnete Diane. »Schließlich geht das Leben weiter.« Schuldbewusst schluckte sie. Ohne sich umzudrehen, wusste Juliet, dass ihre Mutter die Hand vor den Mund presste; sie sah ihre schmerzerfüllte Miene im Spiegel gegenüber. »Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
Juliet nahm einen Lappen und wischte die Toastkrümel von der improvisierten Arbeitsplatte, die noch vom Frühstück übrig geblieben waren. »Ich werde Handwerker rufen. Die wollen bestimmt alles so sehen, wie es ist. Damit sie einen besseren Überblick darüber bekommen, was alles getan werden muss.«
»Das sagst du schon seit Wochen. Ich weiß, wie schwer das ist, aber Ben würde bestimmt nicht wollen, dass du in einem Haus ohne anständige Dusche lebst.« Diane gab sich Mühe, stark zu sein, doch ihre Stimme versagte. »Lass mich Keith anrufen. Unseren Wintergarten hat er ganz wunderbar hinbekommen. Du wirst kaum merken, dass er überhaupt da ist. Wenn Geld das Problem ist, dann können dein Vater und ich dir aushelfen. Nur ein paar Zimmer! Nur so viel, dass ich weiß, dass du nicht in einer Baustelle haust.«
Irgendetwas in Juliets Innerem zog sich zusammen wie eine Frischhaltefolie, die sich um ihr Herz wickelte und sie zu ersticken drohte. Ich will nicht, dass hier etwas verändert wird, dachte sie. Die anfängliche Lähmung, in der ihr selbst ihr Geburtstag ohne Ben wie ein Verrat vorgekommen war, hatte sie überwunden, doch sie brachte es einfach nicht übers Herz, die Handwerker zu rufen. Dies war ihr gemeinsames Projekt gewesen. Ihr Haus, in dem sie bis ans Ende ihrer Tage zusammen hatten leben wollen. Und Juliet wollte daraus einfach kein Haus machen, in dem Ben bis ans Ende seiner Tage nicht gelebt hatte.
Der Wasserkocher war fertig, und Juliet wollte schon nach der Kanne greifen, doch Diane hielt sie davon ab.
»Juliet, ich kann aus Sorge um dich nachts nicht schlafen. Und dein Vater kann aus Sorge um uns beide nicht mehr schlafen. Bitte! Lass uns die Kosten für eine anständige Dusche übernehmen!«
»Macht euch um mich keine Sorgen!« Juliet löste sich sanft aus dem Griff ihrer Mutter und zog zwei Becher heran. Die beiden großen Porzellantassen von Emma Bridgewater mit rosafarbenen und roten Herzen darauf waren Hochzeitsgeschenke gewesen. »Eigentlich ...«
Nebenan wurde es furchtbar laut; das Getöse übertönte alles.
»Ja? Was?«, rief Diane durch den Lärm hindurch.
»Mir geht's gut. Ehrlich!«
Juliet nahm an, dass die Kinder der Kellys in ihr menschliches Mausefallenspiel vertieft waren - zumindest nahm sie dies aufgrund des Geklappers, des Geschreis und des gedämpften Lärms von kleinen Füßen, die über irgendetwas hinübersprangen, an. Das Ganze fand mehrmals jeden Nachmittag statt und begann oben im Nachbarhaus, ging dann im Treppenhaus weiter, den Flur entlang und dann hinaus in den Garten. Begleitet wurde alles von einer Auswahl an Tieren, je nachdem, um welche Tiere sich die Kelly-Kinder nach der Schule gerade kümmern mussten.
Dabei brauchten die Kinder nie lange, bis sie im Garten landeten. Die Doppelhaushälfte, das Spiegelbild zu Juliets Haus, war nicht sonderlich groß. Das Haus der Kellys hieß Laburnum Villa, Juliet lebte in der Myrtle Villa. Die Häuser waren gedrungen, besaßen aber eine elegante Fassade, zwei Stockwerke sowie einen Dachboden, lang gestreckte Gärten mit Himbeersträuchern und einem Komposthaufen, einen gemeinsamen Apfelbaum und rote Haustüren. Beide Häuser verfügten über Holzdielenböden.
Mittlerweile wusste Juliet alles über die Holzböden. Eines der Kelly-Mädchen hatte zum Geburtstag Steppschuhe bekommen und viel geübt.
Diane zuckte zusammen, als Füße über die nackten Holztreppen trampelten. »Um Himmels willen! Was ist denn nebenan los?«
»Keine Sorge, um halb fünf hört alles auf. Dann gibt's Abendessen. «
»Aber ich dachte, nebenan wohnt diese nette alte Dame, die den Bücherbus betreut hat? Wendy hieß sie, nicht wahr?«
»Sie ist umgezogen ...« Juliet musste beinahe schreien, als ein besonders lautes Getöse hinter der Wand neben ihnen ertönte. »Wendy ist schon vor einer Weile ausgezogen. Die Kellys haben das Haus dann gekauft. Sie haben vier Kinder. Er arbeitet außerhalb und ist oft lange unterwegs. Keine Ahnung, was er macht. Aber ich glaube, sie haben einen Untermieter.«
Jetzt ging der Lärm im Garten weiter und drang durch die Küchenfenster zu ihnen herein. Ein Mädchen brüllte: »Den VIP-Bereich abtrennen!«, worauf hin ein wahnsinniges Geschrei begann. Minton schlich zu seinem Körbchen hinüber und rollte sich dort zusammen, die Pfoten unter sich vergraben. Er selbst war den Bewohnern von nebenan noch nicht vorgestellt worden. Er legte aber auch keinen gesteigerten Wert darauf, Bekanntschaft mit der Katze zu schließen, die Juliet in ihren Rosenbüschen entdeckt hatte.
