Michail Gorbatschow und die deutsche Frage
Sowjetische Dokumente 1986-1991
im Prozess der deutschen Wiedervereinigung spielte die Sowjetunion eine zentrale Rolle. Die wesentlichen Dokumente aus dem innersten Machtzirkel der UdSSR, die Motive und Entscheidungsfindungen des Kreml beleuchten, waren indes bislang nur einem kleinen...
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Klappentext zu „Michail Gorbatschow und die deutsche Frage “
im Prozess der deutschen Wiedervereinigung spielte die Sowjetunion eine zentrale Rolle. Die wesentlichen Dokumente aus dem innersten Machtzirkel der UdSSR, die Motive und Entscheidungsfindungen des Kreml beleuchten, waren indes bislang nur einem kleinen Kreis von Spezialisten zugänglich. Die vorliegende Edition bietet erstmals eine vollständige deutsche Übersetzung derjenigen sowjetischen Gesprächsprotokolle, Strategiepapiere und Hintergrunddiskussionen, die die Gorbatschow-Stiftung 2006 in Russland publiziert hat. Die intensive Kommentierung führt zugleich die vielfältigen westlichen und russischen Gegen- und Parallelversionen aus offiziellen Editionen und aus der umfangreichen Memoirenliteratur zusammen. In den Texten wird die Dramatik der Jahre 1989 und 1990 greifbar. Deutsche, sowjetische, europäische und globale Ereignisse stellten Moskau vor immer neue Herausforderungen - mit der Zustimmung zur Wiedervereinigung versuchte Gorbatschow auch, die komplexen, miteinander verzahnten innen- und außenpolitischen Probleme der UdSSR zu lösen.
Lese-Probe zu „Michail Gorbatschow und die deutsche Frage “
Michail Gorbatschow und die deutsche Frage von Aleksandr Galkin undAnatolij Tschernjajew (Hrsg.)
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte
Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte
Band 83
Vorwort zur deutschen Ausgabe
I.
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Michail S. Gorbacev flog Anfang Oktober 1989 höchst ungern zu den Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR. Doch konnte er kaum anders, da Erich Honecker ihn „nachdrücklich" eingeladen hatte. Gleichwohl kehrte Gorbacev, so lesen wir, „befriedigt" aus der DDR zurück. Mitarbeiter und er selbst erzählten, wie er mit Honecker durch ein Spalier von „Tausenden und Hunderttausenden" gegangen sei und die Menschen „Gorbi, Gorbi" riefen. Demonstranten hätten Plakate mit „Gorbacev, Du bist unsere Hoffnung" hoch gehalten, während Erich Honecker von kaum jemandem beachtet worden sei. Mieczysaw Rakowski, der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der neben Gorbacev auf der Tribüne gestanden hatte, habe ihm ins Ohr geraunt: „Michail, Du kennst die deutsche Sprache nicht, ich aber sehe und höre, was sie rufen und was auf ihren Plakaten steht. Das ist das Ende, Michail Sergeevic!". Für Gorbacev war Honecker, wie er anschließend im engsten Kreis bemerkte, ein „Sack", der seinen Leuten hätte sagen sollen: „Ich habe vier chirurgische Operationen überstanden, bin 78 Jahre alt, und solch eine stürmische Periode erfordert sehr viel Kraft - entlasst mich, ich habe meine Aufgabe erfüllt." Dann hätte Honecker, so Gorbacev, seinen Platz in der Geschichte behalten. Gorbacevs Mitarbeiter widersprachen: Vielleicht wäre dies noch vor zwei, drei Jahren möglich gewesen; heute sei er beim Volk unten durch.
