Norfolk, L: Festmahl des John Saturnall
Lasst das Fest beginnen!
Vor 20 Jahren erschien "Lemprière's Wörterbuch" und machte Lawrence Norfolk über Nacht zum Star der internationalen Literaturszene. Nun legt er nach langem Schweigen einen neuen, grandiosen Roman vor. In ihm...
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Produktinformationen zu „Norfolk, L: Festmahl des John Saturnall “
Lasst das Fest beginnen!
Vor 20 Jahren erschien "Lemprière's Wörterbuch" und machte Lawrence Norfolk über Nacht zum Star der internationalen Literaturszene. Nun legt er nach langem Schweigen einen neuen, grandiosen Roman vor. In ihm erzählt er die Geschichte eines Waisen, der im 17. Jahrhundert zum bedeutendsten Koch seiner Epoche wird - ein Fest für die Sinne und den Intellekt.
England im 17. Jahrhundert. Als John seine Mutter verliert, hat er als Sohn einer angeblichen Hexe nur eine Chance, den Religionsfanatikern zu entkommen: Er muss seine vertraute Umgebung verlassen und das Herrenhaus von Buckland erreichen. Hier werden er und das von seiner Mutter überlieferte geheime Wissen um Pflanzen und Rezepte sicher sein. In Buckland steigt John vom Küchenjungen schnell zum Koch auf. Er versteht es, Lucretia, die verwöhnte Tochter von Sir William, mit seinen Kochkünsten zu betören. Aber Krieg und Standesunterschiede lassen kaum Platz für die Liebe zwischen dem berühmtesten Koch des Landes und der Lady von Buckland.
Lawrence Norfolk zeigt sein Liebespaar inmitten eines von politischen und religiösen Kämpfen zerrissenen Landes. Johns magische Rezepte und seine Geschichten aus jener Zeit, als Frauen und Männer, Herren und Knechte frei, gleich und glücklich ein sinnliches Fest feierten, sind wie ein Versprechen und schützen ihre Liebe vor Fanatismus, Gewalt und Verzweiflung.
Klappentext zu „Norfolk, L: Festmahl des John Saturnall “
Lasst das Fest beginnen! Vor 20 Jahren erschien »Lemprière's Wörterbuch« und machte Lawrence Norfolk über Nacht zum Star der internationalen Literaturszene. Nun legt er nach langem Schweigen einen neuen, grandiosen Roman vor. In ihm erzählt er die Geschichte eines Waisen, der im 17. Jahrhundert zum bedeutendsten Koch seiner Epoche wird - ein Fest für die Sinne und den Intellekt. England im 17. Jahrhundert. Als John seine Mutter verliert, hat er als Sohn einer angeblichen Hexe nur eine Chance, den Religionsfanatikern zu entkommen: Er muss seine vertraute Umgebung verlassen und das Herrenhaus von Buckland erreichen. Hier werden er und das von seiner Mutter überlieferte geheime Wissen um Pflanzen und Rezepte sicher sein. In Buckland steigt John vom Küchenjungen schnell zum Koch auf. Er versteht es, Lucretia, die verwöhnte Tochter von Sir William, mit seinen Kochkünsten zu betören. Aber Krieg und Standesunterschiede lassen kaum Platz für die Liebe zwischen dem berühmtesten Koch des Landes und der Lady von Buckland. Lawrence Norfolk zeigt sein Liebespaar inmitten eines von politischen und religiösen Kämpfen zerrissenen Landes. Johns magische Rezepte und seine Geschichten aus jener Zeit, als Frauen und Männer, Herren und Knechte frei, gleich und glücklich ein sinnliches Fest feierten, sind wie ein Versprechen und schützen ihre Liebe vor Fanatismus, Gewalt und Verzweiflung.
Lese-Probe zu „Norfolk, L: Festmahl des John Saturnall “
Das Festmahl des John Saturnall von Lawrence Norfolk 1. Kapitel
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Die Packpferde stapften langsam zum Tal hinunter. In den Schwaden grauen Nieselregens schaukelten die Tiere unter der Last von Kisten und Säcken. An ihrer Spitze kämpfte eine große Gestalt gegen den Regen an, als wollte sie die Pferde von dem dunklen Dorf weiter oben fortziehen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht, der neben der Holzbrücke unten im Tal stand, spähte unter seiner tropfnassen Hutkrempe hervor und rang sich ein Grinsen ab.
Wasser sickerte durch die Nähte von Benjamin Martins Stiefeln. Der Regen durchweichte seinen Umhang. In dem Bündel zu seinen Füßen befand sich die Fracht, die im Gutshaus abzuliefern er sich verpflichtet hatte. Seit fast einer Woche war er unterwegs. An diesem Morgen hatte noch das ganze Tal vor seinen wundgelaufenen Füßen gelegen. Und dann hatte er die Packpferde entdeckt.
Bens Grinsen wurde breiter und verlieh seinem Gesicht ein Aussehen, das an ein gähnendes Pferd erinnerte. Er dehnte die schmerzenden Schultern und blickte hinauf.
Hinter dem Treiber trabte eine Schecke, gefolgt von einem Braunen, und danach kamen zwei dunkelbraune Ponys. Bens Blick blieb auf das Ende des Zugs gerichtet. Hinter den Pferden schleppte sich ein Maultier dahin. Ein Maultier, das nichts weiter zu befördern schien als einen Haufen regendurchnässter Lumpen. Selbst ein Tier ohne Last musste fressen, dachte sich Ben. Der Treiber würde einverstanden sein. Wieder blickte er den Hang zum Dorf hinauf.
Die Häuser zeigten kein Licht. Aus den Schornsteinen stieg kein Rauch. An den Berghängen, die bis zu den dunklen Bäumen weit oben reichten, bewegte sich nichts. Niemand wusste, was geschehen war, hatten die Männer aus Flitwick am Abend zuvor in dem Gasthaus gesagt. Keine Menschenseele war den ganzen Winter über oben in Buckland gewesen.
Das Dorf, das Tal, das Gutshaus am anderen Ende; alle trugen den Namen Buckland. Wie einen gemeinsamen Fluch, dachte Ben. Er richtete den Blick auf die rußgeschwärzte Kirche und dann auf den Wald. Es ging ihn nichts an, sagte er sich. Wenn die Packpferde unten angekommen wären, würde er sich mit dem Treiber verständigen. Das geheimnisvolle Bündel konnte mit den nassen Lumpen auf dem Maultier weiterreisen. Es konnte ohne ihn zum Gutshaus gelangen. Zu diesem »Master Scovell«, wer immer das sein mochte. Ben trat gegen das verhasste Bündel.