Wieder ertönte ein Knall, bei dem beinahe der Putz von der Wand gebröckelt wäre. Diane zuckte zusammen, doch Juliet lächelte nur matt und reichte ihr einen Becher mit Kaffee.
»Wie hältst du das nur den ganzen Tag aus?«, fragte sie. »Ich hätte ununterbrochen Migräne!«
»Oh, ich glaube, ich blende den Lärm einfach aus. Wenigstens spielt keines der Kinder Computerspiele.« Juliet hatte keine Ahnung, warum sie die Kellys in Schutz nahm. Dabei kannte sie ja nicht einmal alle Namen der Kinder. Es gab zwei Jungs und zwei Mädchen, so viel stand fest, und alle hatten feuerrotes Haar. Einer der Jungs bekam Asthmaanfälle. In regelmäßigen Abständen schrie jemand: »Schnell, wo ist Spikes Inhalator? «, worauf hin noch mehr panisches Gerenne folgte.
»Passt eigentlich irgendwer auf die Kinder auf ?« Diane ging zum Fenster hinüber und blickte über das hinweg, was einmal Juliets Gemüsegarten hätte werden sollen, um durch die ungepflegte Buchshecke hinüberzuschauen, die die beiden langen Gärten voneinander trennte. »Großer Gott, die haben ein Trampolin. Da ist sogar eine Katze auf dem Trampolin!«
»Ihre Mutter muss auch irgendwo da sein. Willst du ein Kit- Kat?« Juliet nahm sich einen Riegel und tauchte ihn in den heißen Kaffee.
»Danke, nein«, erwiderte Diane. »Dr. Dryden hat mir befohlen, auf meine Zuckerwerte zu achten. Juliet, Liebes, versteh mich bitte nicht falsch, aber wenn du schon keine Handwerker beauftragst, wie wäre es dann wenigstens mit einer Putzfrau? Nur ein Mal die Woche, um alles abzustauben?«
»Mir geht's gut, Mum!«
»Ich würde die Putzfrau auch bezahlen! Als Gegenleistung.« Diane zögerte. »Als Gefallen für einen Gefallen, wenn man das so nennen mag.«
Misstrauisch beäugte Juliet ihre Mutter. »Gefallen« waren normalerweise nur wenig verschleierte Versuche, sie dazu zu zwingen, aus Gründen der gesellschaftlichen Wiedereingliederung das Haus zu verlassen. Diane und Louise hatten eine angemessene Zeit nach der Beerdigung abgewartet, doch mittlerweile kamen sie immer öfter mit solchen »Gefallen« an - einer der letzten war die Bitte gewesen, Dianes Dienst am Samstagmorgen als freiwillige Gassigängerin in der Hundeauffangstation oben auf dem Hügel zu übernehmen. Drei Gassirunden innerhalb von fünf Stunden und dazu so viele Sandwiches mit Frühstücksspeck, wie sie nur essen konnte.
Juliet hatte dankend abgelehnt, mit der Begründung, mit ihrem eigenen Hund Gassi gehen zu müssen.
Diane machte einen eher schuldbewussten als besorgten Eindruck, sodass Juliet schließlich klein beigab.
»Du musst mich nicht bestechen, damit ich dir einen Gefallen tue«, erklärte sie. »Ich brauche keine Putzfrau. Was soll ich für dich tun?«
»Pass auf Coco auf. Nur zwei- oder dreimal pro Woche.«
Juliet runzelte die Stirn. Damit hatte sie nicht gerechnet; wenn, dann hatte höchstens ihre Mum Minton für einen gelegentlichen Spaziergang zusammen mit Coco abgeholt. Coco war ihre schon ein wenig in die Jahre gekommene schokoladenbraune Labradorhündin. Trotz ihrer zwölf Jahre und gelegentlichen Blähungen, die von Würstchen stammten, die Dad ihr entgegen den strikten Anweisungen des Tierarztes immer wieder unter dem Tisch zusteckte, war an Coco nichts auszusetzen.
»Warum?«
»Weil ich zu Hause auf Toby aufpassen werde.«
»Und? Coco kann sich dabei nicht in ihren Korb legen und in der Küche fernsehen, wie sie es immer macht?« Juliet starrte in ihren Becher und stellte fest, dass sie ihren Kaffee beinahe schon ausgetrunken hatte. Es war erstaunlich, wie schnell sie mittlerweile Kaffee trinken konnte. Dabei berührte der Kaffee kaum die Wangeninnenseiten; irgendwie spürte sie nicht mehr richtig, wie heiß der Kaffee war. Ein weiterer seltsamer Nebeneffekt von Bens Tod. Sämtliche Sinne waren gedämpft. Abgeflacht wie die Holzdielen, die sie im Wohnzimmer angefangen hatten abzuschleifen. Manchmal fragte sie sich, ob sie wohl jemals wieder intensive Gefühle verspüren würde, und wenn ja, ob das zwangsläufig etwas Schlechtes war.
Juliet stand auf und schaltete den Wasserkocher wieder ein. Mit Bewegung ließen sich Gedanken gut verhindern.
»Kann denn Dad nicht mit ihr Gassi gehen?«, fragte Juliet über ihre Schulter hinweg.
