Pokorny lacht
Pokorny ist der Sohn eines Schrottplatzbesitzers. Nach dem Tod seiner Mutter ''rettet'' er sich in den Spaß und wird Komiker. Sein Freund Zacher, der Sohn einer Trinkerin, richtet sich dagegen in einer nüchternen Welt ein und wird Anwalt.
Eines...
Pokorny ist der Sohn eines Schrottplatzbesitzers. Nach dem Tod seiner Mutter ''rettet'' er sich in den Spaß und wird Komiker. Sein Freund Zacher, der Sohn einer Trinkerin, richtet sich dagegen in einer nüchternen Welt ein und wird Anwalt.
Eines verbindet die gegensätzlichen Freunde - und trennt sie zugleich: die Liebe zu Ellen.
Pokorny, Sohn des Schrottplatzbesitzers, rettet sich nach dem Tod seiner Mutter in den Spaß und wird Komiker. Sein Freund Zacher, Sohn einer Trinkerin, richtet sich in einer nüchternen Welt ein, als Anwalt. Was sie verbindet und gleichzeitig trennt: die Liebe zu Ellen.
"Der neue Roman von Frank Goosen überzeugt." -- Brigitte
"Goosen toppt sogar seinen Erstlingserfolg." -- Gala
Pokorny lacht von Frank Goosen
LESEPROBE
Zu Hause riss er zuerst die Fenster auf. Die Luft war abgestanden und muffig, wie immer, wenn er drei Wochen auf Tournee gewesen war. Die dicke Frau Sander, seine Putzfrau, hatte hier zwar einmal in der Woche nach dem Rechten gesehen, dabei aber wieder nicht gelüftet. Er ging in die Küche und machte sich einen doppelten Espresso. Sein Blick fiel auf den Haufen Post, den Frau Sander auf dem Tisch deponiert hatte. Das hatte Zeit. Das waren sowieso nur Rechnungen, Programme von Kleinkunsttheatern und Post von Veranstaltern, die seinen Agenten umgehen wollten, weil sie glaubten, dann kriegten sie Friedrich Pokorny billiger. Mit der Tasse in der Hand ging er nach draußen.
Der Garten war in einem schlimmen Zustand. In den nächsten Tagen würde er Maus anrufen müssen, den pensionierten Gärtner, der ihm das Grünzeug in Ordnung hielt.
Er zog seine Schuhe aus und ging über den Rasen. Er liebte das. Manchmal erwischte er sich dabei, wie er schon im Zug, lange vor der Ankunft am heimischen Bahnhof, diesem Moment entgegenfieberte.
Er trank den Espresso im Stehen und dachte an nichts. Dann ging er wieder hinein und packte seinen Koffer aus. Im Keller warf er die Leibwäsche in die Waschmaschine und stopfte den Rest in den großen Stoffsack, den die Reinigung am nächsten Morgen abholen würde.
Jetzt wäre Zeit für die Post gewesen, aber ihm ging nun die Stille im Haus ein wenig an die Nerven. Das passierte meistens eine bis anderthalb Stunden, nachdem er von einer Reise zurückgekommen war. Er legte A Man alone von 1969 in den CD-Player, die Platte, die Rod McKuen eigens für Sinatra komponiert hatte. Wahre Fans hielten nicht viel von dieser Schaffensphase des Meisters. Zu viele sentimentale Balladen, kein Biss, kein Swing. Friedrich fand, es war die richtige Musik für einen einsamen Mann, der gern heimlich in Selbstmitleid versank.
Er wollte gerade in die Küche gehen und sich endlich der Post zuwenden, als das Telefon klingelte. Es war sein Vater.
»Bist du wieder zu Hause?«
Sag bloß nicht Guten Tag, alter Mann, dir könnte die Zunge im Maul verdorren. »Hallo Papa, wie geht es dir?«
»Ach, wie soll es mir gehen « Pause.
