Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet?
Dieter Graumann ist der erste Präsident des Zentralrats der Juden, der den NS-Terror nicht unmittelbar erlebt hat. Er möchte die jüdische Identität nicht allein von Formeln wie "Schoa plus Antisemitismus" abgeleitet wissen. In seinem...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
19.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet? “
Dieter Graumann ist der erste Präsident des Zentralrats der Juden, der den NS-Terror nicht unmittelbar erlebt hat. Er möchte die jüdische Identität nicht allein von Formeln wie "Schoa plus Antisemitismus" abgeleitet wissen. In seinem Buch gibt er Einblicke in sein Leben und plädiert leidenschaftlich für ein frisches, plurales und lebendiges Judentum in Deutschland: "Es wird seine besonderen Fundamente kennen, sich aber nicht nur selbst bespiegeln, sondern sich kommunikativ, initiativ und kreativ an allen gesellschaftlichen Debatten beteiligen."
Dieter Graumann vertritt gut 100.000 jüdische Gläubige. Gemeinsam mit dem Zentralrat und den jüdischen Gemeinden steht er vor enormen Herausforderungen. Das spornt seinen Gestaltungswillen umso mehr an: "Wir wollen dem Judentum hier eine Zukunft mit starken Wurzeln verschaffen."
Im Judentum verwurzelt, in Deutschland daheim
Das erste Buch des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden
Leidenschaftlich für einen positiven jüdischen "Spirit"
Dieter Graumann vertritt gut 100.000 jüdische Gläubige. Gemeinsam mit dem Zentralrat und den jüdischen Gemeinden steht er vor enormen Herausforderungen. Das spornt seinen Gestaltungswillen umso mehr an: "Wir wollen dem Judentum hier eine Zukunft mit starken Wurzeln verschaffen."
Im Judentum verwurzelt, in Deutschland daheim
Das erste Buch des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden
Leidenschaftlich für einen positiven jüdischen "Spirit"
Klappentext zu „Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet? “
Dieter Graumann ist der erste Präsident des Zentralrats der Juden, der den NS-Terror nicht unmittelbar erlebt hat. Er möchte die jüdische Identität nicht allein von Formeln wie "Schoa plus Antisemitismus" abgeleitet wissen. In seinem Buch gibt er Einblicke in sein Leben und plädiert leidenschaftlich für ein frisches, plurales und lebendiges Judentum in Deutschland: "Es wird seine besonderen Fundamente kennen, sich aber nicht nur selbst bespiegeln, sondern sich kommunikativ, initiativ und kreativ an allen gesellschaftlichen Debatten beteiligen."Dieter Graumann vertritt gut 100.000 jüdische Gläubige. Gemeinsam mit dem Zentralrat und den jüdischen Gemeinden steht er vor enormen Herausforderungen. Das spornt seinen Gestaltungswillen umso mehr an: "Wir wollen dem Judentum hier eine Zukunft mit starken Wurzeln verschaffen."
Lese-Probe zu „Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet? “
Nachgeboren - Vorbelastet? von Dieter GraumannZur Einstimmung: Plötzlich Präsident
Am 28. November 2010 wurde ich zum Präsidenten des Zentral-rats der Juden in Deutschland gewählt. Schon Monate vorher lief alles darauf hinaus, als es aber dann so weit war, musste ich kräftig Luft holen. Denn damit war ursprünglich nicht unbedingt zu rechnen gewesen. Es waren nun, als ich gewählt wurde, gut 15 Jahre vergangen, seitdem ich mich in die »jüdische Politik« begeben habe. Und das Ziel, Zentralratspräsident zu werden, konnte ich wirklich nicht von vorneherein im Auge haben.
Auch wenn Ignatz Bubis, der mich überhaupt erst in die Politik brachte, gelegentlich sagte, ich würde sicher einmal einer seiner Nachfolger, und mir Paul Spiegel, mit dem ich glänzend zusammenarbeitete, dies häufig prophezeite, und auch Charlotte Knobloch, die starke Frau des Zentralrats, mir Ähnliches voraus-sagte - ich selbst nahm dies niemals wirklich ernst. Wusste ich doch: Wir Juden sind zwar das Volk der Propheten, sind es aber selbst nicht wirklich. Sogar oft ganz im Gegenteil! Als ich im Juni 2006 zum Vizepräsidenten des Zentralrats gewählt wurde, hatte ich mir fest vorgenommen: bis hierhin und nicht weiter. Nicht, dass ich die Arbeit und Verantwortung dieses Amtes jemals gefürchtet hätte: Mit beidem habe ich in meinem Leben noch nie-mals Probleme gehabt. Wohl aber scheute ich die erhebliche Beschränkung an persönlicher Freiheit, die mit diesem Amt wegen der diversen Sicherheitsaspekte verbunden ist.
Schließlich aber bin ich doch Präsident geworden. »Gott lacht über unsere Pläne«, heißt es. Und am Ende waren es zahlreiche Weggabelungen, die auch vielfach ganz anders hätten verlaufen können, nicht wenige Wege und Nebenwege gab es, Fälle und Zufälle, Irrungen und Wirrungen, die mich in
... mehr
ein Amt brachten, das ich so viele Jahre aus nächster Nähe gesehen, aber auch gerade deshalb niemals angesteuert hatte. Schließlich hatte ich mich dann aber doch dazu durchgerungen, allen Nachteilen und gewichtigen Gegenargumenten zum Trotz. Die diversen Risiken, die mir dabei vorausgesagt wurden, habe ich niemals gescheut. Hier halte ich es mit Ernst Bloch, der schrieb: »Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.« Denn vor allem sehe ich hier die gewaltige Chance, etwas ganz besonders Sinnvolles zu tun und zu erreichen, gerade für die Menschen, die mir so sehr am Herzen liegen, und für den Aufbau einer ganz neuen jüdischen Gemeinschaft mit einer vollkommen frischen, neu zu gestalten-den Perspektive.
Von Anfang an nahm ich mir deshalb fest vor, nicht nur ein-fach Präsident sein zu wollen, sondern dabei wirklich etwas Neues zu bewegen. Denn ich spürte: Die jüdische Gemeinschaft hier verträgt und braucht eine Brise frischen Wind. Das soll gewiss kein tobender Taifun sein. Aber doch die möglichst geglückte Kombination und Komposition von Kontinuität und
8 Wandel, von seriöser Fortführung und von frischer Fantasie.
»Nachgeboren« bin ich selbst mit Sicherheit in kalendarischem Sinn: nach der Shoah geboren. Das lässt sich schwer leugnen. Und »vorbelastet« bin ich ganz gewiss auch. Denn, wie alle meine Freunde und Schicksalsgenossen der zweiten Generation, trage ich in mir für alle Zeit die Traumatisierungen, die unsere Eltern, gequält an Leib und Seele, von der Shoah davongetragen haben.
