Nur nicht unsichtbar werden
Als Mädchen und später junge Frau hatte sie es doppelt schwer, sich ihre Freiheit zu erkämpfen.
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Als Mädchen und später junge Frau hatte sie es doppelt schwer, sich ihre Freiheit zu erkämpfen.
Nur nicht unsichtbar werden von Nuala O'Faolain
LESEPROBE
Prolog
An den Wochenendenverbrachten Hugo und ich
die meiste Zeit im Bett.Wir wohnten in der Mansarde
eines weitläufigen Hausesmit Türmchen
und Giebeln zwischenKastanienbäumen am
Rand eines Parks im Südenvon London. Unsere breite
Matratze lag auf demBoden vor hohen, von Wind und Wetter
verzogenen Fenstern, dieman zu einem feuchten Balkon
hin aufstemmen konnte.Eine Taube brütete in jenem Frühling
im Geäst auf gleicherHöhe mit unseren Kissen. Ihr Nest
schaukelte im Wind unddurch das Blätterdach ergossen sich
auf unsere Körper Sprenkelgrünen Lichts. An den Werktagen
arbeiteten wir. Ich standfrüh auf und ging in zwei Pubs
putzen, um meinJournalistik-Studium und meinen Lebensunterhalt
zu finanzieren, währendsich Hugo an seinen
Schreibtisch in dem kleinenErker des Zimmers setzte. Tagsüber
studierte er Jura undabends Journalistik. Aber an den
Wochenenden spielten wir.
Wir lebten auf derMatratze wie auf einem Floß. Alles, was
wir brauchten, stelltenwir um uns herum auf den Fußboden,
damit wir nur die Armedanach auszustrecken brauchten.
Wenn es kalt war, lagenwir unter der Steppdecke und im
Sommer rekelten wir unsauf den sonnenbeschienenen Laken.
Hugo brachte gewöhnlichKaffee und Toast aus der Küche
hoch. Das Brot verwahrteer im Zimmer, denn die anderen
Studenten, die mit unsdas Haus teilten, pflegten wie Heuschrecken
über alles Essbareherzufallen, wenn sie Freitag
nachts aus den Pubs und Discos zurückkamen. Hugos Mutter hatte ihm eineechte Kaffeemaschine geschenkt, ein Utensil,
das Anfang der siebzigerJahre selbst in London kaum
jemand besaß. Sie hattesie aus dem Ausland mitgebracht, ich
weiß nicht von wo, ererzählte mir sehr wenig von ihr, und
ich habe sie nie kennengelernt. Sie schenkte ihm immer etwas
Teures, wenn er mit ihrzum Supper ging.
So nannte er es, wenn ermit ihr zu Abend aß. Ich hatte
mich gerade erst darangewöhnt, dass man die Mahlzeit am
Abend Dinner nannte, undes verwirrte mich, wenn Hugo
nun Supperdazu sagte. In Kilcrennan existierte ein solches
Mahl überhaupt nicht, ebensowenig wie echter Kaffee. Man
nahm sein Dinner ein,wenn man aus der Schule kam, oder,
bei uns zu Hause, wenn Mammy eins zubereitet hatte. Später
gab es Tea. Das Wort Supper kannte ich nur im religiösen
Kontext als Abendmahl. Aberwarum es mich insgeheim
peinlich berührte, wennHugo ein so bescheidenes Wort wie
Supper für Dinners in teurenRestaurants verwendete, weiß
ich nicht.
Ich beobachtete ihnständig, während er mich nur selten
ansah. Und doch war erverrückt nach mir. Es verging kaum
eine Stunde, in der ernicht vom Schreibtisch aufstand und
über meine Hüfte strich,mich auf den nachdenklich geöffneten
Mund küsste oder meineHand zu einer Liebkosung
veranlasste. Er zeigtemir, dass er mich brauchte, oder besser:
mich begehrte. Baldnachdem wir begonnen hatten
zusammenzuleben, war miraufgefallen, dass er, wiewohl er
unablässig meinen Körperund meine Haare pries, nie etwas
über mein Gesicht sagte.Ich fühlte mich daher viel sicherer,
wenn ich mich mit ihm imDunkeln auf der Matratze wälzte,
als wenn er mich ansah.
