Nabelfrei
Mein Leben - kein Roman
Von der lieblosen Mutter erniedrigt, erlebt Elfriede Sattler in Bayern eine bedrückende Kindheit zwischen harter Stallarbeit und Missbrauch durch den Stiefvater. Mit zwanzig flieht die bildhübsche Frau nach München und ergreift eine einmalige...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nabelfrei “
Von der lieblosen Mutter erniedrigt, erlebt Elfriede Sattler in Bayern eine bedrückende Kindheit zwischen harter Stallarbeit und Missbrauch durch den Stiefvater. Mit zwanzig flieht die bildhübsche Frau nach München und ergreift eine einmalige Chance - sie reist mit einer Tanzgruppe nach Zypern und Ägypten. Die orientalische Musik und der Tanz sind wie eine Offenbarung für Elfriede Sattler und wecken eine unbändige Lebenslust in ihr. Ihre Anmut und ihr Können machen sie unter dem Namen Ulfat Sherif bald zu einer der gefragtesten Tänzerinnen des Orients. Sie genießt ihr neues selbstbestimmtes Leben zwischen prunkvollen Palästen und mondänen Nachtclubs. Am jordanischen Königshof findet sie in Prinz Mohammed schließlich ihre große Liebe. Doch als das geheime Verhältnis auffliegt, bleiben ihr zum Verlassen des Landes nur noch zwei Stunden Zeit.
Klappentext zu „Nabelfrei “
Von der lieblosen Mutter erniedrigt, erlebt Elfriede Sattler in Bayern eine bedrückende Kindheit zwischen harter Stallarbeit und Missbrauch durch den Stiefvater. Mit zwanzig flieht die bildhübsche Frau nach München und ergreift eine einmalige Chance - sie reist mit einer Tanzgruppe nach Zypern und Ägypten. Die orientalische Musik und der Tanz sind wie eine Offenbarung für Elfriede Sattler und wecken eine unbändige Lebenslust in ihr. Ihre Anmut und ihr Können machen sie unter dem Namen Ulfat Sharif bald zu einer der gefragtesten Tänzerinnen des Orients. Sie genießt ihr neues selbstbestimmtes Leben zwischen prunkvollen Palästen und mondänen Nachtclubs. Am jordanischen Königshof findet sie in Prinz Mohammed schließlich ihre große Liebe. Doch als das geheime Verhältnis auffliegt, bleiben ihr zum Verlassen des Landes nur noch zwei Stunden Zeit ...
Lese-Probe zu „Nabelfrei “
Nabelfrei von Elfriede Sattler mit Ulaya GadallaPROLOG - AUF DEM HÖHEPUNKT DER VERZWEIFLUNG
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Ich rannte und rannte und rannte. Nur weg vom Hof, querfeldein, über die frisch gemähte Wiese, das Feld, durch das Gestrüpp, barfuß, die abgetretenen Holzpantoffeln in der Hand. Im Laufen spürte ich weder die Kratzer der Dornen auf Beinen und Armen noch meine schmerzenden Füße. Ich fiel hin, stand wieder auf, fiel wieder hin, stand wieder auf und erreichte endlich den schützenden Wald. Dort stürzte ich erschöpft in das Dickicht.
Das weiche Moos federte den Aufprall sanft ab. Ein Reh und sein Kitz schreckten auf und preschten davon. Sie gaben die Mulde neben mir frei, in der sie beide geruht hatten. Nahezu willenlos glitt ich in die kleine, warme Grube und krümmte mich zusammen wie ein Embryo.
Dieser Platz würde mein Grab sein. Hier würde ich endlich Ruhe finden. Endstation. Ich wollte nicht mehr weiterleben.
Die Behaglichkeit des Ortes und die Dunkelheit umfingen mich zärtlich. Mutter Erde nahm mich tröstend in ihre Arme. Weder in meiner Kindheit noch in meiner Jugend hatte mir meine eigene Mutter auch nur ansatzweise diesen Schutz gewährt.
Wie ein Vulkan hatte sich heute das Innerste meiner gepeinigten Seele entladen. Nun war der Lavastrom versiegt, und ich war mit meinen kaum zwanzig Jahren des Lebens müde. Unendlich müde. Nicht zum ersten Mal. Endlich Schluss mit all den Qualen und Erniedrigungen!
Das Ereignis von heute Mittag war der Zündfunke, der das Pulverfass meiner Seele zum Explodieren gebracht hatte. Ich war gebrochen. Die jahrelangen Verbrechen meines Stiefvaters, die Demütigungen durch meine Mutter und weiteres Unglück hatten mich zermürbt. Wie eine Bombe war ich heute hochgegangen und hatte mich erfolgreich gegen die Absicht meines Stiefvaters gewehrt, mich wie schon so viele Male davor zu vergewaltigen. Erfolgreich?
Gewiss suchen sie längst überall nach mir, dachte ich. Wenn mich der Mann dieser Frau, die unerklärlicherweise meine leibliche Mutter ist, zu fassen kriegt, wird er mich umbringen. Das wäre diesem Unmenschen immerhin schon mal fast gelungen. Vielleicht holen sie auch die Polizei, die mich zurück auf den Ödmannhof bringen wird. Schließlich bin ich noch keine einundzwanzig und damit nicht volljährig. Hilfe von außen darf ich in meiner Situation nicht erwarten.
Ein heftiges Zittern ergriff meinen Körper, und ich begann, vor Angst mit den Zähnen zu klappern.
Sollen sie doch! Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und hier finden sie mich gewiss nicht!
