Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher
Roman
Der 8. Fall für Lincoln Rhyme und Amelia Sachs rasanter und spannender denn je. Denn der Killer, den sie jagen, ist brutal, unberechenbar und noch dazu teuflisch clever. Schonungslos foltert und tötet er und lockt Opfer und Polizei immer wieder in die Falle.
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher “
Der 8. Fall für Lincoln Rhyme und Amelia Sachs rasanter und spannender denn je. Denn der Killer, den sie jagen, ist brutal, unberechenbar und noch dazu teuflisch clever. Schonungslos foltert und tötet er und lockt Opfer und Polizei immer wieder in die Falle.
Klappentext zu „Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher “
Der achte Fall für das geniale Ermittlerpaar Lincoln Rhyme und Amelia SachsLincoln Rhyme und Amelia Sachs im Duell gegen einen akribischen Verbrecher, der wie besessen alles sammelt - von einfachen Abfällen über die intimsten Details seiner ahnungslosen Opfer bis hin zur ultimativen Trophäe: dem menschlichen Leben selbst. Die schärfste Waffe des "Täuschers" ist sein unermesslicher Schatz an geraubten Informationen, die er mit teuflischer Präzision gegen seine Opfer einzusetzen weiß. Und gegen alle, die ihn aufhalten wollen ...
Lese-Probe zu „Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher “
Der Täuscher von Jeffery DeaverERSTER TEIL
Gemeinsamkeiten
Donnerstag, 12. Mai
Die Privatsphäre wird zumeist nicht durch die Enthüllung großer persönlicher Geheimnisse verletzt werden, sondern durch die Bekanntgabe zahlreicher Kleinigkeiten. [ ... ] Es ist wie mit Killer bienen: Eine ist lästig, aber ein ganzer Schwarm kann tödlich sein.
Robert O'Harrow jr., No Place to Hide
...Eins
... mehr
Irgendetwas stimmte nicht ganz, aber sie konnte es nicht genau benennen.
Wie ein Schmerz, der irgendwo in deinem Körper vage wieder aufflackert.
Oder ein Mann, der auf dem Heimweg hinter dir geht ... Etwa derselbe Kerl, der in der U-Bahn ständig zu dir herübergeschaut hat?
Oder ein dunkler Punkt, der sich deinem Bett nähert und plötzlich verschwunden ist. Eine giftige Spinne?
Doch dann sah der Besucher, der auf ihrem Wohnzimmersofa saß, sie lächelnd an, und Alice Sanderson vergaß ihre Sorge - falls man das überhaupt als eine Sorge hätte bezeichnen können. Arthur war nicht nur intelligent und ziemlich durchtrainiert. Er hatte vor allem ein großartiges Lächeln.
»Wie wär's mit einem Glas Wein?«, fragte sie und ging in die kleine Küche.
»Gern. Was immer du gerade im Haus hast.«
»Das macht echt Spaß - mitten in der Woche die Arbeit zu schwänzen. Man sollte meinen, wir seien zu alt für so was. Aber es gefällt mir.«
»Born to be wild«, scherzte er.
Das offene Fenster gab den Blick auf die Sandsteingebäude der anderen Straßenseite frei, manche davon mit Anstrich, andere naturbelassen. Auch ein Teil der Skyline Manhattans war zu sehen und ragte in den Dunst des schönen Frühlingstages auf. Ein Luftzug - recht frisch für New Yorker Verhältnisse - trug den Duft von Knoblauch und Oregano herein. Das kam von dem italienischen Restaurant ein paar Häuser weiter. Es war ihrer beider Lieblingsküche - eine der vielen Gemeinsamkeiten, die sie festgestellt hatten, seit sie sich vor einigen Wochen bei einer Weinprobe in SoHo begegnet waren. Alice hatte Ende April zusammen mit etwa vierzig anderen Leuten den Ausführungen eines Sommeliers über die Weine Europas gelauscht, als eine Männerstimme sich nach einem bestimmten spanischen Rotwein erkundigte.