Gerade deshalb weiß ich, wie schwer wir selbst an diesen Verletzungen der Seele tragen, wie sehr wir selbst darunter leiden. Und gerade deshalb will ich, dass es bei unseren Kindern ganz anders sein möge. Vergessen? Niemals. Aber sich auch nicht immerzu von der Vergangenheit dominieren lassen. Das ist sicher für niemanden gut, am allerwenigsten für uns selbst.
Aus genau diesen Gründen habe ich mir für die Zeit meiner Präsidentschaft so viel vorgenommen. Warum sich bücken, wenn man nach den Sternen greifen will? Was ich erreichen will, von Anfang an, ist daher ein richtiggehender Mentalitätswechsel, eine Perspektivänderung: nicht nur Vergangenheit, sondern Vergangenheit plus viel mehr Zukunft.
Auch in der öffentlichen Wahrnehmung muss sich, so nehme ich mir nach meinen Erfahrungen vor, einiges ändern: Viel zu lange waren wir in Deutschland die Kritiker vom Dienst, oft an-getrieben von den »bösen, bösen Journalisten«, denen wir, wenn sie danach fragten, bereitwillig Rede und Antwort standen zu den immergleichen Themen: Antisemitismus und Shoah. Natürlich haben wir diesen Bedarf allesamt - und sicher auch ich selbst in der Vergangenheit - zu häufig und zu bereitwillig bedient. Das muss sich nunmehr ändern, nehme ich mir vor, denn das hat uns als Juden in Deutschland nicht gut getan.
Zum angestrebten Akzentwechsel gehört deshalb auch: gestalten statt meckern, inspirieren statt nur immer kritisieren. Den
jüdischen Dauermahnsinn müssen wir nicht für ewig auf unserem politischen Spielplan haben.
Auf der anderen Seite müssen wir uns aber doch mit Leidenschaft
engagieren, wo wir gefordert sind: Und tatsächlich ergaben sich
schon in den ersten beiden Jahren meiner Amtszeit vielfältige Anlässe, bei denen wir uns wieder kritisch zu Wort zu melden hat-ten. Oft frage ich mich dann selbstkritisch: Sind wir so nicht schon wieder flugs in der Dauer-Mecker-Ecke gelandet, die ich doch unbedingt endlich verlassen wollte? Aber wenn es um unsere Kernbereiche geht, müssen wir uns einfach kämpferisch engagieren. Ohne uns in irgendeiner Weise überheben zu wollen, bleibt doch die Frage: Wer, wenn nicht wir, soll denn warnen? In so vielen wichtigen Fällen sind wir vom Zentralrat der Juden tat-sächlich mit die Ersten, und nicht selten wirklich die Allerersten, die sich mit begründeter Kritik öffentlich zu Wort melden.
Zum Beispiel, wenn es um antisemitische Ansätze erst in der Linkspartei, später sogar in der neuen Piratenpartei geht, wenn es sich um das längst überfällige NPD-Verbot handelt, wenn die Morde des Rechtsterrors in Deutschland sprachlich verharmlosend als »Döner-Morde« tituliert und so ein wenig verniedlicht werden, wenn ein plötzlich durch und durch »grässliches« Gedicht erscheint oder wenn es darum geht, dem hochkriminellen Horror-Regime in Teheran mit viel mehr Entschlossenheit entge-genzutreten. Ich stelle fest: Auf die wache und kritische Stimme des Zentralrats der Juden, der in vielen Fällen rasch die richtigen politischen Instinkte offenbart, kann die deutsche Öffentlichkeit offenbar noch lange nicht verzichten. Und keine Sorge: Keiner muss so rasch auf uns verzichten. Wir Juden suchen diese und andere Konflikte gewiss nicht. Vielmehr finden solche Konflikte schon uns, und das so viel häufiger übrigens, als wir uns das selbst wünschen würden. Und doch: Wir wollen, so nehme ich mir vor, nicht mehr reflexhaft und gewohnheitsmäßig poltern, sondern uns die Felder, in denen wir uns entschlossen einsetzen, selbst wählen: Es sind am Ende, stelle ich selbstkritisch mit Er-schrecken fest, doch viele mehr, als ich es eigentlich wollte.
Zum Akzentwechsel gehört auch mein fester Vorsatz, das Judentum künftig moderner, frischer und vor allem positiv zu positionieren - in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in unserer eigenen Selbsteinschätzung. Also: positiv und licht statt trist und düster. Denn viel zu wenig sind leider die großen, immensen Schätze des Judentums bekannt, erstaunlicherweise auch uns selbst. Und diese Schätze müssen wir uns erst einmal selbst wie-der bewusst machen und sie mit Inhalt und Zukunft füllen, um sie dann mit Begeisterung nach außen tragen zu können. Mein Instinkt sagt mir: Wir müssen zeigen, dass das Judentum ganz anders ist, als es sich in den Köpfen zu vieler Menschen hierzu-lande festgesetzt hat. Eben gerade nicht primär traurig und dunkel und dauerkritisch, sondern sehr wohl heiter und frisch und lebensfroh.
Und vor allem darf man das Judentum, das ist meine tiefe Überzeugung, gerade nicht nur auf die Leidensgeschichte und auf den Kampf gegen den Judenhass reduzieren - so wichtig das alles mit Sicherheit immer bleiben wird - weil es tatsächlich doch so viel mehr bedeutet: nämlich eine ganze Galaxie von Wissen und von Werten, eine gewaltige moralische Dimension, von der so viele noch heute zehren (nicht zuletzt das Christentum), aber auch eine Infusion von Sinn und Substanz und gehaltvoller Überlieferung und darüber hinaus so viele Traditionen. Das al-les, und noch vieles mehr, wird nun weitergetragen in einer unglaublich langen Kette von mehr als hundert Generationen. Ein solcher Tradierungsprozess ist tatsächlich einzigartig, und es treibt mich persönlich auch sehr stark an, dass wir diese kostbare Kette weiterknüpfen.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist ein wunderbares Beispiel dafür: Geprägt durch die starke Zuwanderung von jüdischen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in den vergangenen 20 Jahren, haben wir heute eine ganz besondere Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft. Unsere neuen Mitglieder, die mittlerweile rund 90 Prozent unserer Gemeinschaft ausmachen, sind für uns ein wirkliches Glück und ein Se-gen. Wir sind dafür jeden Tag unendlich dankbar. Sie stärken und bereichern uns und geben uns so eine ganz neue Zukunft und Perspektive.