»Nein. Dann ist er bei seinem Walisisch-Kurs.«
»Bei seinem was?«
»Er hat sich für die Sommerakademie angemeldet und lernt nun Walisisch.« Seitdem er Frührentner war, hatte Eric Summers über die Jahre hinweg beinahe alle Sommerkurse des örtlichen Colleges durchprobiert. Er scherzte gern, dass er sich nun in den meisten europäischen Ländern in der Landessprache über das Essen beschweren könne. »Ich bin also allein.«
»Aha. Und welchen Unterschied macht das?«
»Louise ist ein wenig besorgt darüber, wie sich Coco wohl gegenüber Kleinkindern verhalten wird. Ihre Bedenken sind durchaus berechtigt, Juliet; so etwas liest man doch andauernd in der Zeitung! Sie sagt, dass man Hunden, die nicht von klein auf an Kinder gewöhnt sind, nie hundertprozentig vertrauen könne. Sie ist der Meinung, dass es für Coco doch viel netter sei, wenn sie währenddessen irgendwo anders wäre, als im Garten ausgesperrt zu sein ...«
»Oh, wie zuvorkommend von ihr.«
»... und ich dachte, weil du ja noch nicht wieder arbeiten gehst, wäre es für Coco das Einfachste, wenn sie hierherkommen könnte.« Diane hielt nicht ein Mal inne, um Luft zu holen. Juliet fragte sich unweigerlich, wie lange Diane gebraucht haben mochte, um diese Argumentation einzustudieren. »Du könntest doch mit beiden zusammen Gassi gehen. Es würde Minton mal ganz guttun, ein wenig Tageslicht abzubekommen. Vitamin D!«
Ohne darauf einzugehen, kochte Juliet frischen Kaffee und setzte anschließend ihren Becher auf einer alten Ausgabe von Ideal Home vom August 2009 ab. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie das Magazin jeden Monat gekauft hatte. Inzwischen kam ihr dies ein wenig lächerlich vor. Ein Keramikspülbecken war ein Keramikspülbecken, außerdem hatte sie dafür kein Geld mehr.
»Jetzt sag doch was, Juliet!« Diane nestelte an ihrem Halstuch herum. »Du weißt, wie ich es hasse, wenn du mich so anschweigst! «
»Ich schweige dich nicht an. Ich bin einfach nur ...« Nicht mehr daran gewöhnt, mit Leuten in Echtzeit zu reden. Anruf beantworter und E-Mails hatten es Juliet erlaubt, eine sichere Distanz zu anderen Menschen einzuhalten. So blieb ihr stets genügend Zeit, um sich eine Antwort zurechtzulegen, die nicht so verrückt klang, wie sie sich in letzter Zeit fühlte.
Juliet war ein wenig verärgert darüber, so in Zugzwang gebracht zu werden - und das auch noch dank des lächerlichen Aufstandes, den ihre Schwester wegen ihres Erstgeborenen machte. »Arme Coco. Wird aus ihrem eigenen Zuhause vertrieben, nur weil sie vier Pfoten hat. Was könnte sie denn dem Kleinen antun? Ihn anpupsen? Du solltest Louise in solchen Dingen nicht auch noch ermutigen, Mum! Seit Toby auf der Welt ist, tut sie gerade so, als ginge von jedem Zimmer eine potenzielle Todesgefahr aus!«
Diane schreckte bei dem Wort »Tod« zusammen.
»Lass das. Wenn hier jemand vom Tod sprechen darf, dann ja wohl ich.« Juliets Pulsschlag beschleunigte sich wegen ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sagen, was sie wollte: Niemand schien ihr dies anzukreiden. »Coco wird Toby schon nicht anfallen. Oder hat Louise etwa beschlossen, dass Labradore von nun an verboten sind, weil sie sie nicht mit einem Baby-Feuchttuch abwischen kann?«
Übersetzung: Sina Baumanns
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2012 Copyright © der Originalausgabe 2010 by Lucy Dillon Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Bens und Juliets Jack-Russell-Terrier wurde auf den Namen Minton getauft, weil sie auf dem Weg zur Hundeauffangstation im Radio einen schrecklich schlechten Witz über einen Hund namens Minton gehört hatten, der einen Badmin- ton-Federball verschluckt hatte. Er war ein böser Hund gewesen. Bad Minton.
»Bad Minton!«, hatte Ben fröhlich gerufen. »Einen besseren Namen für einen Hund gibt's einfach nicht!«
Sie hatten gerade Longhampton verlassen und waren an dem großen Kirschbaum vorbeigefahren, der die Spitze des Hügels in ein rosafarbenes Blütenmeer tauchte. Das war vor drei Jahren gewesen, am Maifeiertag - der erste Tag seit Monaten, den Ben sich freigenommen hatte. Juliet konnte sich noch genau an seinen Blick erinnern, als Ben im Auto zu ihr herübergesehen hatte. Die Lachfältchen an seinen Augen hatten gezeigt, wie köstlich er sich über diesen albernen Witz amüsierte. »Bad Minton! Hast du den Witz verstanden, Jools? Badminton? Haha, hahaha!«
Jener Moment hatte sich in ihr Gehirn eingebrannt, weil er zwei typische Eigenschaften Bens verdeutlicht hatte. Einmal war da sein Gelächter gewesen, in das er als echter Naturbursche mit einem robusten Körperbau oft und unerwartet ausgebrochen war. Dies war so ansteckend gewesen, dass auch Juliet immer hatte mitlachen müssen; gleich vom ersten Mal an, als sie sein Lachen in der Schule - nach einem ebenso schlechten Witz - zum ersten Mal gehört hatte.
Der zweite Punkt war der Kirschbaum gewesen. Ben hatte ihn geliebt. Als Landschaftsgärtner hatte er ohnehin eine abgöttische Leidenschaft für Bäume im Allgemeinen gehegt, doch dieser Kirschbaum war von allen Bäumen in der ganzen Stadt sein Lieblingsbaum gewesen. Nicht ein einziges Mal waren sie in all den Jahren im Frühling an diesem Baum vorbeigefahren, ohne dass Ben Juliet das Versprechen abgenommen hatte, dass, sollte er vor ihr sterben, sie einen solchen Kirschbaum pflanzen müsse, damit sie beim Blick auf die rosafarbenen Blütenkaskaden wenigstens ein Mal im Jahr glücklich sei.
Im Augenblick konnte Juliet den Gedanken daran nicht ertragen. Sie hatte sich eine neue Strecke ausgesucht, um aus Longhampton hinauszufahren, weil allein schon der Anblick dieses Kirschbaumes dazu führte, dass ihr am Lenkrad die Tränen kamen und diese ihr die Sicht gefährlich verschleierten.
