Nacht über Algier
Kommissar Llob, ein glückloser, aber durch und durch integrer Polizeibeamter in Algier, möchte verhindern, daß die algerische Justiz einen gewalttätigen Psychopathen begnadigt. Gleichzeitig bereitet ihm sein junger Assistent Sorgen, der sich mit der Frau von Haj Thobane, einem der einflußreichsten Männer Algiers, eingelassen hat. Das Unglück läßt nicht lange auf sich warten: Schon bald schiebt Haj Thobane seinem Nebenbuhler einen Mord in die Schuhe. Llob kann sich die Umstände des Verbrechens nicht erklären. Zusammen mit der Journalistin Soria stürzt er sich in halsbrecherische private Ermittlungen, die ihn auf die Spur kaltblütiger Verbrechen der gesellschaftlichen Elite führen. Eine Entdeckung, die Llob lieber nicht gemacht hätte.Hinter der kriminalistischen Suche nach Drahtziehern und Strohmännern deckt der Autor die Situation seines Landes zwischen Bürgerkrieg und Korruption, Angst und Terror, Manipulation und religiösem Fanatismus auf.
Nacht über Algier von Yasmina Khadra
LESEPROBE
Man könnte meinen, die Erde hätteaufgehört sich zu drehen.
Mit jeder Minute habe ich dasGefühl, mich aufzulösen, jeder Augenblick, der vergeht, scheint ein Stück vonmir mit sich fortzureißen.
Eine trostlose Ruhe lastet über derStadt. Alles plätschert vor sich hin. Die Leute gehen ihren Geschäften nach,die alten Mütterchen dämmern vor sich hin - und kein einziges Verbrechen inSicht. Für einen dynamischen Polizeikommissar ist das wie ein Schiff auf demTrockendock.
Nachdem der Verrückte mit dem Skalpell unschädlich gemachtworden ist, atmet Algier wieder auf. Man geht spät schlafen und kommt nurschwer aus den Federn. Der Wohlfahrtsstaat gibt sich dem Nichtstun genausostumpfsinnig hin wie seine Entscheidungsträger. Von morgens bis abends hängendie Leute faul herum, bohren in der Nase, den Blick ins Leere gerichtet. Manahnt wohl, daßetwas Schreckliches in der Luft liegt, aber niemand schert sich darum.Wir Algerier handeln nicht vorausschauend, sondern erst, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.
Die Sintflut steht kurz bevor, aberwir tun so, als ginge uns das nichts an. Unsere hochheiligen Führer sind auf der Hut, die Mülltonnen quellenüber von Lebensmitteln, und die Wirtschaftskrise, die den Planeten bedroht,halten wir für einen Kometen.
Mit einemWort, wir leben wie im Schlaraffenland.
Es hat die ganze Nacht geregnet. Biszum Morgen tobte der Wind über der Stadt. Erst mit der Dämmerung lichtete sichder Himmel, und über den Dächern der Stadt brach eine trübe Rembrandtsche Sonnedurch. Der Winter hat noch nicht mal seine Grautöne eingepackt, und schon istder Sommer da, schaltet den Frühling einfach aus. Wie Sternschnuppen strahlendie jungen Mädchen mit ihren hübschen Puppengesichtern und ihren wippendenHintern in den Straßen. Eine Augenweide. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre,würde ich sie alle heiraten.
Ich versuche etwas Ungewöhnliches ander Wand gegenüber zu entdecken, um darüber nachsinnen zu können. Seit Monatendrehe ich Däumchen. Kein Einbruch, keine Hundeentführung - nichts. Als obAlgier sich weigerte, mit mir zusammenzuarbeiten.
Ich habe meinen Kaffee bis auf denletzten Tropfen ausgetrunken, und die zahllosen Arabesken, die ich wie abwesendauf meine Schreibunterlage gekritzelt habe, sind alle entziffert; aber nichtszu machen, die Zeiger der Wanduhr rühren sich nicht. Es ist 15 Uhr 15, und allmählichwird mir die Zeit lang.
Bedrohlich und höhnisch grinsendblickt der Raïs, der Präsident der Republik, ausseinem Goldrahmen auf mich herab. Tausendmal bin ich schonaufgestanden und wollte ihn abhängen, aber tausendmal fürchtete ich, den Zorndes Himmels auf mich zu ziehen. Einsichtig und geduldig ertrage ich also meinSchicksal, bis uns die nächste Revolution einen weniger trockenen Windgottbeschert.
Da kommt auf einmal Lino, ohne anzuklopfen, in mein Kabuff reingeschneit.
»He, Kommy, was sagst du dazu?« platzter los und dreht sich dabei, in Schale geworfen wie ein monegassischer Prinz,um die eigene Achse.
»Tolle Leistung, für so eine Pfeifewie dich.«
»Gefall ich dir nicht?«
Ich zeige ihm meinen Ehering.
Er grinst, geht zur Fenstertür undbetrachtet sich darin. Sichtlich zufrieden, setzt er seine Imperialistenbrillewieder auf und streicht sich behutsam über die Schmalztolle. Er zeigt mir dasInnenfutter seines Jacketts.
»Pierre Cardin: 8500 Mäuse.Gnadenlos. Hose von Lacoste: 4500. Hemd von Kenzo, reine Seide: 2245. Und Schuhe von Dodoni, echt Krokodil; Kho - für9995.«
»Jetzt begreife ich endlich, warumso manche Rebellion mangels Pulver im Sande verlaufen ist. Lotto oderErpressung?«
»Lohnstreifen und Sparschwein ...Wie findest du mich?«
»Seltsam.«
»Du kannst einem wirklich die Launeverderben, Chef! Übrigens, rate mal, wohin ich heute abendessen gehe?«
Keine Ahnung.«
»Ins Sultanat bleu, den nobelstenLaden in der ganzen Bucht: Das Essen ist da so gut, selbst ausgeschissen kannman es noch in einem Fast-food-Restaurant servieren.«
»Du hast also doch im Lotto gewonnen.«
»Irrtum. Es stimmt allerdings, daß ich 'nen Volltreffer gelandethabe, und zwar bei einer Dame. In einer halben Stunde bin ich mit ihrverabredet.«
»Wo istdeine Knarre?«
Übersetzung:Frauke Rother
©Aufbau-Verlag
- Autor: Yasmina Khadra
- 2006, 2, 402 Seiten, Maße: 12,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Rother, Frauke
- Verlag: Aufbau-Verlag
- ISBN-10: 3351030649
- ISBN-13: 9783351030643
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