Neue Rundschau / 2012/2 / Moby Dick
Herman Melvilles Roman Moby-Dick aus dem Jahre 1851 war zu Lebzeiten seines Autors kein großer Erfolg. Heute jedoch gilt er als Zeugnis der kulturellen Selbstbeobachtung des 19. Jahrhunderts, die auch an unsere Gegenwart noch entscheidende Fragen stellt:...
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Produktinformationen zu „Neue Rundschau / 2012/2 / Moby Dick “
Klappentext zu „Neue Rundschau / 2012/2 / Moby Dick “
Herman Melvilles Roman Moby-Dick aus dem Jahre 1851 war zu Lebzeiten seines Autors kein großer Erfolg. Heute jedoch gilt er als Zeugnis der kulturellen Selbstbeobachtung des 19. Jahrhunderts, die auch an unsere Gegenwart noch entscheidende Fragen stellt: Fragen der Geopolitik und Globalisierung, der Versicherung und Technik, der kulturellen Identität und ihrer transnationalen Auflösung, des Kolonialismus und Imperialismus; Fragen nach den Gegensätzen von Staat und Wirtschaft, Land und Meer, Universalismus und Partikularismus, Macht und Norm, Geld und Moral. Eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern um u.a. Markus Krajewski, Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl und Niels Werber trifft sich seit einigen Jahren, um jedes der 135 Kapitel zu kommentieren. Diese Kommentare werden ab nun in der Neuen Rundschau erscheinen und erschließen den gewaltigen Kosmos Moby Dick. Ein so spannendes wie gigantisches Unternehmen, dessen Anfang in dieser Ausgabe gelegt wird.
Lese-Probe zu „Neue Rundschau / 2012/2 / Moby Dick “
Neue Rundschau von Balmes, Bong, Roesler, Vogel, Krajewski Editorial
»Dann stellen Sie es doch ins Internet!« Das wäre heute vermutlich die erste Reaktion, wenn man mit folgendem Projekt konfrontiert wäre: Ein junger Kulturwissenschaftler spricht einen an. Zunächst erzählt er ganz begeistert von einer Gruppe Gleichgesinnter, die einen ehrgeizigen Plan verfolgen. Sie treffen sich einmal im Jahr, um jedes einzelne Kapitel des Jahrhundertromans Moby-Dick von Hermann Melville zu kommentieren. Eine schöne Idee, denkt man. Zumal es sich nicht um klassische philologische Kommentare handeln soll, sondern um »historisch-spekulative«, die eher wuchern und Abseitiges in den Blick nehmen wollen. Also ungewöhnlich sind und Bezüge herstellen, die nicht auf der Hand liegen. Dann muss man schlucken, wenn man den Roman noch nicht gelesen hat. Moby-Dick besteht aus 135 Kapiteln. Aber kommentiert werden sollen ebenfalls die Paratexte, also die Exzerpte zu Beginn, der Titel, der Epilog. Ob man das nicht veröffentlichen wolle. Jeder Text zwischen fünf bis 10 Seiten lang. Man rechnet hastig: 1400 Seiten, wenn es schlecht kommt. »Warum stellen Sie es nicht ins Internet?«
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Die Neue Rundschau ist jetzt 122 Jahre alt. Alle Hefte, auch die ersten, findet man noch in Bibliotheken. Das Internet ist, wenn man die Erfindung von HTML und damit des WWW durch Tim Berners-Lee zugrunde legt, vielleicht 22 Jahre alt. Berners-Lee erstellte die erste Webpräsenz, liest man auf der deutschen Wikipedia, »http://info.cern.ch. Diese Website gibt es bis heute; allerdings existiert von dem ursprünglichen Inhalt nur noch eine Kopie aus dem Jahr 1992«. Unter http://info.cern.ch befindet sich jetzt eine andere Seite, auf der man lesen kann, was jetzt schon Geschichte geworden ist. Klickt man in der Kopie auf das Namenskürzel »Tim BL«, das unter vielen Einträgen steht, erscheint folgender Text: »The requested URL /TBL_Disclaimer.html was not found on this server.«
Niemand weiß, wie viele Websites es gibt. Schätzungen sprechen von ca. einer Billion, also einer eins mit zwölf Nullen. Unter dem Projektnamen »The Web Index« will es Tim Berners-Lee mit seiner Stiftung »Webfoundation « genau wissen. Im ersten Halbjahr 2012 sollen die Ergebnisse vorgestellt werden. Die Webadresse »www.moby-dick.de« ist noch nicht vergeben.
Wo wäre ein solcher Kommentar sinnvoll aufgehoben? Als ein Buch von doppelter Dicke des Romans sicher nicht. Als Website allerdings auch nicht. Wer garantiert, dass man ihn noch in 15 Jahren im Netz lesen könnte? Wie sieht das Internet dann aus? Welcher technische Standard herrscht dann? Kann sich jemand noch an 51/2 Zoll Floppy Disks erinnern? Außerdem sind ja noch längst nicht alle Kapitel kommentiert.