Und wir wollen nun, das ist mein ganz persönliches Ziel, gerade in Deutschland, gerade allen Katastrophen der Vergangenheit zum Trotz und gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, jetzt eine neue und vor allem auch positive jüdische Gemeinschaft aufbauen, deren Zukunft im Grunde ein Wunder ist, mit dem ursprünglich keineswegs zu rechnen war. Aber Wunder sind für uns keine Kuriosität, sondern fast schon jüdische Spezialität. Diese neue, plurale jüdische Gemeinschaft wollen wir in Deutschland nunmehr aufbauen, kreativ und innovativ, mit den unendlich vielen positiven Dimensionen, die das Judentum nun einmal zu bieten hat. Das ist mein Wunsch, mein Ziel, das ist mein persönlicher »kühner Plan«: eine gewaltige Herausforderung, aber auch eine grandiose Chance.
Wege im Leben und
im Zentralrat -
Biografische Notizen
»Der erste Zentralrats-Präsident, der nicht in der Shoah war« - das wurde nach meiner Wahl immer wieder in vielen Medienberichten fast wie ein Mantra wiederholt. Diese kalendarische Tatsache ist nicht zu bestreiten. Aber: Ist sie denn wirklich derart verwunderlich, gar sensationell? Rund siebzig Jahre nach der Shoah ist das doch schon alleine zahlenmäßig nahezu zwangsläufig. Es ist keine Frage der Moral, sondern der Mathematik, es betrifft mehr die Arithmetik als die Ethik.
Nicht zu leugnen ist schließlich: Inzwischen sind leider wirklich immer weniger Zeitzeugen unter uns. Darauf hinzuweisen, vergisst kaum jemand, der sich in letzter Zeit geäußert hat, sei es
aus Anlass der »Woche der Brüderlichkeit«, zum »Internationalen Holocaustgedenktag« am 27. Januar oder an einem 9. November. Ja, die Menschen, die selbst in den Konzentrations- und Arbeitslagern waren oder das »Glück« hatten, einen geheimen Unterschlupf zu finden, werden schon bald nicht mehr da sein,
um uns ihre Leidens- und Überlebensgeschichte in dieser besonderen, intensiven und vor allem so authentischen Art und Weise zu erzählen.
Eines sollten wir jedoch nicht außer Acht lassen: dass so viele andere, die die Konzentrationslager gar nicht selbst erlebt haben, dennoch die Shoah in sich tragen. So ist es bei mir. Und wie Elie Wiesel zudem einmal sagte: »Wer einem Zeitzeugen zuhört, der wird selbst zu einem.« In Zukunft müssen wir also die Stimme für unsere Zeitzeugen sein. Wir müssen und werden ihre Geschichten, aber auch ihre Emotionen weitertragen. Deswegen la-den wir auch gerade junge Menschen ein, heute ganz besonders gut zuzuhören und zu versuchen, zwischen dem Gesagten das Gefühlte zu verstehen. Dann werden die Geschichten und das Vermächtnis der Überlebenden für immer am Leben gehalten. Umso wichtiger wäre es, wenn Zeitzeugen, auch nunmehr der zweiten Generation, viel häufiger in Schulen eingeladen würden, um direkt mit den jungen Menschen von heute zu sprechen.
Als Zeitzeuge der zweiten Generation weiß ich aus eigener Erfahrung, wie unerlässlich die Kontinuität der Erzählung ist. Ich kam 1950 auf die Welt und bin somit wirklich in diesem Sinne auch »nachgeboren«. Viele sehen die Shoah tatsächlich als Referenzpunkt in der Geschichte des jüdischen Volkes, ab dem jüdisches Leben wieder fast neu oder zumindest ganz anders begann. Als hätte man sozusagen abrupt eine imaginäre »Reset«- Taste gedrückt, so als würde die Zeitrechnung für das jüdische Volk nochmals fast ganz von vorn beginnen. Sicherlich bedeutet dies nicht, dass man etwa die Bedeutung der jahrtausendealten Geschichte schmälert. Aber schaut man sich alleine die heutzutage sehr häufig in unseren Gemeinden gefeierten Jubiläen an, so wird einem schnell klar, dass selbst ein vermeintlich »junger« Jahrestag, wenn etwa das fünfzigjährige Jubiläum einer wieder aufgebauten Synagoge gefeiert wird, etwas ganz Besonderes ist und mit größter Freude zelebriert wird. Denn hierzulande hat das gefühlte jüdische Leben tatsächlich doch wieder fast von null begonnen zu wachsen. Auf den Ruinen der Shoah wurde eine neue jüdische Zukunft gebaut. Deswegen ist jedes noch so kleine Jubiläum ein Grund zum Feiern. Man kann fast sagen: Seit dem Holocaust tickt die Zeit viel intensiver und vor allem bedeutungsvoller für uns. Jedes neue Jahr, in dem wieder neues jüdisches Leben in Deutschland gefeiert wird, bedeutet nämlich wirklich ein Jahr mehr, als man es sich nach dem Zweiten Welt-krieg jemals hätte vorstellen und erträumen können.
Es stimmt also im wörtlichen Sinne, dass ich nach dem Holocaust geboren wurde. Und doch stimmt es auch so gar nicht. Denn wir Kinder der Überlebenden waren zwar nicht in der Shoah, aber die Shoah ist doch immer in uns. Auch ich zähle zu den Nachkommen der Holocaust-Überlebenden, auch wir sind Zeitzeugen und auch wir können und sollen dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Shoah nicht zwischen Buchdeckeln vergilbt. Nicht weil ich meine private Geschichte für besonders mitteilenswert halte, sondern weil sie stellvertretend für so viele andere meiner, der zweiten Generation steht, will ich sie hier erzählen.
»Ab heute heißt du Dieter«
Um zu illustrieren, wie es jemanden prägt, als Kind von Holocaust-Überlebenden aufzuwachsen, will ich berichten, was es mit meinem Vornamen »Dieter« auf sich hat. Bis zum sechsten Lebensjahr hieß ich »David« - ich wurde in Israel geboren und kam mit 18 Monaten nach Deutschland. Nach Israel waren meine Eltern nach dem Krieg emigriert, sie wollten nicht im »Land der Täter« leben. Doch mein Vater, gesundheitlich schwer angeschlagen durch die verschiedenen Konzentrationslager, die er er-leiden musste, vertrug das heiße, schwüle Klima in Israel überhaupt nicht.
