Nur Mut
Roman
Silvia Bovenschen schreibt eine schwarze Komödie übers Älterwerden.
Eine weiße Villa. Vier alte Frauen erwarten Herrenbesuch. Im Laufe des Nachmittags geschehen zahlreiche Merkwürdigkeiten, auch die Damen werden von Stunde zu Stunde witziger, irrwitziger...
Eine weiße Villa. Vier alte Frauen erwarten Herrenbesuch. Im Laufe des Nachmittags geschehen zahlreiche Merkwürdigkeiten, auch die Damen werden von Stunde zu Stunde witziger, irrwitziger...
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Produktinformationen zu „Nur Mut “
Klappentext zu „Nur Mut “
Silvia Bovenschen schreibt eine schwarze Komödie übers Älterwerden.Eine weiße Villa. Vier alte Frauen erwarten Herrenbesuch. Im Laufe des Nachmittags geschehen zahlreiche Merkwürdigkeiten, auch die Damen werden von Stunde zu Stunde witziger, irrwitziger und bösartiger. Sie nehmen kein Blatt mehr vor den Mund. Sie kennen kein Gesetz mehr. Alles endet in einem furiosen Zerstörungsballett. Und dann erscheinen noch überraschend seltsame späte Gäste.
Silvia Bovenschen erzählt in diesem Roman auf unerhörte Weise von letzten Freiheiten, rasendem Zorn und dem Gelächter der Alten. Philosophie und Oper, Orgie und Edgar Wallace vereint sie zu einer grimmigen Komödie.
Lese-Probe zu „Nur Mut “
Nur Mut von Silvia BovenschenDa sitzen sie, sagen wir in Malibu, sagen wir auf einer Terrasse, vielleicht können sie das Meer sehen, möglicherweise den gleichmäßigen (ewigen?) Wellenschlag hören und den Schrei der Möwen. Jedenfalls sind sie, das ist sicher, verliebt. In dem Stadium des reinen Entzückens, in dem jegliches interessant ist, was die geliebte Person berührt. Das ist ein attraktives junges Paar, Jean und Mary, ein Drehbuchautor und eine Journalistin, in den besten mittleren Jahren, gegenwartserprobt und gutgelaunt der Zukunft zugewandt. Sie haben die ersten Turbulenzen ihrer Liebe schon hinter sich und zum Rausch ist ein Vertrauen gekommen. Ja, so wollen wir sie sehen. Mary ist schwanger. Im dritten Monat. Ein kleines Mädchen wird erwartet. Zu Marys Füßen liegt ein großer Hund. Er schläft. Seine Schnauze ruht auf ihrem linken Schuh. »Erzähl mal«, sagt Mary jetzt, »was war denn da los in Deutschland, in der Villa deiner Großtante?« Sie sagt es mit einer zärtlichen Ungeduld, die Jean gefällt. »Ach, ich weiß doch selber nichts Genaues, nur das, was mir die Haushälterin und dieser Flocke berichtet haben. Aber die hatten, als ich sie vor Ort befragte, nur Mutmaßungen zum tatsächlichen Hergang. Dörte, meine Cousine zweiten Grades, die zu dieser Zeit bei den alten Frauen wohnte, brachte kein vernünftiges Wort heraus. Die war völlig außer sich. Hat nur wirres Zeug geredet. Die Alte - gemeint war meine Großtante Charlotte - hätte sie förmlich aus dem Haus getrieben.
