Lorettas letzter Vorhang / Rosina Bd.3
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Lorettas letzter Vorhang von Petra Oelker
LESEPROBE
1. KAPITEL
Dienstag, den 6. Oktober,
vormittags
Die Stadt sah wie frischgewaschen aus, und das war sie auch. Tagelang hatte der prasselnde Regen denSommerstaub von den Dächern gespült, hatten stürmische Böen Unrat und alles,was nicht fest gebaut oder angebunden war, von Straßen, Plätzen und Höfen indie Fleete und Flüsse geweht. Die alten Ulmen auf den Wällen und die Linden aufdem Jungfernstieg reckten ihre gerupften, nun schon fast nackten Äste in denHimmel.
Die junge Frau imnachtblauen Mieder sah stirnrunzelnd an ihrem ehemalsweiß und lavendelfarben gestreiften Rock hinunter. Derbraune Morast und das schlammige Wasser der Pfützen, die viele Straßen derStadt immer noch bedeckten, hingen schwer und klebrig bis weit über den Saum indem feinen Kattun. Natürlich war es leichtsinnig gewesen, heute morgen ihren schönsten Rock anzuziehen. Aber wie wunderbar, daß Regen und Sturm sieh endlich eine andere Stadt gesuchthatten! In den letzten Tagen hatte sie sieh wie ein Vogel im Käfig gefühlt, undder erste Morgen ohne diese kalten Sturzbäche war wie ein Fest. Das war einenschmutzigen Rock wert. Sie blinzelte in die Sonne und sah über die innereAlster, auf der sieh das Licht glitzernd in kleinen, mutwillig hüpfenden Wellenfing. Die roten Dächer am westlichen Ufer leuchteten im klaren Morgenlicht, unddie schwarzen der beiden Mühlen links und rechts der Lombardsbrücke zwischenden Bastionen Dedericus und David schimmerten wie Samt.Selbst die Schreie der hoch über dein Wasser tanzenden Möwen klangenausgelassen der Sonne entgegen.
In der vergangenen Nacht hatte dersintflutartige Regen endlich aufgehört. Mit dem Sonnenaufgang riß die bleierne Wolkendecke, verwandelte sich inaufgeplusterte Gebilde, die, weiß und grau mit kleinen schwarzblauen Fetzen,immer weiter aufzusteigen schienen. Plötzlich war der Himmel über Hamburg nichtmehr bedrohlich, plötzlich war er hoch und hell, die Sonne, genauso geputztwie die Dächer, überschüttete die Stadt mit diesem goldenen Herbstlicht, dasdie Seele weit macht und sehnsüchtig, genau wie das erste Grün des Frühlings.Die frische, klare Luft war belebend wie junger Wein. Immer noch wehte Wind,aber nun war er sanft, als habe er sich müde getobt und schlendere nur noch einwenig herum, um der Sonne, die sich so lange verborgen hatte, Gesellschaft zuleisten.
Alles, was Beine hatte, egal ob zweioder vier, drängte sieh in den Straßen. Auf denWäscheleinen über den Gängen flatterten Kleider, Decken, Kissen und Leinzeug.Alles, was in den letzten Tagen feucht und muffig geworden war, dehnte undglättete sich in der wärmenden Sonne. Niemand schien sich daran zu stören, daß die meisten Wege in der Stadt noch so morastig waren,Kinder, ob in Lumpen oder im Samtjäckchen, sprangen mit schrillem Geschrei überdie großen Wasserlachen, und wer nicht zu Pferd, in einer Kutsche oder Sänfteden ersten sonnigen 'lag begrüßen konnte, stapfte in klobigen, strohgepolstertenHolzschuhen durch die Pfützen.
Auch Rosina, die junge Frau, dieihren schmutzigen Rock nun ein wenig höher raffte, als es an normalen Tagen schicklichwar, trug heute Holzschuhe. Sie gehörten ihrer außerordentlich stattlichenWirtin und waren trotz des dicken Strohpolsters viel zu groß. Wenn sie denWinter in Hamburg mit halbwegs trockenen Füßen überstehen wollte, mußte sie unbedingt ein passendes Paar dieser unförmigenPantinen kaufen.
Auf dem Jungfernstieg drängten sichdie Menschen, bewegten sich in seltsam stockenden Schlangenlinien, hüpftenvon einer halbwegs trockenen Stelle zur nächsten, und wenn sie Nachbarn oderFreunde trafen, nahmen sie sieh doch immer wieder genug Zeit, einander zuversichern, daß Anfang Oktober viel zu früh für soeinen Sturm sei, daß man nicht wisse, wie man denKeller und den Schuppen jemals wieder trocken bekomme, oder - mit einem wohlwollendenBlick zur kupfernen Turmspitze von St. Petri -was fürein Glück es sei, daß Petrus nun doch ein Einsehengehabt habe. Auf den Ufersteinen boten Hökerinnen schon wieder ihre Warenfeil, beeilten sieh, mit roten Äpfel oder Zimtkringeln, Zitronen, getrocknetem Lavendel,kleinen Puppen aus weißen und braunen \Vollfäden oder Windrädern ausGänsefedern die Verluste der vergangenen Tage wettzumachen.
