Max Horkheimer
Die aktuelle Darstellung von Horkheimers Leben und Werk: eine Einführung und eine Gesamtschau dieses zentralen Denkers des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer steht Horkheimer für die »Frankfurter Schule«. Unter seiner Leitung wurde das...
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Produktinformationen zu „Max Horkheimer “
Die aktuelle Darstellung von Horkheimers Leben und Werk: eine Einführung und eine Gesamtschau dieses zentralen Denkers des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer steht Horkheimer für die »Frankfurter Schule«. Unter seiner Leitung wurde das »Institut für Sozialforschung« prägend für die geistige Entwicklung der Bundesrepublik.
Klappentext zu „Max Horkheimer “
Max Horkheimer: Outsider des Bürgertums und Unternehmer in Sachen Kritischer TheorieNiemand steht so wie Max Horkheimer für das, was in den 1960er Jahren die Bezeichnung "Frankfurter Schule" erhielt. Der Sohn eines Textilfabrikanten übernahm 1930 die Leitung des marxistischen "Instituts für Sozialforschung" mit dem Ziel, der von Konkurrenz und Gewinnstreben bestimmten Welt seines Vaters die Alternative eines der Erkenntnis gewidmeten und von Solidarität geprägten Lebens gegenüberzustellen. Durch die Nazis ins Exil gezwungen, wurde das Institut zu einem Ort der Zusammenarbeit von Intellektuellen verschiedener Disziplinen und prägte auch nach der Rückkehr nach Deutschland die geistige Entwicklung der Bundesrepublik. Die neue, aktuelle Darstellung von Horkheimers Leben und Werk bietet eine Einführung und eine Gesamtschau dieses zentralen Denkers des 20. Jahrhunderts.
Lese-Probe zu „Max Horkheimer “
Max Horkheimer von Rolf Wiggershaus
I Kindheit, Jugend und die Utopie einer »île heureuse«
Max Horkheimer kam am 14. Februar 1895 in Zuffenhausen bei Stuttgart, der Residenzstadt des Königreichs Württemberg, zur Welt. Er blieb das einzige Kind von Moses - genannt Moritz oder Moriz - Horkheimer und dessen Frau Babette. Der Vater (*1858) und die Mutter (*1869), eine geb. Lauchheimer, hatten 1892 geheiratet und die württembergische Staatsangehörigkeit erworben. Nach dem geschäftlichen Misserfolg des Großvaters war der Vater als Teilhaber einer neuartigen Kunstbaumwoll-Fabrik, die er 1885 zusammen mit einem Bruder gegründet hatte, in kurzer Zeit zu einem reichen Mann geworden. »Aus den Abfällen der Webereien und Spinnereien, die natürlich ganze Züge von Wagen ausmachten«, so Max Horkheimer später im Rückblick, »machte er Kunstbaumwolle, die genau die Nuance hatte, die dann die Spinnereien oder die Webereien brauchten und unmittelbar verwenden konnten.« (Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen. Gespräch mit G. Rein, 1972 / HGS 7, S. 442) Die Horkheimer'schen Kunstbaumwollwerke beschäftigten 80 - 90 Mitarbeiter und produzierten jährlich 5000 Tonnen Ware, die im In-und Ausland verkauft wurden (cf. J. Toury: Jüdische Textilunternehmer in Baden-Württemberg 1683 - 1938, Schriftenreihe Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 42, Tübingen 1984, S. 199 f., zitiert nach A. Heuß: Die Sammlung von Moses Moritz Horkheimer, in: Exilforschung, Bd. 29, 2011, S. 139). Um die Jahrhundertwende war Moritz Horkheimer, der »Lumpenhändler in großem Stil« (Heuß), Millionär - »mehrfacher Goldmillionär«, wie sein Sohn Max später im Alter stolz betonte.
