Glavinic, T: Meine Schreibmaschine und ich
Thomas Glavinic mag den Sommer. Er mag Großzügigkeit, Mut und Taktgefühl. Und er mag Menschen, die über seine Bücher nachdenken. An diese Menschen wendet er sich nun und erzählt ihnen alles, was es über ihn als Autor zu wissen gibt. Er schreibt über die...
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Klappentext zu „Glavinic, T: Meine Schreibmaschine und ich “
Thomas Glavinic mag den Sommer. Er mag Großzügigkeit, Mut und Taktgefühl. Und er mag Menschen, die über seine Bücher nachdenken. An diese Menschen wendet er sich nun und erzählt ihnen alles, was es über ihn als Autor zu wissen gibt. Er schreibt über die Idee, die am Beginn eines jeden Textes steht, und er verheimlicht auch nicht die Torturen, die er erlebt, während er ungeduldig darauf wartet, dass aus der Idee ein Roman wird. Thomas Glavinic, einer der faszinierendsten Autoren unserer Gegenwart, gewährt Einsicht in seine Gedanken, seine Hoffnungen und seine Ängste. Selten hat man sich einem Autor so nahe gefühlt wie während der Lektüre dieses Bekenntnisses.
Lese-Probe zu „Glavinic, T: Meine Schreibmaschine und ich “
Meine Schreibmaschine und ich von Thomas GlavinicStille und Lärm: Drei Anmerkungen zu Thomas Glavinic
I
1973 produzierte Joseph Beuys eine Arbeit namens Das Schweigen , in der fünf Rollen von Ingmar Bergmans Film Tystnaden lackiert und mit Kupfer und Zink überzogen wurden, wodurch der Inhalt des Films erfolgreich übertüncht, seiner Mitteilungskraft beraubt und folglich genau dem Schweigen ausgeliefert wurde – einem metaphysischen, emotionalen, psychosexuellen und theologischen –, welches der Titel impliziert. In dieser Arbeit versucht Beuys, von dem der berühmte Ausspruch »Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbe wertet« stammt, die Stille in all ihren Formen zu befragen, von der stummen Verwirrung, ausge löst durch ein irrationales Begehren oder eine ungerechtfertigte Abscheu, dem letzten bewussten Sta dium der »Abschottung« von dem Abzulehnenden, nachdem jeder Aufruf zu Gnade oder Mitleid gescheitert ist, bis zu Duchamps minutiös geplantem Rückzug aus der Kunstwelt, der sich fortan, durchaus kunstvoll und sehr bewusst, dem Schachspiel widmete. (Doch angesichts der Tatsache, dass der Rückzug selbst ein weiteres Kunstwerk und dadurch immer paradox ist – wo hat Duchamps Rückzug aufgehört? wie lange kann ein solches Schweigen tatsächlich andauern?, sah Beuys sich gezwungen, seine vernichtende Kritik an Duchamps Schweigen zu formulieren. Diese kann also als notwen dige Ablehnung einer rein ironischen und letztlich eher albernen Geste aufgefasst werden, die der Künstler erst mit Be10 deutung auflädt, indem er sie vollumfänglich in Anspruch nimmt.) Im Gegensatz dazu ver langt Das Schweigen, dass wir der Stille ohne solche Aufwertungen begegnen. Echte Stille kann nicht manipuliert werden, sie ist auf eine rätselhafte Weise immer zugegen. In seiner Bereitschaft, sich dem Unausweichlichen zu
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stellen, hat Beuys einen zeitgenössischen Gegenpart in Thomas Glavinic gefunden, dessen Arbeit der Nacht auf eine fast perverse Weise sein größtes Talent offenbart (nämlich die Fähigkeit, das alltägliche Geplauder wiederzugeben, die bruchstückhaften Äußerungen und Rationalisierungen, die wir gewöhnlichen Menschen benutzen, um unsere tieferliegenden und irrationalen Impulse zu verhüllen: ein Talent, das Glavinic in seinem Kameramörder auf die Spitze treibt, wo das Grauen omnipräsent ist, nicht nur in der Fernsehberichterstattung der sadistischen Morde an zwei Kindern, sondern auch in den Köpfen der zwei Paare, die ein scheinbar unschuldiges Wochen ende auf dem Land mit Trinken und Federballspielen verbringen, während sie versuchen, jene absurde und angsteinflößende Geschichte auszublenden, in die sie durch die Fernsehwiedergabe der Augenzeugenberichte voller banaler Äußerungen und vorgefertigter Meinungen immer tiefer hineingezogen werden). In der Arbeit der Nacht wiederum findet sich Jonas, der Erzähler, vollkommen allein in einer unbelebten und stillen