Anatolij S. Cernjaev, einer der engsten außenpolitischen Berater Gorbacevs in seiner Funktion als Generalsekretär der KPdSU, dann als Staatspräsident der Sowjetunion, hat diese Episode in seinem Tagebuch zu Papier gebracht.1 Sie ist im vorliegenden Band2 - in Auszügen - wieder abgedruckt; zusammen mit über 130 weiteren Dokumenten zur „deutschen Frage" aus den Jahren 1986 bis 1991, die heute im Gorbacev-Archiv liegen und von den beiden Mitarbeitern der Gorbacev-Stiftung, Aleksandr Galkin und Anatolij Cernjaev, herausgegeben wurden. Es handelt sich vor allem um Protokolle und Aufzeichnungen zu Treffen und Telefonaten Gorbacevs mit ausländischen Staatsmännern (G. Bush, F. Mitterrand, M. Thatcher, G. Andreotti, J. Baker, R. Dumas, D. Hurd, G. de Michelis); zu Zusammenkünften mit west- und ostdeutschen Politikern (R. von Weizsäcker, H. Kohl, H.-D. Genscher, W. Brandt, H. -J. Vogel, L. Späth, F. J. Strauß, M. Bangemann sowie E. Honecker, E. Krenz, H. Modrow, G. Gysi, L. de Maizière) sowie um Notizen zu Sitzungen des Politbüros der KPdSU oder zu Besprechungen im engen Beraterkreis (wie sie vor allem von A. Cernjaev festgehalten wurden, darunter auch die eingangs zitierte Episode). Diese Dokumente werden vollständig abgedruckt oder doch in jenen Passagen, die sich auf das leidige „deutsche Problem" bezogen. Hinzu kommen Auszüge aus Pressekonferenzen, Pressemitteilungen und amtlichen Dokumenten, soweit sie zum Gesamtverständnis notwendig bzw. hilfreich erscheinen.
II.
Insgesamt illustrieren die vorgelegten Dokumente jene letzte, hochdramatische Phase der sowjetisch-deutschen Beziehungen, die im März 1985 mit der Wahl Gorbacevs zum Generalsekretär der KPdSU begann. Der neue Parteiführer setzte Reformen in Gang, die die Stagnation überwinden, verkrustete Strukturen aufbrechen und das Wirtschaftswachstum beschleunigen sollten. Voraussetzung dafür war, dass sehr viel offener über die Missstände in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gesprochen werden konnte, auch über die dunkle, stalinistische Vergangenheit. Im gleichen Maße, wie in der Wirtschaft Bürokratie, Schlendrian und Gleichmacherei bekämpft wurden, sollte Leistungsbereitschaft gefördert und honoriert, die zentrale Planwirtschaft durch Marktmechanismen ergänzt werden. Nur durch mehr Beteiligung war die allgemeine Lethargie zu überwinden.3
Das galt auch für den politischen Bereich und machte einen entsprechenden „Umbau" (perestrojka) nötig. Im Sommer 1988 beschloss die 19. Parteikonferenz den Rückzug der kommunistischen Partei aus dem administrativ-operativen Bereich und die Wiederaufwertung der Räte als demokratisch gewählte Selbstverwaltungsorgane. Wahlen sollten tatsächlich Wahlen werden, in denen mehrere Kandidaten zur Wahl standen, auch gegenteilige Meinungen zu Wort kommen konnten und die Entscheidung dem Wähler überlassen blieb. Nach diesen Prinzipien wurde im Frühjahr 1989 ein großer „Volksdeputiertenkongress" gewählt, der künftig „die wichtigsten konstitutionellen, politischen und sozialökonomischen Fragen" des Landes entscheiden, einen Staatspräsidenten bestellen und aus seiner Mitte einen wesentlich kleineren „Obersten Sowjet" bilden sollte, dessen zwei Kammern dann „Gesetzgebung und Kontrolle" übernehmen sollten.
Wer sich von den Reformen eine rasche Beseitigung der Versorgungsengpässe, gar einen Wirtschaftsaufschwung versprochen hatte, wurde enttäuscht; die wirtschaftliche Talfahrt setzte sich fort und führte von der Stagnation in die offene Krise. Die Diskussion der Missstände in den Medien lieferte der Öffentlichkeit ein schonungsloses Bild von der tatsächlichen Lage im Lande, nachdrücklicher als es Dissidentenzirkel, „Andersdenkende", je vermocht hatten; das galt insbesondere für die hitzigen Debatten im Volksdeputiertenkongress, die von Funk und Fernsehen direkt übertragen wurden. Sie zehrten auch an der Reputation der kommunistischen Partei, die zwar für die Misere offenkundig die Verantwortung trug, nun jedoch kein rechtes Konzept erkennen ließ, wie die Krise zu überwinden sei, und immer stärker in Gruppen und Fraktionen zerfiel, die sich wechselseitig bekämpften.