Sie hatte unwillkürlich leise aufgelacht, denn zufälligerweise besaß sie einen Karton genau dieses Weines (nun ja, inzwischen war der Inhalt nicht mehr ganz vollständig). Das Weingut war eher unbekannt, und es mochte sich nicht um den besten Rioja aller Zeiten handeln, aber für Alice waren schöne Erinnerungen damit verbunden. Während eines einwöchigen Spanienaufenthaltes hatten sie und ihr französischer Geliebter nämlich jede Menge davon getrunken - eine perfekte Liaison, genau das Richtige für eine Frau Ende zwanzig, die sich kurz zuvor von ihrem Freund getrennt hatte. Die Urlaubsromanze verlief leidenschaftlich, intensiv und natürlich ohne die Gefahr einer längerfristigen Bindung, was sie nur umso besser machte.
Bei der Weinprobe hatte Alice sich vorgebeugt, um einen Blick auf den Fragesteller zu werfen: ein durchschnittlich aussehender Mann in Anzug und Krawatte. Nach einigen Gläsern der vorgestellten Weinkollektion war sie etwas mutiger geworden, hatte mit ihrem Häppchenteller in der Hand den Raum durchquert und sich bei dem Fremden nach dem Grund für sein Interesse an dem besagten Rioja erkundigt.
Er erzählte ihr von einer Spanienreise, die er ein paar Jahre zuvor mit einer Exfreundin unternommen und dabei Gefallen an dem Wein gefunden hatte. Sie nahmen an einem Tisch Platz und unterhielten sich eine Weile. Wie sich herausstellte, schien Arthur das gleiche Essen und dieselben Sportarten zu mögen wie Alice. Sie gingen beide joggen und brachten jeden Morgen eine Stunde in einem überteuerten Fitnesscenter zu. »Aber ich trage dabei bloß schlichte Shorts und ein einfaches T-Shirt vom Wühltisch«, sagte er. »Nicht so einen Designermüll ...« Dann wurde er rot, weil er merkte, dass er Alice womöglich beleidigt hatte.
Doch sie lachte nur, denn sie selbst hielt es mit ihren Sportsachen genauso (und kaufte diese meistens in einem Billigladen in Jersey, wenn sie ihre Eltern besuchte). Allerdings widerstand sie dem Impuls, Arthur sogleich davon zu erzählen; sie wollte schließlich nicht übereifrig wirken. Und so spielten sie das beliebte Kennenlernspiel der Großstadtsingles: Was wir zwei gemeinsam haben. Sie vergaben Noten an Restaurants, verglichen Episoden einer bekannten Sitcom und klagten über ihre Psychotherapeuten.
Es folgte eine Verabredung, dann noch eine. Art war witzig und aufmerksam. Ein wenig formell und bisweilen schüchtern und zurückhaltend, aber das führte Alice auf die - wie er es nannte - »höllische Trennung« von seiner langjährigen Freundin aus der Modebranche zurück. Und auf seine enorme Arbeitsbelastung - ty pisch für einen Geschäftsmann in Manhattan. Er hatte nur wenig Freizeit.
Würde etwas aus ihnen beiden werden?
Noch war nichts Ernstes zwischen ihnen gelaufen. Aber es gab weitaus unangenehmere Menschen, mit denen man seine Zeit verbringen konnte. Und als sie sich beim letzten Treffen geküsst hatten, hatte Alice dieses sanfte Kribbeln gespürt, das ihr mitteilte, dass die Chemie stimmte. Der heutige Abend würde ihr eventuell genaueren Aufschluss darüber geben. Ihr war nicht entgangen, dass Arthur immer wieder - insgeheim, wie er glaubte - das enge rosafarbene Kleid musterte, das sie sich extra für diese Verabredung gekauft hatte. Für den Fall, dass es nicht beim Küssen bleiben würde, hatte Alice im Schlafzimmer zudem einige Vorkehrungen getroffen.
Dann meldete sich plötzlich wieder diese leichte Verunsicherung, die Sorge wegen der Spinne.
Was war denn nur los?
Alice nahm an, es müsse sich wohl um einen Rest des Unbe - ha gens handeln, das sie empfunden hatte, als ihr früher an jenem Tag ein Paket zugestellt worden war, von einem Mann mit kahl geschorenem Kopf und buschigen Augenbrauen, der nach Ziga retten roch und mit starkem osteuropäischen Akzent sprach. Während sie den Empfang quittierte, hatte der Kerl sie von oben bis unten anzüglich begafft und dann um ein Glas Wasser gebeten. Widerwillig hatte sie ihm aus der Küche etwas zu trinken geholt und ihn bei ihrer Rückkehr mitten im Wohnzimmer vorgefunden, wo er ihre Stereoanlage anstarrte.