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Die einzige Quelle für Informationen über seine Kindheit sind Max Horkheimers eigene verstreute Erinnerungen. Als er geboren wurde, lebten die Eltern »noch in einem gewissen strengen, ich würde nicht sagen orthodoxen, aber konservativen jüdischen Sinne« (HGS 7, S. 443). Als er mit etwa sieben Jahren schwer erkrankte, der Arzt als stärkendes Frühstück »ein Butterbrot mit Schinken« empfahl und der zu Rate gezogene Rabbi diesem Bruch mit einer koscheren Küche zustimmte, wurde fortan »einfach gekocht wie in einem anderen Hause - mit gewissen Hemmungen« (ibid.). Im Übrigen ging es im Elternhaus zu wie bei anderen Familien dieses Milieus. »Als Kind einer bürgerlichen, deutsch-jüdischen Familie hatte ich hingebend mit Zinnsoldaten gespielt, auch Kindergewehre mit Korkpfropfen und eine Pistole mit Zündblättchen gehörten zu meinem Arsenal. Bis ich etwa 10 Jahre zählte, um 1905, bedeutete der Sonntag eine besondere Freude, weil man vom Erker unserer Wohnung (in der Militärstraße) den Platz vor der Stuttgarter Garnisonkirche überblicken konnte. Dort trafen die Detachements der verschiedenen Truppenteile, der Musketiere und Grenadiere, gelben und weißen Dragoner, gelegentlich auch der Ulanen, mit ihren bunten Uniformen ein, und boten ein anregend farbiges Bild, bis sie in gewohnter Ordnung in dem für sie bestimmten Eingang der Kirche verschwanden.« (Nachwort zu Thilo Koch, Hg.: Porträts zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte, Köln 1961, S. 256) Der Vater, stolz darauf, ehemals ›Einjährig-Freiwilliger‹ gewesen zu sein, erklärte dem Sohn die edlen Absichten des Kaisers und des Königs von Württemberg. »Es war ›unser‹ Militär, gehörte zur Sphäre gesicherten Lebens, zum Bewusstsein dauernden Friedens und Fortschritts, in dem ich wie andere Kinder erzogen wurde.« (Ibid.) Von Antisemitismus wurde zwar zu Hause gesprochen, doch wenn ein Junge Horkheimer in der Klasse oder auf dem Schulweg »Jude« nachrief und der Lehrer davon erfuhr, wurde das geahndet und hinterließ keine großen Wunden. »Vom Judentum wusste ich als meinem Religionsbekenntnis, vom Deutschen Reich als meinem Heimatland.«
Vom Vater von Anfang an dazu bestimmt, sein Nachfolger in der Unternehmensleitung zu werden, verließ Max Horkheimer im Herbst 1910 nach Abschluss der Untersekunda das Gymnasium und wurde für ein bis zwei Jahre Lehrling in der väterlichen Fabrik. In dieser Zeit begann seine Freundschaft mit dem ein Jahr älteren Friedrich Pollock. Der war erst kurz vorher mit seinen Eltern von Freiburg nach Stuttgart gekommen. Sein Vater war Teilhaber der Reiseartikel- und Lederwaren-Fabrik Nördlinger & Pollock. Horkheimer lud Pollock zur Teilnahme an einer Tanzstunde für die Jugendlichen der jüdischen Gemeinde ein. Er war erstaunt und irritiert, als der nur einmal kam und eine weitere Teilnahme ablehnte. Er bat ihn um eine Aussprache.
Sie seien, so Pollock später, einander äußerst unsympathisch gewesen, seien ja auch ganz verschieden erzogen worden. Er entstamme einem Elternhaus, das sich rigoros vom Judentum abgewandt hatte, Horkheimer dagegen einer konservativ-jüdischen Familie mit einer ehrgeizigen und Protz liebenden Mutter. Sie habe den Vater gezwungen, Kommerzienrat zu werden, und habe die Medaillen, die der Sohn in jeder Klasse bekam, schön gerahmt auf samtenem Hintergrund aufgehängt. Mit seiner blumigen Sprache habe Horkheimer ihn zur Weißglut gebracht. Dieser Affektiertheit wegen hätten er und die meisten anderen Tanzstundenteilnehmer und -teilnehmerinnen eine eigene Tanzstunde aufmachen wollen. Das habe Horkheimer erfahren und um die Aussprache gebeten. Er sei nicht, was er scheine, sondern ein ganz verzweifelter Mensch, und er werde wahnsinnig werden, wenn ihm niemand helfe. »Und hat also einfach plötzlich wie ein Mensch zu mir gesprochen und nicht wie der einzige Sohn von Herrn und Frau Kommerzienrat Horkheimer. Ich war sehr beeindruckt. Horkheimer erzählte mir aber dann, daß es für ihn wie eine kalte Dusche war, als ich gesagt habe, ›Ja, das will ich mir alles durch den Kopf gehen lassen.‹ Also nicht etwa, nachdem er sich völlig nackt und bloß sozusagen gezeigt hat, ihm die Hand gegeben habe und gesagt habe, ›Komm, also ich helfe dir!‹ Sondern offenbares Misstrauen. « (Horkheimer/Pollock: »Biographische Interviews« 1965/66, MHA:X 132 b) Diese Urszene mit pathetischer Selbstentblößung des einen, bedächtigem Eingehen darauf seitens des anderen lässt ahnen, warum es nach dieser Aussprache zu einer lebenslangen Freundschaft dieser beiden so unterschiedlichen Personen kam. Ihr Zusammenspiel machte es möglich, einen gewissen Überschwang mit Bodenhaftung zu versehen.
Pollock erschloss dem Freund eine neue Welt jenseits religiöser und konservativer Traditionen. Er machte Horkheimer aufmerksam auf Kritiker eines selbstzufriedenen und heuchlerischen Bürgertums wie Ibsen und Strindberg, Zola und Tolstoi. Für Philosophie hatten sie laut Pollock zunächst nur Verachtung. Das hatten sie zu Hause gelernt.