Rosina besah sich die Menschen,hörte ihnen zu, lauschte auf die Möwen, die Hunde und Pferde, die knarrendenRäder der Karren, Fuhrwerke und Kutschen und fühlte sich wie auf einer großenBühne. Einer etwas zu vollen Bühne: Gerade wich sie einem hoch mit Kattunballenbeladenen Karren aus, als sie unsanft von einem « Platz da! » rufendenSänftenträger zur Seite geschubst wurde. Die Männer schleppten offenbar einenebenso schweren wie gut zahlenden Gast, jedenfalls waren sie sehr in Eile.
Rosina stolperte und sprang hastigzur Seite, aber ihren linken Schuh kümmerte das nicht. Der blieb einen Schritt zurückin einer schlammigen Pfütze stecken, und nun stand sie schwankend auf einemBein, das Gesicht unter den blonden, nur noch mühsam gebändigten Locken ärgerlichgerötet, die schlammbespritzten Röcke mit beiden Händen gerafft. Und währendein vorbeieilender Wasserträger etwas von einem betrunkenen Storch rief, löstesich ihr Schultertuch, glitt langsam, aber unaufhaltsam zu Boden und versankin einer braunen Pfütze.
Ein junger Mann löste sich aus derMenge der lachenden Zuschauer, zog schnell die Pantine aus dem Morast undstülpte sie über Rosinas Fuß in einem ehemals weißen Strumpf.
« Danke », murmelte Rosina, als sieendlich wieder fest auf beiden Beiden stand, «sehr freundlich»,und sie starrte auf ihre Füße. Sie war ihm wirklich dankbar, alle anderenhatten nur darauf gewartet, daß sie ganz und gar imMorast landete. Er hatte allerdings vergessen, den Holzschuh auszuleeren. DerSchlamm, kalt, klebrig und graubraun wie angebrannte Gerstengrütze, quolllangsam über ihren Knöchel.
Gerade hatte sie sich noch über dieLeute geärgert, die lachend herumstanden, anstatt ihr zu helfen, doch nun mußte sie selbst lachen. Da hatte sie im Morast gestanden, aufeinem Bein schwankend, windzerzaust, und tatsächlich, ganz wie es im Lustspielüblich war, kam auch hier ein rettender - nun, vielleicht kein Prinz, aber docheiner, der ihr die Hand und ihren schlammigen Schuh reichte. Aus dem Ärgerniswar eine Komödie geworden, und Rosina Hardenstein,seit drei Wochen im Ensemble des neuen Theaters am Gänsemarkt, hatte ihre guteLaune wiedergefunden. Irgendwann, da war sie sicher,würde sie diese Szene auf der Bühne nutzen, um damit auch das Publikum zumLachen zu bringen.
Sie sah dem jungen Mann im braunenRock nach, aber er war kaum weniger in Eile als die Sänftenträger und schon inder Menge verschwunden, als ihr einfiel, warum er ihr so vertraut erschienenwar: Er war der Kattundrukker, der alle Tage amBühneneingang auf Loretta wartete. Und meistens ließ ihn Loretta, wie RosinaKomödiantin am Hamburger Theater, warten. Wie war nur sein Name? Rosina konntesich nicht erinnern. Wenn Loretta von ihm sprach, und das tat sie selten,sprach sie nur von dem Kattundrucker. Armer Lukas. Ja, nun erinnerte sie sichdoch, so hieß er. Lukas Blank. Wer sich in Loretta verliebte Lind nichts alsein Kattundrucker war, hatte ziemlich schlechte Karten.
Es waren nur noch wenige Schrittebis zu dem Gang, der zwischen zwei hohen Häusern mit reichen Giebeln vom Gänsemarktzum "Theater führte. Er war schmal, gerade breit genug für eine nicht zuprächtige Kutsche, und von der Art, die an ihrem Ende einen mageren Garten, einpaar Ställe oder eine dieser übelriechenden,labyrinthischen Anhäufungen uralter Häuser und Hütten versprach. In der Tatfand man nach wenigen Schritten von allem ein wenig. Ein paar dünne Bäume,einen Stall für Mietpferde und einige Reihen kleiner Häuser aus nicht mehrganz geradem Fachwerk, die sich matt aneinanderlehnten. Mittendrin erhob sichstolz das neue Hamburger Nationaltheater. Von denen, die das Schauspiel für einganz und gar überflüssiges oder gar sündhaftes Vergnügen hielten, wurde das Hausallerdings als eine etwas zu groß geratene hölzerne Scheune verlacht, derenärmlichen Eingang ein schrulliger Gutsherr mit zwei dünnen Säulen geschmückthatte.
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© Rowohlt Verlag
- Autor: Petra Oelker
- 1998, 12. Aufl., 400 Seiten, 2 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499224445
- ISBN-13: 9783499224447
- Erscheinungsdatum: 02.11.1998
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