Als wir in dem vomunablässigen Gurren und Kollern der
Tauben erfüllten Zimmerlebten, war Hugo in seinem letzten
Studienjahr vor demJura-Examen. Auf dem Lehrplan stand
auch Rechtsgeschichte,darunter eine Stunde Geschichte des
Scheidungsrechts. EinesTages warf er die fotokopierten Protokolle
einer Gerichtsverhandlungim Oberhaus aus dem Jahr
1856 auf das Bett: Talbotgegen Talbot. Es war an einem
Sonntagabend und wirwaren dabei, uns auf die kommende
Woche vorzubereiten. Ichliebte diese Stunden, in denen wir
zielstrebig in dem großenZimmer hin und her liefen, bis die
zerknitterten Zeitungenweggeräumt und die Krümel aus dem
Bett geschüttelt waren. Hugo war gewöhnlich etwas gereizt,
das heißt: meinerüberdrüssig, und in Gedanken bereits bei
der Arbeit. Doch ich warrundum ausgefüllt und zufrieden.
Draußen dämmerte es, undwir waren in Sicherheit.
Ich wohnte nur kurze Zeitin dem Haus zwischen den Kastanienbäumen.
Mit dreiundzwanzig wurdeich aus dem Garten
Eden vertrieben und jetztbin ich fast fünfzig. Vor Jahren
war ich einmal imFitness-Raum eines Hotels auf Madeira
(oder war es Malta?) - aneinem Ort jedenfalls, der heiß und
auf britische Artlangweilig war. Ich machte mir gerade Notizen
für einen Artikel, alsmein Blick nach oben auf den stummgeschalteten
Fernseher fiel. Ausirgendeinem Grund lief auf
allen Kanälen eineDebatte aus dem kanadischen Parlament in
Ottawa. Hinter demstattlichen Redner saß ein schlanker
Mann, den Kopfgeistesabwesend auf die verschränkten Hände
gestützt. Ich glaube,dieser Mann war Hugo. Mir wurde
einen Augenblick langganz heiß. Diese Hände
Ich bin ihm heute dankbardafür, dass er mir damals jene
Akte in die Hand gedrückthat. Außer ihm kannte ich niemanden,
der mit dem gleichenEhrgeiz Jura studierte. Er war
nicht nur sogewissenhaft, Fotokopien zu dem behandelten
Lehrstoff mit nach Hausezu bringen und durchzuarbeiten,
er heftete sieanschließend sogar zusammen, um sie mir zu
lesen zu geben, anstattsie mit den anderen durchgearbeiteten
Materialien einfachwegzuwerfen.
»Das hier wird dichinteressieren, Kathleen«, hatte er
gesagt. »Echter Stoff fürdie Frauenbewegung. Noch dazu
irisch. Jedenfalls ist esin Irland passiert.«
In seiner Ausspracheklang es wie »Ahland«.
»Damals musste man sichnoch an das Parlament wenden,
wenn man sich scheidenlassen wollte«, sagte er. »Darum geht
es hier.«
Mit der eingereichtenPetition ersucht Mr. Talbot aus Mount
Talbot in Irland Eure Lordschaften um die gesetzliche Geneh-
migung zur Auflösung des Ehekontrakts, wie es heißt, mitseiner
Frau, gleich ob sie sichdes Ehebruchs schuldig gemacht
hat oder nicht.
»Ach, die Engländer undihr Verhalten in den Ländern anderer
Völker«, sagte ich. »Daist Ehebruch doch nichts Neues.
Das kennen wir auch ausihrer Zeit in Kenia und Indien -
überall dort, wo sienicht genug damit zu tun hatten, die Einheimischen
herumzukommandieren.«
»Der Ehebruch hier wurdemit einem Einheimischen begangen
«, sagte Hugo.
»Mylords,«las er vor, »der Mrs. Talbot zur Last gelegte Ehebruch
soll mit einem derHausangestellten in Mount Talbot,
einem Mann namens WilliamMullan, vollzogen worden sein.
Mullan wird allgemein als Stallbursche, gelegentlich aberauch
als Kutscher bezeichnet.Obwohl Mr. und Mrs. Talbot allem
Anschein nach nie eineKutsche im üblichen Sinne ihr Eigen
nannten, besaßen siedoch, wie die meisten Familien in Irland,
einen irischen Kutschwagen.Wenn sie mit diesem Wagen ausfuhren,
hat Mullanihn gelenkt und sich auch um das Pferd
gekümmert «
» Die meisten Familien ,dass ich nicht lache«, erinnere ich
mich damals gesagt zuhaben. »1849 soll das gewesen sein?
Damals waren die meistenFamilien in der großen Hungersnot
umgekommen, wenn sienicht Hals über Kopf ausgewandert
waren.«
»Ach du lieber Himmel«,sagte Hugo eher nachsichtig.