Es gibt nur eine Lösung: in einer Kulturzeitschrift mit langer Tradition. Daher wollen wir eine neue Rubrik eröffnen, die uns die nächsten
- geschätzten - zwölf Jahre begleiten wird. In jeder Ausgabe der Neuen Rundschau werden ab jetzt drei bis vier Kapitelkommentare veröffentlicht werden. Als Einladung, gemächlich und parallel den Moby-Dick zu lesen, als Anregung, unabhängig vom Buch Entdeckungen in Geschichte, Theorie, Geographie, Politik zu machen, als Dokument einer unmöglichen Unternehmung. Das Gute dabei: Die Neue Rundschau ist im Internet zugänglich. Unter www.neuerundschau.de ist das komplette Archiv im Netz. Alle Texte, die seit 122 Jahren dort veröffentlich worden sind, lassen sich suchen, finden, durchstöbern, ausdrucken. Die Details dazu finden Sie auf der Website.
AR
Moby-Dick - Ein historisch-spekulativer Kommentar
»Ich habe ein böses Buch geschrieben und fühle mich makellos wie das Lamm.« (Herman Melville in einem Brief an Nathaniel Hawthorne, 17. November 1851)
Epos oder Drama, cetologische Enzyklopädie, nautisches Lexikon, philosophische Satire, Drittes Testament, Shakespeare-Exzerpt, Paralleltext zu Marx' Kapital oder einfach der unvollendete Entwurf seiner selbst: Her- man Melvilles Moby-Dick; or, The Whale von 1851 sprengt die Gattungen ebenso sehr, wie er zu radikalen Lektüren herausfordert.
Die höchst eigenartige Melange aus Sachbuch und Abenteuerroman, aus enzyklopädischer Gelehrsamkeit, die ein Spiegelbild der neuenglischen Walfangkultur zur Mitte des 19. Jahrhunderts gleichermaßen liefert wie eine historisch gesättigte, kunst-wie naturgeschichtlich wohlinformierte Walkunde, vermengt mit einer überbordenden Fülle von literarischen Anspielungen, gelehrten Abschweifungen, Wortspielen und erzähltechnischem Freestyle, macht die bewunderte Vielstimmigkeit des Romans aus. Und nicht zuletzt trägt Melvilles abgründiger Humor, der die gesamte Bandbreite von Feinsinn bis zur Zote durchmisst, entscheidend bei zur Wucht dieses einzigartigen Dramas über eine Begegnung von Mensch und Tier.
Melvilles Roman war zu Lebzeiten seines Autors kein großer Erfolg beschieden. Heute gilt die Geschichte der Jagd nach dem weißen Wal nicht nur als herausragender Beitrag zur Weltliteratur, sondern als Zeugnis einer geradezu seismographischen kulturellen Selbstbeobachtung des 19. Jahrhunderts, die auch an unsere Gegenwart noch entscheidende Fragen stellt: Fragen der Geopolitik und Globalisierung, der Versicherung und Technik, der kulturellen Identität und ihrer transnationalen Auflösung, des Kolonialismus und Imperialismus, der Territorialisierung und Deterritorialisierung; Fragen nach den Gegensätzen von Staat und Wirtschaft, von Land und Meer, von Universalismus und Partikularismus, von Macht und Norm, von Geld und Moral. Geprägt von den Wissenschaften und Künsten, Konflikten und Hoffnungen seiner Zeit, hat der Roman Autoren wie Deleuze und Guattari, Hardt und Negri, Carl Schmitt und Rainald Goetz beeinflusst, Codenamen für die RAF geliefert, große Regisseure zu Verfilmungen (John Huston) und Künstler (Laurie Anderson) zu Adaptionen inspiriert. Dreizehn Übertragungen ins Deutsche und zahlreiche Editionen belegen das große Interesse am weißen Wal, der inzwischen längst in das kollektive Gedächtnis unserer Kultur eingegangen ist. Dieser Mythos ist allgegenwärtig, aber alles andere als konsistent: Der weiße Wal kann sowohl als Symbol für die globale Hegemonie einer Supermacht gelten als auch für die leere Besessenheit einer von Gott verlassenen Welt einstehen, als letztes Aufbäumen einer von der Ausrottung bedrohten Gattung oder als Metapher der Totalerschließung der Welt durch Verkehrstechniken verstanden werden.
1. Das Projekt Seit 2006 trifft sich eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern jährlich mit dem Ziel, jedes der 135 Kapitel von Moby-Dick samt der Paratexte, also die Exzerpte zu Beginn des Romans, Epilog, Titel usw., zu kommentieren. Das Projekt eines »historisch-spekulativen« Gesamtkommentars fragt dabei nach den Gründen für die enorme Bedeutung von Moby-Dick für die Selbstbeschreibungen unserer Kultur und nach den Ambiguitäten und der Zerrissenheit des Symbols in Form eines weißen Wals, den es in allen sieben Weltmeeren zu jagen gilt. Die Herausforderung, die der Roman an seine Leser stellt, lässt sich zweifelsohne als anspruchsvoll einordnen. In der kapitelweise vorgehenden Lektüre, die letztlich den gesamten Text erschließen wird, geht es dennoch nicht um disziplinär sauber eingerastete Stellungnahmen von Experten, sondern manchmal ebenso um die Demonstration einer experimentellen Lesart wie zuweilen um die Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis einzelner Stellen oder einer Figur im Zusammenhang des Romans. Der Kommentar adressiert daher ausdrücklich nicht nur die Fachwissenschaft, sondern alle Leser.