Dass die Reformen gesellschaftliche Kräfte geweckt hatten, die nicht mehr bereit waren, sich dem Marxismus-Leninismus als Staatsideologie unterzuordnen und den in der Verfassung verbrieften Führungsanspruch der kommunistischen Partei anzuerkennen, zeigte sich an den „Informellen Gruppen". Sie lehnten es ab, sich bei den staatlichen Stellen registrieren zu lassen (daher der Name); Anfang des Jahres 1988 wurde ihre Zahl auf 30000, ein Jahr später auf 60000 geschätzt. Zu diesen Gruppen zählten in gewisser Weise auch die „Volksfronten", die sich unter unterschiedlichen Bezeichnungen in den Randgebieten (in Estland, Lettland und Litauen, in Moldawien und der Ukraine, in Armenien, Georgien und Aserbaidschan) gebildet hatten und statt der gesamtstaatlich-sowjetischen nun „nationale" Ziele propagierten.
Seit Anfang des Jahres 1990 war der Führungsanspruch der kommunistischen Partei aus der sowjetischen Verfassung gestrichen, und die sowjetische Führung sah sich gezwungen, mit den Einzelrepubliken in Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag einzutreten, der es den Republiken überließ, ihre politische und wirtschaftliche Ordnung selbst zu bestimmen, schließlich auch über ihre Ressourcen und Bodenschätze auf dem Territorium ihrer Republik zu entscheiden: So lautete deren Forderung, soweit sie nicht bereits noch mehr wollten: nämlich die vollständige Unabhängigkeit von der Sowjetunion.
Die zentrifugalen Tendenzen setzten sich jenseits der Grenzen, in Ostmittel- und Südosteuropa, fort. Die sowjetische Politik stand hier unter mehrfachem Druck. Sie konnte den sozialistischen „Bruderländern" kaum verweigern, womit sie selbst im eigenen Land experimentierte: Reformen, die dem Einzelnen mehr Rechte und mehr Wohlstand, der Wirtschaft mehr Markt und Freizügigkeit, der Gesellschaft mehr Mitbestimmung, ja Demokratie und dem Gesamtstaat Unabhängigkeit von der Gängelung durch die eine, alles entscheidende Partei, ein Mehrparteiensystem versprachen. Zum andern hatte die sowjetische Führung für ein „neues Denken" in der Außenpolitik geworben, das den Atomkrieg für nicht führbar erklärte, dem sinnlosen, nuklearen Wettrüsten ein Ende setzen wollte und für eine „Entideologisierung" der Außenpolitik eintrat. Grundlage des Zusammenlebens sollte die Anerkennung der bestehenden Grenzen und der Souveränität jedes Staates sein (wozu auch das uneingeschränkte Recht, seine innere Ordnung selbst zu bestimmen, gehörte), ferner die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und die Beachtung der Menschenrechte - insgesamt also jene Grundprinzipien, auf die man sich im Sommer 1975 in der KSZE-Schlussakte von Helsinki geeinigt hatte.
Beim Wort genommen war dies eine Abkehr von den Ideen der „Weltrevolution", eines „Exports der Revolution" und der „Breznev-Doktrin". Auf ihrer Basis war nachträglich mit dem Hinweis auf die begrenzte Souveränität sozialistischer Staaten - wenn es um die Verteidigung des Sozialismus als solchem ging - der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei (1968) gerechtfertigt worden. An die Stelle solcher Prinzipien sollte die Vorstellung eines „gemeinsamen europäischen Hauses" treten, die die geschichtliche Zusammengehörigkeit Europas als Lebenswelt, Sicherheits- und Wertegemeinschaft betonte:
Am Erhalt des „gemeinsamen Hauses" musste allen in Europa gelegen sein. Selbst wenn Gorbacev das Schlagwort vom „gemeinsamen gesamteuropäischen Haus" nicht „erfunden", sondern nur erneut und nachdrücklich in die Diskussion gebracht hatte, wurde es zunehmend mit ihm identifiziert und zum Synonym seiner Leitidee für ein „neues Europa": eines Europa, das sich seiner gemeinsamen Wurzeln bewusst wurde, sich zu gemeinsamen Werten bekannte, eines Europa auch, in dem sich der „eiserne Vorhang" hob, Denkbarrieren fielen, Grenzen durchlässig wurden, die „Blöcke" sich aufzulösen begannen.