Die Tiere kamen an einer Reihe Staketen aus gespaltenen Eichenstangen vorbei. Der kalte Regen durchnässte ihm die Stiefel bis zu den Kniehosen. Bens Gedanken wanderten nach Soughton und zu dem warmen Hinterzimmer abends im Dog. Heute Abend wäre er auf dem Rückweg. Master Fessler würde ihn wieder nehmen, davon war er überzeugt. Nie wieder würde er diesen Ort eines Blicks würdigen.
Mit drei langen Schritten nahm der Treiber die letzte steile Böschung. Die gescheckte Stute folgte schaukelnd, die zwei Packkisten schwankten auf ihrem Rücken. Joshua Palewick hatten sie den mageren grauhaarigen Mann in dem Gasthaus in Flitwick genannt. Dann kam der Braune mit gleicher Fracht. Die zwei Ponys waren mit Körben und Säcken beladen. Und zuletzt das Maultier, das nur ein Bündel Lumpen trug und hinkte. Ben richtete sich auf. Das Einzige, was ein Packpferdtreiber noch härter anging als seine Tiere, war ein Geschäft, rief er sich ins Gedächtnis. Ein Penny per Meile war ein gutes Angebot für ein hinkendes Maultier. Die Tiere platschten durch Schlamm und Pfützen. Er hob eine Hand zum Gruß. Da bewegte sich das Lumpenbündel auf dem Rücken des Maultiers.
Ein Windstoß, sagte sich Ben. Oder eine Laune des schwindenden Lichts. Doch im nächsten Augenblick sah er, dass dem nicht so war.
Aus den Lumpen tauchte ein Kopf auf. Aus dem Kopf starrte ein Augenpaar. In den Lumpen steckte ein Junge.
Spitze Backenknochen traten aus seinen Wangen hervor. Seine Haare waren eine verfilzte Matte nasser schwarzer Locken. Sein Körper war in einen durchnässten blauen Überrock gehüllt. Der junge Reiter hing unbeholfen über dem Hinterteil des Maultiers und rutschte hin und her, als würde er im nächsten Augenblick herunterfallen. Doch das stand nicht zu befürchten, erkannte Ben, als das Maultier sich näherte. Dicke Seile waren um die Handgelenke des Jungen geschlungen. Man hatte ihn am Sattel festgebunden.
Der Treiber blieb stehen.
»Ben Martin«, sagte Ben in beiläufigem Ton. »Habe eine Fracht für das Gutshaus von Buckland. Für einen Mann namens Scovell.«
»Ich kenne Richard Scovell«, sagte Joshua Palewick. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Und dich kenne ich auch. Du warst in dem Gasthaus in Flitwick.«
Ben nickte. Hinter dem Treiber sah der Knabe von seinem Maultier aus her; der Regen troff von seinen dunklen Augenbrauen und tropfte ihm in die Augen. Außerstande, die Tropfen wegzuwischen, verzog er das Gesicht und blinzelte. Sein Blick schien durch die zwei Männer hindurchzugehen.
»Pack es bei ihm mit drauf«, schlug Ben vor. »Ein Penny per Meile ist ein gutes Angebot. Der Weg ist nicht so schlecht ...«
»So, so?« Josh hob eine Augenbraue. »Dann hab ich mir das wohl eingebildet. Die letzten dreißig Jahre lang.«
Ben rang sich ein Grinsen ab. »Einen halben Penny mehr«, bot er an.
Joshua Palewick schüttelte den Kopf. »Der Junge reitet allein. Ist so mit dem Priester vereinbart.«
Beklommenheit überkam Ben. »Ich zahl mehr«, sprudelte es aus ihm heraus. Aber Joshs Miene verfinsterte sich.
»Nicht mit mir«, sagte er kurz angebunden. »Ich hab es mit Handschlag abgemacht.«
Er zog am Zügel, und die Pferde setzten sich in Bewegung. Der schmale Körper des Jungen schaukelte hierhin und dorthin. Hufe klapperten über die Brücke, als die Tiere davontrabten.
Widerstreitende Gefühle stiegen in Ben auf. Er würde das Bündel ins Wasser werfen, beschloss er. Behaupten, er hätte es nie gesehen. Nur Palewick würde Bescheid wissen. Und dieser Junge, wer immer er sein mochte. Und dieser Scovell, wenn Palewick es ihm erzählte. Und der dunkelhäutige Mann, der ihm in Soughton den Auftrag gegeben hatte. Dieser Maure oder Jude oder was auch immer. Almery ...
Er hätte Soughton nie verlassen sollen. Sich nie tropfnass mit wundgelaufenen Füßen auf einer vom Regen gepeitschten Brücke am Eingang des Tals von Buckland einfinden sollen. Das warme Hinterzimmer des Dog verschwand zusammen mit Joshs Pferden. Und mit einem Mal ergriff Ben die Gurte des Bündels und schulterte es wieder.
»Warte!«, rief er durch den Regen. Er stolperte über die Holzbohlen. Joshua Palewick drehte sich um, mit undurchdringlicher Miene.
»Ich kenne den Weg nicht«, gestand Ben.
»Dachte ich mir.«
»Ich war noch nie hier.«
Der Ältere maß Ben mit dem Blick. Und dann war es, als schwände ein böser Einfluss. Als wäre das dunkle Dorf mit seiner rußgeschwärzten Kirche schon in weiter Ferne und das Gutshaus von Buckland ganz nah. Als wäre das lange Tal nur ein Spaziergang. Die Andeutung eines Lächelns spielte auf den Zügen des Treibers.
»Ich hab dich oben vom Dorf aus gesehen«, sagte Josh. »Dachte mir, du willst von einer von den Sänften aus Soughton mitgenommen werden. Du bist von dort, stimmt's?«
Ben sagte, so sei es.