Welt wieder, nachdem jeder, den er jemals gekannt hat, verschwunden ist – weshalb es auch niemanden gibt, mit dem er sprechen könnte, außer ihm selbst (und der schmerzliche Witz dieses Buches, im Gegensatz zur sozialen Komödie des Kameramörder , entsteht aus der Tat sache, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem eigenen und dem fremden Geplapper). W as jedoch mit der gruseligen Stille anfängt, die ein Kind möglicherweise zu Beginn eines Versteckspiels erfährt, wenn all seine Freunde in den Wald hineingelaufen sind, wächst sich aus zu einer massiven und überwältigenden Stille, einer Stille, die dazu führt, dass Jonas immer verzweifelter danach strebt, sie zu durchbrechen. Dies tut er auf unterschiedliche Weise – mit waghalsigen Autofahrten durch Wien, mit Schreianfällen an Plätzen, die einst öffentlich waren, mit einer Europa-Reise, die lediglich dazu führt, dass sein Gefühl von Isolation noch verstärkt wird –, doch jede Ruhepause, die er sich verschafft, dauert nur einen kurzen Moment lang, und wenn die Stille unweigerlich wieder zurückkehrt, ist sie tiefer und allumfassender denn je. Zugleich erinnert sich Jonas an seine Kindheit, er kehrt zurück zu dem alten Landhaus, in dem er und seine Eltern ihre einfachen Ferien verbracht haben, und gräbt die alten Be sitztümer seines V aters aus, um sie mit akribischer Genauigkeit zu studieren. Dazwischen mischen sich intime Erinnerungen an seine letzte Freundin Marie (seine Liebe für sie wird immer größer , je verzwei felter er wird, wodurch dem Leser eine grausame W endung des alten Sprichwortes »Die Liebe wächst mit der Entfernung« geliefert wird). Und doch ist es schwer zu sagen, was er an diesen Leuten vermisst, außer der Tat sache, dass sie einst ander e waren als er selbst und zugleich signifikante andere. Mit ihnen konnte er reden, Nettigkeiten austauschen, streiten und dadurch die darunterliegende Stille im Zaum halten – und doch ließe sich behaupten, dass diese anderen ihm lediglich als Ablenkung von einer grausamen und beunruhigenden Welt gedient haben, die immer schon da gewesen ist, lediglich darauf lauernd, dass Jonas sich umdreht und ihrer gewahr wird: »Nie zuvor ist es ihm aufgefallen. Wohin er schaute, fast an jedem Haus entdeckte er steinerne Gestalten. Keine davon blickte ihn an. Alle jedoch hatten Gesichter. An diesem Haus ragte aus einer Erkerverkleidung ein geflügelter Hund, an jenem spielte ein fetter Knabe eine stumme Flöte. Hier starrte eine Fratze aus einer Mauer, dort predigte ein kleiner Greis mit Bart zu einem unsichtbaren Publikum. Nichts davon hatte er früher wahrgenommen. Er zielte auf den predigenden Alten. Sein Arm schwan kte. Mit einer drohenden Handbewegung ließ er das Gewehr sinken.« Als existenzielles Gedankenexperiment ist die Arbeit der Nacht genauso kahl wie alles, was wir bei Camus lesen oder bei Bergman sehen: Wir brauchen andere, zwar nicht unbedingt, um zu lieben oder um zu ver stehen, aber um die ewige Stille zu durchbrechen, die uns sonst verschlingen und in den W ahnsinn treiben würde. Selten war die Stille derart ernst oder derart all umfassend – und ähnlich wie Beuys in Das Schweigen trotzt Glavinic dem selbstgefälligen Theater eines Duchamp. Angesichts seines intensiven und kompromisslosen Werkes er kennen wir – sogar dort, wo es das Irrationale umarmt –, dass die Vertreter des Dadaismus und Surrealismus aus dem Unheimlichen eine Art Taschenspielertrick machen, teilweise natürlich, weil sie darauf bedacht sind, allem eine offensichtlich antibürgerliche Gestalt zu ver leihen, und teilweise weil sie verzaubert sind, nicht so sehr von dem, was sie finden, sondern von der Tatsache, dass sie es sind, die das Finden über nommen haben. Bei Glavinic auf der anderen Seite ist, wie bei Beuys, die Konfrontation mit der Stille eine ernsthafte, furchterregende und unglamouröse Angelegenheit. Dies ist die Stille, aus der alles entsteht, solange ihre Schreckensherrschaft andauert, die Stille, zu der jeder zurückkehrt. Wurde sie einmal erkannt, kann sie nicht durch Ironie oder Koketterie kontrolliert werden. Sie ist echt.