Mit diesem „neuen Denken" und einseitigen Vorleistungen war es Gorbacev gelungen, Vertrauen bei den westlichen Verhandlungspartnern aufzubauen und mit den USA, nach mehreren Gipfeltreffen mit Präsident Reagan, im Dezember 1987 den INF-Vertrag zur Beseitigung aller landgestützten Mittelstreckenraketen zu unterzeichnen. Im Rahmen der KSZE begann im Frühjahr 1989 ein weiteres Folgetreffen über Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa, zeitgleich mit Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Rüstung in Wien, die zum Abschluss eines Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa (KSE) führten, den die Staats- und Regierungschefs im November 1990 auf einem KSZE-Sondergipfel in Paris unterzeichneten. Mittlerweile waren auch die Verhandlungen über die Reduzierung der nuklearen („strategischen") Trägersysteme großer Reichweite (START) zwischen den USA und der Sowjetunion weit vorangekommen, sie führten im Sommer 1991 zur Unterzeichnung einer entsprechenden vertraglichen Regelung. Dass die Abrüstungsbeschlüsse auch eine spürbare Entlastung für die stagnierende, dann in immer schwerere Turbulenzen geratene sowjetische Wirtschaft bringen sollten, liegt auf der Hand.
Die Probe aufs Exempel, wie ernst es der Sowjetführung mit ihrem „neuen außenpolitischen Denken" wirklich war, lieferte das Jahr 1989. Gorbacev forderte eine „Entideologisierung der Außenpolitik", in der die Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses" das Blockdenken überwinden sollte. Er wolle eine „Respektierung der Prinzipien von Helsinki", zu denen auch das souveräne Recht der Völker gehörte, „ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen": Wie stand es tatsächlich mit diesem Abschied von der Breinev-Doktrin? 1989 setzte sich in Polen die Staatsführung mit der Opposition an einen „runden Tisch"; die kommunistische Partei erlebte bei den Wahlen im Juni eine vernichtende Niederlage und im August wurde Tadeusz Mazowiecki neuer Ministerpräsident - der erste „bürgerliche" Regierungschef Polens seit mehr als 40 Jahren. 1989 beschloss in Ungarn das Parlament den Übergang zu einem Mehrparteiensystem und rehabilitierte Imre Nagy, den von den Sowjets ermordeten Ministerpräsidenten des ungarischen Volksaufstandes 1956. Er wurde in einem Ehrengrab beigesetzt. Schließlich öffnete Ungarn seine Grenzen zu Österreich.
Im gleichen Herbst wurde in Bulgarien Todor Zivkov (seit 1951 Mitglied des Politbüros und seit 1954 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Bulgariens) von seinen Ämtern als Parteichef, Mitglied des Politbüros und Vorsitzender des Staatsrats entbunden. Im November/Dezember dieses Jahres 1989 spülte eine Demonstrationswelle in Prag erst die Parteiführung, dann die Regierung hinweg; bei der Neubildung des Kabinetts besetzten Oppositionelle Schlüsselressorts und der Dissident Václav Havel wurde (nach dem Rücktritt Gustáv Husáks) neuer Staatspräsident. Noch im Dezember wurde, nach blutigen Kämpfen, Nicolae Ceau¸sescu als Partei- und Staatschef Rumäniens gestürzt, auf der Flucht verhaftet und zusammen mit seiner Frau vor ein Militärtribunal gestellt, das beide am 25. Dezember 1989 zum Tode verurteilte, unmittelbar danach wurden sie hingerichtet. Und in diesem Herbst 1989, nur sechs Wochen nach den eingangs geschilderten Staatsgründungsfeierlichkeiten, wurde auch Erich Honecker zum Rücktritt aus allen Staats- und Parteiämtern gezwungen. Der SED-Herrschaft überdrüssig, waren seit dem Sommer 1989 Zehntausende von DDR-Bürgern über die österreichisch-ungarische Grenze sowie über die bundesrepublikanischen Botschaften in Prag und Warschau in den Westen geflohen, demonstrierten bis in den Herbst hinein Hunderttausende in Leipzig und anderswo allwöchentlich gegen das Regime und erzwangen nach dem Sturz des Parteichefs schließlich Anfang November 1989 auch die Öffnung der Berliner Mauer.