Ich überflog dieUrteilsbegründung.
»Mein Gott! Das war jaein tollkühnes Liebespaar!« Ich
zitierte:
Beide Zeugen geben an, Mullan und Mrs. Talbot in einem der
Ställe im Stroh beisammenliegen gesehen zu haben. Tatsache
ist, dass erStallkleidung trug und ein Zeuge ihn als unflätige,
schmutzig aussehendePerson bezeichnet hat, was sie jedoch,
allem Anschein nach,nicht abgeschreckt habe. Nun kann man
entgegnen, es seiunmöglich, dass eine Dame sich zu einer solchen
Handlung in einem Stall herablasse,wo, wie man so sagt,
die Tiere kopulieren.Aber wo sollte eine solch niedere Leidenschaft,
die eine Frau in die Armeeines Gesindeknechts
treibt, sonst befriedigtwerden? Gelegenheiten bieten sich nicht
immer von selbst: Siemüssen gesucht werden
»Komm her«, unterbrachmich Hugo. »Sie müssen irgendwas
ins Wasser tun inIrland«, sagte er.
Er hatte sich in dengroßen hölzernen Schaukelstuhl gesetzt
und klopfte auf seineSchenkel. Mein Haar reichte mir damals
bis zur Hälfte desRückens. Er beugte sich vor, wickelte eine
lange Locke um seine Handund zog mich an sich.
©Wunderlich Verlag
Übersetzung: Renée Zucker
Autoren-Porträt von Nuala O'Faolain
Nuala O'Faolain, geboren in Dublin, tätig nach dem Studium alsUniversitätsdozentin und Produzentin, bevor sie Kolumnistin der 'Irish Times' wurde. Romanveröffentlichungen.
Die irische Journalistin Nuala O Faolain landete mit ihremersten Buch, der Autobiographie Nur nicht unsichtbar werden" einen Bestseller.Ihr zweites Werk, der Roman Ein alter Traum von Liebe" sowie die Fortsetzungihrer Autobiografie Sein wie das Leben" wurden ebenfalls Bestseller.
Auch Elke Heidenreichgehört zu O`Faolains Anhängern: In ihrer erstenSendung von Lesen!" empfahl sie den Roman Ein alter Traum von Liebe" als ihrpersönliches derzeitiges Lieblingsbuch.
Nuala O Faolain lebt in Irland und New York.
Wie aus einer Einleitung ein Bestseller wurde
Daserste Buch, das Sie je geschrieben haben, war Ihre Autobiographie. Ist dasnicht etwas ungewöhnlich?
(lacht) Ja!Aber ich habe gar nicht gemerkt, dass ich ein Buch schreibe. Niemand hatte michdarum gebeten, es zu schreiben, niemand wusste, dass ich es schrieb. Ich wardamals Journalistin, und deshalb war ich etwas bekannt, und ein kleiner Verlagwollte einige meiner alten journalistischen Werke sammeln. Ich sagte, ich würdeeine Einleitung dazu schreiben. Die Einleitung wuchs und wuchs und drängte sichaus mir heraus, also saß ich hier, wo ich jetzt gerade sitze, an meinem altenKüchentisch in Dublin, und ich schrieb und schrieb. Weil ich mir sicher war,dass niemand es lesen würde. Denn niemand liest ein Buch mit altenjournalistischen Texten. Wenn ich gewusst hätte, dass ich meine Autobiographieschreibe, wäre ich gehemmt gewesen. Aber ich schrieb ja nur eine Einleitung.
Wannhaben Sie realisiert, dass es nicht nur eine Einleitung war, sondern ein ganzesBuch?
Etwa beider Hälfte. Und das hat mich dann auch gestoppt. Deshalb musste ich zu einemSchreibkurs gehen, um das Schreiben wieder ans Laufen zu bekommen. Es war dieseVerwicklung, die dafür sorgte, dass das alles funktionierte. Ich habeherausgefunden, dass der Schlüssel dazu war, dass ich mich dem Tod meinerMutter stellte. Und ich war überrascht, Jahre später, als ich meinen Romanschrieb, dass das erste, was ich davon schrieb, eine Szene war, in der dieTochter ihre Mutter im Stich lässt bis zu deren Tod. Ich weiß nichts überPsychoanalyse oder so etwas, aber es wirkt auf mich, dass ich mich selbst vonetwas heilte.