Die Komplexität des Textes spiegelt sich dabei auch in der Weise seiner Entstehung, die von widrigen Umständen geprägt war. In einem Brief an Nathaniel Hawthorne vom Mai 1851 schreibt Melville: »In etwa einer Woche gehe ich nach New York, werde mich dort in einem Zimmer im dritten Stock vergraben und wie ein Sklave an meinem ›Wal‹ weiterschuften, während er schon durch die Druckerpresse läuft. Das ist für mich der einzige Weg, das Buch jetzt noch fertigzustellen«. Und dann, rund zwei Monate später, am 29. Juli wieder an Hawthorne: »Der ›Wal‹ ist erst zur Hälfte durch die Presse; denn die enervierende Saumseligkeit der Drucker, die widerwärtige Hitze und der Staub jenes babylonischen Ziegelofens namens New York haben mich zurück aufs Land getrieben, um das Gras zu fühlen - und darin liegend das Buch zu beenden, wenn's mir vergönnt ist.«
Vor dem Horizont einer »Politischen Zoologie« ließe sich der Roman in den Blick nehmen als der Austrag eines Konflikts zwischen erstens dem emblematischen Tier (dem Leviathan), zweitens dem Klassifikations-Tier der Wissenschaften (als Bibliotheksphantasma) und drittens dem Tier als schwimmender Rohstoffquelle der amerikanischen Walfangindustrie. Dass der Roman bis heute seine Leser konsterniert, hängt wohl auch mit der teilweise grotesken Art zusammen, in der Melville immer wieder diese in der Moderne sich ausdifferenzierenden Figuren des Tiers überblendet.
2. Die Methode Im Gegensatz zu den bereits vorliegenden philologischen Kommentaren der Werke von Herman Melville (zum Beispiel die Northwestern-Newberry Edition) folgt unser Vorhaben einer komplementären Zielsetzung, was nicht zuletzt mit der Bezeichnung »historisch-spekulativ« markiert ist. Dementsprechend geht es nicht darum, in Frontstellung zu den verdienstvollen Leistungen der Melville-Forschung zu rücken. Vielmehr arbeiten wir darauf hin, neben der Analyse und Weiterführung einzelner Leitgedanken der jeweiligen Kapitel vor allem andere, weniger werkimmanente Lesarten zu dem monströsen Roman beizusteuern, ganz im Geiste eines Unter-Unterbibliothekars, der für die Wünsche eines wissbegierigen Lesers immer neue Bücher und abweichende Deutungen herbeischafft.
Ein historisch-spekulativer Kommentar ist keine philologische Unternehmung im klassischen Sinne, welche die Entstehungs-, Überlieferungsund Wirkungsgeschichte eines Texts festhält und in einem Stellenkommentar Erläuterungen von Namen, Begriffen, Fremdwörtern, Zitaten und literarischen Einflüssen bietet. Nur im konkreten Zusammenhang eines Kapitels, aber keineswegs systematisch oder mit Verweisen auf alle Parallelstellen im Roman, wird ein bestimmter Begriff oder ein Zitat diskutiert.
Gemäß der methodischen Herkünfte unserer Kommentatoren aus der Philologie, Philosophie und kulturwissenschaftlichen Medienforschung bezeichnet »historisch« zum einen die reflektierende Lektüre der im Roman zu erschließenden Quellen. Allerdings geht es uns dabei beispielsweise weniger um Melvilles eigene Bibellektüren und ihre möglichen Spuren in den hinterlassenen Ausgaben (vgl. dazu etwa Ilana Pardes, Melville's Bibles, Berkeley 2008), als vielmehr darum, den kaum zu unterschätzenden Einfluss einer heilsgeschichtlichen Grundierung auf die Geschichte vom weißen Wal herauszustellen. So wie sich Melville gelegentlich als Evangelist imaginierte, verstehen wir Moby-Dick selbst in gewisser Weise als das Dritte Testament, das es in seinen Einzelheiten, Verrätselungen und Verschrobenheiten immer noch und wieder auszulegen lohnt, insofern noch zahllose Andeutungen, Theoreme, hintergründige Hinweise aufzuschlüsseln und zu analysieren bleiben. Dass dabei gelegentlich Lokalgeschichten, etwa zu Nantucket oder zu bestimmten Kochgewohnheiten in Neuengland einzuflechten sind, genügt schließlich auch dem Gebot einer empirischen Wal-Forschung.
Zum anderen, und darin liegt das »spekulative« Moment unseres Projekts, geht es mehr noch darum, ein anderes, indirektes Quellenkorpus und auch theoretisches Neuland zu erschließen, insofern die Deutungen analytisch wie ihrerseits theoretisierend ein Wagnis eingehen, zum Beispiel durch Hinzuziehung von Materialien und Theoremen, die Melville nicht zur Verfügung stehen konnten, sei es, weil sie ihm nicht bekannt waren, sei es, weil sie erst später entstanden. Zugleich geht es aber auch darum, die einflussreichen Gedankenfiguren im Text selbst zu aktualisieren, etwa durch die Aufnahme und Weiterführung der wichtigsten Rezeptionslinien für eine kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Mit anderen Worten, unsere Kommentare atmen einerseits Bibliotheks-statt Seeluft, andererseits erweisen sie sich getrieben von der Lust, diesem anspielungsreichen Text weitere Assoziationen hinzuzufügen.