Sie hatte gesagt, sie erwarte Besuch, und er war mit finsterer Miene gegangen, als sei er beleidigt. Daraufhin hatte Alice aus dem Fenster gesehen und fast zehn Minuten warten müssen, bis der Mann unten zum Vorschein kam, in den in zweiter Reihe geparkten Lieferwagen stieg und wegfuhr.
Was hatte er die ganze Zeit in dem Apartmentgebäude gemacht? Die Sicherheitsvorkehrungen ausgekundschaftet...? »Hallo, Erde an Alice ...«
»Entschuldige.« Sie lachte, ging zum Sofa und setzte sich neben Arthur. Ihre Knie berührten einander. Die Gedanken an den Paketboten verschwanden. Alice und Arthur nahmen ihre Gläser und stießen an, diese zwei Menschen, die auf vielen wichtigen Ge bieten harmonierten - Politik (sie spendeten nahezu den gleichen Be trag an die Demokratische Partei und zusätzlich etwas für die Wahlkampagnen), Filme, Essen, Reisen. Sie waren beide nicht prak tizierende Protestanten.
Als ihre Knie einander erneut berührten, rieb Arthur sein Bein verführerisch an ihrem. Dann lächelte er und fragte: »Übrigens, was ist mit diesem Gemälde, dem Prescott? Hast du es bekommen?«
Sie nickte mit leuchtenden Augen. »Jawohl, ich bin jetzt stolze Besitzerin eines Harvey Prescott.«
Nach New Yorker Begriffen war Alice Sanderson keine reiche Frau, aber sie hatte ihr Geld gut investiert und frönte einer großen Leidenschaft. Prescott, ein Maler aus Oregon, dessen Karriere sie lange verfolgt hatte, war auf fotorealistische Familienbilder spezialisiert gewesen - nicht von echten Leuten, sondern von ausgedachten Personen. Manche der Werke fielen eher traditionell aus, andere weniger - sie zeigten Alleinerziehende, Eltern von unterschied licher Hautfarbe oder homosexuelle Paare. Was sich von Pres cott überhaupt noch auf dem Markt befand, war für Alice meis tens viel zu teuer, aber sie stand auf den Mailinglisten der Galerien, die gelegentlich neue Angebote hereinbekamen. Letzten Monat hatte sie aus dem Westen der USA die Nachricht erreicht, demnächst könne für einen Preis von hundertfünfzigtausend Dollar ein kleines frühes Ölgemälde erhältlich sein. Der Eigentümer entschied sich tatsächlich für den Verkauf, und Alice machte einen Teil ihrer Anlagen zu Geld, um die Summe aufzubringen.
Das war die Lieferung, die sie heute erhalten hatte. Doch der Gedanke an den Zusteller ließ die Freude über den Neuerwerb schlagartig wieder verblassen. Sie erinnerte sich an den Geruch des Mannes, an seine lüsternen Blicke. Alice stand auf und ging zum Fenster, als wolle sie die Vorhänge ein Stück weiter aufziehen. Dabei sah sie nach draußen. Keine Lieferwagen, keine Glatzköpfe, die an der Straßenecke standen und zu ihrer Wohnung he raufstarrten. Sie überlegte, ob sie das Fenster schließen und verriegeln sollte, aber das würde gewiss etwas eigenartig wirken und eine Erklärung erfordern.
Sie kehrte zu Arthur zurück, wies auf die Zimmerwände und erzählte ihm, sie sei sich nicht sicher, wo in ihrem kleinen Apartment sie das Gemälde aufhängen solle. Vor ihrem inneren Auge lief ein kurzer Film ab: Arthur blieb eines Samstags über Nacht und half ihr am Sonntag nach dem Brunch dabei, den perfekten Platz für das Bild zu finden.
»Möchtest du es mal sehen?«, fragte sie fröhlich und voller Stolz.
»Unbedingt.«
Sie standen auf, und Alice ging voran zum Schlafzimmer. Ihr war so, als würde sie draußen auf dem Hausflur Schritte hören. Die anderen Mieter hätten um diese Tageszeit eigentlich bei der Ar beit sein müssen.
War das etwa der Paketbote?
Nun ja, wenigstens war sie nicht allein.
Sie erreichten die Schlafzimmertür.
In diesem Moment biss die Giftspinne zu.