Also zogen meine Eltern weiter, immer noch auf der Suche nach dem neuen Zuhause für ihr wieder zurückgewonnenes Le-ben. Auf ihrem israelischen Pass stand »Prat Germania« - über-all gültig, außer in Deutschland. So kamen wir zuerst nach Frank-reich, und später erhielten meine Eltern auch die begehrte Greencard für die Vereinigten Staaten. Doch wie so oft im Leben sorgt das Zusammenspiel von Zufällen und Gegebenheiten da-für, dass man von seinem »Plan« abweichen, ihn verschieben oder am Ende sogar verwerfen muss. Meine Eltern wandten sich dann doch Deutschland zu. Sie dachten, es sei nur kurz, vorerst und vorläufig. Hier besuchten sie ihre Freunde aus dem Dis-placed Persons-Camp in Zeilsheim, westlich von Frankfurt - irgendwie die einzige gefühlte Familie angesichts der Vernichtung aller Angehörigen. Sie teilten die gleichen Albträume, die gleichen Sehnsüchte, die gleiche Traurigkeit, die gleiche Mischung aus Mut und Schwermut - die gemeinsame Leidensgeschichte machte die Menschen zu Brüdern und Schwestern. So sind meine Eltern und ich am Ende also in Deutschland »hängen geblieben«. Immer saßen meine Eltern hier auf den inzwischen sprich-wörtlich gewordenen »gepackten Koffern«, für sie war es ein immerzu gefühltes »Provisorium«. Doch aus unserer langen jüdischen Geschichte wissen wir: Selten gibt es etwas Dauerhafteres im Leben als ein Provisorium. Wir waren in Deutschland. Und meine Eltern und ihre Freunde lebten hier fortwährend mit zerrissenen Herzen und mit verwundeten Seelen.
Als ich in die Schule kommen sollte, war es natürlich ein ganz besonderer Tag für mich. Ich freute mich auf neue Schulsachen, neue Freunde, neues Wissen. Dass ich allerdings bei dieser Gelegenheit auch einen neuen Namen erhalten sollte, das wusste ich noch nicht. Als mein erster Schultag dann endlich gekommen war, stellten meine Eltern mich vor den Spiegel im Schlafzimmer, nahmen mich in die Mitte und sagten feierlich: »David! Ab heute heißt du Dieter.« An diesen Moment kann ich mich ganz genau erinnern, an jedes Wort, an dieses Abbild im Spiegel. Schließlich geschieht es doch nicht alle Tage im Leben, dass man seinen Namen ändert. »David«, das klang meinen Eltern damals viel zu jüdisch - sie hatten Angst um mich, Angst davor, dass ich in der Schule zu rasch als jüdischer Junge identifiziert werden könnte. Denn damals war es noch keineswegs »modern«, so wie heute, sich biblischer Namen zu bedienen.
Genau andersherum war es zum Beispiel bei Aharon Appel-feld, wie er uns in seinem autobiografischen Roman »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« schildert. Der israelische Schrift-steller stammt aus der Nähe des auch für seine jüdischen Dichter und Künstler berühmten Städtchens Czernowitz, damals Rumänien, und hieß früher Erwin; seine Mutter wurde ermordet, sein Vater wurde in ein Lager verschleppt als er noch ein Kind war. Er selbst überlebte den Krieg in den Wäldern und auf Bauern-höfen. Als er nach dem Krieg dann nach Israel einwanderte, hat man ihm sehr stark dazu geraten, seinen Namen zu ändern, was er auch tat - aus Erwin wurde Aharon. In seinem Buch zitiert er seinen Vater: »Ein Mensch, der den Namen wechselt, den ihm seine Eltern gegeben haben, ist nichts wert.« Er hat es, im Gegensatz zu mir, selbst so entschieden und über den Kopf seiner Eltern hinweg getan, die in der Shoah ermordet worden waren. Für ihn war es dann allerdings ein Trauma.
Für mich in gewisser Weise auch, freilich nur im Nachhinein betrachtet: Denn ich habe einen wunderschönen Namen eingetauscht gegen einen, recht freundlich gesagt, wesentlich weniger schönen - meine »Mit-Dieter« mögen es mir nachsehen oder
sogar nachempfinden. Und während Aharon Appelfeld seinen deutschen Namen »israelisierte«, auch um seinen »germanischen« Ursprung zu verdecken, war es bei mir genau umgekehrt:
Der Namenswechsel sollte mein Judentum verbergen. Dass meine Eltern sich dazu obendrein noch einen so »urdeutschen« Namen aussuchten, ist besonders bemerkenswert, ja sogar skuril. Und für mich besonders schade obendrein: Denn den historischen König David bewundere ich selbst ganz besonders, zu-mal er ein so großer Dichter und Musiker gewesen sein soll. Immerhin: Diese unbändige Leidenschaft für Literatur und für Musik teile ich schon mein ganzes Leben lang mit meinem ursprünglichen und berühmten Namensgeber.
Ich kann mich erinnern, die Umbenennung als Kind zumindest als wenig befremdlich empfunden zu haben. Ich bin schließlich aufgewachsen mit den Shoah-Geschichten, so wie andere Kinder mit Grimms Märchen aufwachsen - nur waren meine lei-der wahr, viel grausamer und obendrein auch noch ohne Happy End. Man musste mir deshalb gar nicht erst groß erklären, was es mit meinem Namen auf sich hatte. Ich habe auch damals den Namen Dieter als gar nicht so »schrecklich« empfunden wie später, sondern mir gesagt: »Dann heißt du halt so.« Später habe ich meinen Eltern die Namensänderung bestimmt hundertmal vor-geworfen. Sie hatten aus ihrer Sicht ein starkes Motiv, nämlich die Sicherheit ihres Sohnes. Das habe ich auch immer verstanden. Heute finde ich es ausgesprochen kurios, wahrscheinlich der einzige jüdische Dieter in ganz Deutschland zu sein.
