Papa ante Palma
Mallorca für Fortgeschrittene. Originalausgabe
Mal komisch, mal tragisch, Mallorca.
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Buch (Kartoniert)
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Papa ante Palma “
Mal komisch, mal tragisch, Mallorca.
Klappentext zu „Papa ante Palma “
Stefan liebt die hübsche Lucia, eine temperamentvolle Spanierin. Gemeinsam träumen sie davon, in ihre Heimat auszuwandern - natürlich aufs Festland. Erst bekommt seine Frau Zwillinge und dann einen Job auf Mallorca. Spanien ist ja prima, aber ausgerechnet die deutscheste aller Inseln? Dort erwarten sie schönheitsfanatische Mallorquiner, die trotz Gluthitze Haltung bewahren, Frauen, die gleichzeitig Maria und Josef heißen, und eine dörfliche Idylle fernab vom Ballermann. Eigentlich ist Stefan glücklich, aber hält das Inselparadies wirklich, was es verspricht?
Lese-Probe zu „Papa ante Palma “
Papa ante Palma von Stefan KellerVier
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Lucias Job ist besser als gedacht. Sie arbeitet inzwischen seit drei Wochen in der Firma und fühlt sich sehr wohl dort.
»Nettes Team, geregelte Arbeitszeiten, gute Bezahlung. Außerdem bin ich in drei Minuten zu Fuß am Hafen und kann in der Mittagspause die Promenade entlangspazieren«, zieht sie am Frühstückstisch Resümee.
»Schön«, sage ich.
»Denk dran, heute fängt der Hort an.«
Ich betrachte die Kinder, die das ganze Gesicht voller Marmelade haben und glucksen. Sophies Laune hat sich durchaus etwas gebessert, seit wir hier sind. Leider gilt das nur für die Stunden am Tage. Nachts ist sie immer noch eine unzähmbare Furie. Ich bin gespannt, wie sich die beiden im Hort machen werden.
Lucia hat die Kindertagesstätte El monito, das Äffchen, die ungünstigerweise am anderen Ende der Stadt liegt, bereits vor meiner Ankunft ausgewählt. Da wir auf ein Auto verzichten wollen, der Kinderwagen aber kaum in den Bus passt, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als jeden Tag schiebend ganz Palma zu durchqueren.
»Das wird schon«, sagt Lucia, »ich muss los, beso.« Sie drückt mir einen Kuss auf den Mund und ist verschwunden.
Den ausgedruckten Stadtplan in der Hand und zwei gestriegelte Kinder vor mir im Wagen, biege ich kurz von der Ringstraße in das verwirrende Gassenlabyrinth der Altstadt ab. Über eine halbe Stunde brauche ich, um mich hindurch zu kämpfen. Es sind bereits dreiunddreißig Grad im Schatten, und das Hemd klebt mir am Körper. Endlich biege ich in die kleine Stichstraße ein, die zur Kindertagesstätte führt.
El monito sieht von vorne aus wie der einzige Punk-schuppen in der gesamten Hinterpfalz: Fenster und Türen sind vergittert, die Fassade wurde mit lila-weißer Farbe so gestaltet, dass man von weitem einen Fantasy-Himmel zu erkennen glaubt. Bei genauerer Betrachtung ähnelt das Ganze allerdings eher einem Blauschimmelbelag, der sich über die Jahre auf dem Putz breitgemacht hat.
Ich schelle. Prompt öffnen uns gleich zwei Frauen.
»Hola, soy Maria José«, brüllt mich die kleinere der beiden in Konzertlautstärke an. Offensichtlich hat sich ihr Sprachapparat jobbedingt über die Jahre prächtig entwickelt.
Maria José, übersetzt Maria und Josef, ist ein mütterlicher Typ. Sie hat strahlende, gütige Augen und trägt einen gestärkten ärmellosen Kittel, aus dem ihre teigigen Oberarme herausquellen. Man fühlt sich bei ihr auf Anhieb so geborgen wie bei der Wurstverkäuferin, die einem als Kind eine Scheibe Fleischwurst gereicht hat.
Fast hätte ich daher aus dem Reflex heraus gesagt: »Ich hätte gerne fünfhundert Gramm Kalbsleberwurst und ein Viertel Pfund Schweinskopfsülze.« Stattdessen bringe ich keinen Ton heraus.