Der ungepflegte kleine Terrier, der ihnen in der Auffangstation gezeigt worden war, hieß eigentlich Dodger. Zwischen ihm und Ben war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so war aus Dodger kurzerhand Minton geworden. Mit seiner eifrigen, lernbegierigen Art und dem kurzen Wackelschwanz sah er genau wie der Typ Hund aus, der auf der Stelle einen Federball verschlucken würde, nur um sein Herrchen zum Lachen zu bringen. Noch während sie mit der Managerin der Auffangstation im Gespräch gewesen waren, hatte er das volle Programm von »Sitz!«, »Platz!« und »Gib Pfötchen!« dargeboten.
Von seinem Körbchen aus starrte Minton Juliet traurig an. Sein Fell war sahnefarben, mit Ausnahme eines einzigen braunen Flecks rund um das linke Auge. Darum hatte Juliet »Pirat« oder »Captain Hook« vorgeschlagen, doch diese Namen waren auf taube Ohren gestoßen; Minton und Ben hatten einander längst schon Pfötchen gegeben.
Von jenem Augenblick an war Minton Bens Hund gewesen. Und das, obwohl Juliet Minton Futter gab, hinter ihm sauber machte und ihm die Socken aus dem Maul zerrte. Ben nahm ihn zur Arbeit mit - wobei Minton im Kastenwagen vorn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen durfte -, und beim Spazierengehen passte sich der kleine Terrier sofort Bens langen Schritten an. Dennoch waren Minton und Juliet seitdem beste Freunde. Manchmal fragte sie sich sogar, wer hier auf wen aufpasste.
»Juliet, du siehst müde aus. Isst du auch genug?«
Sie sah zu Minton hinüber und nickte.
»Juliet!«
Juliet kniff die Augen zusammen. Sie hätte schwören können, dass Minton gerade die Augen verdreht hatte.
Widerwillig riss sie sich von Mintons Anblick los und schaute ihre Mutter an. Diane saß auf einem mit einem Tuch abgedeckten Stuhl, die Knie fest aneinandergepresst. Die Züge ihres eigentlich gütigen Gesichts waren angespannt vor Sorge - und der Anstrengung, diese zu verbergen. Ben hatte über seine Schwiegermutter immer gesagt, dass für sie selten das Glas halb voll war, sondern dass sie eher zu den Menschen gehörte, für die das Glas stets halb leer war und eben aus Glas bestand - kurzum, für ihn war sie von Natur aus besorgt.
»Du isst gar nichts«, fuhr Diane fort. »Ich habe gerade einen Blick in deinen Kühlschrank geworfen. Dort steht immer noch das ganze Essen, das ich dir letzte Woche gebracht habe. Und das jetzt abgelaufen ist. Dabei waren das wirklich tolle Sachen«, fügte Diane ein wenig verbittert hinzu. »Alles Fertiggerichte von M&S. Du hättest nicht einmal selbst kochen müssen.«
»Mum, mir geht's gut. Oder sehe ich etwa aus, als würde ich gleich verhungern?«
Diane schielte zu ihrer Tochter hinüber. »Ja«, erwiderte sie schließlich. »Eigentlich siehst du so aus.«
Juliet wusste jedoch genau, dass dem nicht so war. Während der zehn Jahre, in denen sie als professioneller Caterer gearbeitet und sich auf Gourmetgebäck und Cupcakes für Hochzeiten spezialisiert hatte, hatte sie sich einige Speckröllchen zugelegt, die selbst jetzt noch nicht abgebaut waren. Zugegeben - ihr war einfach nicht danach, sich ein Steak mit Kidney Pie reinzuziehen, auch wenn es sich dabei um eine Luxusvariante mit Bio-Zutaten handelte. Im Gegensatz dazu war es jedoch erstaunlich, wie gut sie immer noch KitKats hinunterbekam. Davon konnte sie dann auch gleich eine ganze Packung futtern. Was sie manchmal auch tat. Schließlich war niemand da, der sie davon abhielt.
Juliet sah auf ihre Hände hinunter, die nun tatsächlich älter und dünner aussahen. Rund um ihren goldenen Ehering hatten sich feine Fältchen gebildet. Das waren Witwenhände, wie sie im Buche standen. Diese Erkenntnis verschaffte ihr eine morbide Zufriedenheit; dies war etwas, was sie allen Leuten entgegenhalten konnte, deren Mienen ihr zu verstehen gaben: Aber du bist doch noch zu jung, um eine Witwe zu sein! Als ob der Verlust des einen Menschen, der ihr Leben gewesen war, irgendwie weniger verheerend, weniger real sein sollte, nur weil sie erst einunddreißig Jahre alt war.
»Du musst auch mal an die frische Luft gehen.« Diane machte eine bedeutungsvolle Pause. »Minton braucht mehr Bewegung. Du lässt ihn im Stich, wenn du ihn nur hier bei dir einsperrst.«
Jede noch so kleine Andeutung, sie würde Bens Hund vernachlässigen, zwang Juliet automatisch zu einer Antwort. »Ich gehe mit ihm Gassi!«, protestierte sie.
»Wann denn?«
»Wenn ich bei Tesc...« Sie biss sich auf die Lippe und schaute auf.
Ihre Blicke trafen sich, und sie sah Dianes kummervollen Blick. Juliet war sofort klar, dass sie Bescheid wusste. Es hatte also keinen Sinn, die Sache zu leugnen. Mehr noch: Die Miene ihrer Mutter - verwirrt, nicht nur mitleidig - führte dazu, dass sie das Kinn reckte und zu Ende sprach.
»Wenn ich bei Tesco einkaufen gehe. Dann gehe ich mit ihm Gassi.«
»Und wann gehst du zu Tesco?«, beharrte Diane.