... mehr
Kurzum: Es gibt keine brauchbaren Informationen. Auch die Artikel der Sensationsreporter, die sich natürlich auf den grausigen Fund in der Villa stürzten, boten nichts als Spekulationen.« »Dann erzähl eben, wie es gewesen sein könnte. Füll die Lücken. Mach, was du so gut kannst. Mach einen Film daraus. Was ist denn das überhaupt für eine verrückte Geschichte? « »Eine verrückte Geschichte von verrückten alten Frauen, so würde man das in einem Trailer ankündigen, aber verrückt waren sie wahrscheinlich gar nicht, nur etwas verdreht, und ich weiß auch nicht, ob es wirklich eine Geschichte ist, eher eine Zuspitzung, ja, eine seltsame Zuspitzung, so will ich es sehen. Oder besser noch: eine Folge von Seltsamkeiten an einem einzigen Tag, an einem einzigen Ort. Wie ein absurdes Bühnenstück. Ich glaube, du musst dir, um das Geschehen zu verstehen, ein Bild von meiner Großtante machen. Eine hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön, wie man sich in meiner Familie erzählte. Aus reichem Hause kommend, hatte sie von ihrem Mann zusätzlich ein beträchtliches Vermögen geerbt. Sie bewohnte eine große weiße Villa an einem Fluss gelegen. In den letzten Jahren hatte sie drei Freundinnen zu sich geholt, die - wie ich hörte - ein bequemes Leben dort hatten und ...« »Das ist langweilig. Kannst du langsam mal zur Sache kommen?« »Okay. Alles begann mit einem Ruf.«
In der weißen Villa (10 Uhr 03, noch 8 Stunden)
»Unerhört«, rief Johanna, und nochmals: »Unerhört.« Ihre scharfe Stimme drang in alle Winkel und Fugen der Villa. (In fünf Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Mädchenzimmer, ein Speisezimmer, in einen großen Salon, eine Bibliothek, ein imposantes Entree, eine Diele, in drei Bäder, eine Besuchertoilette, eine große Küche, eine Speisekammer, über zwei Treppen hinauf und herunter und in einen Abstellraum.) Sogar auf der besonnten Uferpromenade war das »Unerhört « zu vernehmen. Einige Spaziergänger schauten alarmiert hoch zu den geöffneten Fenstern im ersten Stock. Ein älteres Ehepaar beschleunigte den Schritt. »Unerhört« und nochmals »Unerhört«. Und abermals durchfuhr der Doppelklang die Villa. Man hätte meinen können, dass die vielen dünnbeinigen Tischchen und die Schar der filigranen Figürchen und Väschen bersten müssten unter dem Druck der Schallwellen, die den scharfen Ton zweimalig enggestaffelt vor sich hertrieben. Erstaunlicherweise nahm keine der anwesenden Bewohnerinnen des Hauses Notiz von dem schneidenden Ruf.
Aber das musste nicht erstaunen, denn die seit Jahren weitgehend bettlägrige Johanna schickte diesen Ruf, der zuweilen wie ein Fluch klang, häufig in die Räume, an manchen Tagen rief sie zehnfach. Sie rief, wenn sie etwas empörte, etwas, das sie las, etwas, auf das sie im Fernsehen oder im Internet stieß, und sie rief sogar, wenn sie an etwas Unerfreuliches dachte. Die zweiundachtzigjährige Johanna, eine vergessene Autorin der Belletristik, tat sich keinen Zwang mehr an. Warum auch. »Unerhört.«
Vor der weißen Villa (zur selben Zeit)
Auch Flocke hatte diesen Ruf gehört, dieses »Unerhört«, das aus der Villa schrillte, die er kurz darauf betreten würde. Flocke wunderte sich. Es war der Tag, an dem Flocke aus dem Wundern nicht mehr herauskam. Flocke war sein Spitzname. Jemand hatte einmal zu jemandem gesagt, dass er eigentlich Florian Kern heiße. Flocke war ein neunzehnjähriger Schüler. Bei dieser Kennzeichnung konnte man es eigentlich belassen. Hätte sich jemand eingehend nach ihm erkundigt, wäre das Wesentliche zu seiner Person schnell gesagt. Er war ein ruhiger Typ, unaufgeregt, geduldig. Er war gut in der Schule, ohne als Streber zu gelten. Er war in engen Grenzen witzig. Soll heißen: Zuweilen fand er den Weg zu erborgten Pointen und punktete damit in seiner Clique. Er fügte sich in die sprachlichen und körperlichen Ausdrucksformen seiner Altersklasse, ohne je in die Extreme zu gehen. Er wurde gemocht, wenn auch nicht geliebt. Er hatte hundertsiebenundzwanzig Freunde bei Facebook. Er trug die richtigen Hosen und Hemden, ging in die richtigen Lokale, hatte die richtige Frisur, schätzte die richtigen Filme und kannte sich gut aus in angesagter Popmusik und hinreichend in der Cyberwelt. Man könnte sagen: Er war überdurchschnittlich durchschnittlich ... Im Moment hatte Flocke Zahnweh. Der Schmerz hatte sich in den letzten Tagen angeschlichen. Am Nachmittag hatte Flocke einen Termin beim Zahnarzt. Das Wort »unerhört« befand sich nicht in seinem aktiven Wortschatz.