Da sagt die andere Frau: »Hola, yo también soy Maria José, ich bin auch Maria und Josef.«
Die beiden lachen. Man merkt dem Lachen eine leichte Mühe an, als handele es sich um einen überstrapazierten Scherz. Vermutlich haben sie diese Szene schon eintausend Mal durchlebt. Der Einfachheit halber werde ich die Frauen durchnummerieren.
Maria und Josef 2 ist im Gegensatz zu Maria und Josef 1 weniger kastenförmig, sondern verjüngt sich eher birnenförmig in Richtung Kopf. Für eine spanische Frau ist sie riesig und fällt zudem durch die lange, spitze Nase auf, auf der eine Hornbrille mit schwindelerregend starken Gläsern sitzt, überdacht von einem gegelten Kurzhaar-Rasen in Vinylschwarz.
Ich versuche an ihnen vorbeizuspähen, kann aber nicht viel von dem Hort sehen. Direkt hinter ihnen befindet sich eine zweite, verschlossene Tür, hinter der gedrosseltes Gebrüll hervordringt.
»Bueno, ich wollte mich nur kurz vorstellen«, sagt Maria und Josef 2 und verschwindet durch eben jene Tür.
»Das sind also Sophie und Luna. Zwillinge! So etwas Herrliches! Deine Frau Lucia hat uns bereits informiert«, röhrt Maria und Josef 1.
»Si«, sage ich und will eintreten.
»Leider kann ich dich nicht mit reinlassen«, sagt Maria und Josef 1.
Ich bin verblüfft und verstehe gar nichts mehr. »Wie bitte?«
»Pues, wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine abrupte Entwöhnung von den Eltern für alle Beteiligten am besten ist. Du kannst die Kinder um zwei Uhr wieder abholen«, erklärt sie mir so laut, dass die nächsten vier Straßenzüge auch noch mithören können. Im Zeitlupentempo formt sie dabei mit dem Mund alle erdenklichen geometrischen Figuren und rudert asynchron mit den Armen.
Fast hätte ich die Kinder einfach abgestellt und wäre ihr blind in den Hort gefolgt. Für immer. Aber Sophies Geschrei erinnert mich daran, dass es ausnahmsweise einmal nicht um mich geht. Ich lade Maria und Josef 1 nacheinander die Zwillinge auf die massigen Arme.
»Bis dann.« Sie dreht sich um und öffnet kurz die zweite Tür, was mit beiden Kindern im Gepäck gar nicht so einfach ist.
»Papaaa! «, jaulen die Mädchen, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht, und die Arme über den Rücken von Maria und Josef 1 hinweg nach mir ausstrecken.
»Papa kommt ja gleich wieder, ihr Süßen.«
Es hilft nichts. Da verschwindet die mollige Erzieherin mit den plärrenden Kindern auch schon hinter der Tür. Ich muss erst mal tief Luft holen. Ganz so abrupt habe ich mir den Abschied nicht vorgestellt.
Für ein paar Sekunden kann ich nun doch sehen, was drinnen vor sich geht. Gleich hinter der Tür ist ein Gatter, an dem mindestens zehn Kinder stehen, darunter Latinos, Afrikaner und Spanier, die mit beiden Händen die Gitterstäbe umklammern und brüllen, was das Zeug hält. Dann sind da noch ein paar winzig kleine Baby-Fuzzis, die noch nicht laufen können. Die Erzieherinnen haben sie einfach im Kinderwagen liegen lassen und in die tobende Meute der Kleinkinder geschoben. Nun bilden die regungslosen Maden einen eigenartigen Kontrapunkt zu dem wilden Gebalge der mobilen Infanterie. Wie ein Kannibalenstamm springen die Älteren um die Wägen mit den Neugeborenen herum und plärren wildes Zeug hinein.