So war das immer. Sein Vater rief an, beklagte sich und wartete darauf, dass sein Sohn das Gespräch bestritt. Friedrich tat ihm den Gefallen. »Was macht der Rücken?«
»Ach, was soll mein Rücken schon machen «
»Soll ich heute Abend mal vorbeikommen?«
»Tja, wenn du meinst «
»Möchtest du, dass ich vorbeikomme?«
»Also, wenn es dein Terminplan erlaubt «
»Er erlaubt es.«
»Tja, wenn du einen Teil deiner kostbaren Freizeit mit deinem alten Vater verbringen möchtest «
Friedrich atmete hörbar aus. Konnte sein Vater überhaupt noch einen Satz sagen, der nicht in drei Punkten endete?
»Also, wenn dir das alles zu viel wird«, sagte der alte Pokorny, »dann bleib lieber zu Hause.«
»Ich komme am frühen Abend vorbei.«
»Sehr genaue Zeitangabe!«
»Gegen sieben.«
»Gegen sieben? Na ja, dein alter Vater hat ja nichts mehr vor. Der sitzt nur blöd rum und wartet darauf, dass der Herr Sohn mal vorbeikommt.«
»Ich bin um Punkt sieben bei dir. Zufrieden?«
»Ich weiß nicht. Hört sich an, als wäre es eine enorme Überwindung für dich.«
»Das stimmt nicht. Also um sieben?«
»Tja, wenn du meinst «
Sie legten auf.
Der Vater hatte nie begriffen, womit Friedrich sein Geld verdiente.
»Was soll das heißen, du stehst auf einer Bühne und erzählst komische Geschichten?«, hatte er gefragt, als sein Sohn ihm eröffnete, er wolle das jetzt beruflich betreiben.
»Na ja, es heißt, was es heißt. Ich erzähle komische Geschichten und die Leute lachen.«
»Worüber? Über dich?«
»Über das, was ich erzähle.«
»Das ist dasselbe.«
»Finde ich nicht.«
»Du kriegst Geld dafür, dass die Leute über dich lachen. Das ist ja schlimmer als eine Nutte!«
»Ich kriege aber mehr Geld.« Das stimmte damals noch nicht, aber Friedrich hoffte, den Vater wenigstens mit der Aussicht auf materiellen Erfolg beruhigen zu können.
»Friedrich, so etwas ist keine Arbeit.«
»Aber es macht Spaß.«
»Spaß, wenn ich das schon höre!«
Für Karl Pokorny hatte Arbeit nichts mit Spaß zu tun. Arbeit hatte einem gefälligst die Gesundheit zu ruinieren. Spaß war etwas für Schwätzer. Mit fünfzehn hatte Friedrich seinen Vater mal gefragt, ob er in seinem Beruf »Erfüllung« fände. »Erfüllung?«, hatte der Alte ausgerufen. »Ich stehe morgens auf, gehe arbeiten, komme abends nach Hause und am nächsten Morgen geht es wieder von vorne los. Ich habe keine Langeweile, wenn du das meinst.« Als sein Sohn anfing, Geld zu verdienen, bestand der Vater auf der Rückzahlung des Geldes, das er Friedrich für sein Studium gegeben hatte.
Nach dem Gespräch mit seinem Vater wäre eigentlich Zeit für die Post gewesen, aber Friedrich beschloss, seine schlechte Stimmung an seinem Agenten auszulassen. Er rief Konietzka an und beschwerte sich zum x-ten Male über die Qualität der Hotels, die Kleinstädte und vor allem die freien Tage.