Alice war urplötzlich klar, was sie die ganze Zeit gestört hatte, und es hatte nichts mit dem Paketzusteller zu tun gehabt. Nein, es ging um Arthur. Er hatte sie gestern gefragt, wann der Prescott eintreffen würde.
Zuvor hatte sie ihm zwar erzählt, dass sie sich ein Gemälde kaufen wolle, aber den Namen des Künstlers hatte sie nie erwähnt. Sie hielt an der Schlafzimmertür inne. Ihre Hände wurden feucht. Falls er von selbst etwas über das Bild herausgefunden hatte, dann vielleicht auch über andere Aspekte ihres Lebens. Was war, falls die vielen Gemeinsamkeiten gelogen wären? Falls er schon vorher gewusst hätte, dass sie diesen spanischen Wein mochte? Falls er nur deswegen bei der Weinprobe aufgetaucht wäre, weil er sich an sie heranmachen wollte? All die Restaurants, die sie beide kannten, die Reisen, die Fernsehserien ...
Mein Gott, und jetzt führte sie einen Mann, den sie erst seit ein paar Wochen kannte, in ihr Schlafzimmer. Völlig schutzlos ... Das Atmen fiel ihr schwer ... Sie zitterte.
»Oh, das Bild«, flüsterte er und schaute an ihr vorbei. »Wie wunderbar.«
Als sie seine ruhige, wohltönende Stimme hörte, lachte Alice innerlich auf. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Sie musste Arthur irgendwann Prescotts Namen genannt haben. Ihre Verunsicherung schob sie beiseite. Beruhige dich. Du lebst schon zu lange allein. Denk an sein Lächeln, seine Witze. Er tickt so wie du.
Bleib locker.
Ein leises Lachen. Alice musterte das sechzig mal sechzig Zentimeter große Ölgemälde, die gedämpften Farben: ein halbes Dutzend Leute an einem Esstisch, die den Betrachter ansahen, einige belustigt, andere nachdenklich oder besorgt.
»Unglaublich«, sagte er.
»Der Bildaufbau ist großartig. Aber am besten hat Prescott die verschiedenen Gesichtsausdrücke eingefangen. Meinst du nicht auch?« Alice wandte sich zu ihm um.
Ihr Lächeln erstarb. »Was ist denn, Arthur? Was machst du da?« Er hatte sich beigefarbene Stoffhandschuhe übergestreift und griff soeben in die Tasche. Und dann sah Alice ihm in die Augen, die sich in dunkle kleine Punkte unter finsteren Brauen verwandelt hatten, in einem Gesicht, das sie kaum wiedererkannte.
Übersetzung: Thomas Haufschild
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Irgendetwas stimmte nicht ganz, aber sie konnte es nicht genau benennen.
Wie ein Schmerz, der irgendwo in deinem Körper vage wieder aufflackert.
Oder ein Mann, der auf dem Heimweg hinter dir geht ... Etwa derselbe Kerl, der in der U-Bahn ständig zu dir herübergeschaut hat?
Oder ein dunkler Punkt, der sich deinem Bett nähert und plötzlich verschwunden ist. Eine giftige Spinne?
Doch dann sah der Besucher, der auf ihrem Wohnzimmersofa saß, sie lächelnd an, und Alice Sanderson vergaß ihre Sorge - falls man das überhaupt als eine Sorge hätte bezeichnen können. Arthur war nicht nur intelligent und ziemlich durchtrainiert. Er hatte vor allem ein großartiges Lächeln.
»Wie wär's mit einem Glas Wein?«, fragte sie und ging in die kleine Küche.
»Gern. Was immer du gerade im Haus hast.«
»Das macht echt Spaß - mitten in der Woche die Arbeit zu schwänzen. Man sollte meinen, wir seien zu alt für so was. Aber es gefällt mir.«
»Born to be wild«, scherzte er.
Das offene Fenster gab den Blick auf die Sandsteingebäude der anderen Straßenseite frei, manche davon mit Anstrich, andere naturbelassen. Auch ein Teil der Skyline Manhattans war zu sehen und ragte in den Dunst des schönen Frühlingstages auf. Ein Luftzug - recht frisch für New Yorker Verhältnisse - trug den Duft von Knoblauch und Oregano herein. Das kam von dem italienischen Restaurant ein paar Häuser weiter. Es war ihrer beider Lieblingsküche - eine der vielen Gemeinsamkeiten, die sie festgestellt hatten, seit sie sich vor einigen Wochen bei einer Weinprobe in SoHo begegnet waren. Alice hatte Ende April zusammen mit etwa vierzig anderen Leuten den Ausführungen eines Sommeliers über die Weine Europas gelauscht, als eine Männerstimme sich nach einem bestimmten spanischen Rotwein erkundigte.