Für einen Moment fühle ich mich an das Pflegestift erinnert, in dem ich mal ein Sozialpraktikum gemacht habe. Die alten Menschen wurden einfach im Rollstuhl vor den Fernseher im Gemeinschaftsraum geschoben, wo dann das Kinderprogramm mit Tom & Jerry lief, gefolgt von Glücksrad und Der Preis ist heiß. Irgendwann, wenn beinahe alle in die Windeln gemacht hatten, wurden sie wortlos zurück auf ihre Zimmer geschoben. Die ganze Zeit über gab keiner der Alten auch nur einen Ton von sich, bis auf einen Mann, den wir alle den »Spanier« nannten, obwohl er nach Aussage seiner Angehörigen nie in Spanien gewesen war. Er war achtundsiebzig Jahre alt, kam aus Meppen und hatte einen Schlaganfall erlitten. Seitdem war sein Sprachzentrum geschädigt, und er brachte nur noch ein einziges Wort heraus: »Olé!« Dieses »Olé!« hatte alle, aber wirklich alle, die dort arbeiteten, über die Jahre zermürbt. Leider war es dem alten Mann nicht möglich, dieses Wort zu variieren. Ein zackiges »Olé!« hätte immerhin auf dringenden Stuhlgang schließen lassen oder ein langes »Olééé!« seinem Schlafbedürfnis Ausdruck verleihen können. Aber nein, immerzu das gleich intonierte Wort, das man dann nach Belieben interpretieren durfte. Und was bekam man wohl auf Rückfragen, ob man auf der richtigen Fährte sei, vom Spanier zu hören? Korrekt: »Olé!«
Die Altenpflegerin Elke, die drei Liter Kaffee am Tag trank und mit fünfzig noch eine Pippi-LangstrumpfFrisur hatte, sagte mal: »Wenn die Menschen im Alter wieder zu Kindern würden. Einen perfekten Kreislauf erjäbe dat. Dat hätte de läve Jott doch jut jemaat, oder etwa nisch?«
Damals nickte ich nur höflich, ohne zu verstehen, was sie meinte.
Das gelingt mir erst jetzt, als ich vor dem lärmerfüllten Hort stehe, in den gerade das Kostbarste und Nervigste verschwunden ist, das es in meinem Leben gibt.
Maria und Josef 1 taucht nur Sekunden später in bester Laune wieder vor mir auf, obwohl ich Sophies Geschrei noch deutlich hinter ihrem Rücken ausmachen kann.
»No te preocupes«, beschwichtigt sie mich, »mach dir keine Sorgen. Am Anfang fällt es allen schwer.«
»Si, si«, sage ich und versuche meine Unruhe damit niederzukämpfen, dass ich den Kinderwagen zusammenklappe, um ihn im Eingangsbereich abzustellen.
»Äh, der ist zu groß und passt hier nicht rein.«
»Cómo, wie bitte?« Verdattert lasse ich den FaltSchalt-Doppel-Hebel mit zweifacher Laschen-Klemmbremse los und starre Maria und Josef 1 an. »Was soll ich mit dem Wagen in der Zwischenzeit machen?«, frage ich.
Nach einigem Hin und Her schenkt mir Maria und Josef 1 ein Lächeln zum Niederknien. Das Lächeln bedeutet, dass ich den leeren Kinderwagen ab jetzt zweimal täglich durch Palmas Innenstadt schieben darf.
Auf dem Heimweg denke ich über die beiden Marias und Josefs nach. Wie konnte nur so ein Name entstehen? Vielleicht trauen die per se eher technikkritischen Spanier dem Ultraschallgerät nicht recht über den Weg. Praktisch, wie sie nun mal sind, überlegen sich die werdenden Eltern zu Beginn der Schwangerschaft daher einen Namen, der sowohl für weibliche wie auch für männliche Nachkommen passen würde. So können sie das Ganze gelassen abwarten. Egal, was es wird, einer der Namen geht immer. Wäre Maria José ein Junge geworden, hätte man den Namen kurzerhand umgedreht und es wäre eben ein kleiner José Maria daraus geworden.
Schon häufiger habe ich über einige Namen der Spanier länger grübeln müssen. Vor allem über den einen oder anderen Mädchennamen, auf die wir bei der Namenssuche für unsere beiden Halbspanierinnen gestoßen sind: Dolores = Schmerzen, Montserrat = Sägeberg, Soledad = Einsamkeit, Concepcion = Empfängnis.
»Gestatten, Sägeberg Schmitz mein Name«, oder: »Herzlich willkommen, Frau Schmerzen Schröder«. Man könnte ja mal einen Mix zwischen deutschen und spanischen Vornamen versuchen. Alle können prima je nach Geschlecht hin und her gedreht werden: DoloresPaul = Wenn es ein Junge wird, eilt ihm sein Ruf als Türsteher und Schläger voraus. Als Mädchen scheint dagegen eine Karriere als Apothekerin vorgezeichnet. Montserrat-Horst = Damit steht einer vielversprechenden Karriere im Bergbau nichts im Wege, und zwar egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.
Soledad-Ernst = Als melancholische Schönheit wird das Kind in völliger sozialer Isolation aufwachsen. Es wird nur nachts auf den Spielplatz gehen, im Schwimmbad Toter Mann spielen und auf Kindergeburtstagen statt »Happy Birthday« weinend »As time goes by« singen.