»Wir gehen zusammen, wenn's dir recht ist«, sagte der Treiber. »Werden sehen, ob wir uns vertragen.«
Ben nickte eifrig; dann blickte der Ältere zu dem Jungen zurück. »Der da kommt zum Gutshaus, genau wie dein Bündel. Pass für mich auf ihn auf. Einverstanden?«
Beide blickten zurück. Der Junge hielt sich auf dem Maultier im Gleichgewicht und hatte sich umgedreht, um hinter sich zu sehen. Ben Martin folgte seinem Blick, am Dorf vorbei und die überwucherten Berghänge hinauf bis zu der dunklen Wand aus Bäumen auf dem Gipfel.
»Da haben sie ihn gefangen«, sagte Josh. »In Bucclas Wald.«
Sie liefen, so schnell sie konnten, aus der Hütte hinaus und über die dunkle Wiese, und Johns Herz pochte in seiner Brust, und Angst wühlte in seinen Eingeweiden. Neben ihm hielt seine Mutter den schweren Sack mit einer Hand gepackt und umklammerte mit der anderen Johns Handgelenk; das lange Gras peitschte ihre Beine, als sie dem sicheren Hort der Abhänge entgegenhasteten. Hinter ihnen erklang der Singsang der Meute lauter.
Honig aus der Bienenwabe! Trauben von dem Rebenstock!
Komm raus, du Hexe, komm und trinke deinen Doppelbock!
Der beißende Geruch des Rauchs von Talglichtern durchzog die warme Nachtluft. Das Klappern von Töpfen und Pfannen mischte sich mit dem Gegröle der Dörfler. John spürte, wie der Griff seiner Mutter fester wurde und ihn mitriss. Er hörte, wie der Sack ihr schwer gegen die Beine schlug, hörte ihren rasselnden Atem. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Sie erreichten den Wiesensaum und hievten sich die erste Böschung hinauf.
Terrassen teilten den Abhang in lange flache Stufen. Sie kletterten, dann rannten sie, dann kletterten sie wieder. Der Lärm der Meute verfolgte sie in anschwellenden und abebbenden Wellen. Mit jedem Schritt wich Johns Angst. Bald erhoben sich rings um sie gespenstische Polster aus Stechginster und Buschwerk, und Grasgerüche erfüllten die Nachtluft. John blickte zu den Bäumen von Bucclas Wald hinauf.
Hierher kamen die Dörfler nie. Sie sagten, die alte Buccla habe das ganze Tal mit ihrem Fest verhext. Bis der heilige Clodock gekommen sei und ihre Tische aus Kastanienholz zerhackt habe. Und seitdem bereiteten die Dörfler ihr einmal im Jahr ebenfalls ein Fest.
Heute war dieser Abend.
Seine Mutter kletterte weiter, bewegte sich sicheren Schritts durch die engen Lücken und Zwischenräume. John lief hinter ihr. In dem Sack, den sie festhielt, steckte das Buch, das sie im letzten Augenblick vor ihrer Flucht vom Kaminsims genommen hatte. Er schlüpfte an den dornigen Ranken vorbei, zwängte sich durch das Dickicht. Dann verengte sich der Pfad und endete an einer undurchdringlichen Barriere aus Brombeerranken. Vor einem alten Staketenzaun, in den ein Kreuz geschnitten war, blieb seine Mutter stehen.
So hoch war er noch nie gestiegen. Jenseits des Dornendickichts ragten düster die Bäume von Bucclas Wald auf. Er hörte die schweren Kronen der Kastanien rauschen, die Blätter tausendfach leise rascheln. Von weit unten drang der Singsang der Meute herauf.
Taube aus dem Taubenschlag, Amsel aus dem Graben,
Komm raus, du Hexe, sollst dich auch an der Pastete laben!
»Das ist nur das Bier«, sagte seine Mutter. Sie sah in sein besorgtes Gesicht. »Wenn sie das Fass geleert haben, ist das ihr Zeitvertreib.«
John erinnerte sich an die anderen Male: rote grölende Gesichter, halbtrunkene Männer mit bellenden Hunden. Und er hatte sich an die Röcke seiner Mutter geklammert. Bisher hatte sie ihnen immer die Stirn bieten können. Doch an diesem Abend hatte der Singsang drohender geklungen als sonst.
»Sie sind von Marpots Haus gekommen«, sagte er zu seiner Mutter.
»Ist das wahr?«
Er starrte sie an. Sie wusste es so gut wie er. Die Dörfler hatten sich versammelt, um für die Seele der kleinen Mary Starling zu beten. Und dann waren sie zur Wiese marschiert. Und nun umringten sie die Hütte und sangen.
Fische aus dem Teich! Aale aus dem Fluss!
Komm raus, du Hexe ...
Plötzlich löste sich eine schwarzgekleidete Gestalt aus dem Meer flammendroter Gesichter und kletterte auf das Strohdach. John hörte den Atem in der Kehle seiner Mutter rasseln, als käme ein Hustenanfall. Die Gestalt hielt eine brennende Fackel in der Hand. Als sie sie schwenkte, schwoll das Gebrüll der Menge an. Johns Herz begann wieder zu pochen. Er sah seine Mutter die Hand vor den Mund halten.
»Nein«, flüsterte sie. »Das wagen sie nicht.«
Doch jede Bewegung brachte die Fackel näher an das Dach. Alles, was sie besaßen, befand sich in der Hütte, dachte John. Der Strohsack, die Truhe, die Töpfe und Flaschen und Krüge seiner Mutter ... Plötzlich zeigte sich ein weißer Haarschopf am Rand der Meute. John zog am Rock seiner Mutter. »Sieh, Ma! Der alte Holy!«
Erleichterung durchdrang ihn, als der Priester sich einen Weg bis in die Mitte der Dörfler bahnte. Von hoch oben sah John, wie die Arme des Priesters sich bewegten, während er den Nahestehenden Kopfnüsse verpasste. Der Fackelträger sprang vom Dach. Die Schreihälse verstummten und wichen zurück. Die Fackeln zerstreuten sich.
»Das wird ihnen eine Lehre sein«, sagte John.
»Glaubst du?«, flüsterte seine Mutter.
Sie ließ die Tasche mit dem Buch zu Boden sinken. John spürte ihre Hand, die seine Haare streichelte, ihre Finger, die seine dichten schwarzen Locken entwirrten. Er sah zu der dunklen Linie der Bäume hinauf und sog langsam die Luft ein, atmete Bärlauch, vermoderte Blätter, einen Fuchsbau irgendwo und einen süßeren Geruch. Obstbaumblüten, dachte er. Dann wurde dieses kleine Rätsel von einem größeren überschattet. Ein befremdlicherer Geruch hing zwischen dem der Blüten, süß und harzig zugleich. Lilien, dachte John und atmete den Geruch aufmerksamer. Lilien, mit Teer gemischt.