Sie hatte unwillkürlich leise aufgelacht, denn zufälligerweise besaß sie einen Karton genau dieses Weines (nun ja, inzwischen war der Inhalt nicht mehr ganz vollständig). Das Weingut war eher unbekannt, und es mochte sich nicht um den besten Rioja aller Zeiten handeln, aber für Alice waren schöne Erinnerungen damit verbunden. Während eines einwöchigen Spanienaufenthaltes hatten sie und ihr französischer Geliebter nämlich jede Menge davon getrunken - eine perfekte Liaison, genau das Richtige für eine Frau Ende zwanzig, die sich kurz zuvor von ihrem Freund getrennt hatte. Die Urlaubsromanze verlief leidenschaftlich, intensiv und natürlich ohne die Gefahr einer längerfristigen Bindung, was sie nur umso besser machte.
Bei der Weinprobe hatte Alice sich vorgebeugt, um einen Blick auf den Fragesteller zu werfen: ein durchschnittlich aussehender Mann in Anzug und Krawatte. Nach einigen Gläsern der vorgestellten Weinkollektion war sie etwas mutiger geworden, hatte mit ihrem Häppchenteller in der Hand den Raum durchquert und sich bei dem Fremden nach dem Grund für sein Interesse an dem besagten Rioja erkundigt.
Er erzählte ihr von einer Spanienreise, die er ein paar Jahre zuvor mit einer Exfreundin unternommen und dabei Gefallen an dem Wein gefunden hatte. Sie nahmen an einem Tisch Platz und unterhielten sich eine Weile. Wie sich herausstellte, schien Arthur das gleiche Essen und dieselben Sportarten zu mögen wie Alice. Sie gingen beide joggen und brachten jeden Morgen eine Stunde in einem überteuerten Fitnesscenter zu. »Aber ich trage dabei bloß schlichte Shorts und ein einfaches T-Shirt vom Wühltisch«, sagte er. »Nicht so einen Designermüll ...« Dann wurde er rot, weil er merkte, dass er Alice womöglich beleidigt hatte.
Doch sie lachte nur, denn sie selbst hielt es mit ihren Sportsachen genauso (und kaufte diese meistens in einem Billigladen in Jersey, wenn sie ihre Eltern besuchte). Allerdings widerstand sie dem Impuls, Arthur sogleich davon zu erzählen; sie wollte schließlich nicht übereifrig wirken. Und so spielten sie das beliebte Kennenlernspiel der Großstadtsingles: Was wir zwei gemeinsam haben. Sie vergaben Noten an Restaurants, verglichen Episoden einer bekannten Sitcom und klagten über ihre Psychotherapeuten.
Es folgte eine Verabredung, dann noch eine. Art war witzig und aufmerksam. Ein wenig formell und bisweilen schüchtern und zurückhaltend, aber das führte Alice auf die - wie er es nannte - »höllische Trennung« von seiner langjährigen Freundin aus der Modebranche zurück. Und auf seine enorme Arbeitsbelastung - ty pisch für einen Geschäftsmann in Manhattan. Er hatte nur wenig Freizeit.
Würde etwas aus ihnen beiden werden?
Noch war nichts Ernstes zwischen ihnen gelaufen. Aber es gab weitaus unangenehmere Menschen, mit denen man seine Zeit verbringen konnte. Und als sie sich beim letzten Treffen geküsst hatten, hatte Alice dieses sanfte Kribbeln gespürt, das ihr mitteilte, dass die Chemie stimmte. Der heutige Abend würde ihr eventuell genaueren Aufschluss darüber geben. Ihr war nicht entgangen, dass Arthur immer wieder - insgeheim, wie er glaubte - das enge rosafarbene Kleid musterte, das sie sich extra für diese Verabredung gekauft hatte. Für den Fall, dass es nicht beim Küssen bleiben würde, hatte Alice im Schlafzimmer zudem einige Vorkehrungen getroffen.
Dann meldete sich plötzlich wieder diese leichte Verunsicherung, die Sorge wegen der Spinne.
Was war denn nur los?