Sieheilten sich mit ihrem ungeplanten Buch also selbst, und offensichtlich habenSie auch bei anderen Menschen etwas in Bewegung gebracht. Denn ihr Buch wurdeein internationaler Bestseller.
Ich glaube,das kam, weil mein Buch so aufrichtig war. Ich schrieb wirklich und ehrlich dieWahrheit. Ich schrieb sie für mich selbst. Ohne irgendeine Art von Leserschaftim Hinterkopf. Ich denke, dass dieser Ton der Aufrichtigkeit gehört werdenkann. Seltsamerweise auch über Entfernungen, über Sprachenbarrieren, überAltersunterschiede und über Geschlechtergrenzen, über Kulturunterschiedehinweg. Es erstaunt mich und es ist das Wichtigste, was ich dabei entdeckthabe: dass es eine menschliche Gemeinschaft gibt. Wenn einer die Handausstreckt nach Hilfe, gibt es andere, die diese Hand halten. Warum sonstsollten Fremde mir tausende von Briefen schreiben? Das geschah nur ausmenschlicher Solidarität. Diese Entdeckung, dass ich zu dieser großenGemeinschaft gehöre, dass ich eben nicht allein war, wie ich dachte, das wardie große Entdeckung.
Ist esnicht auch schwer gewesen, die Wahrheit zu nennen? Man versteckt sie ja ganzgern vor sich selbst.
Das stimmt.Aber ich war an einem Punkt, an dem ich nichts zu verlieren hatte.
Wie eine zufällige Karriere entstehen kann
IhreAutobiographie war das Fazit Ihres Lebens bis 1998. Ihr Erfolg hat vieles inIhrem Leben verändert. Wie sieht Ihr Fazit heute aus, im Frühjahr 2004?
Oh meinGott! Seit ich Nur nicht unsichtbar werden" geschrieben habe, ist allesanders. Als ich es zu schreiben begonnen hatte, hatte ich keinen Platz in derWelt. Ich hatte einen guten Job, und das war alles. Ich hatte keinen Liebhaber,kein Kind, kein Geld, ich hatte keine Hoffnung für die Zukunft. Und ich hattekeinen Plan. All das hat sich verändert, als meine Autobiografie aus mir herausbrach, die niemals eine freundliche Aufnahme erwartete. Als das Buch dann einWillkommen fand, veränderte sich meine Wahrnehmung von mir selbst in der Welt.Ich wusste vorher nicht, dass es da draußen Leute gab, die mich wirklich mögenwürden. Aber meine Leser mögen mich. Sie mögen nicht mich persönlich, aber siemögen mein Ich aus dem Buch. Was sehr nah an mir dran ist.
Neulich warich in Köln, bei Elke Heidenreich. Da saßen 750 Leute in dem Theater bei einemLiteraturfestival, um mich lesen zu hören. Ich weiß, dass die meisten da waren,weil mein Interviewer Elke Heidenreich war. Sie ist eine wundervolle Frau, sonatürlich. Ich habe mich gefühlt, als hätte ich sie schon mein ganzes Lebenlang gekannt. Es war ein überaus herrlicher Abend, sehr emotional. Und all dashat sich für mich eröffnet, weil ich an meinem Küchentisch gesessen hatte undmir selbst erlaubt, mich zu mögen. Genug zu mögen, um mein eigenes Leben zu schätzen.Obwohl nichts Besonderes oder Aufregendes je passiert war in diesem Leben. Eswar nicht weit entfernt von einem gewöhnlichen Leben.
Siehaben doch schon eine eindrucksvolle Karriere als Journalistin gemacht, bevorSie ihren Bestseller schrieben. Das nennen Sie nichts Besonderes"?
DerHauptgrund, warum ich eine Stelle als Journalistin bekam, war weil ich eineFrau war. Ich habe davon profitiert, dass man in den 80ern allgemein dachte,dass nicht nur Männer in einem Unternehmen arbeiten sollten.
IhrStart ins Leben war alles andere als einfach. Dennoch haben Sie es zu etwasgebracht. Wie haben Sie das geschafft? Woher nahmen Sie die Kraft?