Juliet schwieg.
»Kathy Gibbon hat dich gesehen«, fuhr ihre Mutter unbeirrt fort. »Als sie von ihrer Nachtschicht im Krankenhaus nach Hause ging. Da hat sie dich auf dem Parkplatz gesehen. Oh, Juliet! Wer erledigt denn seine Einkäufe um vier Uhr in der Früh?«
»Diejenigen, die gern in den Supermarkt gehen, wenn es dort schön leer und ruhig ist. Wenn der Laden nicht voller Leute ist, die einen fragen, wie man so etwas verkraftet.« Juliet klopfte sich auf den Schoß, und schon sprang Minton neben ihr aufs Sofa und lehnte sich mit seinem kleinen Körper an sie. »Minton stört das nicht. Er hat einen dieser Bälle, die von innen beleuchtet sind. Das ist lustig. Nicht wahr?«, fuhr Juliet, an Minton gerichtet, fort.
Minton schloss vor Vergnügen die Augen, als sie ihn hinter den Ohren kraulte. Minton glücklich zu machen war nicht schwierig.
»Ich mache mir auch eher Sorgen um dich, wenn du mitten in der Nacht allein durch die Gegend wanderst.« Dianes Stimme zitterte, da sich in ihrem Kopf offensichtlich sämtliche Horrorszenarien abspielten, die einer Frau und einem kleinen Hund im Longhamptoner Einkaufszentrum zu so später Stunde zustoßen könnten. »Dir könnte dabei sonst was passieren!«
Angesichts dieser Ironie hätte Juliet beinahe lachen müssen. Würde man sie überfallen, so käme sie wenigstens auf andere Gedanken.
»Mum, was wäre denn das Schlimmste, was mir zustoßen könnte? Mein Mann ist vor acht Monaten gestorben; ich bin eine Köchin, die arbeitsunfähig ist, weil sie keinen Geschmackssinn mehr hat, und unser Haus, in dem wir bis ans sogenannte Ende unserer Tage leben wollten, wird angesichts des Immobilienmarktes für immer an mir hängenbleiben. Die Gefahr, überfallen zu werden, macht mir keine Angst. Ich könnte das Schmerzensgeld eigentlich sogar ganz gut brauchen, um damit ein neues Badezimmer zu finanzieren.«
Entsetzt riss Diane die Augen hinter ihrer Brille auf, und Juliet vermisste Ben zum fünften Mal an diesem Tag, dieses Mal wegen seines unglaublich schwarzen Humors. Genauer betrachtet waren sie beide sogar die Einzigen in der Familie gewesen, die überhaupt über Humor verfügten.
Es sind diese kleinen Dinge, die ich seit deinem Tod vermisse, dachte sie und kämpfte gegen die Wehmut an, die mit einem Mal über sie kam - selbst jetzt. Ich kann mich einfach nicht an Augenblicke wie diesen gewöhnen, wenn ich mich noch mieser fühle, als wenn ich allein bin, weil ich genau weiß, dass du jetzt gelacht hättest und dies einer unserer Insiderwitze geworden wäre.
Beim Gedanken an die vielen Insiderwitze, die über fünfzehn Jahre hinweg zusammengekommen und nun von einer Sekunde auf die andere verloren waren, zuckte Juliet zusammen.
»Hat es im Einkaufszentrum Überfälle gegeben?«, fragte Diane entsetzt.
»Nein, Mum, da ist alles total sicher.« Juliet hätte sich ohrfeigen können: Dies würde nun ein weiterer Punkt auf Dianes und Louises Liste von Orten werden, die für Toby zu gefährlich waren. Dazu zählten schon das Kinderparadies, in dem irgendein Kleinkind eine Murmel verschluckt hatte, das Café an der High Street, in dem Hunde erlaubt waren, und nun auch das Einkaufszentrum.
Anstatt sich hinzulegen, drehte sich Minton unauf hörlich auf Juliets Schoß, um eine gemütliche Schlafposition zu finden. Früher hatte er Gesellschaft stets geliebt, doch mittlerweile schien er Juliets Abneigung gegenüber Besuchern, die ihre Einsamkeit störten, zu teilen.
»Das arme Kerlchen.« Diane seufzte. »Schläft er immer noch an Bens ...«
»Ja«, unterbrach Juliet sie schnell. »Soll ich uns eine Tasse Tee kochen?« Sie stand auf und war erleichtert, sich bewegen zu können.
Diane und Minton folgten ihr in die Küche, die immer noch weder Küchenschränke noch einen anständigen Fußboden besaß. Ganz zu schweigen von Fliesen. Ben und sie hatten sich am Tag vor seinem Tod das Hirn zermartert auf der Suche nach Ideen für ihre ideale Küche. In der Annahme, dort bald schon neue Küchenschränke aufzubauen, hatten sie unbekümmert die alte, schäbige MDF-Küchenzeile herausgerissen. An den nackten, aber immerhin verputzten Wänden hingen herausgerissene Magazinseiten, die sie mit Tesa befestigt hatten und die mittlerweile ziemlich zerknittert und zerfleddert waren.
Ohne hinzuschauen, wusste Juliet, dass ihre Mutter das Chaos um sie herum musterte und die losen Kabel und scharfen Kanten kritisch beäugte. Juliets Schwester Louise war ein paarmal mit Toby, ihrem Sohn, hier gewesen, hatte aber streng darauf geachtet, dass Toby zu seiner eigenen Sicherheit schön im Wohnzimmer oder in seinem Buggy angeschnallt blieb.