Alice nahm an, es müsse sich wohl um einen Rest des Unbe - ha gens handeln, das sie empfunden hatte, als ihr früher an jenem Tag ein Paket zugestellt worden war, von einem Mann mit kahl geschorenem Kopf und buschigen Augenbrauen, der nach Ziga retten roch und mit starkem osteuropäischen Akzent sprach. Während sie den Empfang quittierte, hatte der Kerl sie von oben bis unten anzüglich begafft und dann um ein Glas Wasser gebeten. Widerwillig hatte sie ihm aus der Küche etwas zu trinken geholt und ihn bei ihrer Rückkehr mitten im Wohnzimmer vorgefunden, wo er ihre Stereoanlage anstarrte.
Sie hatte gesagt, sie erwarte Besuch, und er war mit finsterer Miene gegangen, als sei er beleidigt. Daraufhin hatte Alice aus dem Fenster gesehen und fast zehn Minuten warten müssen, bis der Mann unten zum Vorschein kam, in den in zweiter Reihe geparkten Lieferwagen stieg und wegfuhr.
Was hatte er die ganze Zeit in dem Apartmentgebäude gemacht? Die Sicherheitsvorkehrungen ausgekundschaftet...? »Hallo, Erde an Alice ...«
»Entschuldige.« Sie lachte, ging zum Sofa und setzte sich neben Arthur. Ihre Knie berührten einander. Die Gedanken an den Paketboten verschwanden. Alice und Arthur nahmen ihre Gläser und stießen an, diese zwei Menschen, die auf vielen wichtigen Ge bieten harmonierten - Politik (sie spendeten nahezu den gleichen Be trag an die Demokratische Partei und zusätzlich etwas für die Wahlkampagnen), Filme, Essen, Reisen. Sie waren beide nicht prak tizierende Protestanten.
Als ihre Knie einander erneut berührten, rieb Arthur sein Bein verführerisch an ihrem. Dann lächelte er und fragte: »Übrigens, was ist mit diesem Gemälde, dem Prescott? Hast du es bekommen?«
Sie nickte mit leuchtenden Augen. »Jawohl, ich bin jetzt stolze Besitzerin eines Harvey Prescott.«
Nach New Yorker Begriffen war Alice Sanderson keine reiche Frau, aber sie hatte ihr Geld gut investiert und frönte einer großen Leidenschaft. Prescott, ein Maler aus Oregon, dessen Karriere sie lange verfolgt hatte, war auf fotorealistische Familienbilder spezialisiert gewesen - nicht von echten Leuten, sondern von ausgedachten Personen. Manche der Werke fielen eher traditionell aus, andere weniger - sie zeigten Alleinerziehende, Eltern von unterschied licher Hautfarbe oder homosexuelle Paare. Was sich von Pres cott überhaupt noch auf dem Markt befand, war für Alice meis tens viel zu teuer, aber sie stand auf den Mailinglisten der Galerien, die gelegentlich neue Angebote hereinbekamen. Letzten Monat hatte sie aus dem Westen der USA die Nachricht erreicht, demnächst könne für einen Preis von hundertfünfzigtausend Dollar ein kleines frühes Ölgemälde erhältlich sein. Der Eigentümer entschied sich tatsächlich für den Verkauf, und Alice machte einen Teil ihrer Anlagen zu Geld, um die Summe aufzubringen.
Das war die Lieferung, die sie heute erhalten hatte. Doch der Gedanke an den Zusteller ließ die Freude über den Neuerwerb schlagartig wieder verblassen. Sie erinnerte sich an den Geruch des Mannes, an seine lüsternen Blicke. Alice stand auf und ging zum Fenster, als wolle sie die Vorhänge ein Stück weiter aufziehen. Dabei sah sie nach draußen. Keine Lieferwagen, keine Glatzköpfe, die an der Straßenecke standen und zu ihrer Wohnung he raufstarrten. Sie überlegte, ob sie das Fenster schließen und verriegeln sollte, aber das würde gewiss etwas eigenartig wirken und eine Erklärung erfordern.
Sie kehrte zu Arthur zurück, wies auf die Zimmerwände und erzählte ihm, sie sei sich nicht sicher, wo in ihrem kleinen Apartment sie das Gemälde aufhängen solle. Vor ihrem inneren Auge lief ein kurzer Film ab: Arthur blieb eines Samstags über Nacht und half ihr am Sonntag nach dem Brunch dabei, den perfekten Platz für das Bild zu finden.