II
»Aber Jona machte sich auf und floh vor dem HERRN und wollte gen Tharsis und kam hinab gen Japho. Und da er ein Schiff fand, das gen Tharsis wollte fahren, gab er Fährgeld und trat hinein, daß er mit ihnen gen Tharsis führe vor dem Herrn.« Manchmal lese ich Glavinic, um mich daran zu erinnern, dass durch die Namensgebung des Helden in der Arbeit der Nacht nicht nur die biblische Dunkelheit im Inneren des Walbauches evoziert wird, sondern auch die mythischen Geschöpfe meiner eigenen keltischpiktischen Sozialisation: Phänomene, die in der Welt als objektive Gegebenheiten existieren und zugleich als groteske Varianten des eigenen Selbst, die in Gestalt unserer elementarsten Zweifel und Sorgen auftreten und uns mit Angst lähmen. In Witchraft and Second Sight in the Highlands and Islands of Scotland beschreibt John Gregson Campbell ein solches Phänomen folgendermaßen: »Zuweilen verursacht das Baucan Angst durch seine bloße Anwesenheit, manchmal durch die Geräusche, die es macht, und manchmal durch seine Stille. Der Erscheinung nach ist es üblicherweise ein Mann oder eine Frau, die leise vorbeizieht, ohne zu sprechen, außer sie wird angeredet, wenn überhaupt; doch es wurde auch schon gesichtet als schwarzer Hund, der den Reisenden ein Stück lang auf seinem Weg begleitet, als kopfloser Körper oder einfach als ein dunkles, bewegtes Objekt. Manchmal ist es furchteinflößend, etwa weil es eine scheppernde Kette hinter sich herzieht, weil es mit einer unmenschlichen Lautstärke pfeift oder schreckliche, blutgefrierende Schreie und Würggeräusche ausstößt.« In der Arbeit der Nacht manifestiert sich diese Präsenz – das gespiegelte Selbst und das konkrete Andere – als »der Schläfer«, der in den Videofilmen auftaucht, die Jonas jede Nacht produziert, Aufnahmen seiner selbst, wie er zu Bett geht, sich hinlegt und schläft. Zunächst ist der Schläfer also einfach Jonas, und dem Prozess des Filmens haftet etwas zugleich Komisches und Jämmerliches an. (Der Ver such, die Ge genwart eines anderen zu imitieren, indem er sich selbst beim Schlafen filmt, ähnelt so sehr den imaginären Freunden, die sich einsame oder unsichere Kinder her beiphantasieren, dass der Leser ein heftiges und zugleich widerwilliges Mitleid mit Jonas empfindet.) Nach und nach jedoch fängt der selbsterschaffene andere an, eine irrationale und furchterregende Selbständigkeit zu entwickeln, wobei er sich zunächst an Jonas’ Psyche zu schaffen macht und später an den Maßnahmen, die er ergreift. Als er sich nach England aufmacht, um herauszufinden, wo Marie steckt (als jedes Leben von der Erde verschwand, hatte sie dort einige Freunde treffen wollen), durchkreuzt der horlaartige Schläfer seine Pläne immer wieder, um schließlich zu einem unerbittlichen Feind zu werden, jederzeit imstande, Jonas’ Leben zu bedrohen. (Und weil der andere im Grunde ein Parasit ist, der ohne einen Wirt nicht existieren kann, erscheinen diese Attacken umso absurder und angstein flößender.) Was Jonas dabei natürlich nicht berücksich tigt, ist, dass der er fundene andere seine gesamte Kraft absorbiert: Er selbst war derjenige, der den Schläfer aus einer Art verzweifeltem Alleinsein heraus erschaffen hat, und wenn er nur seine Einsamkeit umarmen könnte, um sie zu einem spirituellen – und damit selbst gewählten – Seinszustand umzuwandeln, könnte er auch der Schreckensherrschaft ein Ende setzen und aus dem anderen einen V erbündeten machen. Andererseits ist nicht der Andere der Feind, und es ist nicht der Andere, der Angst produziert: Der Andere ist, wie bei Goethes Erlkönig , eine Erfindung, ein lebender Spiegel, in dem sich die eigenen Ängste – und dunkelsten