»Ich könnte deinen Dad bitten herzukommen, damit er sich um den Putz kümmert«, schlug Diane vor, als sei ihr das Problem erst jetzt ins Auge gesprungen. »Mit Spachtelmasse kann er ganz gut umgehen.«
»Das ist wirklich nett, aber nicht nötig.« Juliet zog den Stecker des Toasters aus dem Netzadapter und schloss stattdessen nun den Wasserkocher an den Strom an. Eric, ihr Vater, schaute bereits einmal pro Woche vorbei, um für sie den Garten zu machen. Das war okay; es war schon ein Running Gag in der Familie, dass Juliet das krasse Gegenteil eines grünen Daumens besaß, und außerdem kümmerte sich Eric gern um die Gartenarbeit. Er behauptete, es nicht mit ansehen zu können, wie die viele Arbeit, die Ben in den Garten gesteckt hatte, vom Unkraut zunichtegemacht wurde. Insgeheim vermutete Juliet jedoch, dass er verhindern wollte, dass sie mit scharfen Werkzeugen hantierte. Seit Bens Tod war sie so sehr neben der Spur, dass sie sich beim Rasenmähen wahrscheinlich einen Fuß abtrennen würde.
Die Renovierungsarbeiten waren jedoch etwas völlig anderes, und sie wehrte sich strikt gegen jede Einmischung ihrer Familie - ganz gleich, wie gut es alle mit ihr meinten. Sie und Ben hatten große Pläne für die Küche gehabt; sie sollte das Herzstück ihres ersten richtigen eigenen Hauses werden. Sie hatten einen Original-Aga-Ofen kaufen wollen (cremefarben, gebraucht, aber gut in Schuss), auf dem ein Wasserkessel pfeifen und sich vorn eine Stange zum Trocknen von Geschirrtüchern befinden sollte. Minton hätte sich im Winter gemütlich davor zusammenrollen können, und sie selbst hätte auf dem Ofen Marmelade gekocht und Pfannkuchen gebacken. Wenn sie die Augen schloss, hörte Juliet immer noch Ben, der ihr erklärte, wie er die original viktorianischen Kacheln renovieren, maßgeschneiderte Regale zimmern und für sie ein wahres Bäckerparadies bauen wollte.
Das waren die ursprünglichen Pläne gewesen. Im Augenblick benutzte Juliet jedoch immer noch den Toaster und den Reisewasserkocher, die sie schon im College besessen hatte.
»Es ist besser, wenn alles so bleibt, wie es ist«, erklärte sie stur und spürte beinahe körperlich den verzweifelten Blick ihrer Mutter, den sie über das Chaos schweifen ließ.
»Aber du musst hier irgendwie leben können, Schatz«, entgegnete Diane. »Schließlich geht das Leben weiter.« Schuldbewusst schluckte sie. Ohne sich umzudrehen, wusste Juliet, dass ihre Mutter die Hand vor den Mund presste; sie sah ihre schmerzerfüllte Miene im Spiegel gegenüber. »Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
Juliet nahm einen Lappen und wischte die Toastkrümel von der improvisierten Arbeitsplatte, die noch vom Frühstück übrig geblieben waren. »Ich werde Handwerker rufen. Die wollen bestimmt alles so sehen, wie es ist. Damit sie einen besseren Überblick darüber bekommen, was alles getan werden muss.«
»Das sagst du schon seit Wochen. Ich weiß, wie schwer das ist, aber Ben würde bestimmt nicht wollen, dass du in einem Haus ohne anständige Dusche lebst.« Diane gab sich Mühe, stark zu sein, doch ihre Stimme versagte. »Lass mich Keith anrufen. Unseren Wintergarten hat er ganz wunderbar hinbekommen. Du wirst kaum merken, dass er überhaupt da ist. Wenn Geld das Problem ist, dann können dein Vater und ich dir aushelfen. Nur ein paar Zimmer! Nur so viel, dass ich weiß, dass du nicht in einer Baustelle haust.«
Irgendetwas in Juliets Innerem zog sich zusammen wie eine Frischhaltefolie, die sich um ihr Herz wickelte und sie zu ersticken drohte. Ich will nicht, dass hier etwas verändert wird, dachte sie. Die anfängliche Lähmung, in der ihr selbst ihr Geburtstag ohne Ben wie ein Verrat vorgekommen war, hatte sie überwunden, doch sie brachte es einfach nicht übers Herz, die Handwerker zu rufen. Dies war ihr gemeinsames Projekt gewesen. Ihr Haus, in dem sie bis ans Ende ihrer Tage zusammen hatten leben wollen. Und Juliet wollte daraus einfach kein Haus machen, in dem Ben bis ans Ende seiner Tage nicht gelebt hatte.
Der Wasserkocher war fertig, und Juliet wollte schon nach der Kanne greifen, doch Diane hielt sie davon ab.
»Juliet, ich kann aus Sorge um dich nachts nicht schlafen. Und dein Vater kann aus Sorge um uns beide nicht mehr schlafen. Bitte! Lass uns die Kosten für eine anständige Dusche übernehmen!«
»Macht euch um mich keine Sorgen!« Juliet löste sich sanft aus dem Griff ihrer Mutter und zog zwei Becher heran. Die beiden großen Porzellantassen von Emma Bridgewater mit rosafarbenen und roten Herzen darauf waren Hochzeitsgeschenke gewesen. »Eigentlich ...«
Nebenan wurde es furchtbar laut; das Getöse übertönte alles.
»Ja? Was?«, rief Diane durch den Lärm hindurch.
»Mir geht's gut. Ehrlich!«
Juliet nahm an, dass die Kinder der Kellys in ihr menschliches Mausefallenspiel vertieft waren - zumindest nahm sie dies aufgrund des Geklappers, des Geschreis und des gedämpften Lärms von kleinen Füßen, die über irgendetwas hinübersprangen, an. Das Ganze fand mehrmals jeden Nachmittag statt und begann oben im Nachbarhaus, ging dann im Treppenhaus weiter, den Flur entlang und dann hinaus in den Garten. Begleitet wurde alles von einer Auswahl an Tieren, je nachdem, um welche Tiere sich die Kelly-Kinder nach der Schule gerade kümmern mussten.