Eine unendliche Erschöpfung kroch in mir hoch. Einfach nur ausstrecken und wegdämmern. In die Unendlichkeit. Wie lange hatte ich nicht mehr ungestört schlafen dürfen. Ohne Angst! Plötzlich durchströmte ein Gefühl absoluter Ruhe mein Herz. Mein Bewusstsein schwebte wie schwerelos über meinem Körper, den ich von oben geborgen in meinem Waldbett eingerollt daliegen sah.
Binnen Sekunden glitt ich in einen tiefen, traumlosen Zustand. Ich schlief und schlief und schlief.
Als ich erwachte, sah ich zwischen den jungen Tannenzweigen hindurch die Sterne des Nachthimmels langsam verblassen. In die Stille des Waldes sang die erste Amsel ihr Lied. Wieder schloss ich die Augen und sog den unbeschreiblich frischen Duft des Waldes ein. Es roch nach morschem Holz und feuchtem Moos. Wie schön die Welt sein könnte! Oder befand ich mich etwa schon ganz woanders? An ein Paradies jedoch glaubte ich nicht. Die Klosterschwestern, bei denen ich meine frühe Kindheit verbracht hatte, hatten hauptsächlich von der Hölle gesprochen. Der Himmel war ganz sicher nicht für Kinder wie mich reserviert.
In der Ferne vernahm ich Kirchenglocken. Waren es die von Rotthalmünster? Kurz darauf setzte aus einer anderen Richtung weiteres Geläut ein, wenig später von einem dritten Ort. Vielleicht von Weiwörthing?
Heute muss Sonntag sein. War es nicht Donnerstag, als ich von zu Hause fortgelaufen bin? Ist etwa schon so viel Zeit verstrichen? Ich muss bewusstlos gewesen sein. Wie hätte ich sonst so lange ohne Essen und Trinken aushalten können?
Jetzt erst bemerkte ich, dass mein Mund trocken wie Pergament war. Meine Kehle schnürte sich allmählich so eng zusammen, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Auf allen vieren kroch ich aus dem Dickicht. Nein, ich war noch nicht bereit zu sterben, zumindest nicht durch Verdursten! Erst musste ich etwas trinken, nichts als trinken, um jeden Preis.
Geschwächt wie ich war, fühlte ich mich außerstande aufzustehen und robbte orientierungslos eine Weile vorwärts, bis ich eine Böschung mit Himbeeren entdeckte. Mit beiden Händen schob ich mir die saftigen Früchte in den Mund und stillte so den schlimmsten Durst.
Die Kräfte kehrten nicht wieder, doch als ich mich auf einen Baumstumpf niederließ, fühlte ich mich schon etwas besser.
»Du bist jetzt frei! Du brauchst niemanden mehr. Du wirst nicht zurückkehren. Dieses Mal nicht. Dir kann keiner mehr was befehlen«, murmelte ich halblaut vor mich hin.
Allein bei dem Gedanken, dass ich hier seit ein paar Minuten saß, ohne dass mich jemand anschrie und ohrfeigte, weil ich mich nicht augenblicklich an die Stallarbeit machte, überkam mich eine unbeschreibliche Lebensfreude. Spontan lachte ich laut auf und hörte mein Echo aus dem Wald hallen. Sofort mäßigte ich mich wieder, da ich fürchtete, jemand könnte mich hören.
Ja, ich war frei. Vogelfrei. Nur was sollte ich mit meiner Freiheit anfangen? Als ungeliebtes Kind geboren, jahrelang hin- und hergeschoben, gedemütigt und voller Ängste, besaß ich weder Bildung noch Umgangsformen und erst recht kein Geld. Nicht mal Papiere oder ein paar Mark hatte ich dabei. Nichts als mein abgetragenes Kleid am Leib. Keinen noch so geringen Geldbetrag hätte ich aus meiner Ecke im Dachboden holen können, selbst wenn ich noch Zeit dazu gehabt hätte. Schließlich hatte ich nie einen Lohn für meine schwere Arbeit als Stallmagd auf dem Hof meiner sogenannten Eltern erhalten.
Eine einzige jämmerliche Mark hatte dazu geführt, dass ich mir ab jetzt nichts mehr gefallen lassen wollte. Oder vielmehr der unmittelbar bevorstehende Jahrmarkt in Rotthalmünster. Schon Monate vorher hatte ich mich nach dieser harmlosen Abwechslung gesehnt. Tatsächlich hatte ich mir leise Hoffnungen auf die Erlaubnis machen können, dort für ein paar Stunden herumbummeln zu dürfen. Immerhin war die eiserne Kette der Unterdrückung auf dem Ödmannhof ein wenig gelockert worden, nachdem mich der Stiefvater zwei Jahre zuvor fast totgeprügelt hätte. Er verhielt sich nun vorsichtiger. So überwand ich mich vor kurzem dazu, ihn zu fragen, wie ich mir dafür ein wenig Geld verdienen könne.
»Wenn du mir einen Monat lang täglich die Stiefel putzt, kriegst du eine Mark«, antwortete er. Grinsend stand er vor mir, mit seiner stinkenden Pfeife, die er nie aus seinem blutleeren, lippenlosen Mund nahm. Einem Mund, der sich nie, wirklich nie, auch nur zu dem kleinsten Lächeln verzog. Stets brachte er nur dieselbe spöttische Grimasse zustande.