Geheimnisse – widerspiegeln. Goethes Kind, ergriffen von einer Art dunkler, unschuldiger Einbildung (das genaue Gegenteil einer kreativen Einbildungskraft, welche die Welt über das rein Existierende hinaus als das offenbart, was sie letztlich ist), fragt: Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? Das Schlüsselwort hier ist das doppeldeutige »verspricht« – das Schicksal des Kindes wird versiegelt nicht durch Nebel, Wind und Bäume, die ihm Angst machen, sondern durch die Unfähigkeit des Vaters, seine Einbildungskraft voll auszuschöpfen und über die rein rationalen Erklärungen hinauszublicken, an denen er festhält, um sich die vermeintlich irrationale und folglich unbedeutende Bedrohung zu erklären, der sein Sohn sich ausgesetzt fühlt. Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, In dürren Blättern säuselt der Wind. Wir erinnern uns an dieser Stelle an das Gedicht »Las Ilusiones« von Juan Ramón Jiménez: – No era nadie. El agua. – ¿Nadie? ¿Que no es nadie el agua? . . . – No hay nadie. Era el viento. – ¿Nadie? ¿No es el viento nadie? – No hay nadie. Ilusión. – ¿No hay nadie? ¿Y no es nadie la ilusión? [Es war niemand. Nur das Wasser. – Niemand? Wie kann das Wasser niemand sein? . . . Es war niemand. Es war der Wind. – Niemand? Ist der Wind niemand? – Es war niemand. Illusion. – Was ist niemand? Und ist Illusion niemand?
© Carl Hanser Verlag München 2014
II
»Aber Jona machte sich auf und floh vor dem HERRN und wollte gen Tharsis und kam hinab gen Japho. Und da er ein Schiff fand, das gen Tharsis wollte fahren, gab er Fährgeld und trat hinein, daß er mit ihnen gen Tharsis führe vor dem Herrn.« Manchmal lese ich Glavinic, um mich daran zu erinnern, dass durch die Namensgebung des Helden in der Arbeit der Nacht nicht nur die biblische Dunkelheit im Inneren des Walbauches evoziert wird, sondern auch die mythischen Geschöpfe meiner eigenen keltischpiktischen Sozialisation: Phänomene, die in der Welt als objektive Gegebenheiten existieren und zugleich als groteske Varianten des eigenen Selbst, die in Gestalt unserer elementarsten Zweifel und Sorgen auftreten und uns mit Angst lähmen. In Witchraft and Second Sight in the Highlands and Islands of Scotland beschreibt John Gregson Campbell ein solches Phänomen folgendermaßen: »Zuweilen verursacht das Baucan Angst durch seine bloße Anwesenheit, manchmal durch die Geräusche, die es macht, und manchmal durch seine Stille. Der Erscheinung nach ist es üblicherweise ein Mann oder eine Frau, die leise vorbeizieht, ohne zu sprechen, außer sie wird angeredet, wenn überhaupt; doch es wurde auch schon gesichtet als schwarzer Hund, der den Reisenden ein Stück lang auf seinem Weg begleitet, als kopfloser Körper oder einfach als ein dunkles, bewegtes Objekt. Manchmal ist es furchteinflößend, etwa weil es eine scheppernde Kette hinter sich herzieht, weil es mit einer unmenschlichen Lautstärke pfeift oder schreckliche, blutgefrierende Schreie und Würggeräusche ausstößt.« In der Arbeit der Nacht manifestiert sich diese Präsenz – das gespiegelte Selbst und das konkrete Andere – als »der Schläfer«, der in den Videofilmen auftaucht, die Jonas jede Nacht produziert, Aufnahmen seiner selbst, wie er zu Bett geht, sich hinlegt und schläft. Zunächst ist der Schläfer also einfach Jonas, und dem Prozess des Filmens haftet etwas zugleich Komisches und Jämmerliches an. (Der Ver such, die Ge genwart eines anderen zu imitieren, indem er sich selbst beim Schlafen filmt, ähnelt so sehr den imaginären Freunden, die sich einsame oder unsichere Kinder her beiphantasieren, dass der Leser ein heftiges und zugleich widerwilliges Mitleid mit Jonas