Gleich in der ersten Schulstunde hat uns der Lehrer allerdings gefragt, welcher Religion wir angehören. »Jüdisch«, habe ich natürlich geantwortet. Dass die ganze Namensänderung, ja, die verstörende Verschlimmbesserung meines Namens, also vollkommen zwecklos gewesen war, habe ich meinen Eltern freilich erst viel später als Erwachsener erzählt. Ich wusste doch, wie sehr ihnen das wehgetan und wie viel mehr Sorgen es ihnen verursacht hätte.
Den eigenen Eltern Schmerz zu bereiten nach allem, was sie durchgemacht hatten, das war und ist für viele Juden meiner Generation ein absolutes Tabu. Viele Kinder von Shoah-Überleben-den sind gewissermaßen als die Eltern ihrer Eltern aufgewachsen. Wir haben sie immerzu betreut und beschützt. Wir hatten immer das Gefühl, für sie da sein zu müssen. Das fünfte der Zehn Gebote »Ehre deinen Vater und deine Mutter« stand für uns alle quasi immer an allererster Stelle, es war unsere wichtigste Auf-gabe und war das Gebot der Gebote für uns. Denn wir haben die Wunden unserer Eltern gesehen und empfunden und fühlten uns immer auch dafür verantwortlich, ihren Schmerz, so gut es geht, zu lindern.
Die Maxime, seinen Eltern keine Schwierigkeiten zu bereiten, galt auch für Themen, die nichts mit der Shoah zu tun haben. Ich war zum Beispiel ein sehr guter Schüler. Heute ist es ja populär zu sagen: »Ich war ein schrecklicher Schüler und trotzdem ist noch etwas aus mir geworden.« Aber ich kann mit einer solch dramatischen Geschichte leider so gar nicht dienen. Ich war immer Klassenbester. Und ich freute mich, meinen Eltern damit Freude zu bereiten.
Und ganz nebenbei bemerkt: Deutsch ist sozusagen meine erste Fremdsprache. Bei uns zu Hause wurde natürlich Jiddisch gesprochen - die schönste, lyrischste und kraftvollste Sprache auf der ganzen Welt. Und als Kuriosität habe ich noch in Erinnerung, dass meine erste Deutschlehrerin im Gymnasium einmal meinen Aufsatz für meine gute Sprache lobte und hinzufügte, man merke daran, dass bei mir zu Hause ein vorzügliches Deutsch gesprochen werden müsse. Woher hätte sie auch wissen können, dass meine Eltern mit mir zeitlebens ein kräftiges Jiddisch sprachen, das sie selbst aber für eine Art von speziellem Deutsch hielten?
Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München
Von Anfang an nahm ich mir deshalb fest vor, nicht nur ein-fach Präsident sein zu wollen, sondern dabei wirklich etwas Neues zu bewegen. Denn ich spürte: Die jüdische Gemeinschaft hier verträgt und braucht eine Brise frischen Wind. Das soll gewiss kein tobender Taifun sein. Aber doch die möglichst geglückte Kombination und Komposition von Kontinuität und
8 Wandel, von seriöser Fortführung und von frischer Fantasie.
»Nachgeboren« bin ich selbst mit Sicherheit in kalendarischem Sinn: nach der Shoah geboren. Das lässt sich schwer leugnen. Und »vorbelastet« bin ich ganz gewiss auch. Denn, wie alle meine Freunde und Schicksalsgenossen der zweiten Generation, trage ich in mir für alle Zeit die Traumatisierungen, die unsere Eltern, gequält an Leib und Seele, von der Shoah davongetragen haben.
Gerade deshalb weiß ich, wie schwer wir selbst an diesen Verletzungen der Seele tragen, wie sehr wir selbst darunter leiden. Und gerade deshalb will ich, dass es bei unseren Kindern ganz anders sein möge. Vergessen? Niemals. Aber sich auch nicht immerzu von der Vergangenheit dominieren lassen. Das ist sicher für niemanden gut, am allerwenigsten für uns selbst.
Aus genau diesen Gründen habe ich mir für die Zeit meiner Präsidentschaft so viel vorgenommen. Warum sich bücken, wenn man nach den Sternen greifen will? Was ich erreichen will, von Anfang an, ist daher ein richtiggehender Mentalitätswechsel, eine Perspektivänderung: nicht nur Vergangenheit, sondern Vergangenheit plus viel mehr Zukunft.
Auch in der öffentlichen Wahrnehmung muss sich, so nehme ich mir nach meinen Erfahrungen vor, einiges ändern: Viel zu lange waren wir in Deutschland die Kritiker vom Dienst, oft an-getrieben von den »bösen, bösen Journalisten«, denen wir, wenn sie danach fragten, bereitwillig Rede und Antwort standen zu den immergleichen Themen: Antisemitismus und Shoah. Natürlich haben wir diesen Bedarf allesamt - und sicher auch ich selbst in der Vergangenheit - zu häufig und zu bereitwillig bedient. Das muss sich nunmehr ändern, nehme ich mir vor, denn das hat uns als Juden in Deutschland nicht gut getan.
Zum angestrebten Akzentwechsel gehört deshalb auch: gestalten statt meckern, inspirieren statt nur immer kritisieren. Den
jüdischen Dauermahnsinn müssen wir nicht für ewig auf unserem politischen Spielplan haben.
Auf der anderen Seite müssen wir uns aber doch mit Leidenschaft
engagieren, wo wir gefordert sind: Und tatsächlich ergaben sich
schon in den ersten beiden Jahren meiner Amtszeit vielfältige Anlässe, bei denen wir uns wieder kritisch zu Wort zu melden hat-ten. Oft frage ich mich dann selbstkritisch: Sind wir so nicht schon wieder flugs in der Dauer-Mecker-Ecke gelandet, die ich doch unbedingt endlich verlassen wollte? Aber wenn es um unsere Kernbereiche geht, müssen wir uns einfach kämpferisch engagieren. Ohne uns in irgendeiner Weise überheben zu wollen, bleibt doch die Frage: Wer, wenn nicht wir, soll denn warnen? In so vielen wichtigen Fällen sind wir vom Zentralrat der Juden tat-sächlich mit die Ersten, und nicht selten wirklich die Allerersten, die sich mit begründeter Kritik öffentlich zu Wort melden.