Mein Stiefvater war sehr hager, aber nicht besonders groß. Wenn er jedoch im Jähzorn ausrastete, entwickelte er schier übermenschliche Kräfte, gegen die sich zu wehren sinnlos war. Allein seine äußerliche Erscheinung mit dem bleichen Schädel verkörperte Tod und Unheil. Das Unheimlichste an ihm aber waren seine Augen, blassblau und stechend wie fluoreszierende Glassteine. Im Gegensatz zu anderen Menschen schien er niemals zwinkern zu müssen. Mit diesem kalten Blick verfolgte er mich pausenlos. Dass er jemals einen menschlichen Zug gezeigt hätte, Traurigkeit etwa, Erschöpfung, Freude oder eine Geste, die ihn als fühlendes Wesen ausgezeichnet hätte, das seine Taten wenigstens gelegentlich bereut, irgendetwas, das ihn hin und wieder als Menschen mit normalen Empfindungen gezeigt hätte - alles Fehlanzeige.
Nichts als abgehackte, kurze Satzfetzen brachte er mit seinen vom exzessiven Tabakkonsum angegriffenen Stimmbändern zustande.
Eine Mark hätte gerade gereicht, um mir ein Stranitzl zu kaufen, eine papierene, mit Süßigkeiten gefüllte Spitztüte, während ich auf dem Volksfest herumschlenderte.
War ich nicht ganz bei Trost? Hatte ich mich wirklich auf einen derart erbärmlichen Handel eingelassen? Nach allem, was passiert war?
Egal! Eifrig putzte ich seither täglich seine Schuhe. Nicht der kleinste Lehmbatzen sollte zu sehen sein, damit es nichts zu reklamieren gab, jede Stelle polierte ich blitzblank. So sehr erniedrigte ich mich selbst, nur weil ich für ein paar Stunden weg von diesem Einödhof und unter ein paar fröhliche Menschen kommen wollte.
Dann war der Monat endlich vorbei. Ich kam gerade vom Plumpsklo hinter dem Hühnerstall und ging an der Scheune entlang zum Mittagessen. Da schnitt mir der Stiefvater den Weg ab. Nie war ich wirklich allein, ständig lauerte er mir irgendwo auf. Er musterte mich in meinem kurzärmeligen weinroten Kleid und der geblümten Schürze von Kopf bis Fuß, woraufhin es mir wieder einmal eiskalt den Rücken herunterlief.
Dennoch stieß ich, am ganzen Leib bebend, mutig hervor:
»Kann ich nun bitte schön die eine Mark bekommen, die mir versprochen wurde?«
Ich erntete ein verächtliches Schnauben, weiter nichts. Dann streckte er den Arm aus, und sein langer, dürrer Finger wies zur Scheune. Sofort wusste ich, was er von mir verlangte.
»Nein!« Es zerriss mich innerlich. »Nein!«, schrie es in mir. »NEIN!«, brüllte ich so laut ich konnte.
Woher hatte ich bloß diesen Mut, diese Kraft? Mein Körper bäumte sich auf, wurde größer und größer, schien geradezu in den Himmel zu wachsen. Mein Mund öffnete sich wie von einer fremden Macht gesteuert, und ich posaunte die Worte hinaus, die ich schon seit Jahren jedem ins Gesicht schleudern wollte. Besonders meiner Mutter, die auf einmal hinter ihrem Heini stand. Mein Schrei hatte sie offenbar aus dem Hause gelockt.
»Du Drecksau! Du elendes Schwein! Schon damals in Passau, als ich keine dreizehn war, hast du mich angemacht und dich zu mir ins Bett gelegt. Hast schamlos ausgenutzt, wenn ich tief geschlafen habe.«
Der Gesichtsausdruck meiner Mutter spiegelte ein einziges dämliches Erstaunen. Wunderte sie sich wegen der Ungeheuerlichkeiten, die ich da gerade über ihren Ehemann enthüllte, oder über die Frechheit, die ich mir herausnahm?
»Mach deinen Dreck in Zukunft alleine, du Schwein!«, schmetterte ich ihm entgegen.
Ich sah noch, wie er in seinem blanken Hass fahl wurde, fahler als je zuvor. Dann machte er einen Satz auf mich zu. Binnen Sekunden würde er mir den Hals umdrehen und mich brutal niederschlagen. Doch soweit sollte es nicht kommen. Diesmal nicht!
Ehe er sich rühren konnte, war ich losgerannt. Und gelaufen, bis ich nicht mehr konnte.
Mühsam erhob ich mich von dem Baumstumpf. Zum Durst kam nun elender Hunger hinzu. Kraftlos schleppte ich mich durch das Unterholz, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Meine Vergangenheit musste ich abwerfen, wenn ich nicht zugrunde gehen wollte. Nur wie sollte es weitergehen?
»Du bist jetzt wirklich frei«, flüsterte meine innere Stimme mir zu. »Bisher hattest du nichts, warst nichts. Es kann also nur besser werden. Arbeit als Stallmagd findest du überall, und sicher zu besseren Bedingungen. Hiermit beginnt heute, im Sommer des Jahres 1951, dein zweites Leben. «
Wie viele Leben das Schicksal noch für mich bereithalten sollte - das ahnte ich damals freilich noch nicht ...
Ziellos irrte ich weiter, ohne jedes Zeitgefühl. Dann ging auch dieser Tag zur Neige. Ich folgte der Sonne Richtung Westen, streifte geduckt am Waldrand entlang und kam schließlich an ein Rübenfeld. Gierig riss ich die reifen Feldfrüchte aus der Erde und schob sie mir in den Mund. Am Horizont sah ich Gewitterwolken aufziehen. Hin- und hergerissen zwischen Entschlossenheit und tiefer Mutlosigkeit fasste ich einen Plan: Ich würde fürs Erste Zuflucht bei meiner Tante Maria suchen, in Birnbach.