Der hier angestrebte Kommentar möchte daher ganz wörtlich etwas ins kulturelle Gedächtnis rufen, einen vergessenen Zusammenhang aktualisieren oder eine Verbindung herstellen, die in einer ersten Lektüre nicht sichtbar ist. Solche Verbindungen hat man im 18. Jahrhundert als ›witzig‹ bezeichnet, als Kreativität im Auffinden von Ähnlichkeiten zwischen weit entfernten Gegenständen. Diese Verbindungen werden jedoch nicht eigentlich aufgefunden, sondern durch eine Spekulation hergestellt, die blitzartig einen neuen Zusammenhang entstehen lässt, der sich nicht an einer bereits vorhandenen Ähnlichkeit oder Textkohärenz messen lassen muss. Wie ein guter Witz findet auch die Spekulation nicht nur Ähnlichkeiten zwischen zwei oder mehreren Stellen im Text, sondern verweist auf Bedeutungsebenen, die bis an die Ränder des Texts und darüber hinausgehen dürfen.
Traditionellerweise ist der Kommentar ein Prinzip der Ausschließung innerhalb des Diskurses: Ereignis und Zufall sollen nicht als solche erscheinen, sondern der Fiktion einer Kohärenz des Textes weichen, den entweder die Instanz des Autors oder des Erzählers als Einheit, Zentrum und Ursprung des Werks garantieren soll. Die offenkundigen Schwierigkeiten, die dieser Roman einer auf Homogenität angelegten Kommentierung bereitet, fassen wir dagegen als Einladung auf für Lektüren, die von vornherein jenseits der Methoden der disziplinären Literaturinterpretation operieren. Das Wuchern des Diskurses soll durch den Kommentar nicht gebändigt, sondern gelehrt und fröhlich gesteigert werden.
Für eine kulturwissenschaftliche Analyse, die nicht vom Zentrum, sondern vom scheinbar Sekundären, vom Rand her auf die großen Texte blickt, stellt sich das Problem der Lektüre anders. Unser Kommentar verfolgt keine einheitliche Methode oder Theorie, dennoch greifen die Beiträge bevorzugt auf Wissensarchäologie, Literatur-und Kulturgeschichte sowie Theorien des Politischen zurück. Es wird nicht von zentralen Leitbildern oder Motiven her gelesen, die den Roman angeblich durchziehen und zusammenhalten. Auch engagierte Aktualisierungen sind nicht das Ziel - Moby-Dick und die Finanzkrise, Moby-Dick und die Globalisierung, Moby-Dick und das Integrationsproblem etc. Vielmehr ist den Problemstellungen nachzuspüren, die der Roman selbst aufwirft. Wenn sich daraus aktuelle Bezüge ergeben, so ist das eher der Persistenz der Probleme geschuldet als der Zeitgenossenschaft der Kommentatoren.
»Es gibt manche Unternehmungen, bei denen ist eine sorgsame Unordnung die beste Methode«, verlautbart Ishmael zu Beginn des 82. Kapitels »Ruhm und Ehre des Walfangs«, was unschwer auch als Melvilles Metakommentar zu seiner eigenen Methode zu verstehen ist. Und dieser Direktive einer »careful disorderliness« folgt auch die Zusammenstellung unserer Kommentare, die keiner spezifischen Systematik unterliegt, besteht die Vorgabe unserer Treffen doch einzig darin, ein neues, bis dato noch nicht bearbeitetes Kapitel zu kommentieren. Während die für das Romanverständnis zentralen Kapitel bevorzugt zur Analyse einladen, steigt bei dieser Vorgehensweise zugleich der Schwierigkeitsgrad künftiger Kommentierungen in dem Maße, wie die teils kurzen, teils besonders rätselhaften Kapitel ihrer Besprechung harren. Was lässt sich beispielsweise zu einem Kapitel wie 122, »Mitternacht im Rigg«, bemerken, das lediglich aus einem lauthals fordernden Trinkspruch besteht? Für den Beginn (die vorangestellten Etymologien und Exzerpte) sowie den Schluss des Romans sind am Ende des Projekts wiederum gesonderte Besprechungsformen geplant.
3. Die Kommentare Die nachfolgenden Kommentare beziehen sich allesamt auf zwei Ausgaben: Für das englischsprachige Original wird die von Hershel Parker und Harrison Hayford herausgegebene Norton Critical Edition (New York/ London, 2. Auflage, 2002) herangezogen. Für die deutsche Übersetzung zitieren wir, sofern nicht explizit eine andere Ausgabe angegeben wird, die Neu-Übersetzung von Matthias Jendis, die 2001 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen ist. Die Seitenangaben der englischen beziehungsweise deutschen Zitate werden in runden Klammern hinter den einzelnen Passagen nachgewiesen. Indirekte Zitate beziehen sich stets auf die deutsche Ausgabe.
Die Neue Rundschau dokumentiert dieses Projekt, das noch einige Zeit work in progress bleiben wird, dankenswerterweise mit langem Atem und wird ab dem nächsten Heft pro Ausgabe drei bis vier Kapitelkommentare in einer neuen Rubrik erscheinen lassen. Damit nähert sich der Gesamtkommentar allmählich seinem Ausgangstext an, als Herman Melville in den schwülen Frühsommertagen 1851 in New York in seinem Hotelzimmer über jener Druckerei saß, in der die ersten Bögen des Romans bereits durch die Presse liefen, währenddessen er selbst - dem Fieberwahn seines Protagonisten Ahab ganz verfallen - sich zur finalen Jagd nach dem Wal begab, um ihn, zumindest auf dem Papier, zur Strecke zu bringen.