»Möchtest du es mal sehen?«, fragte sie fröhlich und voller Stolz.
»Unbedingt.«
Sie standen auf, und Alice ging voran zum Schlafzimmer. Ihr war so, als würde sie draußen auf dem Hausflur Schritte hören. Die anderen Mieter hätten um diese Tageszeit eigentlich bei der Ar beit sein müssen.
War das etwa der Paketbote?
Nun ja, wenigstens war sie nicht allein.
Sie erreichten die Schlafzimmertür.
In diesem Moment biss die Giftspinne zu.
Alice war urplötzlich klar, was sie die ganze Zeit gestört hatte, und es hatte nichts mit dem Paketzusteller zu tun gehabt. Nein, es ging um Arthur. Er hatte sie gestern gefragt, wann der Prescott eintreffen würde.
Zuvor hatte sie ihm zwar erzählt, dass sie sich ein Gemälde kaufen wolle, aber den Namen des Künstlers hatte sie nie erwähnt. Sie hielt an der Schlafzimmertür inne. Ihre Hände wurden feucht. Falls er von selbst etwas über das Bild herausgefunden hatte, dann vielleicht auch über andere Aspekte ihres Lebens. Was war, falls die vielen Gemeinsamkeiten gelogen wären? Falls er schon vorher gewusst hätte, dass sie diesen spanischen Wein mochte? Falls er nur deswegen bei der Weinprobe aufgetaucht wäre, weil er sich an sie heranmachen wollte? All die Restaurants, die sie beide kannten, die Reisen, die Fernsehserien ...
Mein Gott, und jetzt führte sie einen Mann, den sie erst seit ein paar Wochen kannte, in ihr Schlafzimmer. Völlig schutzlos ... Das Atmen fiel ihr schwer ... Sie zitterte.
»Oh, das Bild«, flüsterte er und schaute an ihr vorbei. »Wie wunderbar.«
Als sie seine ruhige, wohltönende Stimme hörte, lachte Alice innerlich auf. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Sie musste Arthur irgendwann Prescotts Namen genannt haben. Ihre Verunsicherung schob sie beiseite. Beruhige dich. Du lebst schon zu lange allein. Denk an sein Lächeln, seine Witze. Er tickt so wie du.
Bleib locker.
Ein leises Lachen. Alice musterte das sechzig mal sechzig Zentimeter große Ölgemälde, die gedämpften Farben: ein halbes Dutzend Leute an einem Esstisch, die den Betrachter ansahen, einige belustigt, andere nachdenklich oder besorgt.
»Unglaublich«, sagte er.
»Der Bildaufbau ist großartig. Aber am besten hat Prescott die verschiedenen Gesichtsausdrücke eingefangen. Meinst du nicht auch?« Alice wandte sich zu ihm um.
Ihr Lächeln erstarb. »Was ist denn, Arthur? Was machst du da?« Er hatte sich beigefarbene Stoffhandschuhe übergestreift und griff soeben in die Tasche. Und dann sah Alice ihm in die Augen, die sich in dunkle kleine Punkte unter finsteren Brauen verwandelt hatten, in einem Gesicht, das sie kaum wiedererkannte.
Übersetzung: Thomas Haufschild
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Jeffery Deaver
Deaver, JefferyJeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Wie kaum ein anderer beherrscht der von seinen Fans und den Kritikern gleichermaßen geliebte Jeffery Deaver den schier unerträglichen Nervenkitzel, verführt mit falschen Fährten, überrascht mit blitzschnellen Wendungen und streut dem Leser auf seine unnachahmliche Art Sand in die Augen. Seit dem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat er sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher, die in 25 Sprachen übersetzt werden und in 150 Ländern erscheinen, haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht. Die kongeniale Verfilmung seines Romans "Die Assistentin" unter dem Titel "Der Knochenjäger" (mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen) war weltweit ein sensationeller Kinoerfolg und hat dem faszinierenden Ermittler- und Liebespaar Lincoln Rhyme und Amelia Sachs eine riesige Fangemeinde erobert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeffery Deaver
- 2010, 544 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Haufschild, Thomas
- Übersetzer: Thomas Haufschild
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442372143
- ISBN-13: 9783442372140
- Erscheinungsdatum: 19.07.2010
Kommentare zu "Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher"
0 Gebrauchte Artikel zu „Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Lincoln Rhyme Band 8: Der Täuscher".
Kommentar verfassen