Die Schwester meiner Mutter hatte einen sanften Charakter und war bei ihren seltenen Besuchen auf dem Ödmannhof immer nett zu mir gewesen. Dennoch hatte ich es nie geschafft, all meinen Mut zusammenzunehmen und ihr mein Leid anzuvertrauen. Die Welt der Erwachsenen und jene der Kinder waren damals Lichtjahre voneinander entfernt. Dass ein Erwachsener meine Kümmernisse anhörte und vielleicht sogar verstand, lag außerhalb allen Hoffens.
Tante Maria würde mir sicher helfen. Nur wo lag dieses Birnbach, in dem ich noch nie gewesen war? Egal, jetzt hieß es erst mal, eine beträchtliche Entfernung zwischen mich und den Ödmannhof zu bringen. Alles andere würde sich schon ergeben.
Nach einer Weile erreichte ich eine kleine Kapelle, die von einem wilden Rosenstock fast komplett zugewachsen war.
In meiner katholischen Heimat finden sich überall einsame Stellen mit Altären, an denen die Gottesmutter verehrt wird, die Überreste eines Mutterkultes aus vorchristlichen Zeiten. Wie elementar doch das Bedürfnis nach mütterlichem Schutz in den Religionen aller Völker zum Ausdruck kommt! Das wusste ich damals natürlich nicht, denn ich war schrecklich ungebildet, hatte die Schule nur drei Jahre lang besucht.
»Wasser! Endlich Wasser!« Mit einem Freudenschrei stürzte ich mich auf die kristallklare Quelle, die ich hinter der Kapelle entdeckte.
Die Umgebung war mir unbekannt, woraus ich schloss, dass ich schon recht weit von zu Hause weg war. Andererseits: Der Radius meiner Welt, in der ich mich bisher rund um den Ödmannhof orientiert hatte, war dermaßen klein, dass das verhasste Anwesen sich möglicherweise doch noch hinter der nächsten Anhöhe befand. Ich stieg einen schmalen, von hohen Buchen gesäumten Pfad nach oben, bis ich die Gegend überblicken konnte. Wie lieblich sich das Rotthaler Land vor mir ausbreitete: die sanfte Hügellandschaft, die Flussauen und Blumenwiesen und am Horizont die blaue Bergkette des Bayerischen Waldes.
Der Himmel war jetzt kohlrabenschwarz zugezogen, und erneut überwältigte mich tiefe Verzweiflung. Als sich das Gewitter kurz darauf in einem heftigen Wolkenbruch entlud, stürzte ich in den Vorraum der kleinen Marienkapelle und sank auf die Gebetbank nieder. Hinter einem schmiedeeisernen Gitterwerk blickte die Gipsmadonna mit nachdenklich gesenktem Haupt von einem gewundenen Marmorsockel auf mich herab, in den gefalteten Händen einen Rosenkranz. Der Tabernakel des mit weißen Lilien und dunkelroten Rosen geschmückten Altars schimmerte golden im Schein einer Kerze, die fast niedergebrannt war.
Wer weiß, wer heute hier schon Trost gesucht und ein Licht entzündet hat, dachte ich. Wahrscheinlich eine der zahlreichen Flüchtlingsfrauen aus dem Osten, eine der Kriegerwitwen mit ihren kleinen Kindern, die sich seit Kriegsende auf den Höfen der Umgebung durchschlugen. Nahtlos hatten die Bauern sie anstelle der Zwangsarbeiter übernommen und behandelten sie entsprechend.
Ich stieß ein bitteres Lachen aus. Warum sollten sich die Leute um solch feine Unterschiede kümmern? Schließlich behandelten sie ihr eigen Fleisch und Blut wie rechtlose Sklaven, manchmal sogar schlimmer als das Vieh.
»Du bist nichts. Du bist im Rausch gezeugt. Und können tust du auch nichts. Ein Rauschdepp, das bist du.«
Wie oft hatte mich die Mutter mit diesem üblen niederbayerischen Schimpfwort betitelt, das man für geistig Zurückgebliebene verwendet, weil sie angeblich im Vollrausch gezeugt wurden. Nur primitive Menschen benutzen diesen Ausdruck, der weitaus verletzender ist als Vollidiot. Doch welche Mutter nennt schon ihr eigenes Kind so?
»Rauschdepp, geh an die Arbeit«, dröhnte es in meinen Ohren. Ich konnte es nicht mehr abstellen.
Dann übermannte mich die Wut, und ich rüttelte an dem Gitter. »Warum liebst du mich nicht wenigstens? Warum lässt du mich auch immer im Stich? Du, die Mutter Gottes, sogar du! Alle flehen um deinen Beistand. Warum verweigerst du ihn ausgerechnet mir?«
»Hilf dir selbst!«
Wie ein Sturzbach brachen meine Tränen hervor.
»Heute Nacht will ich dich in meinem Haus beschützen.«
»Was, wenn sie mich hier finden?«
»Gottlose Menschen wie dein Stiefvater kommen gewiss nicht hierher, aber du kannst den Riegel von innen vorschieben, wenn du magst.«
Draußen tobte noch immer das Unwetter, aber hier drinnen hatte sich die Wärme des Tages gehalten. Ich kauerte mich in eine Ecke und begann wie von selbst, halblaut zu beten. Das war wohl aus meiner Zeit bei den Klosterschwestern noch so in mir drin. Ich leierte ein Ave-Maria nach dem anderen herunter, bis ich über den Worten »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade« in einen fiebrigen Schlaf fiel. Der war allerdings lange nicht so erquickend wie letzte Nacht. Oder waren es doch mehrere Nächte?