Dieses Heft stellt als Auftakt des Kommentars zunächst eine repräsentative Auswahl vor, bevor in den nächsten Heften, mal in loser Folge, mal zu verschiedenen Themen wie Geopolitik, Medien, Ökonomie, Recht, Cetologie usw. gebündelt, weitere Einlassungen erscheinen. Kapitel für Kapitel, gleich einem Puzzle, wird sich das Bild des Romans in allen seinen Ausdeutungen mit jedem neuen Heft der Neuen Rundschau vervollständigen. Ob dieses Bild jedoch eher einem vom Erzähler Ishmael beschworenen ungeheuerlichen Zerrbild gleicht, weil sich »auf Erden unmöglich feststellen« lasse, »wie der Wal wirklich aussieht« (429), oder sich die Kommentare wie die einzelnen Elemente einer Steppdecke zu einem großen Ganzen fügen (vgl. Abb. auf S. 23, 24, 26 in diesem Heft), muss der Beurteilung des Lesers überlassen bleiben.
Copyright © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Die Neue Rundschau ist jetzt 122 Jahre alt. Alle Hefte, auch die ersten, findet man noch in Bibliotheken. Das Internet ist, wenn man die Erfindung von HTML und damit des WWW durch Tim Berners-Lee zugrunde legt, vielleicht 22 Jahre alt. Berners-Lee erstellte die erste Webpräsenz, liest man auf der deutschen Wikipedia, »http://info.cern.ch. Diese Website gibt es bis heute; allerdings existiert von dem ursprünglichen Inhalt nur noch eine Kopie aus dem Jahr 1992«. Unter http://info.cern.ch befindet sich jetzt eine andere Seite, auf der man lesen kann, was jetzt schon Geschichte geworden ist. Klickt man in der Kopie auf das Namenskürzel »Tim BL«, das unter vielen Einträgen steht, erscheint folgender Text: »The requested URL /TBL_Disclaimer.html was not found on this server.«
Niemand weiß, wie viele Websites es gibt. Schätzungen sprechen von ca. einer Billion, also einer eins mit zwölf Nullen. Unter dem Projektnamen »The Web Index« will es Tim Berners-Lee mit seiner Stiftung »Webfoundation « genau wissen. Im ersten Halbjahr 2012 sollen die Ergebnisse vorgestellt werden. Die Webadresse »www.moby-dick.de« ist noch nicht vergeben.
Wo wäre ein solcher Kommentar sinnvoll aufgehoben? Als ein Buch von doppelter Dicke des Romans sicher nicht. Als Website allerdings auch nicht. Wer garantiert, dass man ihn noch in 15 Jahren im Netz lesen könnte? Wie sieht das Internet dann aus? Welcher technische Standard herrscht dann? Kann sich jemand noch an 51/2 Zoll Floppy Disks erinnern? Außerdem sind ja noch längst nicht alle Kapitel kommentiert.
Es gibt nur eine Lösung: in einer Kulturzeitschrift mit langer Tradition. Daher wollen wir eine neue Rubrik eröffnen, die uns die nächsten
- geschätzten - zwölf Jahre begleiten wird. In jeder Ausgabe der Neuen Rundschau werden ab jetzt drei bis vier Kapitelkommentare veröffentlicht werden. Als Einladung, gemächlich und parallel den Moby-Dick zu lesen, als Anregung, unabhängig vom Buch Entdeckungen in Geschichte, Theorie, Geographie, Politik zu machen, als Dokument einer unmöglichen Unternehmung. Das Gute dabei: Die Neue Rundschau ist im Internet zugänglich. Unter www.neuerundschau.de ist das komplette Archiv im Netz. Alle Texte, die seit 122 Jahren dort veröffentlich worden sind, lassen sich suchen, finden, durchstöbern, ausdrucken. Die Details dazu finden Sie auf der Website.
AR
Moby-Dick - Ein historisch-spekulativer Kommentar
»Ich habe ein böses Buch geschrieben und fühle mich makellos wie das Lamm.« (Herman Melville in einem Brief an Nathaniel Hawthorne, 17. November 1851)
Epos oder Drama, cetologische Enzyklopädie, nautisches Lexikon, philosophische Satire, Drittes Testament, Shakespeare-Exzerpt, Paralleltext zu Marx' Kapital oder einfach der unvollendete Entwurf seiner selbst: Her- man Melvilles Moby-Dick; or, The Whale von 1851 sprengt die Gattungen ebenso sehr, wie er zu radikalen Lektüren herausfordert.
Die höchst eigenartige Melange aus Sachbuch und Abenteuerroman, aus enzyklopädischer Gelehrsamkeit, die ein Spiegelbild der neuenglischen Walfangkultur zur Mitte des 19. Jahrhunderts gleichermaßen liefert wie eine historisch gesättigte, kunst-wie naturgeschichtlich wohlinformierte Walkunde, vermengt mit einer überbordenden Fülle von literarischen Anspielungen, gelehrten Abschweifungen, Wortspielen und erzähltechnischem Freestyle, macht die bewunderte Vielstimmigkeit des Romans aus. Und nicht zuletzt trägt Melvilles abgründiger Humor, der die gesamte Bandbreite von Feinsinn bis zur Zote durchmisst, entscheidend bei zur Wucht dieses einzigartigen Dramas über eine Begegnung von Mensch und Tier.