Zum Beispiel, wenn es um antisemitische Ansätze erst in der Linkspartei, später sogar in der neuen Piratenpartei geht, wenn es sich um das längst überfällige NPD-Verbot handelt, wenn die Morde des Rechtsterrors in Deutschland sprachlich verharmlosend als »Döner-Morde« tituliert und so ein wenig verniedlicht werden, wenn ein plötzlich durch und durch »grässliches« Gedicht erscheint oder wenn es darum geht, dem hochkriminellen Horror-Regime in Teheran mit viel mehr Entschlossenheit entge-genzutreten. Ich stelle fest: Auf die wache und kritische Stimme des Zentralrats der Juden, der in vielen Fällen rasch die richtigen politischen Instinkte offenbart, kann die deutsche Öffentlichkeit offenbar noch lange nicht verzichten. Und keine Sorge: Keiner muss so rasch auf uns verzichten. Wir Juden suchen diese und andere Konflikte gewiss nicht. Vielmehr finden solche Konflikte schon uns, und das so viel häufiger übrigens, als wir uns das selbst wünschen würden. Und doch: Wir wollen, so nehme ich mir vor, nicht mehr reflexhaft und gewohnheitsmäßig poltern, sondern uns die Felder, in denen wir uns entschlossen einsetzen, selbst wählen: Es sind am Ende, stelle ich selbstkritisch mit Er-schrecken fest, doch viele mehr, als ich es eigentlich wollte.
Zum Akzentwechsel gehört auch mein fester Vorsatz, das Judentum künftig moderner, frischer und vor allem positiv zu positionieren - in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in unserer eigenen Selbsteinschätzung. Also: positiv und licht statt trist und düster. Denn viel zu wenig sind leider die großen, immensen Schätze des Judentums bekannt, erstaunlicherweise auch uns selbst. Und diese Schätze müssen wir uns erst einmal selbst wie-der bewusst machen und sie mit Inhalt und Zukunft füllen, um sie dann mit Begeisterung nach außen tragen zu können. Mein Instinkt sagt mir: Wir müssen zeigen, dass das Judentum ganz anders ist, als es sich in den Köpfen zu vieler Menschen hierzu-lande festgesetzt hat. Eben gerade nicht primär traurig und dunkel und dauerkritisch, sondern sehr wohl heiter und frisch und lebensfroh.
Und vor allem darf man das Judentum, das ist meine tiefe Überzeugung, gerade nicht nur auf die Leidensgeschichte und auf den Kampf gegen den Judenhass reduzieren - so wichtig das alles mit Sicherheit immer bleiben wird - weil es tatsächlich doch so viel mehr bedeutet: nämlich eine ganze Galaxie von Wissen und von Werten, eine gewaltige moralische Dimension, von der so viele noch heute zehren (nicht zuletzt das Christentum), aber auch eine Infusion von Sinn und Substanz und gehaltvoller Überlieferung und darüber hinaus so viele Traditionen. Das al-les, und noch vieles mehr, wird nun weitergetragen in einer unglaublich langen Kette von mehr als hundert Generationen. Ein solcher Tradierungsprozess ist tatsächlich einzigartig, und es treibt mich persönlich auch sehr stark an, dass wir diese kostbare Kette weiterknüpfen.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist ein wunderbares Beispiel dafür: Geprägt durch die starke Zuwanderung von jüdischen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in den vergangenen 20 Jahren, haben wir heute eine ganz besondere Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft. Unsere neuen Mitglieder, die mittlerweile rund 90 Prozent unserer Gemeinschaft ausmachen, sind für uns ein wirkliches Glück und ein Se-gen. Wir sind dafür jeden Tag unendlich dankbar. Sie stärken und bereichern uns und geben uns so eine ganz neue Zukunft und Perspektive.
Und wir wollen nun, das ist mein ganz persönliches Ziel, gerade in Deutschland, gerade allen Katastrophen der Vergangenheit zum Trotz und gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, jetzt eine neue und vor allem auch positive jüdische Gemeinschaft aufbauen, deren Zukunft im Grunde ein Wunder ist, mit dem ursprünglich keineswegs zu rechnen war. Aber Wunder sind für uns keine Kuriosität, sondern fast schon jüdische Spezialität. Diese neue, plurale jüdische Gemeinschaft wollen wir in Deutschland nunmehr aufbauen, kreativ und innovativ, mit den unendlich vielen positiven Dimensionen, die das Judentum nun einmal zu bieten hat. Das ist mein Wunsch, mein Ziel, das ist mein persönlicher »kühner Plan«: eine gewaltige Herausforderung, aber auch eine grandiose Chance.
Wege im Leben und
im Zentralrat -
Biografische Notizen
»Der erste Zentralrats-Präsident, der nicht in der Shoah war« - das wurde nach meiner Wahl immer wieder in vielen Medienberichten fast wie ein Mantra wiederholt. Diese kalendarische Tatsache ist nicht zu bestreiten. Aber: Ist sie denn wirklich derart verwunderlich, gar sensationell? Rund siebzig Jahre nach der Shoah ist das doch schon alleine zahlenmäßig nahezu zwangsläufig. Es ist keine Frage der Moral, sondern der Mathematik, es betrifft mehr die Arithmetik als die Ethik.
Nicht zu leugnen ist schließlich: Inzwischen sind leider wirklich immer weniger Zeitzeugen unter uns. Darauf hinzuweisen, vergisst kaum jemand, der sich in letzter Zeit geäußert hat, sei es
aus Anlass der »Woche der Brüderlichkeit«, zum »Internationalen Holocaustgedenktag« am 27. Januar oder an einem 9. November. Ja, die Menschen, die selbst in den Konzentrations- und Arbeitslagern waren oder das »Glück« hatten, einen geheimen Unterschlupf zu finden, werden schon bald nicht mehr da sein,
um uns ihre Leidens- und Überlebensgeschichte in dieser besonderen, intensiven und vor allem so authentischen Art und Weise zu erzählen.
Eines sollten wir jedoch nicht außer Acht lassen: dass so viele andere, die die Konzentrationslager gar nicht selbst erlebt haben, dennoch die Shoah in sich tragen. So ist es bei mir. Und wie Elie Wiesel zudem einmal sagte: »Wer einem Zeitzeugen zuhört, der wird selbst zu einem.« In Zukunft müssen wir also die Stimme für unsere Zeitzeugen sein. Wir müssen und werden ihre Geschichten, aber auch ihre Emotionen weitertragen. Deswegen la-den wir auch gerade junge Menschen ein, heute ganz besonders gut zuzuhören und zu versuchen, zwischen dem Gesagten das Gefühlte zu verstehen. Dann werden die Geschichten und das Vermächtnis der Überlebenden für immer am Leben gehalten. Umso wichtiger wäre es, wenn Zeitzeugen, auch nunmehr der zweiten Generation, viel häufiger in Schulen eingeladen würden, um direkt mit den jungen Menschen von heute zu sprechen.