Mein ganzes bisheriges Leben zog in traumähnlichen, halbwachen Zuständen an mir vorüber - genau wie es einem Sterbenden in seinen letzten Minuten ergehen soll.
Copyright © 2012 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Ich rannte und rannte und rannte. Nur weg vom Hof, querfeldein, über die frisch gemähte Wiese, das Feld, durch das Gestrüpp, barfuß, die abgetretenen Holzpantoffeln in der Hand. Im Laufen spürte ich weder die Kratzer der Dornen auf Beinen und Armen noch meine schmerzenden Füße. Ich fiel hin, stand wieder auf, fiel wieder hin, stand wieder auf und erreichte endlich den schützenden Wald. Dort stürzte ich erschöpft in das Dickicht.
Das weiche Moos federte den Aufprall sanft ab. Ein Reh und sein Kitz schreckten auf und preschten davon. Sie gaben die Mulde neben mir frei, in der sie beide geruht hatten. Nahezu willenlos glitt ich in die kleine, warme Grube und krümmte mich zusammen wie ein Embryo.
Dieser Platz würde mein Grab sein. Hier würde ich endlich Ruhe finden. Endstation. Ich wollte nicht mehr weiterleben.
Die Behaglichkeit des Ortes und die Dunkelheit umfingen mich zärtlich. Mutter Erde nahm mich tröstend in ihre Arme. Weder in meiner Kindheit noch in meiner Jugend hatte mir meine eigene Mutter auch nur ansatzweise diesen Schutz gewährt.
Wie ein Vulkan hatte sich heute das Innerste meiner gepeinigten Seele entladen. Nun war der Lavastrom versiegt, und ich war mit meinen kaum zwanzig Jahren des Lebens müde. Unendlich müde. Nicht zum ersten Mal. Endlich Schluss mit all den Qualen und Erniedrigungen!
Das Ereignis von heute Mittag war der Zündfunke, der das Pulverfass meiner Seele zum Explodieren gebracht hatte. Ich war gebrochen. Die jahrelangen Verbrechen meines Stiefvaters, die Demütigungen durch meine Mutter und weiteres Unglück hatten mich zermürbt. Wie eine Bombe war ich heute hochgegangen und hatte mich erfolgreich gegen die Absicht meines Stiefvaters gewehrt, mich wie schon so viele Male davor zu vergewaltigen. Erfolgreich?
Gewiss suchen sie längst überall nach mir, dachte ich. Wenn mich der Mann dieser Frau, die unerklärlicherweise meine leibliche Mutter ist, zu fassen kriegt, wird er mich umbringen. Das wäre diesem Unmenschen immerhin schon mal fast gelungen. Vielleicht holen sie auch die Polizei, die mich zurück auf den Ödmannhof bringen wird. Schließlich bin ich noch keine einundzwanzig und damit nicht volljährig. Hilfe von außen darf ich in meiner Situation nicht erwarten.
Ein heftiges Zittern ergriff meinen Körper, und ich begann, vor Angst mit den Zähnen zu klappern.
Sollen sie doch! Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und hier finden sie mich gewiss nicht!
Eine unendliche Erschöpfung kroch in mir hoch. Einfach nur ausstrecken und wegdämmern. In die Unendlichkeit. Wie lange hatte ich nicht mehr ungestört schlafen dürfen. Ohne Angst! Plötzlich durchströmte ein Gefühl absoluter Ruhe mein Herz. Mein Bewusstsein schwebte wie schwerelos über meinem Körper, den ich von oben geborgen in meinem Waldbett eingerollt daliegen sah.
Binnen Sekunden glitt ich in einen tiefen, traumlosen Zustand. Ich schlief und schlief und schlief.
Als ich erwachte, sah ich zwischen den jungen Tannenzweigen hindurch die Sterne des Nachthimmels langsam verblassen. In die Stille des Waldes sang die erste Amsel ihr Lied. Wieder schloss ich die Augen und sog den unbeschreiblich frischen Duft des Waldes ein. Es roch nach morschem Holz und feuchtem Moos. Wie schön die Welt sein könnte! Oder befand ich mich etwa schon ganz woanders? An ein Paradies jedoch glaubte ich nicht. Die Klosterschwestern, bei denen ich meine frühe Kindheit verbracht hatte, hatten hauptsächlich von der Hölle gesprochen. Der Himmel war ganz sicher nicht für Kinder wie mich reserviert.
In der Ferne vernahm ich Kirchenglocken. Waren es die von Rotthalmünster? Kurz darauf setzte aus einer anderen Richtung weiteres Geläut ein, wenig später von einem dritten Ort. Vielleicht von Weiwörthing?
Heute muss Sonntag sein. War es nicht Donnerstag, als ich von zu Hause fortgelaufen bin? Ist etwa schon so viel Zeit verstrichen? Ich muss bewusstlos gewesen sein. Wie hätte ich sonst so lange ohne Essen und Trinken aushalten können?
Jetzt erst bemerkte ich, dass mein Mund trocken wie Pergament war. Meine Kehle schnürte sich allmählich so eng zusammen, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Auf allen vieren kroch ich aus dem Dickicht. Nein, ich war noch nicht bereit zu sterben, zumindest nicht durch Verdursten! Erst musste ich etwas trinken, nichts als trinken, um jeden Preis.