Melvilles Roman war zu Lebzeiten seines Autors kein großer Erfolg beschieden. Heute gilt die Geschichte der Jagd nach dem weißen Wal nicht nur als herausragender Beitrag zur Weltliteratur, sondern als Zeugnis einer geradezu seismographischen kulturellen Selbstbeobachtung des 19. Jahrhunderts, die auch an unsere Gegenwart noch entscheidende Fragen stellt: Fragen der Geopolitik und Globalisierung, der Versicherung und Technik, der kulturellen Identität und ihrer transnationalen Auflösung, des Kolonialismus und Imperialismus, der Territorialisierung und Deterritorialisierung; Fragen nach den Gegensätzen von Staat und Wirtschaft, von Land und Meer, von Universalismus und Partikularismus, von Macht und Norm, von Geld und Moral. Geprägt von den Wissenschaften und Künsten, Konflikten und Hoffnungen seiner Zeit, hat der Roman Autoren wie Deleuze und Guattari, Hardt und Negri, Carl Schmitt und Rainald Goetz beeinflusst, Codenamen für die RAF geliefert, große Regisseure zu Verfilmungen (John Huston) und Künstler (Laurie Anderson) zu Adaptionen inspiriert. Dreizehn Übertragungen ins Deutsche und zahlreiche Editionen belegen das große Interesse am weißen Wal, der inzwischen längst in das kollektive Gedächtnis unserer Kultur eingegangen ist. Dieser Mythos ist allgegenwärtig, aber alles andere als konsistent: Der weiße Wal kann sowohl als Symbol für die globale Hegemonie einer Supermacht gelten als auch für die leere Besessenheit einer von Gott verlassenen Welt einstehen, als letztes Aufbäumen einer von der Ausrottung bedrohten Gattung oder als Metapher der Totalerschließung der Welt durch Verkehrstechniken verstanden werden.
1. Das Projekt Seit 2006 trifft sich eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern jährlich mit dem Ziel, jedes der 135 Kapitel von Moby-Dick samt der Paratexte, also die Exzerpte zu Beginn des Romans, Epilog, Titel usw., zu kommentieren. Das Projekt eines »historisch-spekulativen« Gesamtkommentars fragt dabei nach den Gründen für die enorme Bedeutung von Moby-Dick für die Selbstbeschreibungen unserer Kultur und nach den Ambiguitäten und der Zerrissenheit des Symbols in Form eines weißen Wals, den es in allen sieben Weltmeeren zu jagen gilt. Die Herausforderung, die der Roman an seine Leser stellt, lässt sich zweifelsohne als anspruchsvoll einordnen. In der kapitelweise vorgehenden Lektüre, die letztlich den gesamten Text erschließen wird, geht es dennoch nicht um disziplinär sauber eingerastete Stellungnahmen von Experten, sondern manchmal ebenso um die Demonstration einer experimentellen Lesart wie zuweilen um die Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis einzelner Stellen oder einer Figur im Zusammenhang des Romans. Der Kommentar adressiert daher ausdrücklich nicht nur die Fachwissenschaft, sondern alle Leser.
Die Komplexität des Textes spiegelt sich dabei auch in der Weise seiner Entstehung, die von widrigen Umständen geprägt war. In einem Brief an Nathaniel Hawthorne vom Mai 1851 schreibt Melville: »In etwa einer Woche gehe ich nach New York, werde mich dort in einem Zimmer im dritten Stock vergraben und wie ein Sklave an meinem ›Wal‹ weiterschuften, während er schon durch die Druckerpresse läuft. Das ist für mich der einzige Weg, das Buch jetzt noch fertigzustellen«. Und dann, rund zwei Monate später, am 29. Juli wieder an Hawthorne: »Der ›Wal‹ ist erst zur Hälfte durch die Presse; denn die enervierende Saumseligkeit der Drucker, die widerwärtige Hitze und der Staub jenes babylonischen Ziegelofens namens New York haben mich zurück aufs Land getrieben, um das Gras zu fühlen - und darin liegend das Buch zu beenden, wenn's mir vergönnt ist.«
Vor dem Horizont einer »Politischen Zoologie« ließe sich der Roman in den Blick nehmen als der Austrag eines Konflikts zwischen erstens dem emblematischen Tier (dem Leviathan), zweitens dem Klassifikations-Tier der Wissenschaften (als Bibliotheksphantasma) und drittens dem Tier als schwimmender Rohstoffquelle der amerikanischen Walfangindustrie. Dass der Roman bis heute seine Leser konsterniert, hängt wohl auch mit der teilweise grotesken Art zusammen, in der Melville immer wieder diese in der Moderne sich ausdifferenzierenden Figuren des Tiers überblendet.
2. Die Methode Im Gegensatz zu den bereits vorliegenden philologischen Kommentaren der Werke von Herman Melville (zum Beispiel die Northwestern-Newberry Edition) folgt unser Vorhaben einer komplementären Zielsetzung, was nicht zuletzt mit der Bezeichnung »historisch-spekulativ« markiert ist. Dementsprechend geht es nicht darum, in Frontstellung zu den verdienstvollen Leistungen der Melville-Forschung zu rücken. Vielmehr arbeiten wir darauf hin, neben der Analyse und Weiterführung einzelner Leitgedanken der jeweiligen Kapitel vor allem andere, weniger werkimmanente Lesarten zu dem monströsen Roman beizusteuern, ganz im Geiste eines Unter-Unterbibliothekars, der für die Wünsche eines wissbegierigen Lesers immer neue Bücher und abweichende Deutungen herbeischafft.