Als Zeitzeuge der zweiten Generation weiß ich aus eigener Erfahrung, wie unerlässlich die Kontinuität der Erzählung ist. Ich kam 1950 auf die Welt und bin somit wirklich in diesem Sinne auch »nachgeboren«. Viele sehen die Shoah tatsächlich als Referenzpunkt in der Geschichte des jüdischen Volkes, ab dem jüdisches Leben wieder fast neu oder zumindest ganz anders begann. Als hätte man sozusagen abrupt eine imaginäre »Reset«- Taste gedrückt, so als würde die Zeitrechnung für das jüdische Volk nochmals fast ganz von vorn beginnen. Sicherlich bedeutet dies nicht, dass man etwa die Bedeutung der jahrtausendealten Geschichte schmälert. Aber schaut man sich alleine die heutzutage sehr häufig in unseren Gemeinden gefeierten Jubiläen an, so wird einem schnell klar, dass selbst ein vermeintlich »junger« Jahrestag, wenn etwa das fünfzigjährige Jubiläum einer wieder aufgebauten Synagoge gefeiert wird, etwas ganz Besonderes ist und mit größter Freude zelebriert wird. Denn hierzulande hat das gefühlte jüdische Leben tatsächlich doch wieder fast von null begonnen zu wachsen. Auf den Ruinen der Shoah wurde eine neue jüdische Zukunft gebaut. Deswegen ist jedes noch so kleine Jubiläum ein Grund zum Feiern. Man kann fast sagen: Seit dem Holocaust tickt die Zeit viel intensiver und vor allem bedeutungsvoller für uns. Jedes neue Jahr, in dem wieder neues jüdisches Leben in Deutschland gefeiert wird, bedeutet nämlich wirklich ein Jahr mehr, als man es sich nach dem Zweiten Welt-krieg jemals hätte vorstellen und erträumen können.
Es stimmt also im wörtlichen Sinne, dass ich nach dem Holocaust geboren wurde. Und doch stimmt es auch so gar nicht. Denn wir Kinder der Überlebenden waren zwar nicht in der Shoah, aber die Shoah ist doch immer in uns. Auch ich zähle zu den Nachkommen der Holocaust-Überlebenden, auch wir sind Zeitzeugen und auch wir können und sollen dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Shoah nicht zwischen Buchdeckeln vergilbt. Nicht weil ich meine private Geschichte für besonders mitteilenswert halte, sondern weil sie stellvertretend für so viele andere meiner, der zweiten Generation steht, will ich sie hier erzählen.
»Ab heute heißt du Dieter«
Um zu illustrieren, wie es jemanden prägt, als Kind von Holocaust-Überlebenden aufzuwachsen, will ich berichten, was es mit meinem Vornamen »Dieter« auf sich hat. Bis zum sechsten Lebensjahr hieß ich »David« - ich wurde in Israel geboren und kam mit 18 Monaten nach Deutschland. Nach Israel waren meine Eltern nach dem Krieg emigriert, sie wollten nicht im »Land der Täter« leben. Doch mein Vater, gesundheitlich schwer angeschlagen durch die verschiedenen Konzentrationslager, die er er-leiden musste, vertrug das heiße, schwüle Klima in Israel überhaupt nicht.
Also zogen meine Eltern weiter, immer noch auf der Suche nach dem neuen Zuhause für ihr wieder zurückgewonnenes Le-ben. Auf ihrem israelischen Pass stand »Prat Germania« - über-all gültig, außer in Deutschland. So kamen wir zuerst nach Frank-reich, und später erhielten meine Eltern auch die begehrte Greencard für die Vereinigten Staaten. Doch wie so oft im Leben sorgt das Zusammenspiel von Zufällen und Gegebenheiten da-für, dass man von seinem »Plan« abweichen, ihn verschieben oder am Ende sogar verwerfen muss. Meine Eltern wandten sich dann doch Deutschland zu. Sie dachten, es sei nur kurz, vorerst und vorläufig. Hier besuchten sie ihre Freunde aus dem Dis-placed Persons-Camp in Zeilsheim, westlich von Frankfurt - irgendwie die einzige gefühlte Familie angesichts der Vernichtung aller Angehörigen. Sie teilten die gleichen Albträume, die gleichen Sehnsüchte, die gleiche Traurigkeit, die gleiche Mischung aus Mut und Schwermut - die gemeinsame Leidensgeschichte machte die Menschen zu Brüdern und Schwestern. So sind meine Eltern und ich am Ende also in Deutschland »hängen geblieben«. Immer saßen meine Eltern hier auf den inzwischen sprich-wörtlich gewordenen »gepackten Koffern«, für sie war es ein immerzu gefühltes »Provisorium«. Doch aus unserer langen jüdischen Geschichte wissen wir: Selten gibt es etwas Dauerhafteres im Leben als ein Provisorium. Wir waren in Deutschland. Und meine Eltern und ihre Freunde lebten hier fortwährend mit zerrissenen Herzen und mit verwundeten Seelen.
Als ich in die Schule kommen sollte, war es natürlich ein ganz besonderer Tag für mich. Ich freute mich auf neue Schulsachen, neue Freunde, neues Wissen. Dass ich allerdings bei dieser Gelegenheit auch einen neuen Namen erhalten sollte, das wusste ich noch nicht. Als mein erster Schultag dann endlich gekommen war, stellten meine Eltern mich vor den Spiegel im Schlafzimmer, nahmen mich in die Mitte und sagten feierlich: »David! Ab heute heißt du Dieter.« An diesen Moment kann ich mich ganz genau erinnern, an jedes Wort, an dieses Abbild im Spiegel. Schließlich geschieht es doch nicht alle Tage im Leben, dass man seinen Namen ändert. »David«, das klang meinen Eltern damals viel zu jüdisch - sie hatten Angst um mich, Angst davor, dass ich in der Schule zu rasch als jüdischer Junge identifiziert werden könnte. Denn damals war es noch keineswegs »modern«, so wie heute, sich biblischer Namen zu bedienen.