Vor allem für Horkheimer wurde es eine Freundschaft mit konspirativen Zügen, die sich gegen den übermächtigen Vater richtete. Es kam zu einem ersten schriftlichen Freundschaftsvertrag, dem in späteren Jahren weitere schriftliche Abmachungen folgten. Genaue Regeln legten fest, wie Meinungsunterschiede ausgetragen und gemeinsame Beschlüsse erreicht werden sollten. Sogar die Länge der Debattierzeit und die dafür zu benutzende Tageszeit waren festgelegt. Das Ganze sollte »Ausdruck eines kritisch-humanen Elans« sein und der »Schaffung der Solidarität aller Menschen« (H. Gumnior / R. Ringguth: Horkheimer, Reinbek 1973, S. 16) dienen. Was an dem ersten Freundschaftsvertrag und ebenso an den späteren Neuformulierungen und Programmen so befremdlich anmutet - die Förmlichkeit des Ganzen und die Pedanterie der einzelnen Verhaltensvorschriften - war offenbar die den beiden Freunden angemessene Form eines Kompromisses zwischen Schwärmerei und Nüchternheit, zwischen Sehnsucht nach wesentlichem Leben und einem bürgerlicher Sozialisation entstammenden Sekuritätsbedürfnis.
Ein Fotoalbum der Villa in der Stuttgarter Innenstadt, die der Vater erbauen ließ, zeugt vom beträchtlichen Wohlstand der Familie Horkheimer. Zum Haus gehörten u. a. ein Musikzimmer und ein Bauernzimmer. Im Zimmer des Sohnes hingen expressionistische Grafiken an den Wänden. Besonders auffällig ist ein gerahmtes Plakat für eine neue Nummer der Zeitschrift »Der Sturm«: ein 1911 entstandenes Selbstbildnis von Oskar Kokoschka, der auf eine blutende Wunde auf seiner Brust deutet (cf. A. Heuß, a. a. O., S. 141). Der Vater war ein Mäzen der württembergischen Malerschule und sammelte Bilder arrivierter akademischer Künstler. »Daß eine moderne Abteilung hinzugefügt wurde«, so Horkheimer, »hing nicht zuletzt damit zusammen, daß ich als einziges Kind seit etwa 1910 mich leidenschaftlich für bildende Kunst und Literatur interessierte und meine Eltern meine Neigungen gerne unterstützten.« (Horkheimer-Dieter Koepplin, 10. 5. 1966 / HGS 18, S. 624 f.)
Der Erwerb moderner Bilder gehörte zu den rasch zunehmenden gemeinsamen Unternehmungen der beiden zu Nachfolgern ihrer Väter bestimmten jungen Männer. Die letzten anderthalb Jahre vor dem Ersten Weltkrieg verbrachten sie mit wenigen Unterbrechungen im Ausland: in Brüssel, Paris, Manchester, London, anfänglich mit beruflichen Ambitionen, doch bald schon fremde Sprachen lernend und das Leben genießend, lesend und diskutierend. Aus Brüssel, wohin Horkheimers Vater den kränkelnden Sohn zwecks Absolvierung eines Volontariats gebracht hatte, schrieb Horkheimer im Mai 1913 an Pollock: »Es ist mir, als ob ich in den letzten Tagen sehr gelitten hätte u. einmal sogar gefährlich krank gewesen sei - aber - Du kommst, bald - und das ist die Hauptsache. [...] Du, was meinst Du, wenn wir zusammen gehen, Hand in Hand, - Sonne - und allein, weit weg von Menschen die uns kennen - u. wenn ich dann fühle, daß auch ich leise, langsam - gesund werde. - Verzeihe mir, wenn Du es nicht liebst, daß ich so schreibe, aber ich bin krank u. es tut mir wohl.« (Horkheimer-Pollock, Bruxelles, 14. Mai 1913 / HGS 15, S. 9f.) Während der gemeinsamen Zeit in Brüssel entdeckten sie Schopenhauer. Pollock fand Kant unverständlich, Spinoza unverständlich, und geriet dann an Schopenhauer. »Und auf einmal redete da einer auf Deutsch und über Dinge, die einen etwas angingen: von dem, was einer ist, von dem, was einer vorstellt usw.« Er gab das Horkheimer zu lesen. »Und an einem der folgenden Abende gingen wir auf dem Boulevard du Nord in die deutsche Buchhandlung und fragten nach Schopenhauers Gesammelten Werken.« (»Biographische Interviews« 1965 / 66)
In der Zeit der Auslandsaufenthalte traf Horkheimer mehrmals mit einer entfernten Verwandten und Jugendfreundin - »Suze« - zusammen, mal bei ihren Eltern in Paris, mal in einem Ferienort an der bretonischen Küste. Nur einer seiner Briefe an Suze blieb erhalten. »Wenn ich das lese, was Du mir schreibst, u. mich so recht in Deine Lage hineindenke«, schrieb er während der Brüsseler Zeit an die Freundin, »wenn ich empfinde, was Du leidest - dann habe ich manchmal das Verlangen, dich aus all dieser eklen Kleinigkeit zu entfernen u. Dich eine Zeitlang hier bei uns Ruhe u. Verständnis atmen zu lassen. - Wir wohnen jetzt in einem Hause - ich bei Fritz - der Traum, der unsre kühnste Sehnsucht einschloß, hat sich erfüllt - immerwährendes ungestörtes Beisammensein. - Der Welt, in der Du leidest, sind wir entronnen u. unsre Erinnerung an sie ist nur eine stete Freude, von ihr los zu sein.« (Horkheimer-Suzanne Neumeier, 7. 9. 1913 / HGS 15, S. 12 f.) Welche Zuspitzung die Beziehung zwischen den drei jungen Menschen aus gutem Hause erlebte und wie es zum spektakulären Ende ihres großen Pubertätsabenteuers kam, schilderte Horkheimer in einer unverschlüsselt autobiographischen Novelle mit dem Titel »L'île heureuse«, die nur im engsten Bekanntenkreis kursierte und die er selbst nie veröffentlichte. Unmittelbar nach den Ereignissen im August 1914 niedergeschrieben, verband sie detaillierte Rekonstruktion mit der Beschwörung erlebter Ekstase und kombinierte expressionistischen Protest gegen bürgerliche Geschäftigkeit und bürgerlichen Eigennutz mit lebensreformerischen Aus-und Aufbruchsvisionen. »Heraus aus dem Kampf um Geld und Ehre«, um »diese herrliche Welt immer mehr verstehen zu lernen und uns selbst als Menschen höher zu schwingen« - so und ähnlich lauteten die parolenartigen Formulierungen, die den Text durchzogen.