Ich wusstegar nicht, dass ich Karriere machte. Ich ging einfach von einem Zufall zumnächsten. Es sah nicht wie eine Karriere für mich aus. Ich denke, ich hatteeinfach Glück, weil ich nie schwanger wurde, denn meine Generation von irischenFrauen wurde vor allem durch Schwangerschaften ruiniert. Und ich hatte Glück,weil ich ein Bücherwurm war. Das kann einem das ganze Leben hindurch helfen.Ich liebte englische Literatur. Ich liebte Literatur, es musste nicht englischesein. Als ich jung war, gab es ein Buch namens Effi Briest". Wahrscheinlichkennen alle Deutschen das. Aber hier herüben kennt es keiner. Aber ich liebees, wissen Sie. Ich liebe Literatur, und das brachte mich in Jobs, verstehenSie? Ich konnte unterrichten und ein bisschen was schreiben, und am Ende wurdeich Journalistin.
IhrVater war ein berühmter Journalist, Sie wurden eine berühmte Journalistin
Jaja,aber wir waren völlig verschiedene Journalisten. Er schrieb über Partys undEmpfänge, einen täglichen Bericht über das gesellschaftliche Leben Dublins. Ichschrieb eine Meinungskolumne über Politik und Wirtschaft und Kultur.
Von zwei kleinen Mädchen und einem Mann, den sie teilen
WelchePläne haben Sie für die Zukunft?
Ichschreibe mein letztes Buch. Es handelt wieder davon, wie es ist, eine Frau zusein. Wie es ist, eine irische Frau zu sein. Aber es ist basiert auf dem Lebeneiner irischen Kriminellen, die um 1900 in Amerika und Europa lebte.
Und wassind Ihre privaten Pläne?
Ich habeein kleines Zwei-Raum-Cottage im Westen Irlands, unddort ist jetzt mein Herz. Besonders zu dieser Jahreszeit, wenn der kalte Winterendet und kleine Kälber auf den Feldern stehen und süße Lämmchen um michherumspringen und überall Blumen blühen - ich liebe diesen Beginn eines neuenJahres. Ich wünschte, ich könnte ewig leben. Als ich Nur nicht unsichtbarwerden" schrieb, wäre ich absolut glücklich gewesen, wenn das Ende baldgekommen wäre. Ich meine, ich wollte nicht sterben, aber ich hatte keine Plänefür mein Leben.
Einen Teilmeiner Zeit verbringe ich also in Irland, den anderen Teil lebe ich mit einemMann in New York. Aber er hat eine zehnjährige Tochter. Ich finde es sehrschwer damit umzugehen, dass ich für ihn die Nummer zwei bin und nicht dieNummer eins. Ich hatte nicht gewusst, wie zerstört ich bin, dass ich es wirklichunmöglich finde dass ich es fast unmöglich finde, mit einem Mann zu leben,der seine Tochter vergöttert. Denn als ich aufwuchs, haben sich Väter nicht soverhalten. Sie mögen ihre Kinder geliebt haben, aber sie haben sie nichtgeküsst und umarmt und gefördert. Der Unterschied zwischen meiner Kindheit undder Kindheit dieses Mädchens ist so riesig Und es tut mir die ganze Zeit weh.
Weil Siegenau das vermissten, als Sie selbst ein kleines Mädchen waren?
Nun, ichdenke, es ist deshalb. Es liegt nicht an ihr, sie ist okay. Sie ist ein gutesKind. Es ist nicht wegen ihr. Aber mit einem geliebten amerikanischen Kind zuleben, während ich selbst ein Kind im Irland der 40er Jahre war, alsökologische und emotionale Armut der schlimmsten Art herrschten ...
BeneidenSie das Kind?
Nein,vielleicht manchmal. Ich fühle mich nur immer völlig ausgeschlossen. Ich fühlemich selbst wie ein Kind, aber eines, das nicht geliebt wurde. Das kann einenverrückt machen, wenn man es nicht aushält, wenn man raus auf die Straße rennt,weil es ihr Leben ist und sie sich dauernd umarmen! - Ich weiß, dass ich esversuchen sollte, damit klarzukommen. Ich versuche es ja. Und zur selben Zeitist das natürlich der Grund, warum ich ihren Vater mag. Weil er so liebevollist. Es ist sehr kompliziert, und es geht mir nicht sehr gut. Drücken Sie mirdie Daumen, dass sich in Amerika eine Lösung findet. Dass ich bei ihnen bleibenkann oder akzeptieren kann, dass ich zurückgehe nach Irland und alleine bin.Ich weiß nicht, was ich tun soll. Und in der Zwischenzeit, gerade vergangeneWoche, ist ein Bruder von mir gestorben, der wie ein Kind für mich war. Deshalbbin ich gerade in Dublin, um mit meinen Schwestern in die Kirche zu gehen.Heute bekommen wir seine Asche. Er hatte nie ein Leben. Er kannte nichtsanderes als Alkoholiker zu sein. Und jetzt ist er tot. Weil er nicht aufhörenkonnte zu trinken. Obwohl er es versuchte und versuchte Leben und Tod gehenweiter. Vergangene Nacht konnte ich nicht schlafen, weil ich an ihn denkenmusste. Ich zählte meine Segnungen, die ich bekam, es sind so viele. So vieleWohltaten. Ich habe sieben große Segnungen gezählt, bevor ich eingeschlafenbin. Wirklich große Segnungen.