»Was schnüffelst du?«, fragte seine Mutter lächelnd.
Er erwiderte ihr Lächeln. Er habe einen Dämon in der Kehle, sagte sie oft. Einen Dämon, der jeden Geruch der Schöpfung kenne. Wenn er die herben Säfte und süßen Blütendüfte einatmete, spürte er, wie sie sich in ihm verfestigten, ihre unsichtbaren Spuren um ihn herum ausbreiteten. Doch hier war ein Geruch, dem sein Dämon noch nie begegnet war. Er hob den Blick zu den Bäumen von Bucclas Wald.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Seine Mutter strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht.
»Sag ihnen nicht, dass du hier oben warst, John. Verstanden?«
Er nickte. Natürlich wusste er Bescheid. Sankt Clodock hatte Gott einen Eid geschworen, so hieß es in der Überlieferung. Er war von Zoyland aufgebrochen und hier hinaufgekommen, um die Tische der Hexe zu zerschlagen. Er hatte das Feuer von ihrem Herd genommen und hatte ihre Gärten verwüstet. Er hatte das Tal für Gott zurückerobert.
Aber Buccla war noch immer dort oben, sagten die Dörfler. Sie und ihr Hexensabbat. Und sie war noch immer hungrig ...
Es war nur eine alte Geschichte, dachte John. So wie das Grölen der Dörfler nur ihr Zeitvertreib war. Doch das war gewesen, bevor Aufseher Marpot in das Dorf gekommen war. Er war es auf dem Dach gewesen, dachte sich John. Er hatte die Fackel geschwungen und die Dörfler angestachelt. Bis Pater Hole sie weggejagt hatte. Bei der Erinnerung daran, wie der alte Priester ihnen Kopfnüsse verpasst hatte, musste er lächeln. Er sah zu seiner Mutter auf, doch ihr Gesicht war wie eine Maske. Unten trotteten die letzten Fackelträger davon. Als alle verschwunden waren, drehte seine Mutter sich zu ihm um.
»Wir werden jede Woche den Gottesdienst besuchen«, sagte sie. »Ich werde eine Haube tragen wie die anderen Frauen.« Sie versuchte zu lächeln. »Du kannst mit den anderen Kindern spielen.«
John, John, der Hexensohn!
Duckt ihn und zwickt ihn und jagt ihn davon!
Das war ihr Zeitvertreib nach der sonntäglichen Bibelstunde. Sobald der alte Holy das letzte Amen sprach, war John aus der Kapelle und zur Tür hinaus geeilt, über die Mauer des Kirchhofs von St. Clodock's geklettert und so schnell gelaufen, wie seine Beine ihn trugen.
John, John, der Mohrensohn!
Schwärzt sein Gesicht und gebt kein Pardon!
Seit der Flucht den Berghang hinauf waren zwei Sommer vergangen. Er war größer und kräftiger als das Kind, das die Terrassen zu Bucclas Wald hinaufgeklettert war. Aber das galt auch für seine Verfolger.
Ephraim Clough führte sie an, wie üblich. Dando Candling und Tobit Drury kamen als Nächste, gefolgt von Abel Starling und Seth Dare. Die Mädchen hüpften kreischend hinterher. John rannte an dem alten Brunnen vorbei, über die kahlen Flecken von Sankt Clods Tränen zum Teich, störte die Enten auf und brachte die Gänse der Fentons zum Zischen. Die Dörfler, die Wasser holten, blickten auf und schüttelten missbilligend den Kopf. Susan Sandalls Sohn war mal wieder unterwegs. Er rannte über den Dorfanger, mit Armen wie Dreschflegel und pochendem Herzen. Als er an dem Obstgarten der Chaffinges vorbeilief, schrie Tom Hob seine Verfolger an. Aber niemand hörte auf Tom. Hinter den Obstbäumen gähnte der hintere Weg, ein von hohen Hecken eingefasster schattiger Tunnel. Als John der Mündung entgegenlief, traf etwas krachend gegen seinen Schädel. Ein stechender Schmerz wallte von seinem Hinterkopf auf. Ein Wurfgeschoss von Abel, dachte er. Von dem Meistersteinwerfer Bucklands. Er stolperte, und hinter ihm wurde gejohlt. Doch im nächsten Augenblick war er wieder auf den Beinen. Er lief um sein Leben. Seine Verfolger fielen zurück. Als er zum ersten Mal mit ihnen zu spielen versuchte, hatten sie ihn zu Huxtables Scheune gelockt, wo der Misthaufen wartete. Wie er so töricht gewesen sein könne, dort hineinzufallen, hatte seine Mutter ihn gefragt. In der Woche darauf hatten Ephraim und Tobit versucht, ihn in die Brombeerbüsche zu stürzen. Hexen bluteten nicht, hatte Ephraim erklärt. Ihre Söhne seien genauso beschaffen. Dieses Mal hatte er sich befreien können, aber am folgenden Sonntag hatten sie ihn über den alten Brunnen gehängt, und Ephraim hatte einen Eimer voll Wasser hochgezogen und gedroht, John die dunkle Flüssigkeit einzuflößen. Der säuerliche Geruch hatte sein Gesicht wie ein nasses Leichentuch umfangen. Gelüstet es dich nach einer Schale Hexenblut, John? Die Hexe hatte den Boden unter dem Dorfanger vergiftet, das predigte Aufseher Marpot. Deshalb stank das Wasser. Tobit und Ephraim hatten versucht, gewaltsam seinen Mund zu öffnen. An jenem Tag hatte ihn nur Tom Hob gerettet, der mit erhobenem Holzkrug angerückt kam und die anderen mit einem Schwall von Flüchen verjagte. An jedem folgenden Sonntag war John weggelaufen. In seinem Kopf tobte ein pochender Schmerz. Er spürte, wie die Beule schwoll, als er über den Zauntritt in das Zwei-Morgen-Feld kletterte. Üblicherweise hing eine tote Krähe an der Vogelscheuche, doch an diesem Tag war der Galgen leer. Er roch die frisch umgegrabene Erde in der warmen Frühlingsluft. Die Landstraße war still. Offenbar hatten seine Verfolger aufgegeben. Die Mädchen ließen immer als Erste von der Verfolgungsjagd ab: Meg und Maggie Riverett, die Clough-Schwestern, Peggy Rawley, Abel Starlings Schwester Cassie. Die Jungen hielten länger durch, und Ephraim teilte sie in Rudel ein, die John davon abschneiden sollten, Sicherheit in der Hütte seiner Mutter zu finden. John trabte am Rand des Felds entlang. Am anderen Ende blickte er zurück. Im dichten Gebüsch hörte er Frühlingswasser in den alten Steintrog plätschern. Er kannte einen Geheimweg durch die Hecke. Bald würde er oben auf der Böschung sein, auf der Wiese und zu Hause. Für eine weitere Woche in Sicherheit. Er sah sich noch einmal um. Dann zwängte er sich durch das Gebüsch.