Lucias Job ist besser als gedacht. Sie arbeitet inzwischen seit drei Wochen in der Firma und fühlt sich sehr wohl dort.
»Nettes Team, geregelte Arbeitszeiten, gute Bezahlung. Außerdem bin ich in drei Minuten zu Fuß am Hafen und kann in der Mittagspause die Promenade entlangspazieren«, zieht sie am Frühstückstisch Resümee.
»Schön«, sage ich.
»Denk dran, heute fängt der Hort an.«
Ich betrachte die Kinder, die das ganze Gesicht voller Marmelade haben und glucksen. Sophies Laune hat sich durchaus etwas gebessert, seit wir hier sind. Leider gilt das nur für die Stunden am Tage. Nachts ist sie immer noch eine unzähmbare Furie. Ich bin gespannt, wie sich die beiden im Hort machen werden.
Lucia hat die Kindertagesstätte El monito, das Äffchen, die ungünstigerweise am anderen Ende der Stadt liegt, bereits vor meiner Ankunft ausgewählt. Da wir auf ein Auto verzichten wollen, der Kinderwagen aber kaum in den Bus passt, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als jeden Tag schiebend ganz Palma zu durchqueren.
»Das wird schon«, sagt Lucia, »ich muss los, beso.« Sie drückt mir einen Kuss auf den Mund und ist verschwunden.
Den ausgedruckten Stadtplan in der Hand und zwei gestriegelte Kinder vor mir im Wagen, biege ich kurz von der Ringstraße in das verwirrende Gassenlabyrinth der Altstadt ab. Über eine halbe Stunde brauche ich, um mich hindurch zu kämpfen. Es sind bereits dreiunddreißig Grad im Schatten, und das Hemd klebt mir am Körper. Endlich biege ich in die kleine Stichstraße ein, die zur Kindertagesstätte führt.
El monito sieht von vorne aus wie der einzige Punk-schuppen in der gesamten Hinterpfalz: Fenster und Türen sind vergittert, die Fassade wurde mit lila-weißer Farbe so gestaltet, dass man von weitem einen Fantasy-Himmel zu erkennen glaubt. Bei genauerer Betrachtung ähnelt das Ganze allerdings eher einem Blauschimmelbelag, der sich über die Jahre auf dem Putz breitgemacht hat.
Ich schelle. Prompt öffnen uns gleich zwei Frauen.
»Hola, soy Maria José«, brüllt mich die kleinere der beiden in Konzertlautstärke an. Offensichtlich hat sich ihr Sprachapparat jobbedingt über die Jahre prächtig entwickelt.
Maria José, übersetzt Maria und Josef, ist ein mütterlicher Typ. Sie hat strahlende, gütige Augen und trägt einen gestärkten ärmellosen Kittel, aus dem ihre teigigen Oberarme herausquellen. Man fühlt sich bei ihr auf Anhieb so geborgen wie bei der Wurstverkäuferin, die einem als Kind eine Scheibe Fleischwurst gereicht hat.
Fast hätte ich daher aus dem Reflex heraus gesagt: »Ich hätte gerne fünfhundert Gramm Kalbsleberwurst und ein Viertel Pfund Schweinskopfsülze.« Stattdessen bringe ich keinen Ton heraus.
Da sagt die andere Frau: »Hola, yo también soy Maria José, ich bin auch Maria und Josef.«
Die beiden lachen. Man merkt dem Lachen eine leichte Mühe an, als handele es sich um einen überstrapazierten Scherz. Vermutlich haben sie diese Szene schon eintausend Mal durchlebt. Der Einfachheit halber werde ich die Frauen durchnummerieren.
Maria und Josef 2 ist im Gegensatz zu Maria und Josef 1 weniger kastenförmig, sondern verjüngt sich eher birnenförmig in Richtung Kopf. Für eine spanische Frau ist sie riesig und fällt zudem durch die lange, spitze Nase auf, auf der eine Hornbrille mit schwindelerregend starken Gläsern sitzt, überdacht von einem gegelten Kurzhaar-Rasen in Vinylschwarz.
Ich versuche an ihnen vorbeizuspähen, kann aber nicht viel von dem Hort sehen. Direkt hinter ihnen befindet sich eine zweite, verschlossene Tür, hinter der gedrosseltes Gebrüll hervordringt.