Ein historisch-spekulativer Kommentar ist keine philologische Unternehmung im klassischen Sinne, welche die Entstehungs-, Überlieferungsund Wirkungsgeschichte eines Texts festhält und in einem Stellenkommentar Erläuterungen von Namen, Begriffen, Fremdwörtern, Zitaten und literarischen Einflüssen bietet. Nur im konkreten Zusammenhang eines Kapitels, aber keineswegs systematisch oder mit Verweisen auf alle Parallelstellen im Roman, wird ein bestimmter Begriff oder ein Zitat diskutiert.
Gemäß der methodischen Herkünfte unserer Kommentatoren aus der Philologie, Philosophie und kulturwissenschaftlichen Medienforschung bezeichnet »historisch« zum einen die reflektierende Lektüre der im Roman zu erschließenden Quellen. Allerdings geht es uns dabei beispielsweise weniger um Melvilles eigene Bibellektüren und ihre möglichen Spuren in den hinterlassenen Ausgaben (vgl. dazu etwa Ilana Pardes, Melville's Bibles, Berkeley 2008), als vielmehr darum, den kaum zu unterschätzenden Einfluss einer heilsgeschichtlichen Grundierung auf die Geschichte vom weißen Wal herauszustellen. So wie sich Melville gelegentlich als Evangelist imaginierte, verstehen wir Moby-Dick selbst in gewisser Weise als das Dritte Testament, das es in seinen Einzelheiten, Verrätselungen und Verschrobenheiten immer noch und wieder auszulegen lohnt, insofern noch zahllose Andeutungen, Theoreme, hintergründige Hinweise aufzuschlüsseln und zu analysieren bleiben. Dass dabei gelegentlich Lokalgeschichten, etwa zu Nantucket oder zu bestimmten Kochgewohnheiten in Neuengland einzuflechten sind, genügt schließlich auch dem Gebot einer empirischen Wal-Forschung.
Zum anderen, und darin liegt das »spekulative« Moment unseres Projekts, geht es mehr noch darum, ein anderes, indirektes Quellenkorpus und auch theoretisches Neuland zu erschließen, insofern die Deutungen analytisch wie ihrerseits theoretisierend ein Wagnis eingehen, zum Beispiel durch Hinzuziehung von Materialien und Theoremen, die Melville nicht zur Verfügung stehen konnten, sei es, weil sie ihm nicht bekannt waren, sei es, weil sie erst später entstanden. Zugleich geht es aber auch darum, die einflussreichen Gedankenfiguren im Text selbst zu aktualisieren, etwa durch die Aufnahme und Weiterführung der wichtigsten Rezeptionslinien für eine kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Mit anderen Worten, unsere Kommentare atmen einerseits Bibliotheks-statt Seeluft, andererseits erweisen sie sich getrieben von der Lust, diesem anspielungsreichen Text weitere Assoziationen hinzuzufügen.
Der hier angestrebte Kommentar möchte daher ganz wörtlich etwas ins kulturelle Gedächtnis rufen, einen vergessenen Zusammenhang aktualisieren oder eine Verbindung herstellen, die in einer ersten Lektüre nicht sichtbar ist. Solche Verbindungen hat man im 18. Jahrhundert als ›witzig‹ bezeichnet, als Kreativität im Auffinden von Ähnlichkeiten zwischen weit entfernten Gegenständen. Diese Verbindungen werden jedoch nicht eigentlich aufgefunden, sondern durch eine Spekulation hergestellt, die blitzartig einen neuen Zusammenhang entstehen lässt, der sich nicht an einer bereits vorhandenen Ähnlichkeit oder Textkohärenz messen lassen muss. Wie ein guter Witz findet auch die Spekulation nicht nur Ähnlichkeiten zwischen zwei oder mehreren Stellen im Text, sondern verweist auf Bedeutungsebenen, die bis an die Ränder des Texts und darüber hinausgehen dürfen.
Traditionellerweise ist der Kommentar ein Prinzip der Ausschließung innerhalb des Diskurses: Ereignis und Zufall sollen nicht als solche erscheinen, sondern der Fiktion einer Kohärenz des Textes weichen, den entweder die Instanz des Autors oder des Erzählers als Einheit, Zentrum und Ursprung des Werks garantieren soll. Die offenkundigen Schwierigkeiten, die dieser Roman einer auf Homogenität angelegten Kommentierung bereitet, fassen wir dagegen als Einladung auf für Lektüren, die von vornherein jenseits der Methoden der disziplinären Literaturinterpretation operieren. Das Wuchern des Diskurses soll durch den Kommentar nicht gebändigt, sondern gelehrt und fröhlich gesteigert werden.
Für eine kulturwissenschaftliche Analyse, die nicht vom Zentrum, sondern vom scheinbar Sekundären, vom Rand her auf die großen Texte blickt, stellt sich das Problem der Lektüre anders. Unser Kommentar verfolgt keine einheitliche Methode oder Theorie, dennoch greifen die Beiträge bevorzugt auf Wissensarchäologie, Literatur-und Kulturgeschichte sowie Theorien des Politischen zurück. Es wird nicht von zentralen Leitbildern oder Motiven her gelesen, die den Roman angeblich durchziehen und zusammenhalten. Auch engagierte Aktualisierungen sind nicht das Ziel - Moby-Dick und die Finanzkrise, Moby-Dick und die Globalisierung, Moby-Dick und das Integrationsproblem etc. Vielmehr ist den Problemstellungen nachzuspüren, die der Roman selbst aufwirft. Wenn sich daraus aktuelle Bezüge ergeben, so ist das eher der Persistenz der Probleme geschuldet als der Zeitgenossenschaft der Kommentatoren.