Nach einem Aufenthalt im tristen Manchester hatten die beiden Freunde sich in London niedergelassen. Dort sollte Suze sich mit ihnen vereinen. Auch Fritz - also Pollock -, der bei den mehr als schwärmerischen Schilderungen des Berichtenden - also Horkheimers - »von der neuen Lebenskraft, die gekommen war, uns zu stärken«, zunächst »ruhig und kalt wie das Meer« (HGS 11, S. 303) geblieben war, stimmte dem Vorhaben schließlich zu. »Dadurch, daß Suze ein Weib war, bekam unser Verhältnis etwas in sich Geschlossenes, etwas Unabhängiges, etwas Ganzes«, resümierte der neunzehnjährige Horkheimer. »Alles Menschliche an uns konnten wir unserem Bunde weihen, von Seele, Geist und Körper gehörte nichts mehr der Außenwelt, alles - selbst gemeine Triebe - fanden in unserer Mitte ihre Beruhigung, denn Suze freute sich ihrer sinnlichen Schönheit, weil sie uns ein Geschenk damit machen konnte. Wenn wir zu dreien waren, waren wir daheim, dort, wo man alles hat, wessen man bedarf, wo man alles gibt, was man besitzt.« (A. a. O., S. 311)
Den Höhepunkt erreichte die Geschichte im Juli 1914. Suze verließ nachts heimlich die Wohnung ihrer Eltern in Paris und hinterließ nur einen Zettel mit der Nachricht, sie verlasse Paris heil und glücklich und werde bald einen ausführlichen Brief schicken. Horkheimer holte sie an der französischen Küste ab und fuhr mit ihr zu einer neu angemieteten kleinen Wohnung in London, in der sie das neue Dreierdasein beginnen und sich mit einem »langen ernsten Brief« an ihre Familien wenden wollten: »Gebt uns die Möglichkeit, aus eurer Wirklichkeit zu fliehen und uns irgendwo auf dieser Erde abseits von euren Städten niederzulassen, wir wollen unserer Sehnsucht leben, doch glaubt nicht, daß wir denken, der Arm soll ruhen, nur der Kopf soll schaffen, nein - schaut her - Arbeit muß sein; wir glauben daß der Mensch das Brot verdienen soll, das er genießt, doch nicht nach eurem Sinn! [...] Laßt uns das tun, was gut ist, schickt uns hinaus in ein anderes Land, dort wollen wir der Erde selbst abringen, was sie uns geben muß. Freie Menschen wollen wir bleiben in freier Natur [...].« (A. a. O., S. 317) In späteren Erinnerungen Pollocks ist von vagen Plänen die Rede, »möglichst weit weg von Europa« Farmer etwa in Südafrika zu werden (»Biographische Interviews« 1965 / 66) und sich in der Mußezeit der Erkenntnis zu widmen.
Während die drei mit sich und dem Brief an die Familien beschäftigt waren, war eine Pariser Freundin von Suze nach London gekommen, hatte durch einen Brief, den sie in der ihr bekannten dortigen alten Wohnung von Horkheimer und Pollock deponierte und in dem von einer schweren Krankheit von Suzes Mutter die Rede war, für eine erste Kontaktaufnahme gesorgt. In Paris hatten zudem Suzes Eltern einen von ihr nicht ganz vernichteten Brief gefunden, in dem die beiden Freunde noch einmal davon schwärmten, »daß eine ganz kurze île heureuse [...] dem Hinsiechen im Alltag vorzuziehen sei und daß es schöner wäre, nach ein paar Wochen Seligkeit zu sterben als noch länger ein uns widersprechendes Dasein zu fristen« (HGS 11, S. 324). Auf diesen Fund hin hatte Suzes Vater Horkheimers Eltern telegraphiert: »Max in Lebensgefahr, kommet sofort.« Unterstützt 19
von zwei Detektiven konnten die eilends nach London gekommenen Eltern die drei Abtrünnigen zu einer gemeinsamen Aussprache im Hotel zwingen. Nach einem gemeinsamen Dinner, so heißt es in Horkheimers Novelle, gab Suze ihm die Hand und sagte, ohne ihn anzusehen, Adieu. In der Wohnung fanden die beiden Freunde im Ofen die Asche aller von Suze an sie gesandten Briefe. Sie hatte sie vor ihrer Abreise verbrannt. Einen solchen Verrat wollten die beiden nicht begehen. Sie wollten an ihrem Vorhaben festhalten. Doch als sie den Eltern den fertig gewordenen Brief zu lesen gaben, sahen sie »in keinem Auge auch nur einen Funken des Begreifens«, sondern »nur Jammer, Elend und Selbstbedauern«.