»Friedrich«, sagte Konietzka, »im letzten Jahr hattest du zweihundertfünfzig Auftritte. Kein normaler Mensch spielt so viel!«
»Also waren noch einhundertfünfzehn Abende frei. Von Matineen will ich gar nicht sprechen.«
»Ich vermute mal, dann wird es dich auch nicht gerade freuen, dass der Auftritt am nächsten Samstag ins Wasser fällt.«
»Wieso?«
»Denen ist die Finanzierung zusammengebrochen. Das passiert schon mal bei diesen kleinen Kulturinitiativen.«
»Ich könnte mit der Gage runtergehen.«
»Das Ding ist vom Tisch. Tut mir Leid. Dafür hast du doch übermorgen die Aufzeichnung mit Korff und Steiner.«
»Ach komm, du weißt, das ist nur Drittes Programm, öffentlichrechtlich. Das sieht kein Schwein. Und die, die es doch sehen, kommen nicht in meine Vorstellungen, weil sie abends das Altersheim nicht verlassen dürfen.«
»Du übertreibst maßlos, mein Bester. Ich faxe dir gleich mal den Probenplan und den Sendeablauf.«
»Und Korff ist ein Arschloch.«
»Natürlich ist Korff ein Arschloch«, sagte Konietzka, »und Steiner ist auch eins, das weiß jeder. Aber es gibt zweieinhalbtausend Juros, also hab dich nicht so.«
»Bitte sag Euro und nicht Juros.«
»Ich lege dir die Pläne gleich mal aufs Fax.«
»Ja, leg mir die Pläne mal aufs Fax. Was für eine bescheuerte Formulierung!«
»Du, ich muss jetzt Schluss machen. Mein Zeitmanagement erlaubt mir höchstens fünfzehn Minuten pro Künstler am Tag.« Konietzka kicherte wie ein Kind. Friedrich hasste es, wenn sein Agent so redete, deshalb zog Konietzka ihn immer wieder damit auf.
Kaum hatte er aufgelegt, rief Silvia an.
»Ich hätte dich auch heute noch angerufen«, sagte er. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Das heißt nein. Es geht um Kai.«
»Probleme?«
»Ich mache mir Sorgen um ihn.«
»Mütter machen sich immer Sorgen.«
»Seine Zensuren gehen in den Keller. Er ist frech und treibt sich mit merkwürdigen Leuten herum.«
»Er ist fünfzehn. Was erwartest du?«
»Er ist gerade mal vierzehn, und ich komme an ihn nicht mehr heran.«
»Das nennt man Pubertät. Nur weil du keine hattest, musst du nicht glauben, sie sei abgeschafft worden.«
Silvia seufzte. »Das war nicht nötig.«
»Du hast Recht, es tut mir Leid.«
»Kai ist beim Klauen erwischt worden«, sagte Silvia.
Jungs klauen nun mal, wollte Friedrich erst sagen, aber er konnte sich gerade noch zusammenreißen. »Was hat er denn geklaut?«
»CDs. Die haben ihn angezeigt. Sie sagen, sie machen das immer so.«
»War er allein?«
»Nein, es waren noch andere dabei, aber er will nicht sagen, wer. Obwohl es ihm sicher nützen würde.«
Na, wenigstens ist der Junge kein Denunziant, dachte Friedrich.
»Könntest du nicht mal mit ihm reden?«, fragte Silvia.
»Ich weiß nicht, was das bringen soll.«
»Und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Er nimmt mich doch gar nicht mehr ernst. Ich habe Angst, dass er eines Tages etwas wirklich Schlimmes macht.«
»Okay, ich rede mal mit ihm.«
»Ich muss jetzt Schluss machen.«
Silvia lebte allein. Sie hatte mehr Pech mit Männern als sie verdiente, und das war Friedrichs Schuld. Hätte er sie nicht geschwängert, wäre sie jetzt nicht eine allein erziehende Mutter mit einem pubertierenden Sohn, der jeden Mann angiftete, der seine Mutter auch nur nach der Uhrzeit fragte. Zwei oder drei hatten es ein paar Monate mit ihr ausgehalten, aber dann war es ihnen zu viel geworden.