empfindet.) Nach und nach jedoch fängt der selbsterschaffene andere an, eine irrationale und furchterregende Selbständigkeit zu entwickeln, wobei er sich zunächst an Jonas’ Psyche zu schaffen macht und später an den Maßnahmen, die er ergreift. Als er sich nach England aufmacht, um herauszufinden, wo Marie steckt (als jedes Leben von der Erde verschwand, hatte sie dort einige Freunde treffen wollen), durchkreuzt der horlaartige Schläfer seine Pläne immer wieder, um schließlich zu einem unerbittlichen Feind zu werden, jederzeit imstande, Jonas’ Leben zu bedrohen. (Und weil der andere im Grunde ein Parasit ist, der ohne einen Wirt nicht existieren kann, erscheinen diese Attacken umso absurder und angstein flößender.) Was Jonas dabei natürlich nicht berücksich tigt, ist, dass der er fundene andere seine gesamte Kraft absorbiert: Er selbst war derjenige, der den Schläfer aus einer Art verzweifeltem Alleinsein heraus erschaffen hat, und wenn er nur seine Einsamkeit umarmen könnte, um sie zu einem spirituellen – und damit selbst gewählten – Seinszustand umzuwandeln, könnte er auch der Schreckensherrschaft ein Ende setzen und aus dem anderen einen V erbündeten machen. Andererseits ist nicht der Andere der Feind, und es ist nicht der Andere, der Angst produziert: Der Andere ist, wie bei Goethes Erlkönig , eine Erfindung, ein lebender Spiegel, in dem sich die eigenen Ängste – und dunkelsten Geheimnisse – widerspiegeln. Goethes Kind, ergriffen von einer Art dunkler, unschuldiger Einbildung (das genaue Gegenteil einer kreativen Einbildungskraft, welche die Welt über das rein Existierende hinaus als das offenbart, was sie letztlich ist), fragt: Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? Das Schlüsselwort hier ist das doppeldeutige »verspricht« – das Schicksal des Kindes wird versiegelt nicht durch Nebel, Wind und Bäume, die ihm Angst machen, sondern durch die Unfähigkeit des Vaters, seine Einbildungskraft voll auszuschöpfen und über die rein rationalen Erklärungen hinauszublicken, an denen er festhält, um sich die vermeintlich irrationale und folglich unbedeutende Bedrohung zu erklären, der sein Sohn sich ausgesetzt fühlt. Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, In dürren Blättern säuselt der Wind. Wir erinnern uns an dieser Stelle an das Gedicht »Las Ilusiones« von Juan Ramón Jiménez: – No era nadie. El agua. – ¿Nadie? ¿Que no es nadie el agua? . . . – No hay nadie. Era el viento. – ¿Nadie? ¿No es el viento nadie? – No hay nadie. Ilusión. – ¿No hay nadie? ¿Y no es nadie la ilusión? [Es war niemand. Nur das Wasser. – Niemand? Wie kann das Wasser niemand sein? . . . Es war niemand. Es war der Wind. – Niemand? Ist der Wind niemand? – Es war niemand. Illusion. – Was ist niemand? Und ist Illusion niemand?
© Carl Hanser Verlag München 2014
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Autoren-Porträt von Thomas Glavinic
Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. 1998 erschien sein Debüt Carl Haffners Liebe zum Unentschieden. Es folgten u.a. Die Arbeit der Nacht (2006), Das bin doch ich (2007), Das Leben der Wünsche (2009) und Das größere Wunder (2013). Seine Romane Der Kameramörder (2001) und Wie man leben soll (2004) wurden fürs Kino verfilmt. Thomas Glavinic erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Seine Romane sind in 18 Sprachen übersetzt. Er lebt in Wien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Glavinic
- 2014, 2. Aufl., 120 Seiten, Maße: 14,1 x 21,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446244875
- ISBN-13: 9783446244870
- Erscheinungsdatum: 17.03.2014
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