»Du hast dir Zeit gelassen, John.«
Sie erwarteten ihn am anderen Ende. Ephraim Clough hielt den Blickmitten vom Weg aus auf ihn gerichtet; er hatte buschige Augenbrauen und war einen halben Kopf größer als John. Der flachshaarige DandoCandling und Tobit Drury standen links und rechts neben ihm. Seth Dare und Abel Starling bildeten die Nachhut. John blickte von einem ausdruckslosen Gesicht zum anderen.
Übersetzung: Melanie Walz
© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
Die Packpferde stapften langsam zum Tal hinunter. In den Schwaden grauen Nieselregens schaukelten die Tiere unter der Last von Kisten und Säcken. An ihrer Spitze kämpfte eine große Gestalt gegen den Regen an, als wollte sie die Pferde von dem dunklen Dorf weiter oben fortziehen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht, der neben der Holzbrücke unten im Tal stand, spähte unter seiner tropfnassen Hutkrempe hervor und rang sich ein Grinsen ab.
Wasser sickerte durch die Nähte von Benjamin Martins Stiefeln. Der Regen durchweichte seinen Umhang. In dem Bündel zu seinen Füßen befand sich die Fracht, die im Gutshaus abzuliefern er sich verpflichtet hatte. Seit fast einer Woche war er unterwegs. An diesem Morgen hatte noch das ganze Tal vor seinen wundgelaufenen Füßen gelegen. Und dann hatte er die Packpferde entdeckt.
Bens Grinsen wurde breiter und verlieh seinem Gesicht ein Aussehen, das an ein gähnendes Pferd erinnerte. Er dehnte die schmerzenden Schultern und blickte hinauf.
Hinter dem Treiber trabte eine Schecke, gefolgt von einem Braunen, und danach kamen zwei dunkelbraune Ponys. Bens Blick blieb auf das Ende des Zugs gerichtet. Hinter den Pferden schleppte sich ein Maultier dahin. Ein Maultier, das nichts weiter zu befördern schien als einen Haufen regendurchnässter Lumpen. Selbst ein Tier ohne Last musste fressen, dachte sich Ben. Der Treiber würde einverstanden sein. Wieder blickte er den Hang zum Dorf hinauf.
Die Häuser zeigten kein Licht. Aus den Schornsteinen stieg kein Rauch. An den Berghängen, die bis zu den dunklen Bäumen weit oben reichten, bewegte sich nichts. Niemand wusste, was geschehen war, hatten die Männer aus Flitwick am Abend zuvor in dem Gasthaus gesagt. Keine Menschenseele war den ganzen Winter über oben in Buckland gewesen.
Das Dorf, das Tal, das Gutshaus am anderen Ende; alle trugen den Namen Buckland. Wie einen gemeinsamen Fluch, dachte Ben. Er richtete den Blick auf die rußgeschwärzte Kirche und dann auf den Wald. Es ging ihn nichts an, sagte er sich. Wenn die Packpferde unten angekommen wären, würde er sich mit dem Treiber verständigen. Das geheimnisvolle Bündel konnte mit den nassen Lumpen auf dem Maultier weiterreisen. Es konnte ohne ihn zum Gutshaus gelangen. Zu diesem »Master Scovell«, wer immer das sein mochte. Ben trat gegen das verhasste Bündel.
Die Tiere kamen an einer Reihe Staketen aus gespaltenen Eichenstangen vorbei. Der kalte Regen durchnässte ihm die Stiefel bis zu den Kniehosen. Bens Gedanken wanderten nach Soughton und zu dem warmen Hinterzimmer abends im Dog. Heute Abend wäre er auf dem Rückweg. Master Fessler würde ihn wieder nehmen, davon war er überzeugt. Nie wieder würde er diesen Ort eines Blicks würdigen.
Mit drei langen Schritten nahm der Treiber die letzte steile Böschung. Die gescheckte Stute folgte schaukelnd, die zwei Packkisten schwankten auf ihrem Rücken. Joshua Palewick hatten sie den mageren grauhaarigen Mann in dem Gasthaus in Flitwick genannt. Dann kam der Braune mit gleicher Fracht. Die zwei Ponys waren mit Körben und Säcken beladen. Und zuletzt das Maultier, das nur ein Bündel Lumpen trug und hinkte. Ben richtete sich auf. Das Einzige, was ein Packpferdtreiber noch härter anging als seine Tiere, war ein Geschäft, rief er sich ins Gedächtnis. Ein Penny per Meile war ein gutes Angebot für ein hinkendes Maultier. Die Tiere platschten durch Schlamm und Pfützen. Er hob eine Hand zum Gruß. Da bewegte sich das Lumpenbündel auf dem Rücken des Maultiers.
Ein Windstoß, sagte sich Ben. Oder eine Laune des schwindenden Lichts. Doch im nächsten Augenblick sah er, dass dem nicht so war.
Aus den Lumpen tauchte ein Kopf auf. Aus dem Kopf starrte ein Augenpaar. In den Lumpen steckte ein Junge.
Spitze Backenknochen traten aus seinen Wangen hervor. Seine Haare waren eine verfilzte Matte nasser schwarzer Locken. Sein Körper war in einen durchnässten blauen Überrock gehüllt. Der junge Reiter hing unbeholfen über dem Hinterteil des Maultiers und rutschte hin und her, als würde er im nächsten Augenblick herunterfallen. Doch das stand nicht zu befürchten, erkannte Ben, als das Maultier sich näherte. Dicke Seile waren um die Handgelenke des Jungen geschlungen. Man hatte ihn am Sattel festgebunden.