Jetzt die Post. Er fing an, die Umschläge durchzuarbeiten. Das Übliche, lauter Altpapier. Und dann hielt er in der Bewegung inne. Da war ein Kuvert mit einem Absender, den er nicht glauben konnte. Er betrachtete den Umschlag von allen Seiten. Feines Papier, verschnörkelte Schrift. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa, stand wieder auf und ging zurück in die Küche. Der Umschlag war noch da. Mit dem gleichen Absender. Links oben in der Ecke: Thomas Zacher. Die Straße kannte Friedrich nicht, aber die Postleitzahl erlaubte keinen Zweifel: Zacher war wieder da.
Friedrich stand auf und machte sich noch einen Espresso, den er dann nicht trank. Stattdessen starrte er in das Halbdunkel des Gartens und stellte fest, dass er seine Schuhe am Nachmittag auf dem Rasen vergessen hatte. Er holte sie herein und setzte sich wieder an den Küchentisch. Er fragte sich, seit wann Zacher wieder zurück war, wie lange sie beide wieder in der gleichen Stadt wohnten.
Friedrich sah auf die Uhr. Viertel vor sieben. Um sieben musste er bei seinem Vater sein. Er rannte nach oben, zog sich in aller Eile um, holte den Wagen aus der Garage und fuhr davon, ohne das Garagentor zu schließen und ohne die Alarmanlage zu schärfen. Sollten sie doch bei ihm einsteigen! Vielleicht nahmen sie dann den ganzen Scheiß mit, der auf seinem Küchentisch lag.
Obwohl er schneller fuhr als erlaubt und zwei Ampeln bei Gelb nahm, kam er sieben Minuten zu spät bei seinem Vater an. Der Alte stand schon in der Tür und sah auf die Uhr. »Ah, der Herr Sohn konnte sich doch noch freimachen.«
Als er um kurz nach elf wieder nach Hause kam, stand das Garagentor noch immer offen. Niemand war eingebrochen. Der Küchentisch sah aus wie vorher. Friedrich kippte den Espresso weg, den er am frühen Abend nicht getrunken hatte, und reinigte die Maschine.
Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, drehte aber den Ton herunter und legte Sammy Davis junior auf. So hielt er durch bis zum Nachtmagazin auf RTL, zu dem er den Ton wieder aufdrehte und Sammy Davis abwürgte. Er hörte zu, aber kriegte nicht mit, was in der Welt passiert war. Um halb eins schaltete er ab und ging nach oben. Er machte Abendtoilette, legte sich ins Bett und schaltete das Licht aus. Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten 0.44 Uhr. Dann 0.45 Uhr. Dann 0.46 Uhr. Dann 0.47 Uhr. Das ging so weiter bis 1.12 Uhr. Dann hatte Friedrich eine Lücke bis 2.01 Uhr. Etwa eine halbe Stunde zählte er wieder die Minuten. Dann war es plötzlich 3.45 Uhr. Um 4.12 Uhr stand er auf, setzte sich wieder vor den Fernseher und versuchte, sich von einer dieser dämlichen Dauerwerbesendungen einschläfern zu lassen. Das funktionierte nicht. Er ging barfuß in den Garten und wartete auf den Sonnenaufgang. Der Himmel wurde irgendwann milchig grau, aber die Sonne zeigte sich nicht.
Friedrich wusste, dass er den Umschlag irgendwann würde öffnen müssen.
Aber bevor er das tat, ging er in den Keller. Es dauerte immerhin eine Viertelstunde, bis er die kleine Holzkiste mit den schwarzen Beschlägen und dem winzigen Vorhängeschloss gefunden hatte. Er trug sie nach oben und stellte sie auf den Küchentisch. Den Schlüssel hatte er mit einem Streifen Tesafilm oben auf den Deckel geklebt. Er öffnete die Kiste und nahm die Fotos heraus.