Als junge Männer mit besten Berufsaussichten hatten sie es allerdings auch leichter als ein junges Mädchen, nicht zu Verrätern ihres Traums zu werden und lediglich an einen Aufschub zu denken. Zurück in der schwäbischen Heimat logierte Horkheimer sich im Kurhaus Waldhotel Villingen ein und fixierte das Geschehene in Form einer Novelle. Er eröffnete sie mit der selbstbewussten und selbstgefälligen Ankündigung: »Und dies ist der Traum, den ich erzählen will und den keiner aus eurer Gemeinschaft je verstehen wird, dessen Wahrheit eure niedern Worte und Gedanken nicht zu fassen vermögen und dessen Bedeutung entschwindet, wenn ihr ihn mit euren Wünschlein und Absichten vergleicht: drei Menschen erwachten, zersprengten eure Fesseln, wurden frei und schwebten dem blauen Himmel zu. Da schosset ihr mit Pfeilen nach den Vögeln und traft den einen unter ihnen, der die zwei andern mit sich in die Tiefe riß. Doch sie haben noch Flügel, die zwei andern, und sie leben noch, sie flogen wieder der Sonne zu, ließen den Kadaver auf der Erde liegen, wo er hin gehört, und ich wünsche ihnen gute Fahrt!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Die einzige Quelle für Informationen über seine Kindheit sind Max Horkheimers eigene verstreute Erinnerungen. Als er geboren wurde, lebten die Eltern »noch in einem gewissen strengen, ich würde nicht sagen orthodoxen, aber konservativen jüdischen Sinne« (HGS 7, S. 443). Als er mit etwa sieben Jahren schwer erkrankte, der Arzt als stärkendes Frühstück »ein Butterbrot mit Schinken« empfahl und der zu Rate gezogene Rabbi diesem Bruch mit einer koscheren Küche zustimmte, wurde fortan »einfach gekocht wie in einem anderen Hause - mit gewissen Hemmungen« (ibid.). Im Übrigen ging es im Elternhaus zu wie bei anderen Familien dieses Milieus. »Als Kind einer bürgerlichen, deutsch-jüdischen Familie hatte ich hingebend mit Zinnsoldaten gespielt, auch Kindergewehre mit Korkpfropfen und eine Pistole mit Zündblättchen gehörten zu meinem Arsenal. Bis ich etwa 10 Jahre zählte, um 1905, bedeutete der Sonntag eine besondere Freude, weil man vom Erker unserer Wohnung (in der Militärstraße) den Platz vor der Stuttgarter Garnisonkirche überblicken konnte. Dort trafen die Detachements der verschiedenen Truppenteile, der Musketiere und Grenadiere, gelben und weißen Dragoner, gelegentlich auch der Ulanen, mit ihren bunten Uniformen ein, und boten ein anregend farbiges Bild, bis sie in gewohnter Ordnung in dem für sie bestimmten Eingang der Kirche verschwanden.« (Nachwort zu Thilo Koch, Hg.: Porträts zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte, Köln 1961, S. 256) Der Vater, stolz darauf, ehemals ›Einjährig-Freiwilliger‹ gewesen zu sein, erklärte dem Sohn die edlen Absichten des Kaisers und des Königs von Württemberg. »Es war ›unser‹ Militär, gehörte zur Sphäre gesicherten Lebens, zum Bewusstsein dauernden Friedens und Fortschritts, in dem ich wie andere Kinder erzogen wurde.« (Ibid.) Von Antisemitismus wurde zwar zu Hause gesprochen, doch wenn ein Junge Horkheimer in der Klasse oder auf dem Schulweg »Jude« nachrief und der Lehrer davon erfuhr, wurde das geahndet und hinterließ keine großen Wunden. »Vom Judentum wusste ich als meinem Religionsbekenntnis, vom Deutschen Reich als meinem Heimatland.«
Vom Vater von Anfang an dazu bestimmt, sein Nachfolger in der Unternehmensleitung zu werden, verließ Max Horkheimer im Herbst 1910 nach Abschluss der Untersekunda das Gymnasium und wurde für ein bis zwei Jahre Lehrling in der väterlichen Fabrik. In dieser Zeit begann seine Freundschaft mit dem ein Jahr älteren Friedrich Pollock. Der war erst kurz vorher mit seinen Eltern von Freiburg nach Stuttgart gekommen. Sein Vater war Teilhaber der Reiseartikel- und Lederwaren-Fabrik Nördlinger & Pollock. Horkheimer lud Pollock zur Teilnahme an einer Tanzstunde für die Jugendlichen der jüdischen Gemeinde ein. Er war erstaunt und irritiert, als der nur einmal kam und eine weitere Teilnahme ablehnte. Er bat ihn um eine Aussprache.