Drinnen
Flocke, der Farbarme, sollte im Folgenden keine maßgebliche Rolle spielen, aber es musste doch von ihm die Rede sein, denn er hatte sich in einer Leidenschaftlichkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte (mehr oder weniger aus der Ferne), in die scharfe siebzehnjährige Dörte verliebt, in Sexy-Dörte, wie sie in ihrer Clique genannt wurde. Seine erste und - wie er dachte - seine große Liebe. Leider bestand der Verdacht, dass die wilde Dörte diese Gefühle nicht teilte und sich den freundlichen Jungen nur in die Villa bestellt hatte, weil sie in der letzten Zeit allzu aufsässig geworden war und im Zuge etlicher Grenzverletzungen den elterlichen Groll, ja deren blanke Wut, hervorgerufen hatte und jetzt im ungewohnten Milieu der großmütterlichen Villa (einem Prachtbau der Gründerzeit), in der sie sich nach der Vertreibung aus dem Elternhaus wiedergefunden hatte, notwendig einen gleichaltrigen Freund, einen verlässlichen Kumpel, brauchte. Eine ratlose Göre von ratlosen Erzeugern bei der Vorgängergeneration geparkt. Auch sie hatte sich eine erste Liebe eingebildet. Der, dem sie gegolten hatte und vielleicht noch immer galt, befand sich jetzt in Untersuchungshaft, angeklagt des wiederholten Diebstahls und der räuberischen Erpressung. Diese Dörte hatte das Gefährliche gesucht, hatte sich eine Zuständigkeit im Bösen angemaßt (da kam vieles aus Comics und Filmen), hatte sich mit einer höllischen Bestimmung geschmückt, war dann kurz an einen sozialen Abgrund getreten - und hatte sich sogleich sehr geängstigt. Im Grunde war sie nichts mehr als ein dummes kleines Mädchen, allerdings glücklich ausgestattet mit einem Körper, für den manche Frau - wäre dies der handelsübliche Preis dafür - einen Mord erwogen hätte. (Flocke war, als er Dörtes Anruf am Morgen entgegengenommen hatte, über die unverhoffte Einberufung ebenso verwundert wie entzückt gewesen.)
Bibliothek (10 Uhr 08)
»Hier wohnst du jetzt.« In Flockes Feststellung war viel Frage enthalten. Sein ungläubiger Blick ruhte auf einem goldgerahmten Ölbild, dem Brustporträt eines ernsten Herrn mit einer hochgelockten Frisur und gebauschten Favoris. (Möglicherweise der Ahnherr einer der vier alten Damen, die das Haus bewohnten.) Gehüllt in einen dunklen Gehrock, dessen Brustausschnitt ein gewaltiges weißes Plastron füllte, schaute er drohend aus dem Bild. Flocke hätte weder die Malweise noch die Bekleidung des Porträtierten und gewiss nicht die Stilmerkmale des ihn umgebenden Mobiliars benennen und historisch zuordnen können. Er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, dies können zu wollen. Flocke rutschte unbehaglich auf dem schlanken Polsterstühlchen, auf das ihn Dörte gedrückt hatte, hin und her. Ihm war, als wäre er mit dem Eintritt in die Villa in die Kulissenwelt eines jener Kostümfilme versetzt worden, die sich seine Mutter so gerne auf den Schirm ihres Fernsehers holte. Allerdings: Dörtes Gesicht, ihre Brüste und Beine waren aggressiv gegenwärtig. Dörte hatte ihn grußlos an langem Arm in die Wohnung gezogen, ja beinahe gezerrt durch eine geräumige Diele und hinein in einen großen Raum, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren. Nur über dem unbelebten Kamin, vor dem sie jetzt saßen, hatte man dem Ölbild des Ahnen einen Platz gegönnt.
Flocke sah verlegen aus dem Fenster, um dem strengen Blick des Herrn aus lange vergangener Zeit zu entgehen und auch der Versuchung, Dörte allzu gierig anzustarren. Diese Blickrichtung konnte er plausibel machen, weil dort auf dem träge dahingleitenden Fluss gerade ein harmlos bewimpeltes Ausflugsboot vorbeifuhr. An Deck hopste und grölte eine ruppige Schar. Eine junge Frau hing über der Reling und übergab sich in den Fluss.
