Quicksilver
Europa, um 1665: Daniel Waterhouse, Querdenker, Puritaner und Verächter der alten Geheimwissenschaften, strebt mit seinem Freund Isaac Newton und einigen anderen großen Geistern des barocken Europa nach...
Europa, um 1665: Daniel Waterhouse, Querdenker, Puritaner und Verächter der alten Geheimwissenschaften, strebt mit seinem Freund Isaac Newton und einigen anderen großen Geistern des barocken Europa nach Wissen und Erkenntnis, während die Welt ringsum ein einziges Chaos ist. Überall ringt die Vernunft mit dem blutigen Ehrgeiz der Mächtigen, und jederzeit können Katastrophen - ob natürlich oder hausgemacht - die politische Landschaft über Nacht verändern. In dieser Zeit steigt Jack Shaftoe vom Londoner Gassenjungen zum legendären König der Vagabunden auf. Er riskiert Leib und Leben für sein Glück und seine Liebe - und verliert durch die Syphilis schleichend den Verstand. Gleichzeitig schlägt sich seine Geliebte Eliza, die er aus einem türkischen Harem befreit hat, bis zum Hof Ludwigs XIV. durch, wird Mätresse, Spionin und Schachfigur in den Händen von königlichen Staatenlenkern. Die Wege von Daniel, Jack und Eliza führen kreuz und quer durch das zerrissene Europa, sie berühren und verschlingen sich, während allerorten ein neues Zeitalter seine Schatten voraus wirft ...
Quicksilver von Neal Stephenson
LESEPROBE
Boston Common
12. OKTOBER 1713, 10:33:52 UHR
Enoch biegt gerade in dem Moment um die Ecke, als der Henker dieSchlinge über den Kopf der Hexe hebt. Und die Menge auf dem Common hört genau solange auf zu beten und zu schluchzen, wie Jack Ketch mit durchgedrückten Ellbogendasteht, beinahe wie ein Zimmermann, der einen Firstbalken an seinen Platzhievt. Die Schlinge fasst ein Oval blauen New-England-Himmels ein. Die Puritanerstarren sie an und machen sich, wie es scheint, Gedanken. Enoch der Rote zügeltsein Pferd, als es sich den Ausläufern der Menge nähert, und sieht, dass derHenker nicht etwa die Absicht hat, ihnen seine Knüpfkunst vorzuführen, sondernvielmehr ihnen allen einen kurzen - für einen Puritaner durchaus verlockenden -Blick auf das Portal zu gewähren, das sie alle eines Tages werdendurchschreiten müssen. Boston ist ein Klecks von Hügeln in einemLöffel voller Sümpfe. Der Weg, der sich von hier aus den Löffelstielhinaufzieht, wird zunächst von einer Mauer versperrt, außerhalb derer derübliche Galgen steht, und am Stadttor sind Opfer, oder Teile von ihnen,aufgeknüpft oder angenagelt. Enoch ist auf diesem Weg gekommen und hattegeglaubt, dass er dergleichen nun nicht mehr würde sehen müssen - und eshinfort nur noch Kirchen und Schänken gäbe. Aber die Toten draußen vor dem Torwaren gemeine Räuber, hingerichtet wegen irdischer Verbrechen. Was hier auf demPlatz passiert, hat eher etwas Sakramentales. Die Schlinge liegt wieeine Krone auf dem grauen Kopf der Hexe. Der Henker streift sie ihr über. IhrKopf dehnt sie wie der eines Kindes den Geburtskanal. Als die weiteste Stelleerreicht ist, fällt ihr die Schlinge plötzlich auf die Schultern. Die Knie derFrau beulen ihre Schürze vorne aus, und ihre Röcke schieben sich, als siezusammenzubrechen droht, auf dem Gerüst ineinander. Um sie aufrecht zu halten,umfängt der Henker sie mit einem Arm wie ein Tanzlehrer und schiebt dabei denKnoten zurecht, während ein Gerichtsschreiber das Todesurteil verliest. Esklingt so nichts sagend wie ein Pachtvertrag. Die Menge scharrt ungeduldig mitden Füßen. Das ablenkende Beiwerk einer Hinrichtung in London gibt es hiernicht: keine Pfiffe und Buhrufe, keine Jongleure oder Taschendiebe. Unten amanderen Ende des Platzes exerziert eine Schwadron Infanteristen und marschiertrund um den Fuß eines kleinen Hügels, auf dessen Kuppe ein steinernerPulverturm aufragt. Ein irischer Sergeant kommandiert - gelangweilt, aber auchempört - mit einer Stimme, die vom Wind ewig weit getragen wird wie der Geruchvon Rauch. Enoch ist nicht hergekommen, um Hinrichtungen von Hexenbeizuwohnen, doch jetzt, wo er in eine hineingeraten ist, wäre es