»Bueno, ich wollte mich nur kurz vorstellen«, sagt Maria und Josef 2 und verschwindet durch eben jene Tür.
»Das sind also Sophie und Luna. Zwillinge! So etwas Herrliches! Deine Frau Lucia hat uns bereits informiert«, röhrt Maria und Josef 1.
»Si«, sage ich und will eintreten.
»Leider kann ich dich nicht mit reinlassen«, sagt Maria und Josef 1.
Ich bin verblüfft und verstehe gar nichts mehr. »Wie bitte?«
»Pues, wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine abrupte Entwöhnung von den Eltern für alle Beteiligten am besten ist. Du kannst die Kinder um zwei Uhr wieder abholen«, erklärt sie mir so laut, dass die nächsten vier Straßenzüge auch noch mithören können. Im Zeitlupentempo formt sie dabei mit dem Mund alle erdenklichen geometrischen Figuren und rudert asynchron mit den Armen.
Fast hätte ich die Kinder einfach abgestellt und wäre ihr blind in den Hort gefolgt. Für immer. Aber Sophies Geschrei erinnert mich daran, dass es ausnahmsweise einmal nicht um mich geht. Ich lade Maria und Josef 1 nacheinander die Zwillinge auf die massigen Arme.
»Bis dann.« Sie dreht sich um und öffnet kurz die zweite Tür, was mit beiden Kindern im Gepäck gar nicht so einfach ist.
»Papaaa! «, jaulen die Mädchen, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht, und die Arme über den Rücken von Maria und Josef 1 hinweg nach mir ausstrecken.
»Papa kommt ja gleich wieder, ihr Süßen.«
Es hilft nichts. Da verschwindet die mollige Erzieherin mit den plärrenden Kindern auch schon hinter der Tür. Ich muss erst mal tief Luft holen. Ganz so abrupt habe ich mir den Abschied nicht vorgestellt.
Für ein paar Sekunden kann ich nun doch sehen, was drinnen vor sich geht. Gleich hinter der Tür ist ein Gatter, an dem mindestens zehn Kinder stehen, darunter Latinos, Afrikaner und Spanier, die mit beiden Händen die Gitterstäbe umklammern und brüllen, was das Zeug hält. Dann sind da noch ein paar winzig kleine Baby-Fuzzis, die noch nicht laufen können. Die Erzieherinnen haben sie einfach im Kinderwagen liegen lassen und in die tobende Meute der Kleinkinder geschoben. Nun bilden die regungslosen Maden einen eigenartigen Kontrapunkt zu dem wilden Gebalge der mobilen Infanterie. Wie ein Kannibalenstamm springen die Älteren um die Wägen mit den Neugeborenen herum und plärren wildes Zeug hinein.
Für einen Moment fühle ich mich an das Pflegestift erinnert, in dem ich mal ein Sozialpraktikum gemacht habe. Die alten Menschen wurden einfach im Rollstuhl vor den Fernseher im Gemeinschaftsraum geschoben, wo dann das Kinderprogramm mit Tom & Jerry lief, gefolgt von Glücksrad und Der Preis ist heiß. Irgendwann, wenn beinahe alle in die Windeln gemacht hatten, wurden sie wortlos zurück auf ihre Zimmer geschoben. Die ganze Zeit über gab keiner der Alten auch nur einen Ton von sich, bis auf einen Mann, den wir alle den »Spanier« nannten, obwohl er nach Aussage seiner Angehörigen nie in Spanien gewesen war. Er war achtundsiebzig Jahre alt, kam aus Meppen und hatte einen Schlaganfall erlitten. Seitdem war sein Sprachzentrum geschädigt, und er brachte nur noch ein einziges Wort heraus: »Olé!« Dieses »Olé!« hatte alle, aber wirklich alle, die dort arbeiteten, über die Jahre zermürbt. Leider war es dem alten Mann nicht möglich, dieses Wort zu variieren. Ein zackiges »Olé!« hätte immerhin auf dringenden Stuhlgang schließen lassen oder ein langes »Olééé!« seinem Schlafbedürfnis Ausdruck verleihen können. Aber nein, immerzu das gleich intonierte Wort, das man dann nach Belieben interpretieren durfte. Und was bekam man wohl auf Rückfragen, ob man auf der richtigen Fährte sei, vom Spanier zu hören? Korrekt: »Olé!«
Die Altenpflegerin Elke, die drei Liter Kaffee am Tag trank und mit fünfzig noch eine Pippi-LangstrumpfFrisur hatte, sagte mal: »Wenn die Menschen im Alter wieder zu Kindern würden. Einen perfekten Kreislauf erjäbe dat. Dat hätte de läve Jott doch jut jemaat, oder etwa nisch?«
Damals nickte ich nur höflich, ohne zu verstehen, was sie meinte.