Bibliothek (gleich darauf)
Offensichtlich hatte auch Johanna die Ausflugsgrölerei wahrgenommen. »Unerhört.« Flocke schreckte auf. »Hilfe. Wer schlägt da ständig Alarm?« Dörte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das is die olle Johanna, die röhrt da immer wie ne Furie rum. Ich hör das schon gar nich mehr. Is aber harmlos, mächtig angeschlagen die Alte, ich glaub, die modert nur noch vor sich hin. Ich weiß nich mal, wie die aussieht. Die Woche, die ich hier bin, is se nie aus ihrer Klause rausgekrabbelt. Vergiss es.« Sie ließ sich auf ein zierliches Kanapee fallen, das unter dem schwunghaften Aufprall unwillig knarrte. »Supernett, dass du vorbeigekommen bist.« »Wo bin ich hier eigentlich?« »Bei meiner Großmutter Charlotte.« »Und deine Eltern?«
»Die Erzeugerfraktion will vorerst nix mehr von mir. Ham mich rausgeschmissen und hier abgeladen bei der Oma im Museum.« »Gab's Stress?« »Kannste so sagen. Ich war kurz mal out of space. Kam ziemlich dick in der letzten Zeit, also, dass die mich geschnappt ham in dem Media-Store, wo ich den scheiß MP3-Player eingetütet hab. Auf den ich nich mal scharf war. War mehr son Sport. Also erst der Auftritt der Bullen, dann die Sache mit dem Schnee und der Schulverweis und dass se Freddie eingeknastet ham, na ja, hat sich alles irgendwie geballt, da sind die ausgerastet, aber voll, ham endlos rumgezofft, mit mir wärn se fertig, se hätten jetzt auch keine Idee mehr, so ne Kriminelle wie mich, das bräuchtn se ja gar nich, ham mir ne Asi-Zukunft ausgemalt - und na ja, jetzt bin ich eben hier, in der madigen Geronten-WG bei meiner Großmutter und ihren gruftigen Freundinnen, den drei Alten, die se in ihre feudale Bude gelockt hat. Die ham sich hier zusammengerottet, weil denen die Männer abhandengekommen sind ... Hab ich eben ›abhanden‹ gesagt?« »Ja, hast du.« »Siehste, färbt schon ab, das gruftige Biotop hier. Da muss ich echt aufpassen, ich werd hier auch sicher nich schimmeln, aber erst mal ...« »Und wie ist es hier so?« »Lalilu.« »Ne, sag doch mal richtig.« »Öde, nee, crank isses.« »Wieso crank?« »Na, da kommste nich drauf, was hier so abgeht. Aktuell, zum Beispiel, sind se scharf drauf, hundert Gründe zu finden, warum es gut is, möglichst bald abzukratzen.« »Ich find's witzig.« »Du musst hier ja auch nicht sein.«
Johannas Zimmer im 1. Stock (währenddessen)
Charlotte betrat, nachdem ihr Klopfen ungehört geblieben war, leise das Zimmer von Johanna, die hochgebockt, mit drei prallen Kissen im Rücken und angezogenen Knien auf ihrem Bett mehr saß als lag. Sie hatte Kopfhörer auf den Ohren, ein MacBook Air auf dem Schoß und tippte hektisch in dessen Tastatur, wobei sie kleine Schnauflaute ausstieß, die das Geschriebene orchestrierten und Erregungsgrade anzeigten. Charlotte beugte sich zu ihr hinunter, berührte sanft ihre Schulter und sagte sehr laut: »Hörst du mich? Kannst du mich hören?« Johanna nahm den Kopfhörer herunter. »Ja, ich kann dich hören. Brüll hier nicht so rum.« »Das musst du gerade sagen. Was tust du da. Schreibst du an deinem Roman?« »Nein, ich blogge, das ist ...« »Ich weiß, was das ist. Warum tust du das?« »Damit ich bin. Damit ich war. Damit ich sein werde. Ich bin nur, wenn man mich wahrnehmen kann, und angemessen wahrnehmen kann man mich nur, wenn ich in meiner Selbstbeschreibung wahrgenommen werde, dann kann ich mich selbst auch wieder wahrnehmen. Verstehst du das?«
