Oben leuchten die Sterne
Oben leuchten die Sterne von AndréKubiczek
LESEPROBE
Es schien, als würde sich das Auto langsam nähern, doch inWirklichkeit war seine Geschwindigkeit enorm. Es kam aus dem Nichts desrasenden Verkehrs, war plötzlich da, im rechten Seitenspiegel, sehr rot, sehrgroß und also sehr nahe, behielt für Sekunden diese Größe bei, bevor esabermals beschleunigte, noch größer wurde, kurz verschwand, um im nächstenMoment links an ihnen vorbeizuschießen, schlingernd schon, was vom Versuch desFahrers zeugte, gegenzulenken. Dann bremste er abrupt, die Räder pflügten überdie Fahrbahn, und dort, wo die Spur verbrannten Gummis einsetzte, stand einenAugenaufschlag lang eine schwarze Qualmwolke senkrecht über dem Bitumen.
Aber der Fahrer hatte längst dieKontrolle verloren und würde sie auch nicht zurückerlangen, und so war das missrateneBremsmanöver nicht mehr als der Ausdruck eines verzweifelten Willens zur Tat,bevor das Unausweichliche seinen Lauf nahm und der Wagen frontal mit demBetonsockel der Avus-Zuschauertribüne kollidierte.Bevor das Fahrzeug zurückprallen konnte, um ihnen in die Seite zu krachen, tratRock das Gaspedal durch, während er gleichzeitig das Lenkrad nach links riss,und der alte VW-Bus, Typ T3, war, wenn auch kurzzeitig aus dem Gleichgewichtgebracht, am Unfallort vorbeigezogen.
«Heilige Scheiße», sagte Bender undsah sich über die Schulter nach hinten um, wo das Unglück noch in vollem Gangwar und nunmehr alle drei Spuren der Autobahn in Beschlag nahm, was dennachmittäglichen, aus Berlin drängenden Ferienverkehr für eine beträchtlicheZeit zum Stehen bringen würde.
«Was war das, ein Ferrari?», sagteRock und kuckte in den Rückspiegel.
«Keine Ahnung», sagte Bender,«vielleicht 'ne Corvette?»
Es war Sommer, und trotzdem sah derHimmel aus, wie die Matratze auf ihrem Balkon ausgesehen hatte, vermodert, verrottet,als spiegele sich in ihm die Welt, über der er hing. Eine legendäre Matratzeauf einem baufälligen Balkon, damals, in ihrer Studentenzeit, als sie zusammenin einer Wohngemeinschaft gelebt hatten.
Jetzt waren sie unterwegs zu Dusch.Irgendwer hatte ihn auf eine ihrer Partys mitgebracht, die sie meist gaben, um sichbillig zu betrinken. Manchmal hatte jemand Geburtstag oder eine Seminararbeitzu Ende gebracht oder eine Kommilitonin geschwängert. Sie wohnten im viertenStock an einem Park nördlich des Berliner Zentrums. Damals hatte es denFischladen an der Ecke noch gegeben und Leute, die aussahen, als wären sie inden zerkrümelnden Häusern geboren worden. Es waren die Einzigen, die imSchnapsladen im Parterre einkauften, wo das Bier doppelt so teuer war wie imSupermarkt hundert Schritte weiter. Zuerst waren diese Leute verschwunden. Siehinterließen nur die Siegel des Finanzamts an den Türen ihrer Wohnungen, indie nach ein paar Wochen junge Paare einzogen, denen Eltern die Möbel hochschleppten. Mit den Leuten verschwanden ihre dreibeinigenHunde, ihre dreirädrigen Kinderwagen, die Stepp
decken, Matratzen und Holzhaufenneben den Mülltonnen. Keiner konnte sagen, wohin.
«Dusch!», hatte Dusch gesagt undRock die ausgestreckte Hand hingehalten.
«Dusch?», sagte Rock und sah sichnach Beistand um. Sie standen in der Küche, wo die Gäste den mitgebrachten Alkoholabstellten.
«Cooler Name», sagte Bender.
«Yeah»,sagte ein anderer. Sie sprachen damals alle in einer Art Comic-Sprache, einbisschen Bart Simpson, ein bisschen Beavis & Butthead.
«Hey, Alter», sagte Rock und schlugein.