Dabei brauchten die Kinder nie lange, bis sie im Garten landeten. Die Doppelhaushälfte, das Spiegelbild zu Juliets Haus, war nicht sonderlich groß. Das Haus der Kellys hieß Laburnum Villa, Juliet lebte in der Myrtle Villa. Die Häuser waren gedrungen, besaßen aber eine elegante Fassade, zwei Stockwerke sowie einen Dachboden, lang gestreckte Gärten mit Himbeersträuchern und einem Komposthaufen, einen gemeinsamen Apfelbaum und rote Haustüren. Beide Häuser verfügten über Holzdielenböden.
Mittlerweile wusste Juliet alles über die Holzböden. Eines der Kelly-Mädchen hatte zum Geburtstag Steppschuhe bekommen und viel geübt.
Diane zuckte zusammen, als Füße über die nackten Holztreppen trampelten. »Um Himmels willen! Was ist denn nebenan los?«
»Keine Sorge, um halb fünf hört alles auf. Dann gibt's Abendessen. «
»Aber ich dachte, nebenan wohnt diese nette alte Dame, die den Bücherbus betreut hat? Wendy hieß sie, nicht wahr?«
»Sie ist umgezogen ...« Juliet musste beinahe schreien, als ein besonders lautes Getöse hinter der Wand neben ihnen ertönte. »Wendy ist schon vor einer Weile ausgezogen. Die Kellys haben das Haus dann gekauft. Sie haben vier Kinder. Er arbeitet außerhalb und ist oft lange unterwegs. Keine Ahnung, was er macht. Aber ich glaube, sie haben einen Untermieter.«
Jetzt ging der Lärm im Garten weiter und drang durch die Küchenfenster zu ihnen herein. Ein Mädchen brüllte: »Den VIP-Bereich abtrennen!«, worauf hin ein wahnsinniges Geschrei begann. Minton schlich zu seinem Körbchen hinüber und rollte sich dort zusammen, die Pfoten unter sich vergraben. Er selbst war den Bewohnern von nebenan noch nicht vorgestellt worden. Er legte aber auch keinen gesteigerten Wert darauf, Bekanntschaft mit der Katze zu schließen, die Juliet in ihren Rosenbüschen entdeckt hatte.
Wieder ertönte ein Knall, bei dem beinahe der Putz von der Wand gebröckelt wäre. Diane zuckte zusammen, doch Juliet lächelte nur matt und reichte ihr einen Becher mit Kaffee.
»Wie hältst du das nur den ganzen Tag aus?«, fragte sie. »Ich hätte ununterbrochen Migräne!«
»Oh, ich glaube, ich blende den Lärm einfach aus. Wenigstens spielt keines der Kinder Computerspiele.« Juliet hatte keine Ahnung, warum sie die Kellys in Schutz nahm. Dabei kannte sie ja nicht einmal alle Namen der Kinder. Es gab zwei Jungs und zwei Mädchen, so viel stand fest, und alle hatten feuerrotes Haar. Einer der Jungs bekam Asthmaanfälle. In regelmäßigen Abständen schrie jemand: »Schnell, wo ist Spikes Inhalator? «, worauf hin noch mehr panisches Gerenne folgte.
»Passt eigentlich irgendwer auf die Kinder auf ?« Diane ging zum Fenster hinüber und blickte über das hinweg, was einmal Juliets Gemüsegarten hätte werden sollen, um durch die ungepflegte Buchshecke hinüberzuschauen, die die beiden langen Gärten voneinander trennte. »Großer Gott, die haben ein Trampolin. Da ist sogar eine Katze auf dem Trampolin!«
»Ihre Mutter muss auch irgendwo da sein. Willst du ein Kit- Kat?« Juliet nahm sich einen Riegel und tauchte ihn in den heißen Kaffee.
»Danke, nein«, erwiderte Diane. »Dr. Dryden hat mir befohlen, auf meine Zuckerwerte zu achten. Juliet, Liebes, versteh mich bitte nicht falsch, aber wenn du schon keine Handwerker beauftragst, wie wäre es dann wenigstens mit einer Putzfrau? Nur ein Mal die Woche, um alles abzustauben?«
»Mir geht's gut, Mum!«
»Ich würde die Putzfrau auch bezahlen! Als Gegenleistung.« Diane zögerte. »Als Gefallen für einen Gefallen, wenn man das so nennen mag.«
Misstrauisch beäugte Juliet ihre Mutter. »Gefallen« waren normalerweise nur wenig verschleierte Versuche, sie dazu zu zwingen, aus Gründen der gesellschaftlichen Wiedereingliederung das Haus zu verlassen. Diane und Louise hatten eine angemessene Zeit nach der Beerdigung abgewartet, doch mittlerweile kamen sie immer öfter mit solchen »Gefallen« an - einer der letzten war die Bitte gewesen, Dianes Dienst am Samstagmorgen als freiwillige Gassigängerin in der Hundeauffangstation oben auf dem Hügel zu übernehmen. Drei Gassirunden innerhalb von fünf Stunden und dazu so viele Sandwiches mit Frühstücksspeck, wie sie nur essen konnte.
Juliet hatte dankend abgelehnt, mit der Begründung, mit ihrem eigenen Hund Gassi gehen zu müssen.
Diane machte einen eher schuldbewussten als besorgten Eindruck, sodass Juliet schließlich klein beigab.
»Du musst mich nicht bestechen, damit ich dir einen Gefallen tue«, erklärte sie. »Ich brauche keine Putzfrau. Was soll ich für dich tun?«
»Pass auf Coco auf. Nur zwei- oder dreimal pro Woche.«
Juliet runzelte die Stirn. Damit hatte sie nicht gerechnet; wenn, dann hatte höchstens ihre Mum Minton für einen gelegentlichen Spaziergang zusammen mit Coco abgeholt. Coco war ihre schon ein wenig in die Jahre gekommene schokoladenbraune Labradorhündin. Trotz ihrer zwölf Jahre und gelegentlichen Blähungen, die von Würstchen stammten, die Dad ihr entgegen den strikten Anweisungen des Tierarztes immer wieder unter dem Tisch zusteckte, war an Coco nichts auszusetzen.