Gorbacev griff - anders als viele immer noch befürchtet hatten - nicht ein. Jede Intervention hätte, was die Sowjetunion in der Abrüstungspolitik erreicht hatte, aufs Spiel gesetzt, alles mühsam aufgebaute Vertrauen wieder zerstört, Gorbacev selbst unglaubwürdig gemacht. Es ist nicht erkennbar, dass Gorbacev ein Eingreifen ernsthaft in Erwägung gezogen hätte: wohl nicht nur aus außenpolitischen Überlegungen, sondern erst recht mit Blick auf die Lage im Innern, wo eskalierende Probleme und Konflikte den Bestand des Gesamtstaates in Frage stellten und ihn zunehmend seiner Handlungsfähigkeit beraubten.
© 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München
Michail S. Gorbacev flog Anfang Oktober 1989 höchst ungern zu den Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR. Doch konnte er kaum anders, da Erich Honecker ihn „nachdrücklich" eingeladen hatte. Gleichwohl kehrte Gorbacev, so lesen wir, „befriedigt" aus der DDR zurück. Mitarbeiter und er selbst erzählten, wie er mit Honecker durch ein Spalier von „Tausenden und Hunderttausenden" gegangen sei und die Menschen „Gorbi, Gorbi" riefen. Demonstranten hätten Plakate mit „Gorbacev, Du bist unsere Hoffnung" hoch gehalten, während Erich Honecker von kaum jemandem beachtet worden sei. Mieczysaw Rakowski, der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der neben Gorbacev auf der Tribüne gestanden hatte, habe ihm ins Ohr geraunt: „Michail, Du kennst die deutsche Sprache nicht, ich aber sehe und höre, was sie rufen und was auf ihren Plakaten steht. Das ist das Ende, Michail Sergeevic!". Für Gorbacev war Honecker, wie er anschließend im engsten Kreis bemerkte, ein „Sack", der seinen Leuten hätte sagen sollen: „Ich habe vier chirurgische Operationen überstanden, bin 78 Jahre alt, und solch eine stürmische Periode erfordert sehr viel Kraft - entlasst mich, ich habe meine Aufgabe erfüllt." Dann hätte Honecker, so Gorbacev, seinen Platz in der Geschichte behalten. Gorbacevs Mitarbeiter widersprachen: Vielleicht wäre dies noch vor zwei, drei Jahren möglich gewesen; heute sei er beim Volk unten durch.
Anatolij S. Cernjaev, einer der engsten außenpolitischen Berater Gorbacevs in seiner Funktion als Generalsekretär der KPdSU, dann als Staatspräsident der Sowjetunion, hat diese Episode in seinem Tagebuch zu Papier gebracht.1 Sie ist im vorliegenden Band2 - in Auszügen - wieder abgedruckt; zusammen mit über 130 weiteren Dokumenten zur „deutschen Frage" aus den Jahren 1986 bis 1991, die heute im Gorbacev-Archiv liegen und von den beiden Mitarbeitern der Gorbacev-Stiftung, Aleksandr Galkin und Anatolij Cernjaev, herausgegeben wurden. Es handelt sich vor allem um Protokolle und Aufzeichnungen zu Treffen und Telefonaten Gorbacevs mit ausländischen Staatsmännern (G. Bush, F. Mitterrand, M. Thatcher, G. Andreotti, J. Baker, R. Dumas, D. Hurd, G. de Michelis); zu Zusammenkünften mit west- und ostdeutschen Politikern (R. von Weizsäcker, H. Kohl, H.-D. Genscher, W. Brandt, H. -J. Vogel, L. Späth, F. J. Strauß, M. Bangemann sowie E. Honecker, E. Krenz, H. Modrow, G. Gysi, L. de Maizière) sowie um Notizen zu Sitzungen des Politbüros der KPdSU oder zu Besprechungen im engen Beraterkreis (wie sie vor allem von A. Cernjaev festgehalten wurden, darunter auch die eingangs zitierte Episode). Diese Dokumente werden vollständig abgedruckt oder doch in jenen Passagen, die sich auf das leidige „deutsche Problem" bezogen. Hinzu kommen Auszüge aus Pressekonferenzen, Pressemitteilungen und amtlichen Dokumenten, soweit sie zum Gesamtverständnis notwendig bzw. hilfreich erscheinen.
II.