ungehörig, einfachwieder zu gehen. Es ertönt ein Trommelwirbel, dem eine plötzliche ungute Stillefolgt. Was Hinrichtungen angeht, hat er schon wesentlich Schlimmeres erlebt -es gibt kein Strampeln oder Sichwinden, keine reißenden Stricke oder sichlösende Knoten - alles in allem eine ungewöhnlich fachmännische Arbeit. ImGrunde hatte er nicht gewusst, was er von Amerika zu erwarten hatte. Aber dieLeute hier scheinen alles - Hinrichtungen eingeschlossen - mit einerunverblümten, nüchternen Zielstrebigkeit zu erledigen, die bewundernswert undenttäuschend zugleich ist. Wie springende Fische machen sie sich mit einerblutleeren Leichtigkeit an schwierige Aufgaben. Als wüssten sie alle von Geburtan Dinge, die sich andere, zusammen mit Märchen und Aberglauben, erst von ihrenFamilien und Dörfern aneignen müssen. Vielleicht liegt es daran, dass diemeisten von ihnen auf Schiffen herübergekommen sind. Als sie die schlaffe Hexevom Galgen schneiden, fegt ein böiger Nordwind über den Platz. Auf Sir IsaacNewtons Temperaturskala, wo der Gefrierpunkt bei null und die Wärme desmenschlichen Körpers bei zwölf liegt, ist es jetzt vermutlich vier oder fünf.Wenn Herr Fahrenheit mit einem seiner neuen, aus einer verschlossenen Röhre mitQuecksilber bestehenden Thermometer hier wäre, würde er wahrscheinlich eineTemperatur um die fünfzig feststellen. Aber diese Art von Herbstwind, der ausdem Norden kommt, ist eisiger, als es irgendein bloßes Instrument anzeigen kann.Dieser Wind erinnert jeden hier daran, dass man, wenn man nicht in ein paarMonaten tot sein will, schleunigst Feuerholz stapeln und Ritzen abdichten muss.Auch von einem heiseren Prediger am Fuße des Galgens wird der Windwahrgenommen; er hält ihn für Satan persönlich, der gekommen ist, die Seele derHexe in die Hölle zu befördern, und verkündet diese Meinung auch unverzüglichder Schar seiner Anhänger. Während er spricht, starrt der Prediger Enochunverwandt an. Enoch verspürt die erhöhte, nervenaufreibendeAnspannung, die ein Vorläufer der Furcht ist. Was sollte sie daran hindern, ihnwegen Hexerei zu hängen? Was für ein Bild gibt er für diese Leute wohlab? Ein Mann von undefinierbarem Alter, aber offensichtlich großerLebenserfahrung, silbernes Haar, das ihm in einem Zopf den Rücken herabfällt,kupferroter Bart, blassgraue Augen und eine Haut, die wettergegerbt und narbigist wie die rindslederne Schürze eines Schmieds. Gekleidet in einen langenReiseumhang, hat er am Sattel eines bemerkenswert schönen Rappen einen Wanderstabund ein altmodisches Rapier festgeschnallt. In seinem Gürtel zwei Pistolen, soauffällig, dass Indianer, Wegelagerer und französische Marodeure, die imHinterhalt lauern, sie deutlich sehen können (er würde sie gerne den Blickenentziehen, aber jetzt nach ihnen zu greifen erscheint nicht ratsam).Satteltaschen (sollten sie durchsucht werden) voller Instrumente, Flakons mitQuecksilber und noch seltsameren Inhalten - manche davon, wie sie erfahrenwürden, ziemlich gefährlich -, Bücher in Hebräisch, Griechisch und Latein, dieübersät sind mit den geheimnisvollen Symbolen der Alchimisten und Kabbalisten.In Boston könnte es schlecht für ihn ausgehen. Doch die Menge verstehtdas Eifern des Predigers nicht als Ruf zu den Waffen, sondern als Signal, sichunter allgemeinem Gemurmel abzuwenden und zu zerstreuen. Die Rotröcke feuernmit einem tiefen Zischen und Donnern, wie wenn Hände voll Sand auf eineKesselpauke geschleudert werden, ihre Musketen ab. Inmitten der Kolonistensteigt Enoch vom Pferd. Er wirft sich den Umhang über die Schulter, verbirgtauf diese Weise die Pistolen, zieht sich die Kapuze vom Kopf und gleicht so einfacheinem weiteren müden Pilger. Er vermeidet es, irgendjemanden direktanzuschauen, lässt aber aus den Augenwinkeln seinen Blick über ihre Gesichterhuschen und wundert sich, nicht mehr Selbstgerechtigkeit darin zu entdecken. »SoGott will«, sagt ein Mann, »war das die Letzte.« »Meint Ihr, die letzteHexe, Sir?«, fragt Enoch. »Die letzte Hinrichtung meine ich, Sir.