ElkeHeidenreich sagte, nachdem sie Ein alter Traum von Liebe" gelesen hatte: DasLeben ist unendlich kompliziert, wenn es von einer derart freudlosen Kindheitaus gestartet wurde. Die Liebe, die man damals nicht bekam, fehlt einem einganzes Leben lang, und nichts gibt einem später mehr die Sicherheit und das Urvertrauenzurück, das man als Kind so sehr gebraucht hätte."
Ichfürchte, so muss es sein. Ich werde alt, Sie sollten meine Hände sehen, siehaben Altersflecken, mein Hals ist faltig, aber ichbin nicht erwachsen. Ich kann mit mir selbst nicht umgehen, ich kann das Lebennicht gut meistern, und es ist deshalb, weil immer noch Löcher in mir drinsind. Und ich weiß nicht Ich denke, ich werde den ganzen Weg über kämpfenmüssen. Es wird nicht besser. Aber auf der anderen Seite trinke ich nicht mehr,nur gelegentlich ein Glas Wein, ich rauche nicht mehr, ich kann schlafen - undich konnte mein ganzes Leben lang nicht schlafen. Dieser Mann ist ein sehrguter Mann, er ist nicht beleidigend, ärgerlich oder kalt. All das ist gesund.Aber natürlich kommt die Vergangenheit immer wieder zurück und versucht michwieder zu zerstören. Meine Trauer um meinen Bruder ist auch voller Wut, weilich ihn als von meinen Eltern ermordet betrachte.
HabenIhre Eltern auch in Ihnen viel ermordet?
Ja, abersie haben mir auch viel gegeben. Sie waren Sie haben keine Ahnung, ich meine,viele Menschen habe lieblose Eltern. Aber meine Eltern waren wirklich, wirklichcharmant. Sie wollten nie Sie waren erstaunlich, sehr zivilisiert in diesemfurchtbaren Land, in der Armut der 40er Jahre. Sie lasen und hörten Musik, meinVater brachte uns einige deutsche Lieder bei, Oh, du lieber Augustin" und Stille Nacht. Meine Eltern waren bemerkenswerte Leute und liebenswert, siewaren eben nur schreckliche Eltern. Er hat ihr Herz gebrochen. Deshalb hat siesich geweigert, eine Mutter zu sein und saß stattdessen im Pubund trank. Aber ich weiß ja, warum sie das gemacht hat. Viele Frauen wurden indie Rolle der Mutter gezwungen, obwohl es nicht ihrem Wesen angemessen war. AmEnde von Are you somebody"habe ich versucht, meinen Eltern zu vergeben. Aber ich habe ihnen nichtvergeben. Und ich möchte es auch gar nicht mehr. Ich bin mir zumindest nichtmehr sicher.
HabenSie sich je Kinder gewünscht?
Manchmal,wenn ich ein schönes Kind sehe, ein kleines Baby. Aber ich wollte nie einenKinderwagen draußen vor dem Supermarkt stehlen oder so etwas. Nein.
Wiefühlt es sich an, jetzt für die Tochter Ihres Freundes eine Art Mutter zu sein?
Zur Hälftefühle ich ganz genau, wie es ist, eine Mutter zu sein, und dass ich es immergewusst habe, wie es geht. Und sie fühlt das auch. Sie ist sehr empfänglichdafür. Sie kann die Autorität in meiner Bemutterung fühlen. Aber die andereHälfte von mir weist diese ganze Sache von mir. Ich bin nun alt genug, um nichtauf den Lärm einer Zehnjährigen hören zu müssen, Rockmusik und Spiele spielenund so etwas. Die Hälfte in mir will die Privilegien einer Großmutter.
Wie altsind Sie?
64. Das istverdammt alt. Es ist zumindest sicher nicht jung. Es ist die schattigere Seitedes mittleren Alters, denke ich.
HabenSie schon mal daran gedacht, nach New York zu ziehen?