Sie seien, so Pollock später, einander äußerst unsympathisch gewesen, seien ja auch ganz verschieden erzogen worden. Er entstamme einem Elternhaus, das sich rigoros vom Judentum abgewandt hatte, Horkheimer dagegen einer konservativ-jüdischen Familie mit einer ehrgeizigen und Protz liebenden Mutter. Sie habe den Vater gezwungen, Kommerzienrat zu werden, und habe die Medaillen, die der Sohn in jeder Klasse bekam, schön gerahmt auf samtenem Hintergrund aufgehängt. Mit seiner blumigen Sprache habe Horkheimer ihn zur Weißglut gebracht. Dieser Affektiertheit wegen hätten er und die meisten anderen Tanzstundenteilnehmer und -teilnehmerinnen eine eigene Tanzstunde aufmachen wollen. Das habe Horkheimer erfahren und um die Aussprache gebeten. Er sei nicht, was er scheine, sondern ein ganz verzweifelter Mensch, und er werde wahnsinnig werden, wenn ihm niemand helfe. »Und hat also einfach plötzlich wie ein Mensch zu mir gesprochen und nicht wie der einzige Sohn von Herrn und Frau Kommerzienrat Horkheimer. Ich war sehr beeindruckt. Horkheimer erzählte mir aber dann, daß es für ihn wie eine kalte Dusche war, als ich gesagt habe, ›Ja, das will ich mir alles durch den Kopf gehen lassen.‹ Also nicht etwa, nachdem er sich völlig nackt und bloß sozusagen gezeigt hat, ihm die Hand gegeben habe und gesagt habe, ›Komm, also ich helfe dir!‹ Sondern offenbares Misstrauen. « (Horkheimer/Pollock: »Biographische Interviews« 1965/66, MHA:X 132 b) Diese Urszene mit pathetischer Selbstentblößung des einen, bedächtigem Eingehen darauf seitens des anderen lässt ahnen, warum es nach dieser Aussprache zu einer lebenslangen Freundschaft dieser beiden so unterschiedlichen Personen kam. Ihr Zusammenspiel machte es möglich, einen gewissen Überschwang mit Bodenhaftung zu versehen.
Pollock erschloss dem Freund eine neue Welt jenseits religiöser und konservativer Traditionen. Er machte Horkheimer aufmerksam auf Kritiker eines selbstzufriedenen und heuchlerischen Bürgertums wie Ibsen und Strindberg, Zola und Tolstoi. Für Philosophie hatten sie laut Pollock zunächst nur Verachtung. Das hatten sie zu Hause gelernt.
Vor allem für Horkheimer wurde es eine Freundschaft mit konspirativen Zügen, die sich gegen den übermächtigen Vater richtete. Es kam zu einem ersten schriftlichen Freundschaftsvertrag, dem in späteren Jahren weitere schriftliche Abmachungen folgten. Genaue Regeln legten fest, wie Meinungsunterschiede ausgetragen und gemeinsame Beschlüsse erreicht werden sollten. Sogar die Länge der Debattierzeit und die dafür zu benutzende Tageszeit waren festgelegt. Das Ganze sollte »Ausdruck eines kritisch-humanen Elans« sein und der »Schaffung der Solidarität aller Menschen« (H. Gumnior / R. Ringguth: Horkheimer, Reinbek 1973, S. 16) dienen. Was an dem ersten Freundschaftsvertrag und ebenso an den späteren Neuformulierungen und Programmen so befremdlich anmutet - die Förmlichkeit des Ganzen und die Pedanterie der einzelnen Verhaltensvorschriften - war offenbar die den beiden Freunden angemessene Form eines Kompromisses zwischen Schwärmerei und Nüchternheit, zwischen Sehnsucht nach wesentlichem Leben und einem bürgerlicher Sozialisation entstammenden Sekuritätsbedürfnis.
Ein Fotoalbum der Villa in der Stuttgarter Innenstadt, die der Vater erbauen ließ, zeugt vom beträchtlichen Wohlstand der Familie Horkheimer. Zum Haus gehörten u. a. ein Musikzimmer und ein Bauernzimmer. Im Zimmer des Sohnes hingen expressionistische Grafiken an den Wänden. Besonders auffällig ist ein gerahmtes Plakat für eine neue Nummer der Zeitschrift »Der Sturm«: ein 1911 entstandenes Selbstbildnis von Oskar Kokoschka, der auf eine blutende Wunde auf seiner Brust deutet (cf. A. Heuß, a. a. O., S. 141). Der Vater war ein Mäzen der württembergischen Malerschule und sammelte Bilder arrivierter akademischer Künstler. »Daß eine moderne Abteilung hinzugefügt wurde«, so Horkheimer, »hing nicht zuletzt damit zusammen, daß ich als einziges Kind seit etwa 1910 mich leidenschaftlich für bildende Kunst und Literatur interessierte und meine Eltern meine Neigungen gerne unterstützten.« (Horkheimer-Dieter Koepplin, 10. 5. 1966 / HGS 18, S. 624 f.)