Geschwächt wie ich war, fühlte ich mich außerstande aufzustehen und robbte orientierungslos eine Weile vorwärts, bis ich eine Böschung mit Himbeeren entdeckte. Mit beiden Händen schob ich mir die saftigen Früchte in den Mund und stillte so den schlimmsten Durst.
Die Kräfte kehrten nicht wieder, doch als ich mich auf einen Baumstumpf niederließ, fühlte ich mich schon etwas besser.
»Du bist jetzt frei! Du brauchst niemanden mehr. Du wirst nicht zurückkehren. Dieses Mal nicht. Dir kann keiner mehr was befehlen«, murmelte ich halblaut vor mich hin.
Allein bei dem Gedanken, dass ich hier seit ein paar Minuten saß, ohne dass mich jemand anschrie und ohrfeigte, weil ich mich nicht augenblicklich an die Stallarbeit machte, überkam mich eine unbeschreibliche Lebensfreude. Spontan lachte ich laut auf und hörte mein Echo aus dem Wald hallen. Sofort mäßigte ich mich wieder, da ich fürchtete, jemand könnte mich hören.
Ja, ich war frei. Vogelfrei. Nur was sollte ich mit meiner Freiheit anfangen? Als ungeliebtes Kind geboren, jahrelang hin- und hergeschoben, gedemütigt und voller Ängste, besaß ich weder Bildung noch Umgangsformen und erst recht kein Geld. Nicht mal Papiere oder ein paar Mark hatte ich dabei. Nichts als mein abgetragenes Kleid am Leib. Keinen noch so geringen Geldbetrag hätte ich aus meiner Ecke im Dachboden holen können, selbst wenn ich noch Zeit dazu gehabt hätte. Schließlich hatte ich nie einen Lohn für meine schwere Arbeit als Stallmagd auf dem Hof meiner sogenannten Eltern erhalten.
Eine einzige jämmerliche Mark hatte dazu geführt, dass ich mir ab jetzt nichts mehr gefallen lassen wollte. Oder vielmehr der unmittelbar bevorstehende Jahrmarkt in Rotthalmünster. Schon Monate vorher hatte ich mich nach dieser harmlosen Abwechslung gesehnt. Tatsächlich hatte ich mir leise Hoffnungen auf die Erlaubnis machen können, dort für ein paar Stunden herumbummeln zu dürfen. Immerhin war die eiserne Kette der Unterdrückung auf dem Ödmannhof ein wenig gelockert worden, nachdem mich der Stiefvater zwei Jahre zuvor fast totgeprügelt hätte. Er verhielt sich nun vorsichtiger. So überwand ich mich vor kurzem dazu, ihn zu fragen, wie ich mir dafür ein wenig Geld verdienen könne.
»Wenn du mir einen Monat lang täglich die Stiefel putzt, kriegst du eine Mark«, antwortete er. Grinsend stand er vor mir, mit seiner stinkenden Pfeife, die er nie aus seinem blutleeren, lippenlosen Mund nahm. Einem Mund, der sich nie, wirklich nie, auch nur zu dem kleinsten Lächeln verzog. Stets brachte er nur dieselbe spöttische Grimasse zustande.
Mein Stiefvater war sehr hager, aber nicht besonders groß. Wenn er jedoch im Jähzorn ausrastete, entwickelte er schier übermenschliche Kräfte, gegen die sich zu wehren sinnlos war. Allein seine äußerliche Erscheinung mit dem bleichen Schädel verkörperte Tod und Unheil. Das Unheimlichste an ihm aber waren seine Augen, blassblau und stechend wie fluoreszierende Glassteine. Im Gegensatz zu anderen Menschen schien er niemals zwinkern zu müssen. Mit diesem kalten Blick verfolgte er mich pausenlos. Dass er jemals einen menschlichen Zug gezeigt hätte, Traurigkeit etwa, Erschöpfung, Freude oder eine Geste, die ihn als fühlendes Wesen ausgezeichnet hätte, das seine Taten wenigstens gelegentlich bereut, irgendetwas, das ihn hin und wieder als Menschen mit normalen Empfindungen gezeigt hätte - alles Fehlanzeige.
Nichts als abgehackte, kurze Satzfetzen brachte er mit seinen vom exzessiven Tabakkonsum angegriffenen Stimmbändern zustande.
Eine Mark hätte gerade gereicht, um mir ein Stranitzl zu kaufen, eine papierene, mit Süßigkeiten gefüllte Spitztüte, während ich auf dem Volksfest herumschlenderte.
War ich nicht ganz bei Trost? Hatte ich mich wirklich auf einen derart erbärmlichen Handel eingelassen? Nach allem, was passiert war?
Egal! Eifrig putzte ich seither täglich seine Schuhe. Nicht der kleinste Lehmbatzen sollte zu sehen sein, damit es nichts zu reklamieren gab, jede Stelle polierte ich blitzblank. So sehr erniedrigte ich mich selbst, nur weil ich für ein paar Stunden weg von diesem Einödhof und unter ein paar fröhliche Menschen kommen wollte.
Dann war der Monat endlich vorbei. Ich kam gerade vom Plumpsklo hinter dem Hühnerstall und ging an der Scheune entlang zum Mittagessen. Da schnitt mir der Stiefvater den Weg ab. Nie war ich wirklich allein, ständig lauerte er mir irgendwo auf. Er musterte mich in meinem kurzärmeligen weinroten Kleid und der geblümten Schürze von Kopf bis Fuß, woraufhin es mir wieder einmal eiskalt den Rücken herunterlief.