Bender und Rock, der eigentlichHannes Buntrock hieß, hatten sich an ihrem ersten Uni-Tag kennen gelernt,Anfang der Neunziger. Sie waren beide Landeier, beide zwanzig, und das Seminar,für das sie sich eingeschrieben hatten, versprach eine Einführung in dieamerikanische Literatur. Es sollte um vierzehn Uhr beginnen, doch als kurz vordrei noch immer kein Dozent erschienen war und sich die Kommilitonen längstverzogen hatten, ging auch ihnen auf, dass es ausfallen würde. Also stelltensie sich einander vor, recht förmlich zuerst, was an der beiderseitigen Angstliegen mochte, der andere könne an einem falschen Zungenschlag oder einerfalschen Geste den Provinzler erkennen. Und es bedurfte in der Tat nicht vielerWorte, bis sie auf Ähnlichkeiten ihrer Herkunft stießen, deren augenfälligstedas bergige Land bildete, in dem beide groß geworden waren, Bender im Harz,Rock im wesentlich milderen Schwarzwald.
Die Basis war hergestellt, jetztgalt es, so lange nicht aufzufallen, bis sich ein neuer Schwall vonDorftrotteln in die Stadt ergoss, was spätestens mit Beginn des nächsten Semestersgeschehen würde.
Um auf ihre Bekanntschaftanzustoßen, gingen sie in den Uni-Keller. Es war der erste Fehler ihrer nochjungen akademischen Karrieren. Hier roch es wie in den Ausflugskneipen derKindheit: nach Scheuersalz, verschüttetem Bier und kaltem Rauch. Sie trankenhalbe Liter und spielten am Indiana-Jones-Flipper, bisihnen die Münzen ausgingen. Anschließend versackten sie in einem Retro-Klub in Mitte, rappelten sich dort gegen sechs Uhrmorgens aus den PlastikSitzeiern hoch und nahmen zumAbschluss des Tages ein schnelles Frühstück bei Konnopkeein, unter den Hochbahngleisen der SchönhauserAllee, Currywurst geschnitten, dazu ein kleines Schultheiss.
So also stellte er sich dar, derBeginn ihrer Freundschaft. Eine Woche später zog Bender zu Rock in die Wohnungam Rande des Parks, und das Unheil nahm seinen Lauf.
Dabei war lange alles in Ordnunggewesen. Sogar jetzt, da sie die Stadtgrenze passiert hatten und doch beide insgeheimam Sinn dieser Fahrt zu zweifeln begannen, keine Dreiviertelstunde nachdem sieaufgebrochen waren, sogar jetzt war eigentlich nichts verloren. Aber es warbislang auch nichts gewonnen worden. Sie kannten sich seit mehr als zehn Jahren,und, genau, das war der Punkt: Es war noch nichts gewonnen worden. Das war derKern des Unbehagens, das sie aber nie so genannt hätten, denn Worte wurden wegenso einem Quatsch nicht gemacht, klar.
Und: Es war natürlich kein Unheil,was da seinen Lauf nahm. Es war nur das Übliche, was einsetzte und sich mit demüblichen Blabla beschreiben ließe, eine ums Metaphysische abgespeckte Versiondessen, das sie an der Uni auszuwerten versuchten, der klassischen Literatur.All der zwischenmenschliche Kram: Beziehungen, Liebe etc., der zu einemvernünftigen Plot gehörte und wahrscheinlich auch zu einem akzeptablen Leben,dieses Klein-Klein, das für Wahrhaftigkeit stand, fürs Authentische, all dieunnötigen Konflikte eben, die den Rang der wirklichen beanspruchten. DieZermürbungsmaschine, zu der das alles wurde und die einem den Alltag zu einerschmierigen Paste mahlte. Dann das Unausweichliche: Geld natürlich, d. h. Geldmangel,Jobs, die daraus folgten und Kündigungen, und dann alles von vorn. Das Wichtige- was immer das einmal gewesen sein mochte - nicht mal mehr nebensatztauglich,nicht gestorben oder obsolet, sondern: einfach weg. Was sollte man auch damit,wo es doch um Kleineres gehen konnte. Um Kommunikationsprobleme zum Beispiel,zwischen den Geschlechtern: nicht sprechen zu können, worüber zu sprechennicht lohnte. Worüber zu sprechen man dennoch ständig genötigt wurde.Missverständnisse deswegen, zwischenmenschlicher Quark, lächerlich, Blödsinn,aber zur Katastrophe aufgeblasen. Sowieso - das ganze Private.
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© Rowohlt Verlag
- Autor: André Kubiczek
- 2006, 1, 304 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 387134527X
- ISBN-13: 9783871345272
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