»Nein.« »Dort, im Netz, werde ich noch sein, wenn ich hier nicht mehr bin.« »Und was hast du davon, du wirst es ja dann nicht mehr wissen können.« »Wer weiß. Ich lege Spuren in jede Richtung. Es gibt mich sogar mehrfach. Eine interessante Erfahrung. Nur zur Information: Ich heiße gerade Eduard, bin zweiundfünfzig Jahre alt, bin Graphiker und sehr sportlich. Im Moment kommuniziere ich mit ...« »Ach, und hier und jetzt bei mir, bei uns, da bist du nicht?« »Hier am allerwenigsten. Hier, das ist für mich schon die Vorform meines Sarges.« »Vielleicht solltest du die Alternative bedenken: das Pflegeheim, in das dich dein dubioser Neffe hat abschieben wollen ...« »Ach, ist jetzt Dankbarkeit gefordert?« »Nein. Aber du könntest die Ruferei irgendwann einstellen oder wenigstens reduzieren.« »Nein. Ich möchte lieber nicht. Wer ist da gekommen?« »Ein Freund von Dörte.« »Der Knacki?« »Nein, ein harmloser Junge.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Kurzum: Es gibt keine brauchbaren Informationen. Auch die Artikel der Sensationsreporter, die sich natürlich auf den grausigen Fund in der Villa stürzten, boten nichts als Spekulationen.« »Dann erzähl eben, wie es gewesen sein könnte. Füll die Lücken. Mach, was du so gut kannst. Mach einen Film daraus. Was ist denn das überhaupt für eine verrückte Geschichte? « »Eine verrückte Geschichte von verrückten alten Frauen, so würde man das in einem Trailer ankündigen, aber verrückt waren sie wahrscheinlich gar nicht, nur etwas verdreht, und ich weiß auch nicht, ob es wirklich eine Geschichte ist, eher eine Zuspitzung, ja, eine seltsame Zuspitzung, so will ich es sehen. Oder besser noch: eine Folge von Seltsamkeiten an einem einzigen Tag, an einem einzigen Ort. Wie ein absurdes Bühnenstück. Ich glaube, du musst dir, um das Geschehen zu verstehen, ein Bild von meiner Großtante machen. Eine hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön, wie man sich in meiner Familie erzählte. Aus reichem Hause kommend, hatte sie von ihrem Mann zusätzlich ein beträchtliches Vermögen geerbt. Sie bewohnte eine große weiße Villa an einem Fluss gelegen. In den letzten Jahren hatte sie drei Freundinnen zu sich geholt, die - wie ich hörte - ein bequemes Leben dort hatten und ...« »Das ist langweilig. Kannst du langsam mal zur Sache kommen?« »Okay. Alles begann mit einem Ruf.«
In der weißen Villa (10 Uhr 03, noch 8 Stunden)
»Unerhört«, rief Johanna, und nochmals: »Unerhört.« Ihre scharfe Stimme drang in alle Winkel und Fugen der Villa. (In fünf Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Mädchenzimmer, ein Speisezimmer, in einen großen Salon, eine Bibliothek, ein imposantes Entree, eine Diele, in drei Bäder, eine Besuchertoilette, eine große Küche, eine Speisekammer, über zwei Treppen hinauf und herunter und in einen Abstellraum.) Sogar auf der besonnten Uferpromenade war das »Unerhört « zu vernehmen. Einige Spaziergänger schauten alarmiert hoch zu den geöffneten Fenstern im ersten Stock. Ein älteres Ehepaar beschleunigte den Schritt. »Unerhört« und nochmals »Unerhört«. Und abermals durchfuhr der Doppelklang die Villa. Man hätte meinen können, dass die vielen dünnbeinigen Tischchen und die Schar der filigranen Figürchen und Väschen bersten müssten unter dem Druck der Schallwellen, die den scharfen Ton zweimalig enggestaffelt vor sich hertrieben. Erstaunlicherweise nahm keine der anwesenden Bewohnerinnen des Hauses Notiz von dem schneidenden Ruf.