Genau andersherum war es zum Beispiel bei Aharon Appel-feld, wie er uns in seinem autobiografischen Roman »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« schildert. Der israelische Schrift-steller stammt aus der Nähe des auch für seine jüdischen Dichter und Künstler berühmten Städtchens Czernowitz, damals Rumänien, und hieß früher Erwin; seine Mutter wurde ermordet, sein Vater wurde in ein Lager verschleppt als er noch ein Kind war. Er selbst überlebte den Krieg in den Wäldern und auf Bauern-höfen. Als er nach dem Krieg dann nach Israel einwanderte, hat man ihm sehr stark dazu geraten, seinen Namen zu ändern, was er auch tat - aus Erwin wurde Aharon. In seinem Buch zitiert er seinen Vater: »Ein Mensch, der den Namen wechselt, den ihm seine Eltern gegeben haben, ist nichts wert.« Er hat es, im Gegensatz zu mir, selbst so entschieden und über den Kopf seiner Eltern hinweg getan, die in der Shoah ermordet worden waren. Für ihn war es dann allerdings ein Trauma.
Für mich in gewisser Weise auch, freilich nur im Nachhinein betrachtet: Denn ich habe einen wunderschönen Namen eingetauscht gegen einen, recht freundlich gesagt, wesentlich weniger schönen - meine »Mit-Dieter« mögen es mir nachsehen oder
sogar nachempfinden. Und während Aharon Appelfeld seinen deutschen Namen »israelisierte«, auch um seinen »germanischen« Ursprung zu verdecken, war es bei mir genau umgekehrt:
Der Namenswechsel sollte mein Judentum verbergen. Dass meine Eltern sich dazu obendrein noch einen so »urdeutschen« Namen aussuchten, ist besonders bemerkenswert, ja sogar skuril. Und für mich besonders schade obendrein: Denn den historischen König David bewundere ich selbst ganz besonders, zu-mal er ein so großer Dichter und Musiker gewesen sein soll. Immerhin: Diese unbändige Leidenschaft für Literatur und für Musik teile ich schon mein ganzes Leben lang mit meinem ursprünglichen und berühmten Namensgeber.
Ich kann mich erinnern, die Umbenennung als Kind zumindest als wenig befremdlich empfunden zu haben. Ich bin schließlich aufgewachsen mit den Shoah-Geschichten, so wie andere Kinder mit Grimms Märchen aufwachsen - nur waren meine lei-der wahr, viel grausamer und obendrein auch noch ohne Happy End. Man musste mir deshalb gar nicht erst groß erklären, was es mit meinem Namen auf sich hatte. Ich habe auch damals den Namen Dieter als gar nicht so »schrecklich« empfunden wie später, sondern mir gesagt: »Dann heißt du halt so.« Später habe ich meinen Eltern die Namensänderung bestimmt hundertmal vor-geworfen. Sie hatten aus ihrer Sicht ein starkes Motiv, nämlich die Sicherheit ihres Sohnes. Das habe ich auch immer verstanden. Heute finde ich es ausgesprochen kurios, wahrscheinlich der einzige jüdische Dieter in ganz Deutschland zu sein.
Gleich in der ersten Schulstunde hat uns der Lehrer allerdings gefragt, welcher Religion wir angehören. »Jüdisch«, habe ich natürlich geantwortet. Dass die ganze Namensänderung, ja, die verstörende Verschlimmbesserung meines Namens, also vollkommen zwecklos gewesen war, habe ich meinen Eltern freilich erst viel später als Erwachsener erzählt. Ich wusste doch, wie sehr ihnen das wehgetan und wie viel mehr Sorgen es ihnen verursacht hätte.
Den eigenen Eltern Schmerz zu bereiten nach allem, was sie durchgemacht hatten, das war und ist für viele Juden meiner Generation ein absolutes Tabu. Viele Kinder von Shoah-Überleben-den sind gewissermaßen als die Eltern ihrer Eltern aufgewachsen. Wir haben sie immerzu betreut und beschützt. Wir hatten immer das Gefühl, für sie da sein zu müssen. Das fünfte der Zehn Gebote »Ehre deinen Vater und deine Mutter« stand für uns alle quasi immer an allererster Stelle, es war unsere wichtigste Auf-gabe und war das Gebot der Gebote für uns. Denn wir haben die Wunden unserer Eltern gesehen und empfunden und fühlten uns immer auch dafür verantwortlich, ihren Schmerz, so gut es geht, zu lindern.
Die Maxime, seinen Eltern keine Schwierigkeiten zu bereiten, galt auch für Themen, die nichts mit der Shoah zu tun haben. Ich war zum Beispiel ein sehr guter Schüler. Heute ist es ja populär zu sagen: »Ich war ein schrecklicher Schüler und trotzdem ist noch etwas aus mir geworden.« Aber ich kann mit einer solch dramatischen Geschichte leider so gar nicht dienen. Ich war immer Klassenbester. Und ich freute mich, meinen Eltern damit Freude zu bereiten.
Und ganz nebenbei bemerkt: Deutsch ist sozusagen meine erste Fremdsprache. Bei uns zu Hause wurde natürlich Jiddisch gesprochen - die schönste, lyrischste und kraftvollste Sprache auf der ganzen Welt. Und als Kuriosität habe ich noch in Erinnerung, dass meine erste Deutschlehrerin im Gymnasium einmal meinen Aufsatz für meine gute Sprache lobte und hinzufügte, man merke daran, dass bei mir zu Hause ein vorzügliches Deutsch gesprochen werden müsse. Woher hätte sie auch wissen können, dass meine Eltern mit mir zeitlebens ein kräftiges Jiddisch sprachen, das sie selbst aber für eine Art von speziellem Deutsch hielten?
Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München
... weniger
Autoren-Porträt von Dieter Graumann
Dr. Dieter Graumann, geb. 1950 in Ramat Gan (Israel), kam als Kleinkind mit seinen Eltern nach Deutschland. Studium in London und Frankfurt, dort in der jüdischen Gemeinde engagiert. Seit 2001 Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden, ab 2006 Vize-Präsident und seit 2010 Präsident. Der verheiratete Vater zweier erwachsener Kinder betreibt eine Liegenschaftsverwaltung in Frankfurt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter Graumann
- 2012, 219 Seiten, Maße: 14,3 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kösel
- ISBN-10: 3466370515
- ISBN-13: 9783466370511
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
Rezension zu „Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet? “
Aufgrund der Balance zwischen schonungsloser Gesellschaftsanalyse und gelegentlicher relativierender Selbstkritik zeigt das Buch Perspektiven auf, wie das Zusammenleben der Deutschen gleich welcher Ausrichtung gelingen kann.
Kommentar zu "Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet?"
0 Gebrauchte Artikel zu „Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet?“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Graumann, D: Nachgeboren - vorbelastet?".
Kommentar verfassen