Dennoch stieß ich, am ganzen Leib bebend, mutig hervor:
»Kann ich nun bitte schön die eine Mark bekommen, die mir versprochen wurde?«
Ich erntete ein verächtliches Schnauben, weiter nichts. Dann streckte er den Arm aus, und sein langer, dürrer Finger wies zur Scheune. Sofort wusste ich, was er von mir verlangte.
»Nein!« Es zerriss mich innerlich. »Nein!«, schrie es in mir. »NEIN!«, brüllte ich so laut ich konnte.
Woher hatte ich bloß diesen Mut, diese Kraft? Mein Körper bäumte sich auf, wurde größer und größer, schien geradezu in den Himmel zu wachsen. Mein Mund öffnete sich wie von einer fremden Macht gesteuert, und ich posaunte die Worte hinaus, die ich schon seit Jahren jedem ins Gesicht schleudern wollte. Besonders meiner Mutter, die auf einmal hinter ihrem Heini stand. Mein Schrei hatte sie offenbar aus dem Hause gelockt.
»Du Drecksau! Du elendes Schwein! Schon damals in Passau, als ich keine dreizehn war, hast du mich angemacht und dich zu mir ins Bett gelegt. Hast schamlos ausgenutzt, wenn ich tief geschlafen habe.«
Der Gesichtsausdruck meiner Mutter spiegelte ein einziges dämliches Erstaunen. Wunderte sie sich wegen der Ungeheuerlichkeiten, die ich da gerade über ihren Ehemann enthüllte, oder über die Frechheit, die ich mir herausnahm?
»Mach deinen Dreck in Zukunft alleine, du Schwein!«, schmetterte ich ihm entgegen.
Ich sah noch, wie er in seinem blanken Hass fahl wurde, fahler als je zuvor. Dann machte er einen Satz auf mich zu. Binnen Sekunden würde er mir den Hals umdrehen und mich brutal niederschlagen. Doch soweit sollte es nicht kommen. Diesmal nicht!
Ehe er sich rühren konnte, war ich losgerannt. Und gelaufen, bis ich nicht mehr konnte.
Mühsam erhob ich mich von dem Baumstumpf. Zum Durst kam nun elender Hunger hinzu. Kraftlos schleppte ich mich durch das Unterholz, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Meine Vergangenheit musste ich abwerfen, wenn ich nicht zugrunde gehen wollte. Nur wie sollte es weitergehen?
»Du bist jetzt wirklich frei«, flüsterte meine innere Stimme mir zu. »Bisher hattest du nichts, warst nichts. Es kann also nur besser werden. Arbeit als Stallmagd findest du überall, und sicher zu besseren Bedingungen. Hiermit beginnt heute, im Sommer des Jahres 1951, dein zweites Leben. «
Wie viele Leben das Schicksal noch für mich bereithalten sollte - das ahnte ich damals freilich noch nicht ...
Ziellos irrte ich weiter, ohne jedes Zeitgefühl. Dann ging auch dieser Tag zur Neige. Ich folgte der Sonne Richtung Westen, streifte geduckt am Waldrand entlang und kam schließlich an ein Rübenfeld. Gierig riss ich die reifen Feldfrüchte aus der Erde und schob sie mir in den Mund. Am Horizont sah ich Gewitterwolken aufziehen. Hin- und hergerissen zwischen Entschlossenheit und tiefer Mutlosigkeit fasste ich einen Plan: Ich würde fürs Erste Zuflucht bei meiner Tante Maria suchen, in Birnbach.
Die Schwester meiner Mutter hatte einen sanften Charakter und war bei ihren seltenen Besuchen auf dem Ödmannhof immer nett zu mir gewesen. Dennoch hatte ich es nie geschafft, all meinen Mut zusammenzunehmen und ihr mein Leid anzuvertrauen. Die Welt der Erwachsenen und jene der Kinder waren damals Lichtjahre voneinander entfernt. Dass ein Erwachsener meine Kümmernisse anhörte und vielleicht sogar verstand, lag außerhalb allen Hoffens.
Tante Maria würde mir sicher helfen. Nur wo lag dieses Birnbach, in dem ich noch nie gewesen war? Egal, jetzt hieß es erst mal, eine beträchtliche Entfernung zwischen mich und den Ödmannhof zu bringen. Alles andere würde sich schon ergeben.
Nach einer Weile erreichte ich eine kleine Kapelle, die von einem wilden Rosenstock fast komplett zugewachsen war.
In meiner katholischen Heimat finden sich überall einsame Stellen mit Altären, an denen die Gottesmutter verehrt wird, die Überreste eines Mutterkultes aus vorchristlichen Zeiten. Wie elementar doch das Bedürfnis nach mütterlichem Schutz in den Religionen aller Völker zum Ausdruck kommt! Das wusste ich damals natürlich nicht, denn ich war schrecklich ungebildet, hatte die Schule nur drei Jahre lang besucht.
»Wasser! Endlich Wasser!« Mit einem Freudenschrei stürzte ich mich auf die kristallklare Quelle, die ich hinter der Kapelle entdeckte.
Die Umgebung war mir unbekannt, woraus ich schloss, dass ich schon recht weit von zu Hause weg war. Andererseits: Der Radius meiner Welt, in der ich mich bisher rund um den Ödmannhof orientiert hatte, war dermaßen klein, dass das verhasste Anwesen sich möglicherweise doch noch hinter der nächsten Anhöhe befand. Ich stieg einen schmalen, von hohen Buchen gesäumten Pfad nach oben, bis ich die Gegend überblicken konnte. Wie lieblich sich das Rotthaler Land vor mir ausbreitete: die sanfte Hügellandschaft, die Flussauen und Blumenwiesen und am Horizont die blaue Bergkette des Bayerischen Waldes.