Ich warteab, wer bei dem Kampf in mir gewinnt.
Wiegehen Sie mit dem Kampf um, warten Sie ab oder treiben Sie es in eine Richtung?
Ich kannfühlen, jetzt, da ich alt werde, wäre es praktisch und ästhetisch ansprechend,in eine freundschaftliche, gefühlvolle Beziehung zu ziehen. Was ich noch nie inmeinem Leben gekannt habe. Aber ich kann von hier nicht dahin kommen. Nicht imMoment. Also warte ich ab, wie es sich entwickelt. In der Zwischenzeit gehe ichmanchmal nach Brooklyn, und wenn ich dort bin, vermisse ich mein kleinesZuhause im Westen Irlands und meinen Hund. Und wenn ich eine Weile in Irlandgewesen bin, will mein Mann mich zurück. Und sie auch, das kleine Mädchen.Überraschenderweise. Also komme ich zurück. Nächste Woche fliege ich wieder.
Wie oftsind Sie dann in Brooklyn?
!:Ichhabe ihn vor zwei Jahren kennen gelernt, und war seitdem etwa die Hälfte derZeit bei ihm. Er hat die Tochter auch nur die halbe Zeit, zur anderen Hälfteist sie bei der Mutter. Ich würde definitiv nicht mit ihm leben, wenn er sieimmer hätte. Ich könnte das nicht.
Warumnicht?
Ich könntees einfach nicht. Ich bin nicht nein, ich könnte nicht! Nein! Allein derGedanke macht mich panisch!
Eine alter Traum von Frieden
In Nurnicht unsichtbar werden" hatte ich den Eindruck, dass Sie vieles getan haben,was Sie gar nicht wollten. Wussten Sie nicht, was Sie wollten?
Ich weißnicht. Die allgemeine Vorstellung ist, dass ein Mensch einen starken Kern anVertrauen hat, auf den er sich immer bezieht. Aber ich habe das nie gefühlt.Ich habe immer nur gespürt, dass ich von einem Ereignis zum anderen gekommenbin. Ich hatte keine klare Idee von mir selbst, selbst als Erwachsener. Deshalbwar ich bereit, alles zu probieren und alles, was passierte, passierte einfach.Ich hatte nie ein Gefühl von ich weiß auch nicht, ich hab einfach das getan,was auftauchte.
HabenSie nun eine klarere Idee von sich, nachdem Sie die drei Bücher geschriebenhaben und so viele Reaktionen bekommen haben?
Einbisschen klarer, ja. Aber ich verlasse mich nicht auf mich. Zum Beispiel jetzt,da ich diesen Mann gefunden habe mit seiner zehnjährigen Tochter in Brooklyn,es ist ein völlig neues Leben. Völlig anders. Ich versuche eine Bourgeoise zusein, eine Mutter. Ich wusste nicht, dass das auf mich zukommen würde. Es ist Ich versuche nun, das zu tun, aber wer weiß, was als nächstes passiert? Meinganzes Leben lang hatte ich gehofft, dass diese Reise einmal enden würde. Unddass der Frieden beginnen würde. Und es passiert einfach nicht.
Kann esdann passieren?
Wir werdenso erzogen, dass wir glauben, am Ende des Lebens kommt die Weisheit. Ich kennegute Menschen, die geben können, und ich habe meine eigene Selbstbezogenheit sosatt. Ich würde mir so sehr wünschen einen Weg zu finden, auch geben zu können.
Aber mitIhrem Buch haben Sie diesen Weg gefunden, oder?
Das hat manmir mal gesagt, ja. Das würde ich gern glauben. Das ist alles, was ichvorweisen kann. Das wäre toll, wenn das wahr wäre.
Dasletzte Buch der Nuala O Faolain
Siehaben erwähnt, dass Sie im Moment Ihr letztes Buch schreiben. Warum haben Siesich da schon so festgelegt?
Es ist jaalles zufällig so gekommen, die ganze Sache mit dem Schreiben war ein Zufall.
Aber eshat Ihnen doch Spaß gemacht, oder?
Ja, ichweiß, aber ist mir unbehaglich, dass das ganze Karussell plötzlich stoppenkönnte.
Siehaben Angst, dass Ihre Bücher scheitern könnten?
Ja. Dassich mich anstrenge, über mich selbst zu sprechen und über das Leben. Ich solltebesser aufhören, bevor es zu spät ist.
Aber Siehaben doch drei Bestseller geschrieben!