Insgesamt illustrieren die vorgelegten Dokumente jene letzte, hochdramatische Phase der sowjetisch-deutschen Beziehungen, die im März 1985 mit der Wahl Gorbacevs zum Generalsekretär der KPdSU begann. Der neue Parteiführer setzte Reformen in Gang, die die Stagnation überwinden, verkrustete Strukturen aufbrechen und das Wirtschaftswachstum beschleunigen sollten. Voraussetzung dafür war, dass sehr viel offener über die Missstände in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gesprochen werden konnte, auch über die dunkle, stalinistische Vergangenheit. Im gleichen Maße, wie in der Wirtschaft Bürokratie, Schlendrian und Gleichmacherei bekämpft wurden, sollte Leistungsbereitschaft gefördert und honoriert, die zentrale Planwirtschaft durch Marktmechanismen ergänzt werden. Nur durch mehr Beteiligung war die allgemeine Lethargie zu überwinden.3
Das galt auch für den politischen Bereich und machte einen entsprechenden „Umbau" (perestrojka) nötig. Im Sommer 1988 beschloss die 19. Parteikonferenz den Rückzug der kommunistischen Partei aus dem administrativ-operativen Bereich und die Wiederaufwertung der Räte als demokratisch gewählte Selbstverwaltungsorgane. Wahlen sollten tatsächlich Wahlen werden, in denen mehrere Kandidaten zur Wahl standen, auch gegenteilige Meinungen zu Wort kommen konnten und die Entscheidung dem Wähler überlassen blieb. Nach diesen Prinzipien wurde im Frühjahr 1989 ein großer „Volksdeputiertenkongress" gewählt, der künftig „die wichtigsten konstitutionellen, politischen und sozialökonomischen Fragen" des Landes entscheiden, einen Staatspräsidenten bestellen und aus seiner Mitte einen wesentlich kleineren „Obersten Sowjet" bilden sollte, dessen zwei Kammern dann „Gesetzgebung und Kontrolle" übernehmen sollten.
Wer sich von den Reformen eine rasche Beseitigung der Versorgungsengpässe, gar einen Wirtschaftsaufschwung versprochen hatte, wurde enttäuscht; die wirtschaftliche Talfahrt setzte sich fort und führte von der Stagnation in die offene Krise. Die Diskussion der Missstände in den Medien lieferte der Öffentlichkeit ein schonungsloses Bild von der tatsächlichen Lage im Lande, nachdrücklicher als es Dissidentenzirkel, „Andersdenkende", je vermocht hatten; das galt insbesondere für die hitzigen Debatten im Volksdeputiertenkongress, die von Funk und Fernsehen direkt übertragen wurden. Sie zehrten auch an der Reputation der kommunistischen Partei, die zwar für die Misere offenkundig die Verantwortung trug, nun jedoch kein rechtes Konzept erkennen ließ, wie die Krise zu überwinden sei, und immer stärker in Gruppen und Fraktionen zerfiel, die sich wechselseitig bekämpften.
Dass die Reformen gesellschaftliche Kräfte geweckt hatten, die nicht mehr bereit waren, sich dem Marxismus-Leninismus als Staatsideologie unterzuordnen und den in der Verfassung verbrieften Führungsanspruch der kommunistischen Partei anzuerkennen, zeigte sich an den „Informellen Gruppen". Sie lehnten es ab, sich bei den staatlichen Stellen registrieren zu lassen (daher der Name); Anfang des Jahres 1988 wurde ihre Zahl auf 30000, ein Jahr später auf 60000 geschätzt. Zu diesen Gruppen zählten in gewisser Weise auch die „Volksfronten", die sich unter unterschiedlichen Bezeichnungen in den Randgebieten (in Estland, Lettland und Litauen, in Moldawien und der Ukraine, in Armenien, Georgien und Aserbaidschan) gebildet hatten und statt der gesamtstaatlich-sowjetischen nun „nationale" Ziele propagierten.
Seit Anfang des Jahres 1990 war der Führungsanspruch der kommunistischen Partei aus der sowjetischen Verfassung gestrichen, und die sowjetische Führung sah sich gezwungen, mit den Einzelrepubliken in Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag einzutreten, der es den Republiken überließ, ihre politische und wirtschaftliche Ordnung selbst zu bestimmen, schließlich auch über ihre Ressourcen und Bodenschätze auf dem Territorium ihrer Republik zu entscheiden: So lautete deren Forderung, soweit sie nicht bereits noch mehr wollten: nämlich die vollständige Unabhängigkeit von der Sowjetunion.