Aber das musste nicht erstaunen, denn die seit Jahren weitgehend bettlägrige Johanna schickte diesen Ruf, der zuweilen wie ein Fluch klang, häufig in die Räume, an manchen Tagen rief sie zehnfach. Sie rief, wenn sie etwas empörte, etwas, das sie las, etwas, auf das sie im Fernsehen oder im Internet stieß, und sie rief sogar, wenn sie an etwas Unerfreuliches dachte. Die zweiundachtzigjährige Johanna, eine vergessene Autorin der Belletristik, tat sich keinen Zwang mehr an. Warum auch. »Unerhört.«
Vor der weißen Villa (zur selben Zeit)
Auch Flocke hatte diesen Ruf gehört, dieses »Unerhört«, das aus der Villa schrillte, die er kurz darauf betreten würde. Flocke wunderte sich. Es war der Tag, an dem Flocke aus dem Wundern nicht mehr herauskam. Flocke war sein Spitzname. Jemand hatte einmal zu jemandem gesagt, dass er eigentlich Florian Kern heiße. Flocke war ein neunzehnjähriger Schüler. Bei dieser Kennzeichnung konnte man es eigentlich belassen. Hätte sich jemand eingehend nach ihm erkundigt, wäre das Wesentliche zu seiner Person schnell gesagt. Er war ein ruhiger Typ, unaufgeregt, geduldig. Er war gut in der Schule, ohne als Streber zu gelten. Er war in engen Grenzen witzig. Soll heißen: Zuweilen fand er den Weg zu erborgten Pointen und punktete damit in seiner Clique. Er fügte sich in die sprachlichen und körperlichen Ausdrucksformen seiner Altersklasse, ohne je in die Extreme zu gehen. Er wurde gemocht, wenn auch nicht geliebt. Er hatte hundertsiebenundzwanzig Freunde bei Facebook. Er trug die richtigen Hosen und Hemden, ging in die richtigen Lokale, hatte die richtige Frisur, schätzte die richtigen Filme und kannte sich gut aus in angesagter Popmusik und hinreichend in der Cyberwelt. Man könnte sagen: Er war überdurchschnittlich durchschnittlich ... Im Moment hatte Flocke Zahnweh. Der Schmerz hatte sich in den letzten Tagen angeschlichen. Am Nachmittag hatte Flocke einen Termin beim Zahnarzt. Das Wort »unerhört« befand sich nicht in seinem aktiven Wortschatz.
Drinnen
Flocke, der Farbarme, sollte im Folgenden keine maßgebliche Rolle spielen, aber es musste doch von ihm die Rede sein, denn er hatte sich in einer Leidenschaftlichkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte (mehr oder weniger aus der Ferne), in die scharfe siebzehnjährige Dörte verliebt, in Sexy-Dörte, wie sie in ihrer Clique genannt wurde. Seine erste und - wie er dachte - seine große Liebe. Leider bestand der Verdacht, dass die wilde Dörte diese Gefühle nicht teilte und sich den freundlichen Jungen nur in die Villa bestellt hatte, weil sie in der letzten Zeit allzu aufsässig geworden war und im Zuge etlicher Grenzverletzungen den elterlichen Groll, ja deren blanke Wut, hervorgerufen hatte und jetzt im ungewohnten Milieu der großmütterlichen Villa (einem Prachtbau der Gründerzeit), in der sie sich nach der Vertreibung aus dem Elternhaus wiedergefunden hatte, notwendig einen gleichaltrigen Freund, einen verlässlichen Kumpel, brauchte. Eine ratlose Göre von ratlosen Erzeugern bei der Vorgängergeneration geparkt. Auch sie hatte sich eine erste Liebe eingebildet. Der, dem sie gegolten hatte und vielleicht noch immer galt, befand sich jetzt in Untersuchungshaft, angeklagt des wiederholten Diebstahls und der räuberischen Erpressung. Diese Dörte hatte das Gefährliche gesucht, hatte sich eine Zuständigkeit im Bösen angemaßt (da kam vieles aus Comics und Filmen), hatte sich mit einer höllischen Bestimmung geschmückt, war dann kurz an einen sozialen Abgrund getreten - und hatte sich sogleich sehr geängstigt. Im Grunde war sie nichts mehr als ein dummes kleines Mädchen, allerdings glücklich ausgestattet mit einem Körper, für den manche Frau - wäre dies der handelsübliche Preis dafür - einen Mord erwogen hätte. (Flocke war, als er Dörtes Anruf am Morgen entgegengenommen hatte, über die unverhoffte Einberufung ebenso verwundert wie entzückt gewesen.)