Der Himmel war jetzt kohlrabenschwarz zugezogen, und erneut überwältigte mich tiefe Verzweiflung. Als sich das Gewitter kurz darauf in einem heftigen Wolkenbruch entlud, stürzte ich in den Vorraum der kleinen Marienkapelle und sank auf die Gebetbank nieder. Hinter einem schmiedeeisernen Gitterwerk blickte die Gipsmadonna mit nachdenklich gesenktem Haupt von einem gewundenen Marmorsockel auf mich herab, in den gefalteten Händen einen Rosenkranz. Der Tabernakel des mit weißen Lilien und dunkelroten Rosen geschmückten Altars schimmerte golden im Schein einer Kerze, die fast niedergebrannt war.
Wer weiß, wer heute hier schon Trost gesucht und ein Licht entzündet hat, dachte ich. Wahrscheinlich eine der zahlreichen Flüchtlingsfrauen aus dem Osten, eine der Kriegerwitwen mit ihren kleinen Kindern, die sich seit Kriegsende auf den Höfen der Umgebung durchschlugen. Nahtlos hatten die Bauern sie anstelle der Zwangsarbeiter übernommen und behandelten sie entsprechend.
Ich stieß ein bitteres Lachen aus. Warum sollten sich die Leute um solch feine Unterschiede kümmern? Schließlich behandelten sie ihr eigen Fleisch und Blut wie rechtlose Sklaven, manchmal sogar schlimmer als das Vieh.
»Du bist nichts. Du bist im Rausch gezeugt. Und können tust du auch nichts. Ein Rauschdepp, das bist du.«
Wie oft hatte mich die Mutter mit diesem üblen niederbayerischen Schimpfwort betitelt, das man für geistig Zurückgebliebene verwendet, weil sie angeblich im Vollrausch gezeugt wurden. Nur primitive Menschen benutzen diesen Ausdruck, der weitaus verletzender ist als Vollidiot. Doch welche Mutter nennt schon ihr eigenes Kind so?
»Rauschdepp, geh an die Arbeit«, dröhnte es in meinen Ohren. Ich konnte es nicht mehr abstellen.
Dann übermannte mich die Wut, und ich rüttelte an dem Gitter. »Warum liebst du mich nicht wenigstens? Warum lässt du mich auch immer im Stich? Du, die Mutter Gottes, sogar du! Alle flehen um deinen Beistand. Warum verweigerst du ihn ausgerechnet mir?«
»Hilf dir selbst!«
Wie ein Sturzbach brachen meine Tränen hervor.
»Heute Nacht will ich dich in meinem Haus beschützen.«
»Was, wenn sie mich hier finden?«
»Gottlose Menschen wie dein Stiefvater kommen gewiss nicht hierher, aber du kannst den Riegel von innen vorschieben, wenn du magst.«
Draußen tobte noch immer das Unwetter, aber hier drinnen hatte sich die Wärme des Tages gehalten. Ich kauerte mich in eine Ecke und begann wie von selbst, halblaut zu beten. Das war wohl aus meiner Zeit bei den Klosterschwestern noch so in mir drin. Ich leierte ein Ave-Maria nach dem anderen herunter, bis ich über den Worten »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade« in einen fiebrigen Schlaf fiel. Der war allerdings lange nicht so erquickend wie letzte Nacht. Oder waren es doch mehrere Nächte?
Mein ganzes bisheriges Leben zog in traumähnlichen, halbwachen Zuständen an mir vorüber - genau wie es einem Sterbenden in seinen letzten Minuten ergehen soll.
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Autoren-Porträt von Elfriede Sattler
Elfriede Sattler, 1931 in Hals im Passauer Land geboren, gelangte in den 1950/60er Jahren als Tänzerin unter dem Namen "Ulfat Sherif" zu Weltruhm. Heute lebt sie als selbstständige Unternehmerin in Aschheim bei München und gibt Kurse in Freestyle Oriental Dancing. Ulaya Gadalla gehört zu den international bekanntesten orientalischen Tänzerinnen. In Deutschland geboren und aufgewachsen, machte sie eine mehrjähriger Ausbildung zur Tänzerin in Kairo. Dannach internationale Engagements, u.a. in Amerika, Marokko, Spanien und Europa.Dazwischen holte sie sich Inspirationen anlässlich eines längeren Aufenthalts in Sri Lanka bei den Kandyan Temple Dancers von singhalesischen und indischen Tänzen. Ihre eigene Mischung mit dem Bauchtanz begeisterte weite Kreise, sodass sie regelmäßig zum Unterhaltungsprogramm der indischen Kulturwochen engagiert wird, u.a. trat sie auch an der UNO in New York auf.Eine eigene 36-teilige Fernsehserie in ARD und ZDF "Rhythmus und Lebensgefühl aus dem Morgenland"(1996) brachte den für eine Gesundheitsserie einmaligen Marktanteil von 17%. Die Serie wird auch jetzt noch gelegentlich wiederholt, zuletzt bei BR-alpha. Erfolgreich waren auch ihre Bauchtanzbücher sowie einige Video- und CD-Produktionen. Zusammen mit der Henna-Künstlerin Margot F. Ibrahim (Member of Who is Who) betreibt U.G. das Tanzstudio Morgenland seit 10 Jahren in München
Bibliographische Angaben
- Autor: Elfriede Sattler
- 2012, 1. Auflage, 416 Seiten, 30 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426655195
- ISBN-13: 9783426655191
- Erscheinungsdatum: 28.08.2012
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