Der Erwerb moderner Bilder gehörte zu den rasch zunehmenden gemeinsamen Unternehmungen der beiden zu Nachfolgern ihrer Väter bestimmten jungen Männer. Die letzten anderthalb Jahre vor dem Ersten Weltkrieg verbrachten sie mit wenigen Unterbrechungen im Ausland: in Brüssel, Paris, Manchester, London, anfänglich mit beruflichen Ambitionen, doch bald schon fremde Sprachen lernend und das Leben genießend, lesend und diskutierend. Aus Brüssel, wohin Horkheimers Vater den kränkelnden Sohn zwecks Absolvierung eines Volontariats gebracht hatte, schrieb Horkheimer im Mai 1913 an Pollock: »Es ist mir, als ob ich in den letzten Tagen sehr gelitten hätte u. einmal sogar gefährlich krank gewesen sei - aber - Du kommst, bald - und das ist die Hauptsache. [...] Du, was meinst Du, wenn wir zusammen gehen, Hand in Hand, - Sonne - und allein, weit weg von Menschen die uns kennen - u. wenn ich dann fühle, daß auch ich leise, langsam - gesund werde. - Verzeihe mir, wenn Du es nicht liebst, daß ich so schreibe, aber ich bin krank u. es tut mir wohl.« (Horkheimer-Pollock, Bruxelles, 14. Mai 1913 / HGS 15, S. 9f.) Während der gemeinsamen Zeit in Brüssel entdeckten sie Schopenhauer. Pollock fand Kant unverständlich, Spinoza unverständlich, und geriet dann an Schopenhauer. »Und auf einmal redete da einer auf Deutsch und über Dinge, die einen etwas angingen: von dem, was einer ist, von dem, was einer vorstellt usw.« Er gab das Horkheimer zu lesen. »Und an einem der folgenden Abende gingen wir auf dem Boulevard du Nord in die deutsche Buchhandlung und fragten nach Schopenhauers Gesammelten Werken.« (»Biographische Interviews« 1965 / 66)
In der Zeit der Auslandsaufenthalte traf Horkheimer mehrmals mit einer entfernten Verwandten und Jugendfreundin - »Suze« - zusammen, mal bei ihren Eltern in Paris, mal in einem Ferienort an der bretonischen Küste. Nur einer seiner Briefe an Suze blieb erhalten. »Wenn ich das lese, was Du mir schreibst, u. mich so recht in Deine Lage hineindenke«, schrieb er während der Brüsseler Zeit an die Freundin, »wenn ich empfinde, was Du leidest - dann habe ich manchmal das Verlangen, dich aus all dieser eklen Kleinigkeit zu entfernen u. Dich eine Zeitlang hier bei uns Ruhe u. Verständnis atmen zu lassen. - Wir wohnen jetzt in einem Hause - ich bei Fritz - der Traum, der unsre kühnste Sehnsucht einschloß, hat sich erfüllt - immerwährendes ungestörtes Beisammensein. - Der Welt, in der Du leidest, sind wir entronnen u. unsre Erinnerung an sie ist nur eine stete Freude, von ihr los zu sein.« (Horkheimer-Suzanne Neumeier, 7. 9. 1913 / HGS 15, S. 12 f.) Welche Zuspitzung die Beziehung zwischen den drei jungen Menschen aus gutem Hause erlebte und wie es zum spektakulären Ende ihres großen Pubertätsabenteuers kam, schilderte Horkheimer in einer unverschlüsselt autobiographischen Novelle mit dem Titel »L'île heureuse«, die nur im engsten Bekanntenkreis kursierte und die er selbst nie veröffentlichte. Unmittelbar nach den Ereignissen im August 1914 niedergeschrieben, verband sie detaillierte Rekonstruktion mit der Beschwörung erlebter Ekstase und kombinierte expressionistischen Protest gegen bürgerliche Geschäftigkeit und bürgerlichen Eigennutz mit lebensreformerischen Aus-und Aufbruchsvisionen. »Heraus aus dem Kampf um Geld und Ehre«, um »diese herrliche Welt immer mehr verstehen zu lernen und uns selbst als Menschen höher zu schwingen« - so und ähnlich lauteten die parolenartigen Formulierungen, die den Text durchzogen.