Die zentrifugalen Tendenzen setzten sich jenseits der Grenzen, in Ostmittel- und Südosteuropa, fort. Die sowjetische Politik stand hier unter mehrfachem Druck. Sie konnte den sozialistischen „Bruderländern" kaum verweigern, womit sie selbst im eigenen Land experimentierte: Reformen, die dem Einzelnen mehr Rechte und mehr Wohlstand, der Wirtschaft mehr Markt und Freizügigkeit, der Gesellschaft mehr Mitbestimmung, ja Demokratie und dem Gesamtstaat Unabhängigkeit von der Gängelung durch die eine, alles entscheidende Partei, ein Mehrparteiensystem versprachen. Zum andern hatte die sowjetische Führung für ein „neues Denken" in der Außenpolitik geworben, das den Atomkrieg für nicht führbar erklärte, dem sinnlosen, nuklearen Wettrüsten ein Ende setzen wollte und für eine „Entideologisierung" der Außenpolitik eintrat. Grundlage des Zusammenlebens sollte die Anerkennung der bestehenden Grenzen und der Souveränität jedes Staates sein (wozu auch das uneingeschränkte Recht, seine innere Ordnung selbst zu bestimmen, gehörte), ferner die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und die Beachtung der Menschenrechte - insgesamt also jene Grundprinzipien, auf die man sich im Sommer 1975 in der KSZE-Schlussakte von Helsinki geeinigt hatte.
Beim Wort genommen war dies eine Abkehr von den Ideen der „Weltrevolution", eines „Exports der Revolution" und der „Breznev-Doktrin". Auf ihrer Basis war nachträglich mit dem Hinweis auf die begrenzte Souveränität sozialistischer Staaten - wenn es um die Verteidigung des Sozialismus als solchem ging - der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei (1968) gerechtfertigt worden. An die Stelle solcher Prinzipien sollte die Vorstellung eines „gemeinsamen europäischen Hauses" treten, die die geschichtliche Zusammengehörigkeit Europas als Lebenswelt, Sicherheits- und Wertegemeinschaft betonte:
Am Erhalt des „gemeinsamen Hauses" musste allen in Europa gelegen sein. Selbst wenn Gorbacev das Schlagwort vom „gemeinsamen gesamteuropäischen Haus" nicht „erfunden", sondern nur erneut und nachdrücklich in die Diskussion gebracht hatte, wurde es zunehmend mit ihm identifiziert und zum Synonym seiner Leitidee für ein „neues Europa": eines Europa, das sich seiner gemeinsamen Wurzeln bewusst wurde, sich zu gemeinsamen Werten bekannte, eines Europa auch, in dem sich der „eiserne Vorhang" hob, Denkbarrieren fielen, Grenzen durchlässig wurden, die „Blöcke" sich aufzulösen begannen.
Mit diesem „neuen Denken" und einseitigen Vorleistungen war es Gorbacev gelungen, Vertrauen bei den westlichen Verhandlungspartnern aufzubauen und mit den USA, nach mehreren Gipfeltreffen mit Präsident Reagan, im Dezember 1987 den INF-Vertrag zur Beseitigung aller landgestützten Mittelstreckenraketen zu unterzeichnen. Im Rahmen der KSZE begann im Frühjahr 1989 ein weiteres Folgetreffen über Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa, zeitgleich mit Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Rüstung in Wien, die zum Abschluss eines Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa (KSE) führten, den die Staats- und Regierungschefs im November 1990 auf einem KSZE-Sondergipfel in Paris unterzeichneten. Mittlerweile waren auch die Verhandlungen über die Reduzierung der nuklearen („strategischen") Trägersysteme großer Reichweite (START) zwischen den USA und der Sowjetunion weit vorangekommen, sie führten im Sommer 1991 zur Unterzeichnung einer entsprechenden vertraglichen Regelung. Dass die Abrüstungsbeschlüsse auch eine spürbare Entlastung für die stagnierende, dann in immer schwerere Turbulenzen geratene sowjetische Wirtschaft bringen sollten, liegt auf der Hand.