Sie lagen wild durcheinander. Da waren welche von seinen ersten Auftritten im »Martys«, von Silvia, als sie schwanger war, und von Konietzka mit wechselnden Frauen. Friedrich fiel wieder auf, dass er so gut wie keine Aufnahmen von seinen Eltern hatte. Sein Vater hatte sich noch nie gern fotografieren lassen. »Geh mir weg mit Fotos«, hatte er einmal gesagt. »Die liegen nur rum, und alle wollen sie sehen und dann muss man sie sich angucken. Ich will nicht wissen, wie ich mal ausgesehen habe.« Es gab natürlich ein Hochzeitsbild von Friedrichs Eltern, aber auch das war verschwommen und unscharf, die Gesichter nur helle Flächen mit dunklen Flecken, dort, wo die Augen, die Nasenlöcher und der Mund sein mussten. Immerhin, man konnte erkennen, dass die Braut Weiß getragen hatte und der Bräutigam einen dunklen Anzug.
Und dann: Pokorny und Zacher am Tag der Ausgabe ihrer Abiturzeugnisse, wobei sich Zachers Mutter so blamiert hatte. Zacher, der ernste junge Mann aus schwierigen Verhältnissen, der so viel klüger war als alle, die über ihn die Nase rümpften.
In einer zusammengefalteten Klarsichthülle steckten die drei Fotos von Ellen. Das eine zeigte sie von hinten, den Kopf aber der Kamera zugewandt. Sie lachte. Auf dem zweiten lag sie auf dem Bett in ihrem winzigen Wohnheimzimmer und las in einer Zeitschrift. Und dann das dritte. Das, welches er immer vor Augen hatte, wenn er an sie dachte. Wie sie im Bett saß, das Glas in der Hand. Und von der Seite konnte man so gerade noch den Ansatz ihrer Brust sehen.
Er steckte die drei Bilder wieder in die Klarsichtfolie, legte sie zu den anderen Fotos in die Kiste und verschloss sie wieder. Er nahm den Brief und riss ihn auf, ohne das Küchenmesser zu benutzen.
Es war eine Einladung, sehr förmlich, auf schwerem Papier. Dr. Thomas Zacher und Carla Veneri-Zacher luden ihn zu einem Abendessen ein. Zacher hatte also seinen Doktor gemacht, was Friedrich nicht sonderlich überraschte. Und er hatte geheiratet.
Das Abendessen sollte am folgenden Samstag sein. Der Samstag, den er nun frei hatte, weil dieser Auftritt abgesagt worden war. Vielleicht sollte Friedrich dort anrufen und sagen, er spiele zur Not auch umsonst. Er konnte nicht zu Zacher gehen, sich mit ihm an einen Tisch setzen und essen, als sei nichts gewesen. Immerhin war Zacher dafür verantwortlich, dass Ellen nicht mehr lebte.
Erster Teil
Friedrich war schon fast an der Sonderschule vorbei, als ihm drei Jungen und zwei Mädchen entgegenkamen, die er schon öfter gesehen hatte. Er fing an zu schwitzen und sehnte sich auf die andere Straßenseite. Mit den Kindern von der Sonderschule gab es immer nur Ärger. Sie riefen einem Schimpfwörter hinterher, so was wie Arschloch, Wichser, Ficker oder Spasdi, und Friedrich hatte schon gehört, dass sie einen Jungen, der ganz in seiner Nähe wohnte, verprügelt hatten.
Sie kamen immer näher. Auf die andere Straßenseite durfte er aber nicht, das hatte ihm seine Mutter verboten, es war zu gefährlich. Unauffällig versuchte er, möglichst weit rechts zu gehen, obwohl er damit der Straße bedrohlich nahe kam. Die fünf aber gingen nebeneinander her, wie in einer geübten Formation, es würde eng werden. Der zweite von rechts war der größte, er hatte dunkles Haar, das ihm an den Seiten bis über die Ohren reichte, hinten bis weit über den Kragen und vorne in die Augen hing. Die beiden Mädchen waren dick, hatten schlechte Haut und trugen Kleider, obwohl es nicht besonders warm war. Ganz links ging ein Junge in Fußballschuhen. Und ganz rechts ein kleiner, dunkler Junge, der Turnschuhe trug, von denen sich die Streifen zu lösen begannen. Ohnehin waren es nur zwei gewesen und nicht drei, wie sich das gehörte. Friedrich spürte den Luftzug der Autos, die an ihm vorbeifuhren.