Nach einem Aufenthalt im tristen Manchester hatten die beiden Freunde sich in London niedergelassen. Dort sollte Suze sich mit ihnen vereinen. Auch Fritz - also Pollock -, der bei den mehr als schwärmerischen Schilderungen des Berichtenden - also Horkheimers - »von der neuen Lebenskraft, die gekommen war, uns zu stärken«, zunächst »ruhig und kalt wie das Meer« (HGS 11, S. 303) geblieben war, stimmte dem Vorhaben schließlich zu. »Dadurch, daß Suze ein Weib war, bekam unser Verhältnis etwas in sich Geschlossenes, etwas Unabhängiges, etwas Ganzes«, resümierte der neunzehnjährige Horkheimer. »Alles Menschliche an uns konnten wir unserem Bunde weihen, von Seele, Geist und Körper gehörte nichts mehr der Außenwelt, alles - selbst gemeine Triebe - fanden in unserer Mitte ihre Beruhigung, denn Suze freute sich ihrer sinnlichen Schönheit, weil sie uns ein Geschenk damit machen konnte. Wenn wir zu dreien waren, waren wir daheim, dort, wo man alles hat, wessen man bedarf, wo man alles gibt, was man besitzt.« (A. a. O., S. 311)
Den Höhepunkt erreichte die Geschichte im Juli 1914. Suze verließ nachts heimlich die Wohnung ihrer Eltern in Paris und hinterließ nur einen Zettel mit der Nachricht, sie verlasse Paris heil und glücklich und werde bald einen ausführlichen Brief schicken. Horkheimer holte sie an der französischen Küste ab und fuhr mit ihr zu einer neu angemieteten kleinen Wohnung in London, in der sie das neue Dreierdasein beginnen und sich mit einem »langen ernsten Brief« an ihre Familien wenden wollten: »Gebt uns die Möglichkeit, aus eurer Wirklichkeit zu fliehen und uns irgendwo auf dieser Erde abseits von euren Städten niederzulassen, wir wollen unserer Sehnsucht leben, doch glaubt nicht, daß wir denken, der Arm soll ruhen, nur der Kopf soll schaffen, nein - schaut her - Arbeit muß sein; wir glauben daß der Mensch das Brot verdienen soll, das er genießt, doch nicht nach eurem Sinn! [...] Laßt uns das tun, was gut ist, schickt uns hinaus in ein anderes Land, dort wollen wir der Erde selbst abringen, was sie uns geben muß. Freie Menschen wollen wir bleiben in freier Natur [...].« (A. a. O., S. 317) In späteren Erinnerungen Pollocks ist von vagen Plänen die Rede, »möglichst weit weg von Europa« Farmer etwa in Südafrika zu werden (»Biographische Interviews« 1965 / 66) und sich in der Mußezeit der Erkenntnis zu widmen.
Während die drei mit sich und dem Brief an die Familien beschäftigt waren, war eine Pariser Freundin von Suze nach London gekommen, hatte durch einen Brief, den sie in der ihr bekannten dortigen alten Wohnung von Horkheimer und Pollock deponierte und in dem von einer schweren Krankheit von Suzes Mutter die Rede war, für eine erste Kontaktaufnahme gesorgt. In Paris hatten zudem Suzes Eltern einen von ihr nicht ganz vernichteten Brief gefunden, in dem die beiden Freunde noch einmal davon schwärmten, »daß eine ganz kurze île heureuse [...] dem Hinsiechen im Alltag vorzuziehen sei und daß es schöner wäre, nach ein paar Wochen Seligkeit zu sterben als noch länger ein uns widersprechendes Dasein zu fristen« (HGS 11, S. 324). Auf diesen Fund hin hatte Suzes Vater Horkheimers Eltern telegraphiert: »Max in Lebensgefahr, kommet sofort.« Unterstützt 19
von zwei Detektiven konnten die eilends nach London gekommenen Eltern die drei Abtrünnigen zu einer gemeinsamen Aussprache im Hotel zwingen. Nach einem gemeinsamen Dinner, so heißt es in Horkheimers Novelle, gab Suze ihm die Hand und sagte, ohne ihn anzusehen, Adieu. In der Wohnung fanden die beiden Freunde im Ofen die Asche aller von Suze an sie gesandten Briefe. Sie hatte sie vor ihrer Abreise verbrannt. Einen solchen Verrat wollten die beiden nicht begehen. Sie wollten an ihrem Vorhaben festhalten. Doch als sie den Eltern den fertig gewordenen Brief zu lesen gaben, sahen sie »in keinem Auge auch nur einen Funken des Begreifens«, sondern »nur Jammer, Elend und Selbstbedauern«.
Als junge Männer mit besten Berufsaussichten hatten sie es allerdings auch leichter als ein junges Mädchen, nicht zu Verrätern ihres Traums zu werden und lediglich an einen Aufschub zu denken. Zurück in der schwäbischen Heimat logierte Horkheimer sich im Kurhaus Waldhotel Villingen ein und fixierte das Geschehene in Form einer Novelle. Er eröffnete sie mit der selbstbewussten und selbstgefälligen Ankündigung: »Und dies ist der Traum, den ich erzählen will und den keiner aus eurer Gemeinschaft je verstehen wird, dessen Wahrheit eure niedern Worte und Gedanken nicht zu fassen vermögen und dessen Bedeutung entschwindet, wenn ihr ihn mit euren Wünschlein und Absichten vergleicht: drei Menschen erwachten, zersprengten eure Fesseln, wurden frei und schwebten dem blauen Himmel zu. Da schosset ihr mit Pfeilen nach den Vögeln und traft den einen unter ihnen, der die zwei andern mit sich in die Tiefe riß. Doch sie haben noch Flügel, die zwei andern, und sie leben noch, sie flogen wieder der Sonne zu, ließen den Kadaver auf der Erde liegen, wo er hin gehört, und ich wünsche ihnen gute Fahrt!«
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Autoren-Porträt von Rolf Wiggershaus
Rolf Wiggershaus, geb. 1944; Studium der Philosophie, Soziologie und Germanistik in Tübingen und Frankfurt am Main; Philosoph und Publizist; Veröffentlichungen u. a.: (Hg.) Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Spätphilosophie (1975); Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung (1986); Theodor W. Adorno (1987); Horkheimer zur Einführung (1998).
Bibliographische Angaben
- Autor: Rolf Wiggershaus
- 2013, 238 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968806725
Rezension zu „Max Horkheimer “
ein kleines Meisterwerk Florian Geisler Portal für Politikwissenschaft 20130822
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