»Es gibt manche Unternehmungen, bei denen ist eine sorgsame Unordnung die beste Methode«, verlautbart Ishmael zu Beginn des 82. Kapitels »Ruhm und Ehre des Walfangs«, was unschwer auch als Melvilles Metakommentar zu seiner eigenen Methode zu verstehen ist. Und dieser Direktive einer »careful disorderliness« folgt auch die Zusammenstellung unserer Kommentare, die keiner spezifischen Systematik unterliegt, besteht die Vorgabe unserer Treffen doch einzig darin, ein neues, bis dato noch nicht bearbeitetes Kapitel zu kommentieren. Während die für das Romanverständnis zentralen Kapitel bevorzugt zur Analyse einladen, steigt bei dieser Vorgehensweise zugleich der Schwierigkeitsgrad künftiger Kommentierungen in dem Maße, wie die teils kurzen, teils besonders rätselhaften Kapitel ihrer Besprechung harren. Was lässt sich beispielsweise zu einem Kapitel wie 122, »Mitternacht im Rigg«, bemerken, das lediglich aus einem lauthals fordernden Trinkspruch besteht? Für den Beginn (die vorangestellten Etymologien und Exzerpte) sowie den Schluss des Romans sind am Ende des Projekts wiederum gesonderte Besprechungsformen geplant.
3. Die Kommentare Die nachfolgenden Kommentare beziehen sich allesamt auf zwei Ausgaben: Für das englischsprachige Original wird die von Hershel Parker und Harrison Hayford herausgegebene Norton Critical Edition (New York/ London, 2. Auflage, 2002) herangezogen. Für die deutsche Übersetzung zitieren wir, sofern nicht explizit eine andere Ausgabe angegeben wird, die Neu-Übersetzung von Matthias Jendis, die 2001 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen ist. Die Seitenangaben der englischen beziehungsweise deutschen Zitate werden in runden Klammern hinter den einzelnen Passagen nachgewiesen. Indirekte Zitate beziehen sich stets auf die deutsche Ausgabe.
Die Neue Rundschau dokumentiert dieses Projekt, das noch einige Zeit work in progress bleiben wird, dankenswerterweise mit langem Atem und wird ab dem nächsten Heft pro Ausgabe drei bis vier Kapitelkommentare in einer neuen Rubrik erscheinen lassen. Damit nähert sich der Gesamtkommentar allmählich seinem Ausgangstext an, als Herman Melville in den schwülen Frühsommertagen 1851 in New York in seinem Hotelzimmer über jener Druckerei saß, in der die ersten Bögen des Romans bereits durch die Presse liefen, währenddessen er selbst - dem Fieberwahn seines Protagonisten Ahab ganz verfallen - sich zur finalen Jagd nach dem Wal begab, um ihn, zumindest auf dem Papier, zur Strecke zu bringen.
Dieses Heft stellt als Auftakt des Kommentars zunächst eine repräsentative Auswahl vor, bevor in den nächsten Heften, mal in loser Folge, mal zu verschiedenen Themen wie Geopolitik, Medien, Ökonomie, Recht, Cetologie usw. gebündelt, weitere Einlassungen erscheinen. Kapitel für Kapitel, gleich einem Puzzle, wird sich das Bild des Romans in allen seinen Ausdeutungen mit jedem neuen Heft der Neuen Rundschau vervollständigen. Ob dieses Bild jedoch eher einem vom Erzähler Ishmael beschworenen ungeheuerlichen Zerrbild gleicht, weil sich »auf Erden unmöglich feststellen« lasse, »wie der Wal wirklich aussieht« (429), oder sich die Kommentare wie die einzelnen Elemente einer Steppdecke zu einem großen Ganzen fügen (vgl. Abb. auf S. 23, 24, 26 in diesem Heft), muss der Beurteilung des Lesers überlassen bleiben.
Copyright © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt
Hans Jürgen Balmes, 1958 in Koblenz geboren, ist Lektor und Übersetzer. Für »Mare« schrieb er über die »Quellen der Meere«. Porträts und Aufsätze schienen u. a. in der »Neuen Zürcher Zeitung« und der »Süddeutschen Zeitung«. Aus dem Englischen übersetzte er John Berger, Barry Lopez sowie Gedichte von Robert Hass, W. S. Merwin, Martine Bellen und Warsan Shire. Alexander Roesler, geboren 1964, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Semiotik in Heidelberg und Berlin. Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Philosophie der TU Dresden, freischaffender Journalist und Musiker. Als Lektor war er im Suhrkamp Verlag u.a. für die edition suhrkamp zuständig und ist heute Programmleiter Sachbuch im S. Fischer Verlag.
Bibliographische Angaben
- 2012, 1. Auflage, 208 Seiten, Maße: 15,2 x 22,9 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben: Hans J. Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler, Oliver Vogel
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3108090895
- ISBN-13: 9783108090890
- Erscheinungsdatum: 19.06.2012
Kommentar zu "Neue Rundschau / 2012/2 / Moby Dick"
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