Es war eigentlich kaum zu spüren, nur eine leichte Berührung, Friedrichs Schulter hatte die des kleinen Jungen gestreift. Es war der, an dessen Schuhen die Streifen nicht mehr halten wollten. Erst eine Sekunde zuvor hatte Friedrich gedacht, es könnte klappen, er könnte vorbeikommen, aber dann machte der kleine Junge eine Bewegung, eine ganz kleine nur, und ihre Schultern berührten sich. Friedrich ging einfach weiter. Der kleine Junge schrie ihm hinterher: »Ey du Sau! Bist du bescheuert?« Dann hörte Friedrich eine andere Stimme, wahrscheinlich die des großen Jungen. »Was ist los?«
»Die schwule Sau hat mich angerempelt!«
Friedrich ging weiter, ohne sich umzudrehen, aber er wusste, dass er in Schwierigkeiten war. Er war nicht nur eine Sau, sondern eine »schwule Sau«. Er hatte keine Ahnung, was das Wort bedeutete, aber es konnte nichts Gutes sein.
»Ernsthaft?«, fragte die zweite Stimme.
»Hat mich voll angerempelt, der Arsch!«
»Ey, Kurzen!«, rief der große Junge, und es war klar, wen er meinte, aber Friedrich hielt es für besser, gar nicht zu reagieren.
»Ich rede mit dir! Du Arsch mit dem orangenen Tornister!«
Friedrich ging weiter. Aber dann spürte er, wie eine Hand seinen Tornister nach unten drückte, damit er nach hinten kippte. Friedrich konnte sich gerade noch fangen und drehte sich um. Der große Junge stand vor ihm und sah ihn durch die vor seinen Augen hängenden Haare an. »Du hast meinen Kumpel angerempelt!«
»Entschuldigung«, murmelte Friedrich.
»Wie bitte? Ich kann dich nicht hören!« Die anderen Kinder kamen näher.
»Entschuldigung!«, sagte Friedrich etwas lauter. Er sah auf den Boden, so wie er es tat, wenn sein Vater zu Hause mit ihm schimpfte. Der große Junge drehte sich zu den anderen um und lachte: »Der Arsch entschuldigt sich.«
Der kleine Junge mit den kaputten Schuhen rief: »Und du meinst, das reicht, oder was?«
Friedrich schwieg.
»Er hat dich was gefragt!«, sagte der Große.
Friedrich zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube nicht, dass das reicht«, schüttelte der Große den Kopf. »Ich glaube, du brauchst noch ein paar auf die Fresse. Hä? Was sagst du dazu?«
Friedrich hielt den Mund.
»Würdest du nicht auch sagen, du brauchst ein paar auf die Fresse?«
Friedrich konzentrierte sich auf die Fuge zwischen den beiden Gehsteigplatten, auf denen er stand.
»Los sag schon! Sag es! Sag, dass du ein paar auf die Fresse brauchst!«
Friedrich war schon klar, dass er auf jeden Fall verprügelt werden würde. Wenn er tat, was der Junge wollte, würde er Prügel bekommen, weil er darum gebeten hatte, und tat er es nicht, würde der Junge ihn schlagen, weil er nicht gehorcht hatte.
© 2005 by Verlagsgruppe Random House, München
- Autor: Frank Goosen
- 2005, 320 Seiten, Maße: 12 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453400224
- ISBN-13: 9783453400221
- Erscheinungsdatum: 01.02.2005
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