Das gelingt mir erst jetzt, als ich vor dem lärmerfüllten Hort stehe, in den gerade das Kostbarste und Nervigste verschwunden ist, das es in meinem Leben gibt.
Maria und Josef 1 taucht nur Sekunden später in bester Laune wieder vor mir auf, obwohl ich Sophies Geschrei noch deutlich hinter ihrem Rücken ausmachen kann.
»No te preocupes«, beschwichtigt sie mich, »mach dir keine Sorgen. Am Anfang fällt es allen schwer.«
»Si, si«, sage ich und versuche meine Unruhe damit niederzukämpfen, dass ich den Kinderwagen zusammenklappe, um ihn im Eingangsbereich abzustellen.
»Äh, der ist zu groß und passt hier nicht rein.«
»Cómo, wie bitte?« Verdattert lasse ich den FaltSchalt-Doppel-Hebel mit zweifacher Laschen-Klemmbremse los und starre Maria und Josef 1 an. »Was soll ich mit dem Wagen in der Zwischenzeit machen?«, frage ich.
Nach einigem Hin und Her schenkt mir Maria und Josef 1 ein Lächeln zum Niederknien. Das Lächeln bedeutet, dass ich den leeren Kinderwagen ab jetzt zweimal täglich durch Palmas Innenstadt schieben darf.
Auf dem Heimweg denke ich über die beiden Marias und Josefs nach. Wie konnte nur so ein Name entstehen? Vielleicht trauen die per se eher technikkritischen Spanier dem Ultraschallgerät nicht recht über den Weg. Praktisch, wie sie nun mal sind, überlegen sich die werdenden Eltern zu Beginn der Schwangerschaft daher einen Namen, der sowohl für weibliche wie auch für männliche Nachkommen passen würde. So können sie das Ganze gelassen abwarten. Egal, was es wird, einer der Namen geht immer. Wäre Maria José ein Junge geworden, hätte man den Namen kurzerhand umgedreht und es wäre eben ein kleiner José Maria daraus geworden.
Schon häufiger habe ich über einige Namen der Spanier länger grübeln müssen. Vor allem über den einen oder anderen Mädchennamen, auf die wir bei der Namenssuche für unsere beiden Halbspanierinnen gestoßen sind: Dolores = Schmerzen, Montserrat = Sägeberg, Soledad = Einsamkeit, Concepcion = Empfängnis.
»Gestatten, Sägeberg Schmitz mein Name«, oder: »Herzlich willkommen, Frau Schmerzen Schröder«. Man könnte ja mal einen Mix zwischen deutschen und spanischen Vornamen versuchen. Alle können prima je nach Geschlecht hin und her gedreht werden: DoloresPaul = Wenn es ein Junge wird, eilt ihm sein Ruf als Türsteher und Schläger voraus. Als Mädchen scheint dagegen eine Karriere als Apothekerin vorgezeichnet. Montserrat-Horst = Damit steht einer vielversprechenden Karriere im Bergbau nichts im Wege, und zwar egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.
Soledad-Ernst = Als melancholische Schönheit wird das Kind in völliger sozialer Isolation aufwachsen. Es wird nur nachts auf den Spielplatz gehen, im Schwimmbad Toter Mann spielen und auf Kindergeburtstagen statt »Happy Birthday« weinend »As time goes by« singen.
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Autoren-Porträt von Stefan Keller
Keller, StefanStefan Keller studierte Ökologie und Ökonomie, arbeitete als Krankenpfleger, Sekretärin, Musiklehrer und Manager. 2004 machte er sich als Musiker und Autor selbstständig. Seit 2007 lebt er mit seiner Familie auf Mallorca.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan Keller
- 2011, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548373747
- ISBN-13: 9783548373744
Rezension zu „Papa ante Palma “
»Ein Lesevergnügen mit Prustpotenzial« Mallorca Zeitung, Thomas Fitzner, 19.05.11 »Ein Buch für Auswanderer, Urlauber und alle, die der Insel mit allen ihren kleinen und großen Macken verfallen sind.« Comprendes, 22.07.11 »Witzig!« Freundin, Juli 2011
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