Die Probe aufs Exempel, wie ernst es der Sowjetführung mit ihrem „neuen außenpolitischen Denken" wirklich war, lieferte das Jahr 1989. Gorbacev forderte eine „Entideologisierung der Außenpolitik", in der die Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses" das Blockdenken überwinden sollte. Er wolle eine „Respektierung der Prinzipien von Helsinki", zu denen auch das souveräne Recht der Völker gehörte, „ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen": Wie stand es tatsächlich mit diesem Abschied von der Breinev-Doktrin? 1989 setzte sich in Polen die Staatsführung mit der Opposition an einen „runden Tisch"; die kommunistische Partei erlebte bei den Wahlen im Juni eine vernichtende Niederlage und im August wurde Tadeusz Mazowiecki neuer Ministerpräsident - der erste „bürgerliche" Regierungschef Polens seit mehr als 40 Jahren. 1989 beschloss in Ungarn das Parlament den Übergang zu einem Mehrparteiensystem und rehabilitierte Imre Nagy, den von den Sowjets ermordeten Ministerpräsidenten des ungarischen Volksaufstandes 1956. Er wurde in einem Ehrengrab beigesetzt. Schließlich öffnete Ungarn seine Grenzen zu Österreich.
Im gleichen Herbst wurde in Bulgarien Todor Zivkov (seit 1951 Mitglied des Politbüros und seit 1954 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Bulgariens) von seinen Ämtern als Parteichef, Mitglied des Politbüros und Vorsitzender des Staatsrats entbunden. Im November/Dezember dieses Jahres 1989 spülte eine Demonstrationswelle in Prag erst die Parteiführung, dann die Regierung hinweg; bei der Neubildung des Kabinetts besetzten Oppositionelle Schlüsselressorts und der Dissident Václav Havel wurde (nach dem Rücktritt Gustáv Husáks) neuer Staatspräsident. Noch im Dezember wurde, nach blutigen Kämpfen, Nicolae Ceau¸sescu als Partei- und Staatschef Rumäniens gestürzt, auf der Flucht verhaftet und zusammen mit seiner Frau vor ein Militärtribunal gestellt, das beide am 25. Dezember 1989 zum Tode verurteilte, unmittelbar danach wurden sie hingerichtet. Und in diesem Herbst 1989, nur sechs Wochen nach den eingangs geschilderten Staatsgründungsfeierlichkeiten, wurde auch Erich Honecker zum Rücktritt aus allen Staats- und Parteiämtern gezwungen. Der SED-Herrschaft überdrüssig, waren seit dem Sommer 1989 Zehntausende von DDR-Bürgern über die österreichisch-ungarische Grenze sowie über die bundesrepublikanischen Botschaften in Prag und Warschau in den Westen geflohen, demonstrierten bis in den Herbst hinein Hunderttausende in Leipzig und anderswo allwöchentlich gegen das Regime und erzwangen nach dem Sturz des Parteichefs schließlich Anfang November 1989 auch die Öffnung der Berliner Mauer.
Gorbacev griff - anders als viele immer noch befürchtet hatten - nicht ein. Jede Intervention hätte, was die Sowjetunion in der Abrüstungspolitik erreicht hatte, aufs Spiel gesetzt, alles mühsam aufgebaute Vertrauen wieder zerstört, Gorbacev selbst unglaubwürdig gemacht. Es ist nicht erkennbar, dass Gorbacev ein Eingreifen ernsthaft in Erwägung gezogen hätte: wohl nicht nur aus außenpolitischen Überlegungen, sondern erst recht mit Blick auf die Lage im Innern, wo eskalierende Probleme und Konflikte den Bestand des Gesamtstaates in Frage stellten und ihn zunehmend seiner Handlungsfähigkeit beraubten.
© 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München
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Autoren-Porträt
Horst Möller, geboren 1943, ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a.: Weimar. Die unvollendete Demokratie (1997), Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763-1815 (1998), Europa zwischen den Weltkriegen (1998).Helmut Altrichter, Dr. phil., ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Von ihm gibt es zahlreiche Publikationen.Dr. Andreas Hilger ist Historiker mit den Forschungsschwerpunkten Geschichte der UdSSR und deutsch-sowjetische Beziehungen. Er ist am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden und an der Osteuropäischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität Köln tätig.
Bibliographische Angaben
- 2011, XXXVI, 640 Seiten, Maße: 16,7 x 24,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben:Galkin, Aleksandr; Tschernjajew, Anatolij
- Herausgegeben: Aleksandr Galkin, Anatolij Tschernjajew
- Übersetzer: Joachim Glaubitz
- Verlag: OLDENBOURG
- ISBN-10: 3486586548
- ISBN-13: 9783486586541
- Erscheinungsdatum: 09.03.2011
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