Der Treiber blieb stehen.
»Ben Martin«, sagte Ben in beiläufigem Ton. »Habe eine Fracht für das Gutshaus von Buckland. Für einen Mann namens Scovell.«
»Ich kenne Richard Scovell«, sagte Joshua Palewick. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Und dich kenne ich auch. Du warst in dem Gasthaus in Flitwick.«
Ben nickte. Hinter dem Treiber sah der Knabe von seinem Maultier aus her; der Regen troff von seinen dunklen Augenbrauen und tropfte ihm in die Augen. Außerstande, die Tropfen wegzuwischen, verzog er das Gesicht und blinzelte. Sein Blick schien durch die zwei Männer hindurchzugehen.
»Pack es bei ihm mit drauf«, schlug Ben vor. »Ein Penny per Meile ist ein gutes Angebot. Der Weg ist nicht so schlecht ...«
»So, so?« Josh hob eine Augenbraue. »Dann hab ich mir das wohl eingebildet. Die letzten dreißig Jahre lang.«
Ben rang sich ein Grinsen ab. »Einen halben Penny mehr«, bot er an.
Joshua Palewick schüttelte den Kopf. »Der Junge reitet allein. Ist so mit dem Priester vereinbart.«
Beklommenheit überkam Ben. »Ich zahl mehr«, sprudelte es aus ihm heraus. Aber Joshs Miene verfinsterte sich.
»Nicht mit mir«, sagte er kurz angebunden. »Ich hab es mit Handschlag abgemacht.«
Er zog am Zügel, und die Pferde setzten sich in Bewegung. Der schmale Körper des Jungen schaukelte hierhin und dorthin. Hufe klapperten über die Brücke, als die Tiere davontrabten.
Widerstreitende Gefühle stiegen in Ben auf. Er würde das Bündel ins Wasser werfen, beschloss er. Behaupten, er hätte es nie gesehen. Nur Palewick würde Bescheid wissen. Und dieser Junge, wer immer er sein mochte. Und dieser Scovell, wenn Palewick es ihm erzählte. Und der dunkelhäutige Mann, der ihm in Soughton den Auftrag gegeben hatte. Dieser Maure oder Jude oder was auch immer. Almery ...
Er hätte Soughton nie verlassen sollen. Sich nie tropfnass mit wundgelaufenen Füßen auf einer vom Regen gepeitschten Brücke am Eingang des Tals von Buckland einfinden sollen. Das warme Hinterzimmer des Dog verschwand zusammen mit Joshs Pferden. Und mit einem Mal ergriff Ben die Gurte des Bündels und schulterte es wieder.
»Warte!«, rief er durch den Regen. Er stolperte über die Holzbohlen. Joshua Palewick drehte sich um, mit undurchdringlicher Miene.
»Ich kenne den Weg nicht«, gestand Ben.
»Dachte ich mir.«
»Ich war noch nie hier.«
Der Ältere maß Ben mit dem Blick. Und dann war es, als schwände ein böser Einfluss. Als wäre das dunkle Dorf mit seiner rußgeschwärzten Kirche schon in weiter Ferne und das Gutshaus von Buckland ganz nah. Als wäre das lange Tal nur ein Spaziergang. Die Andeutung eines Lächelns spielte auf den Zügen des Treibers.
»Ich hab dich oben vom Dorf aus gesehen«, sagte Josh. »Dachte mir, du willst von einer von den Sänften aus Soughton mitgenommen werden. Du bist von dort, stimmt's?«
Ben sagte, so sei es.
»Wir gehen zusammen, wenn's dir recht ist«, sagte der Treiber. »Werden sehen, ob wir uns vertragen.«
Ben nickte eifrig; dann blickte der Ältere zu dem Jungen zurück. »Der da kommt zum Gutshaus, genau wie dein Bündel. Pass für mich auf ihn auf. Einverstanden?«
Beide blickten zurück. Der Junge hielt sich auf dem Maultier im Gleichgewicht und hatte sich umgedreht, um hinter sich zu sehen. Ben Martin folgte seinem Blick, am Dorf vorbei und die überwucherten Berghänge hinauf bis zu der dunklen Wand aus Bäumen auf dem Gipfel.
»Da haben sie ihn gefangen«, sagte Josh. »In Bucclas Wald.«
Sie liefen, so schnell sie konnten, aus der Hütte hinaus und über die dunkle Wiese, und Johns Herz pochte in seiner Brust, und Angst wühlte in seinen Eingeweiden. Neben ihm hielt seine Mutter den schweren Sack mit einer Hand gepackt und umklammerte mit der anderen Johns Handgelenk; das lange Gras peitschte ihre Beine, als sie dem sicheren Hort der Abhänge entgegenhasteten. Hinter ihnen erklang der Singsang der Meute lauter.
Honig aus der Bienenwabe! Trauben von dem Rebenstock!
Komm raus, du Hexe, komm und trinke deinen Doppelbock!
Der beißende Geruch des Rauchs von Talglichtern durchzog die warme Nachtluft. Das Klappern von Töpfen und Pfannen mischte sich mit dem Gegröle der Dörfler. John spürte, wie der Griff seiner Mutter fester wurde und ihn mitriss. Er hörte, wie der Sack ihr schwer gegen die Beine schlug, hörte ihren rasselnden Atem. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Sie erreichten den Wiesensaum und hievten sich die erste Böschung hinauf.
Terrassen teilten den Abhang in lange flache Stufen. Sie kletterten, dann rannten sie, dann kletterten sie wieder. Der Lärm der Meute verfolgte sie in anschwellenden und abebbenden Wellen. Mit jedem Schritt wich Johns Angst. Bald erhoben sich rings um sie gespenstische Polster aus Stechginster und Buschwerk, und Grasgerüche erfüllten die Nachtluft. John blickte zu den Bäumen von Bucclas Wald hinauf.
Hierher kamen die Dörfler nie. Sie sagten, die alte Buccla habe das ganze Tal mit ihrem Fest verhext. Bis der heilige Clodock gekommen sei und ihre Tische aus Kastanienholz zerhackt habe. Und seitdem bereiteten die Dörfler ihr einmal im Jahr ebenfalls ein Fest.
Heute war dieser Abend.