Dievergangenen drei Jahre habe ich einen Roman geschrieben und er ist nicht gutund konnte nicht veröffentlicht werden. Ich habe jeden einzelnen Tag darangearbeitet.
Wer hatgesagt, dass er nicht gut genug ist?
MeinVerleger und ich. Und der ganze Roman liegt da. Aber ich habe es einfach keinzweites Mal geschafft.
Was istschief gelaufen?
Ich weißnicht. Ich verstehe das nicht. Ich habe diese ganze später Karriere als Autornicht verstanden. Ich kann nicht verstehen, was schief gelaufen ist, weil ichauch nicht verstehe, was vorher richtig gegangen ist.
IhrBuch, an dem Sie gerade schreiben - sind Sie mit dem zufrieden?
Erstaunlicherweiseja. Ich denke, diesmal wird es okay sein. Aber ich weiß es natürlich nicht.
Wannwerden Sie das Buch abschließen?
Im Herbst. - Oh,ich hoffe so sehr, dass ich mich nicht selbst blende! Ich hoffe, es wird gut!Es ist ein schreckliches Risiko, denn es sind hauptsächlich meine Gedanken.Dieses Buch ist viel mehr über meinen Geist als über meine Gefühle. Es kannsein, dass meine Leser das nicht wollen. Ich weiß es nicht.
Warum Nuala O Faolain nichtweiß, ob sie jemand Wichtiges ist
WelchesIhrer Bücher ist Ihnen das Liebste?
Der Roman Ein alter Traum von Liebe". Ich weiß natürlich, dass Nur nicht unsichtbarwerden"das wichtige Buch ist. In Irland war das die erste ehrlicheAutobiografie einer Frau. Das ist sehr wichtig für eine Kultur. Ich habe esgeschafft, über alle Grenzen hinweg Menschen anzusprechen - weil das Buch dieWahrheit enthielt. Es war das große Glück meines Lebens, der große einzigartigeGlanzpunkt, dass ich dieses Buch schreiben konnte.
Sein wiedas Leben" habe ich geschrieben, weil ich nach diesen beiden Bücher sodurcheinander war: Was habe ich getan? Was halte ich von dem, was passiert ist?Und der andere Grund für dieses dritte Buch war, dass ich es für eine großeGeschichte voll Hoffnung halte, für Leute mittleren Alters, und für jedenMenschen. Der Gewinn dafür, sich selbst ernst zu nehmen, dafür, sich offen undehrlich der Welt zu zeigen, war so groß für mich. Und das könnte es auch fürviele andere Menschen sein. Sie müssen nicht unbedingt ein Buch schreiben, aberwenn sie sich fragen: Wer bin ich, und wie bin ich so geworden? - dann werdensie viel gewinnen dabei. Wie heißt das dritte Buch eigentlich auf Deutsch?
Seinwie das Leben".
Wasbedeutet das auf Englisch?
To be like life".
Ah, gut. Und Are you somebody?"
Nurnicht unsichtbar werden", etwa Don`t vanish."
All diedeutschen Titel sind wunderschön. Auch Ein alter Traum von Liebe".Wunderschön. Nur nicht unsichtbar werden" ist ein Satz aus dem Buch. Es warein brillante Idee des deutschen Verlags, das zu ändern. Denn Are you somebody?" bedeutet imEnglischen: Bist du jemand Wichtiges?
Wennjemand Sie fragt: Wer sind Sie?, was ist Ihre Antwort?
Natürlichweiß ich das nicht. Ich kann nur antworten: Ich bin diejenige, die Are you somebody?" geschrieben hat.Und Teile von Are you somebody?"bin ich, Teile sind eine Annäherung, das Beste, was ich tun konnte.
Und sindSie jemand Wichtiges? Are you somebody?
(Pause) Ich?
Ja.
(lacht) Ichweiß nicht. Das ist eine sehr schwierige Frage, wenn man eine Frau mittlerenAlters ist, die nie ein Kind hatte. Frauen, die Kinder haben, und auch Männer,können auf sie zeigen und eine Frucht ihrer biologischen Existenz vorweisen.Aber in meinem Alter, ohne Kind und ohne, dass man in Afrika Brunnen gebohrthat oder etwas getan hat, was man tun sollte - dann fragt man sich selbst:Warum bist du geboren worden?Simone Hilgers-Bach
- Autor: Nuala O'faolain
- 2001, 24. Aufl., 256 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Zucker, Renée
- Übersetzer: RENEE ZUCKER
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499229935
- ISBN-13: 9783499229930
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