Bibliothek (10 Uhr 08)
»Hier wohnst du jetzt.« In Flockes Feststellung war viel Frage enthalten. Sein ungläubiger Blick ruhte auf einem goldgerahmten Ölbild, dem Brustporträt eines ernsten Herrn mit einer hochgelockten Frisur und gebauschten Favoris. (Möglicherweise der Ahnherr einer der vier alten Damen, die das Haus bewohnten.) Gehüllt in einen dunklen Gehrock, dessen Brustausschnitt ein gewaltiges weißes Plastron füllte, schaute er drohend aus dem Bild. Flocke hätte weder die Malweise noch die Bekleidung des Porträtierten und gewiss nicht die Stilmerkmale des ihn umgebenden Mobiliars benennen und historisch zuordnen können. Er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, dies können zu wollen. Flocke rutschte unbehaglich auf dem schlanken Polsterstühlchen, auf das ihn Dörte gedrückt hatte, hin und her. Ihm war, als wäre er mit dem Eintritt in die Villa in die Kulissenwelt eines jener Kostümfilme versetzt worden, die sich seine Mutter so gerne auf den Schirm ihres Fernsehers holte. Allerdings: Dörtes Gesicht, ihre Brüste und Beine waren aggressiv gegenwärtig. Dörte hatte ihn grußlos an langem Arm in die Wohnung gezogen, ja beinahe gezerrt durch eine geräumige Diele und hinein in einen großen Raum, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren. Nur über dem unbelebten Kamin, vor dem sie jetzt saßen, hatte man dem Ölbild des Ahnen einen Platz gegönnt.
Flocke sah verlegen aus dem Fenster, um dem strengen Blick des Herrn aus lange vergangener Zeit zu entgehen und auch der Versuchung, Dörte allzu gierig anzustarren. Diese Blickrichtung konnte er plausibel machen, weil dort auf dem träge dahingleitenden Fluss gerade ein harmlos bewimpeltes Ausflugsboot vorbeifuhr. An Deck hopste und grölte eine ruppige Schar. Eine junge Frau hing über der Reling und übergab sich in den Fluss.
Bibliothek (gleich darauf)
Offensichtlich hatte auch Johanna die Ausflugsgrölerei wahrgenommen. »Unerhört.« Flocke schreckte auf. »Hilfe. Wer schlägt da ständig Alarm?« Dörte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das is die olle Johanna, die röhrt da immer wie ne Furie rum. Ich hör das schon gar nich mehr. Is aber harmlos, mächtig angeschlagen die Alte, ich glaub, die modert nur noch vor sich hin. Ich weiß nich mal, wie die aussieht. Die Woche, die ich hier bin, is se nie aus ihrer Klause rausgekrabbelt. Vergiss es.« Sie ließ sich auf ein zierliches Kanapee fallen, das unter dem schwunghaften Aufprall unwillig knarrte. »Supernett, dass du vorbeigekommen bist.« »Wo bin ich hier eigentlich?« »Bei meiner Großmutter Charlotte.« »Und deine Eltern?«
»Die Erzeugerfraktion will vorerst nix mehr von mir. Ham mich rausgeschmissen und hier abgeladen bei der Oma im Museum.« »Gab's Stress?« »Kannste so sagen. Ich war kurz mal out of space. Kam ziemlich dick in der letzten Zeit, also, dass die mich geschnappt ham in dem Media-Store, wo ich den scheiß MP3-Player eingetütet hab. Auf den ich nich mal scharf war. War mehr son Sport. Also erst der Auftritt der Bullen, dann die Sache mit dem Schnee und der Schulverweis und dass se Freddie eingeknastet ham, na ja, hat sich alles irgendwie geballt, da sind die ausgerastet, aber voll, ham endlos rumgezofft, mit mir wärn se fertig, se hätten jetzt auch keine Idee mehr, so ne Kriminelle wie mich, das bräuchtn se ja gar nich, ham mir ne Asi-Zukunft ausgemalt - und na ja, jetzt bin ich eben hier, in der madigen Geronten-WG bei meiner Großmutter und ihren gruftigen Freundinnen, den drei Alten, die se in ihre feudale Bude gelockt hat. Die ham sich hier zusammengerottet, weil denen die Männer abhandengekommen sind ... Hab ich eben ›abhanden‹ gesagt?