Seine Mutter kletterte weiter, bewegte sich sicheren Schritts durch die engen Lücken und Zwischenräume. John lief hinter ihr. In dem Sack, den sie festhielt, steckte das Buch, das sie im letzten Augenblick vor ihrer Flucht vom Kaminsims genommen hatte. Er schlüpfte an den dornigen Ranken vorbei, zwängte sich durch das Dickicht. Dann verengte sich der Pfad und endete an einer undurchdringlichen Barriere aus Brombeerranken. Vor einem alten Staketenzaun, in den ein Kreuz geschnitten war, blieb seine Mutter stehen.
So hoch war er noch nie gestiegen. Jenseits des Dornendickichts ragten düster die Bäume von Bucclas Wald auf. Er hörte die schweren Kronen der Kastanien rauschen, die Blätter tausendfach leise rascheln. Von weit unten drang der Singsang der Meute herauf.
Taube aus dem Taubenschlag, Amsel aus dem Graben,
Komm raus, du Hexe, sollst dich auch an der Pastete laben!
»Das ist nur das Bier«, sagte seine Mutter. Sie sah in sein besorgtes Gesicht. »Wenn sie das Fass geleert haben, ist das ihr Zeitvertreib.«
John erinnerte sich an die anderen Male: rote grölende Gesichter, halbtrunkene Männer mit bellenden Hunden. Und er hatte sich an die Röcke seiner Mutter geklammert. Bisher hatte sie ihnen immer die Stirn bieten können. Doch an diesem Abend hatte der Singsang drohender geklungen als sonst.
»Sie sind von Marpots Haus gekommen«, sagte er zu seiner Mutter.
»Ist das wahr?«
Er starrte sie an. Sie wusste es so gut wie er. Die Dörfler hatten sich versammelt, um für die Seele der kleinen Mary Starling zu beten. Und dann waren sie zur Wiese marschiert. Und nun umringten sie die Hütte und sangen.
Fische aus dem Teich! Aale aus dem Fluss!
Komm raus, du Hexe ...
Plötzlich löste sich eine schwarzgekleidete Gestalt aus dem Meer flammendroter Gesichter und kletterte auf das Strohdach. John hörte den Atem in der Kehle seiner Mutter rasseln, als käme ein Hustenanfall. Die Gestalt hielt eine brennende Fackel in der Hand. Als sie sie schwenkte, schwoll das Gebrüll der Menge an. Johns Herz begann wieder zu pochen. Er sah seine Mutter die Hand vor den Mund halten.
»Nein«, flüsterte sie. »Das wagen sie nicht.«
Doch jede Bewegung brachte die Fackel näher an das Dach. Alles, was sie besaßen, befand sich in der Hütte, dachte John. Der Strohsack, die Truhe, die Töpfe und Flaschen und Krüge seiner Mutter ... Plötzlich zeigte sich ein weißer Haarschopf am Rand der Meute. John zog am Rock seiner Mutter. »Sieh, Ma! Der alte Holy!«
Erleichterung durchdrang ihn, als der Priester sich einen Weg bis in die Mitte der Dörfler bahnte. Von hoch oben sah John, wie die Arme des Priesters sich bewegten, während er den Nahestehenden Kopfnüsse verpasste. Der Fackelträger sprang vom Dach. Die Schreihälse verstummten und wichen zurück. Die Fackeln zerstreuten sich.
»Das wird ihnen eine Lehre sein«, sagte John.
»Glaubst du?«, flüsterte seine Mutter.
Sie ließ die Tasche mit dem Buch zu Boden sinken. John spürte ihre Hand, die seine Haare streichelte, ihre Finger, die seine dichten schwarzen Locken entwirrten. Er sah zu der dunklen Linie der Bäume hinauf und sog langsam die Luft ein, atmete Bärlauch, vermoderte Blätter, einen Fuchsbau irgendwo und einen süßeren Geruch. Obstbaumblüten, dachte er. Dann wurde dieses kleine Rätsel von einem größeren überschattet. Ein befremdlicherer Geruch hing zwischen dem der Blüten, süß und harzig zugleich. Lilien, dachte John und atmete den Geruch aufmerksamer. Lilien, mit Teer gemischt.
»Was schnüffelst du?«, fragte seine Mutter lächelnd.
Er erwiderte ihr Lächeln. Er habe einen Dämon in der Kehle, sagte sie oft. Einen Dämon, der jeden Geruch der Schöpfung kenne. Wenn er die herben Säfte und süßen Blütendüfte einatmete, spürte er, wie sie sich in ihm verfestigten, ihre unsichtbaren Spuren um ihn herum ausbreiteten. Doch hier war ein Geruch, dem sein Dämon noch nie begegnet war. Er hob den Blick zu den Bäumen von Bucclas Wald.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Seine Mutter strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht.
»Sag ihnen nicht, dass du hier oben warst, John. Verstanden?«
Er nickte. Natürlich wusste er Bescheid. Sankt Clodock hatte Gott einen Eid geschworen, so hieß es in der Überlieferung. Er war von Zoyland aufgebrochen und hier hinaufgekommen, um die Tische der Hexe zu zerschlagen. Er hatte das Feuer von ihrem Herd genommen und hatte ihre Gärten verwüstet. Er hatte das Tal für Gott zurückerobert.
Aber Buccla war noch immer dort oben, sagten die Dörfler. Sie und ihr Hexensabbat. Und sie war noch immer hungrig ...
Es war nur eine alte Geschichte, dachte John. So wie das Grölen der Dörfler nur ihr Zeitvertreib war. Doch das war gewesen, bevor Aufseher Marpot in das Dorf gekommen war. Er war es auf dem Dach gewesen, dachte sich John. Er hatte die Fackel geschwungen und die Dörfler angestachelt. Bis Pater Hole sie weggejagt hatte. Bei der Erinnerung daran, wie der alte Priester ihnen Kopfnüsse verpasst hatte, musste er lächeln. Er sah zu seiner Mutter auf, doch ihr Gesicht war wie eine Maske. Unten trotteten die letzten Fackelträger davon. Als alle verschwunden waren, drehte seine Mutter sich zu ihm um.
»Wir werden jede Woche den Gottesdienst besuchen«, sagte sie. »Ich werde eine Haube tragen wie die anderen Frauen.« Sie versuchte zu lächeln. »Du kannst mit den anderen Kindern spielen.«
John, John, der Hexensohn!
Duckt ihn und zwickt ihn und jagt ihn davon!