»Warum?«
»Weil ich zu Hause auf Toby aufpassen werde.«
»Und? Coco kann sich dabei nicht in ihren Korb legen und in der Küche fernsehen, wie sie es immer macht?« Juliet starrte in ihren Becher und stellte fest, dass sie ihren Kaffee beinahe schon ausgetrunken hatte. Es war erstaunlich, wie schnell sie mittlerweile Kaffee trinken konnte. Dabei berührte der Kaffee kaum die Wangeninnenseiten; irgendwie spürte sie nicht mehr richtig, wie heiß der Kaffee war. Ein weiterer seltsamer Nebeneffekt von Bens Tod. Sämtliche Sinne waren gedämpft. Abgeflacht wie die Holzdielen, die sie im Wohnzimmer angefangen hatten abzuschleifen. Manchmal fragte sie sich, ob sie wohl jemals wieder intensive Gefühle verspüren würde, und wenn ja, ob das zwangsläufig etwas Schlechtes war.
Juliet stand auf und schaltete den Wasserkocher wieder ein. Mit Bewegung ließen sich Gedanken gut verhindern.
»Kann denn Dad nicht mit ihr Gassi gehen?«, fragte Juliet über ihre Schulter hinweg.
»Nein. Dann ist er bei seinem Walisisch-Kurs.«
»Bei seinem was?«
»Er hat sich für die Sommerakademie angemeldet und lernt nun Walisisch.« Seitdem er Frührentner war, hatte Eric Summers über die Jahre hinweg beinahe alle Sommerkurse des örtlichen Colleges durchprobiert. Er scherzte gern, dass er sich nun in den meisten europäischen Ländern in der Landessprache über das Essen beschweren könne. »Ich bin also allein.«
»Aha. Und welchen Unterschied macht das?«
»Louise ist ein wenig besorgt darüber, wie sich Coco wohl gegenüber Kleinkindern verhalten wird. Ihre Bedenken sind durchaus berechtigt, Juliet; so etwas liest man doch andauernd in der Zeitung! Sie sagt, dass man Hunden, die nicht von klein auf an Kinder gewöhnt sind, nie hundertprozentig vertrauen könne. Sie ist der Meinung, dass es für Coco doch viel netter sei, wenn sie währenddessen irgendwo anders wäre, als im Garten ausgesperrt zu sein ...«
»Oh, wie zuvorkommend von ihr.«
»... und ich dachte, weil du ja noch nicht wieder arbeiten gehst, wäre es für Coco das Einfachste, wenn sie hierherkommen könnte.« Diane hielt nicht ein Mal inne, um Luft zu holen. Juliet fragte sich unweigerlich, wie lange Diane gebraucht haben mochte, um diese Argumentation einzustudieren. »Du könntest doch mit beiden zusammen Gassi gehen. Es würde Minton mal ganz guttun, ein wenig Tageslicht abzubekommen. Vitamin D!«
Ohne darauf einzugehen, kochte Juliet frischen Kaffee und setzte anschließend ihren Becher auf einer alten Ausgabe von Ideal Home vom August 2009 ab. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie das Magazin jeden Monat gekauft hatte. Inzwischen kam ihr dies ein wenig lächerlich vor. Ein Keramikspülbecken war ein Keramikspülbecken, außerdem hatte sie dafür kein Geld mehr.
»Jetzt sag doch was, Juliet!« Diane nestelte an ihrem Halstuch herum. »Du weißt, wie ich es hasse, wenn du mich so anschweigst! «
»Ich schweige dich nicht an. Ich bin einfach nur ...« Nicht mehr daran gewöhnt, mit Leuten in Echtzeit zu reden. Anruf beantworter und E-Mails hatten es Juliet erlaubt, eine sichere Distanz zu anderen Menschen einzuhalten. So blieb ihr stets genügend Zeit, um sich eine Antwort zurechtzulegen, die nicht so verrückt klang, wie sie sich in letzter Zeit fühlte.
Juliet war ein wenig verärgert darüber, so in Zugzwang gebracht zu werden - und das auch noch dank des lächerlichen Aufstandes, den ihre Schwester wegen ihres Erstgeborenen machte. »Arme Coco. Wird aus ihrem eigenen Zuhause vertrieben, nur weil sie vier Pfoten hat. Was könnte sie denn dem Kleinen antun? Ihn anpupsen? Du solltest Louise in solchen Dingen nicht auch noch ermutigen, Mum! Seit Toby auf der Welt ist, tut sie gerade so, als ginge von jedem Zimmer eine potenzielle Todesgefahr aus!«
Diane schreckte bei dem Wort »Tod« zusammen.
»Lass das. Wenn hier jemand vom Tod sprechen darf, dann ja wohl ich.« Juliets Pulsschlag beschleunigte sich wegen ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sagen, was sie wollte: Niemand schien ihr dies anzukreiden. »Coco wird Toby schon nicht anfallen. Oder hat Louise etwa beschlossen, dass Labradore von nun an verboten sind, weil sie sie nicht mit einem Baby-Feuchttuch abwischen kann?«
Übersetzung: Sina Baumanns
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2012 Copyright © der Originalausgabe 2010 by Lucy Dillon Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Lucy Dillon
Lucy Dillon kommt aus Cumbria, einer Grafschaft im Nordwesten Englands, und lebt in London und Wye Valley.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lucy Dillon
- 2012, 509 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Baumanns, Sina
- Übersetzer: Sina Baumanns
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442477581
- ISBN-13: 9783442477586
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