« »Ja, hast du.« »Siehste, färbt schon ab, das gruftige Biotop hier. Da muss ich echt aufpassen, ich werd hier auch sicher nich schimmeln, aber erst mal ...« »Und wie ist es hier so?« »Lalilu.« »Ne, sag doch mal richtig.« »Öde, nee, crank isses.« »Wieso crank?« »Na, da kommste nich drauf, was hier so abgeht. Aktuell, zum Beispiel, sind se scharf drauf, hundert Gründe zu finden, warum es gut is, möglichst bald abzukratzen.« »Ich find's witzig.« »Du musst hier ja auch nicht sein.«
Johannas Zimmer im 1. Stock (währenddessen)
Charlotte betrat, nachdem ihr Klopfen ungehört geblieben war, leise das Zimmer von Johanna, die hochgebockt, mit drei prallen Kissen im Rücken und angezogenen Knien auf ihrem Bett mehr saß als lag. Sie hatte Kopfhörer auf den Ohren, ein MacBook Air auf dem Schoß und tippte hektisch in dessen Tastatur, wobei sie kleine Schnauflaute ausstieß, die das Geschriebene orchestrierten und Erregungsgrade anzeigten. Charlotte beugte sich zu ihr hinunter, berührte sanft ihre Schulter und sagte sehr laut: »Hörst du mich? Kannst du mich hören?« Johanna nahm den Kopfhörer herunter. »Ja, ich kann dich hören. Brüll hier nicht so rum.« »Das musst du gerade sagen. Was tust du da. Schreibst du an deinem Roman?« »Nein, ich blogge, das ist ...« »Ich weiß, was das ist. Warum tust du das?« »Damit ich bin. Damit ich war. Damit ich sein werde. Ich bin nur, wenn man mich wahrnehmen kann, und angemessen wahrnehmen kann man mich nur, wenn ich in meiner Selbstbeschreibung wahrgenommen werde, dann kann ich mich selbst auch wieder wahrnehmen. Verstehst du das?«
»Nein.« »Dort, im Netz, werde ich noch sein, wenn ich hier nicht mehr bin.« »Und was hast du davon, du wirst es ja dann nicht mehr wissen können.« »Wer weiß. Ich lege Spuren in jede Richtung. Es gibt mich sogar mehrfach. Eine interessante Erfahrung. Nur zur Information: Ich heiße gerade Eduard, bin zweiundfünfzig Jahre alt, bin Graphiker und sehr sportlich. Im Moment kommuniziere ich mit ...« »Ach, und hier und jetzt bei mir, bei uns, da bist du nicht?« »Hier am allerwenigsten. Hier, das ist für mich schon die Vorform meines Sarges.« »Vielleicht solltest du die Alternative bedenken: das Pflegeheim, in das dich dein dubioser Neffe hat abschieben wollen ...« »Ach, ist jetzt Dankbarkeit gefordert?« »Nein. Aber du könntest die Ruferei irgendwann einstellen oder wenigstens reduzieren.« »Nein. Ich möchte lieber nicht. Wer ist da gekommen?« »Ein Freund von Dörte.« »Der Knacki?« »Nein, ein harmloser Junge.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Silvia Bovenschen
Silvia Bovenschen, 1946-2017, lebte als Literaturwissenschaftlerin und Essayistin in Berlin. 2000 wurde sie mit dem "Roswitha Preis" der Stadt Gandersheim und dem "Johann-Heinrich-Merck-Preis" der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. 2007 erhielt Silvia Bovenschen den "Ernst-Robert-Curtis-Preis" für Essayistik und 2014 wurde sie mit dem "Bayerischen Buchpreis" in der Kategorie Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Silvia Bovenschen
- 2013, 3. Aufl., 160 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100035232
- ISBN-13: 9783100035233
- Erscheinungsdatum: 25.07.2013
Rezension zu „Nur Mut “
Ein politisch erfrischend unkorrektes Buch über alte Menschen und ihren Frust am Lebensende. Valeria Heintges St. Galler Tagblatt 20131230
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