Das war ihr Zeitvertreib nach der sonntäglichen Bibelstunde. Sobald der alte Holy das letzte Amen sprach, war John aus der Kapelle und zur Tür hinaus geeilt, über die Mauer des Kirchhofs von St. Clodock's geklettert und so schnell gelaufen, wie seine Beine ihn trugen.
John, John, der Mohrensohn!
Schwärzt sein Gesicht und gebt kein Pardon!
Seit der Flucht den Berghang hinauf waren zwei Sommer vergangen. Er war größer und kräftiger als das Kind, das die Terrassen zu Bucclas Wald hinaufgeklettert war. Aber das galt auch für seine Verfolger.
Ephraim Clough führte sie an, wie üblich. Dando Candling und Tobit Drury kamen als Nächste, gefolgt von Abel Starling und Seth Dare. Die Mädchen hüpften kreischend hinterher. John rannte an dem alten Brunnen vorbei, über die kahlen Flecken von Sankt Clods Tränen zum Teich, störte die Enten auf und brachte die Gänse der Fentons zum Zischen. Die Dörfler, die Wasser holten, blickten auf und schüttelten missbilligend den Kopf. Susan Sandalls Sohn war mal wieder unterwegs. Er rannte über den Dorfanger, mit Armen wie Dreschflegel und pochendem Herzen. Als er an dem Obstgarten der Chaffinges vorbeilief, schrie Tom Hob seine Verfolger an. Aber niemand hörte auf Tom. Hinter den Obstbäumen gähnte der hintere Weg, ein von hohen Hecken eingefasster schattiger Tunnel. Als John der Mündung entgegenlief, traf etwas krachend gegen seinen Schädel. Ein stechender Schmerz wallte von seinem Hinterkopf auf. Ein Wurfgeschoss von Abel, dachte er. Von dem Meistersteinwerfer Bucklands. Er stolperte, und hinter ihm wurde gejohlt. Doch im nächsten Augenblick war er wieder auf den Beinen. Er lief um sein Leben. Seine Verfolger fielen zurück. Als er zum ersten Mal mit ihnen zu spielen versuchte, hatten sie ihn zu Huxtables Scheune gelockt, wo der Misthaufen wartete. Wie er so töricht gewesen sein könne, dort hineinzufallen, hatte seine Mutter ihn gefragt. In der Woche darauf hatten Ephraim und Tobit versucht, ihn in die Brombeerbüsche zu stürzen. Hexen bluteten nicht, hatte Ephraim erklärt. Ihre Söhne seien genauso beschaffen. Dieses Mal hatte er sich befreien können, aber am folgenden Sonntag hatten sie ihn über den alten Brunnen gehängt, und Ephraim hatte einen Eimer voll Wasser hochgezogen und gedroht, John die dunkle Flüssigkeit einzuflößen. Der säuerliche Geruch hatte sein Gesicht wie ein nasses Leichentuch umfangen. Gelüstet es dich nach einer Schale Hexenblut, John? Die Hexe hatte den Boden unter dem Dorfanger vergiftet, das predigte Aufseher Marpot. Deshalb stank das Wasser. Tobit und Ephraim hatten versucht, gewaltsam seinen Mund zu öffnen. An jenem Tag hatte ihn nur Tom Hob gerettet, der mit erhobenem Holzkrug angerückt kam und die anderen mit einem Schwall von Flüchen verjagte. An jedem folgenden Sonntag war John weggelaufen. In seinem Kopf tobte ein pochender Schmerz. Er spürte, wie die Beule schwoll, als er über den Zauntritt in das Zwei-Morgen-Feld kletterte. Üblicherweise hing eine tote Krähe an der Vogelscheuche, doch an diesem Tag war der Galgen leer. Er roch die frisch umgegrabene Erde in der warmen Frühlingsluft. Die Landstraße war still. Offenbar hatten seine Verfolger aufgegeben. Die Mädchen ließen immer als Erste von der Verfolgungsjagd ab: Meg und Maggie Riverett, die Clough-Schwestern, Peggy Rawley, Abel Starlings Schwester Cassie. Die Jungen hielten länger durch, und Ephraim teilte sie in Rudel ein, die John davon abschneiden sollten, Sicherheit in der Hütte seiner Mutter zu finden. John trabte am Rand des Felds entlang. Am anderen Ende blickte er zurück. Im dichten Gebüsch hörte er Frühlingswasser in den alten Steintrog plätschern. Er kannte einen Geheimweg durch die Hecke. Bald würde er oben auf der Böschung sein, auf der Wiese und zu Hause. Für eine weitere Woche in Sicherheit. Er sah sich noch einmal um. Dann zwängte er sich durch das Gebüsch.
»Du hast dir Zeit gelassen, John.«
Sie erwarteten ihn am anderen Ende. Ephraim Clough hielt den Blickmitten vom Weg aus auf ihn gerichtet; er hatte buschige Augenbrauen und war einen halben Kopf größer als John. Der flachshaarige DandoCandling und Tobit Drury standen links und rechts neben ihm. Seth Dare und Abel Starling bildeten die Nachhut. John blickte von einem ausdruckslosen Gesicht zum anderen.
Übersetzung: Melanie Walz
© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
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Autoren-Porträt von Lawrence Norfolk
Lawrence Norfolk wurde 1963 in London geboren, studierte am King's College und war Dozent. Für seine Romane erhielt er begeisterte Kritiken. Norfolk, dessen Romane in 26 Sprachen übersetzt wurden, lebt heute in London.Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, wurde 1999 mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und 2001 mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Sie ist die Übersetzerin von u. a. Antonia Byatt, John Cooper-Powys, Lawrence Norfolk. 2009 erhielt sie den Blue Metropolis Literary Grand Prix.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lawrence Norfolk
- 2012, 1, 447 Seiten, 14 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 14 Abbildungen, Maße: 16 x 23,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Melanie Walz
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813503666
- ISBN-13: 9783813503661
- Erscheinungsdatum: 12.11.2012
Rezension zu „Norfolk, L: Festmahl des John Saturnall “
"Den Aufstieg eines Lumpenjungen zum berühmtesten Koch von England (...) erzählt Lawrence Norfolk im reichhaltigen Schelmen- und Schmauseroman "Das Festmahl des John Saturnall". Saftig, köstlich, nicht überzuckert."
Kommentar zu "Norfolk, L: Festmahl des John Saturnall"
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