« WieWasser den Fuß steiler Hügel umfließt, überqueren sie einen Friedhof amsüdlichen Rand des Common, der schon voll ist mit verstorbenen Engländern, undfolgen dem Leichnam der Hexe die Straße hinunter. Die Häuser bestehen zum größtenTeil aus Holz, ebenso die Kirchen. Die Spanier hätten hier eine einzige großeKathedrale aus Stein erbaut, mit Goldverzierungen im Innern, aber dieKolonisten können sich auf nichts einigen, sodass man sich eher wie inAmsterdam vorkommt: kleine Kirchen in jedem Häusergeviert, manche davon kaumvon Scheunen zu unterscheiden, in denen ganz sicher gepredigt wird, dass alleanderen in die Irre gehen. Immerhin können sie einen Konsens darüber erzielen, eineHexe zu töten. Sie wird zu einem neuen Friedhof gebracht, den sie ausirgendeinem Grund unmittelbar neben dem Kornspeicher angelegt haben. Es fälltEnoch schwer zu entscheiden, ob dieses Zusammentreffen - dass sie ihre Totenund ihr wichtigstes Nahrungsmittel am selben Ort aufbewahren - eine ArtBotschaft der Stadtältesten oder einfach nur geschmacklos ist. Enoch,der mehr als eine Stadt hat brennen sehen, erkennt entlang der Hauptstraße dieNarben einer großen Feuersbrunst. Man ist dabei, Häuser und Kirchen aus Ziegelnoder Steinen wieder aufzubauen. Er gelangt an die vermutlich größte Kreuzung inder Stadt, wo die vom Stadttor kommende Straße eine andere, sehr breite kreuzt,die geradewegs zum Meer führt und in einen langen Kai mündet, der weit in denHafen hinausragt und einen zerfallenen Wall aus Steinen und Baumstämmen quert:die Überreste eines nicht mehr benutzten Deichs. Der lange Kai ist von Barackengesäumt. Er reicht so weit ins Hafenbecken hinaus, dass eins der allergrößtenKriegsschiffe der Navy an seinem Ende anlegen kann. Wenn er den Kopf in dieandere Richtung dreht, sieht er, dass an einem Hang Artillerie in Stellunggegangen ist und blau berockte Kanoniere einen fassartigen Mörser bedienen,bereit, eiserne Bomben in hohem Bogen auf das Deck einer jeden französischenoder spanischen Galeone zu werfen, die sich unbefugt in die Bucht wagt. Indemer nun im Geist eine Linie von den toten Verbrechern am Stadttor zum Pulverturmauf dem Common, zum Hexengalgen und schließlich zu den Verteidigungsanlagen amHafen zieht, entsteht das Bild einer kartesischen Zahlengeraden - der Ordinatebei Leibniz: Er versteht, wovor die Leute in Boston Angst haben und wie dieKirchenmänner und Generäle den Ort unter der Knute halten. Allerdings bleibtabzuwarten, was in den Raum oberhalb und unterhalb davon eingezeichnet werdenkann. Die Hügel von Boston sind von endlosen flachen Sümpfen umgeben, die sich,gemächlich wie die Dämmerung, im Hafen oder im Fluss verlieren und unbebaute Flächenfrei lassen, auf denen Männer mit Schnüren und Linealen die sonderbarstenKurven konstruieren können, die ihnen in den Sinn kommen mögen. Enochweiß, wo der Ursprung dieses Koordinatensystems zu finden ist, denn er hat mitHandelskapitänen gesprochen, die Boston kennen. Er geht hinunter an die Stelle,wo der lange Kai sich am Ufer festhält. Zwischen den feinen Steinhäusern derSeekaufleute gibt es eine ziegelrote Tür, über der eine Weinrebe baumelt. Enochtritt durch diese Tür und befindet sich in einer ordentlichen Schänke. Männer mitDegen und teurer Kleidung drehen sich zu ihm um. Sklavenhändler, Männer, die mitRum, Melasse, Tee und Tabak Handel treiben, und die Kapitäne der Schiffe, diediese Waren transportieren. Es könnte an jedem beliebigen Ort auf der Weltsein, denn dieselbe Schänke gibt es in London, Cadiz, Smyrna und Manila, und esverkehren dieselben Männer darin. Keinen von ihnen kümmert es, sofern sieüberhaupt davon wissen, dass nur fünf Gehminuten entfernt Hexen aufgehängtwerden. Hier drinnen fühlt sich Enoch viel wohler als dort draußen; aber er istnicht hergekommen, um sich wohl zu fühlen. Der Schiffskapitän, den er sucht -van Hoek - ist nicht da. Bevor der Schankwirt ihn in Versuchung führen kann, gehter rückwärts wieder hinaus. Wieder in Amerika und unter Puritanern,bewegt er sich durch schmalere Gassen nordwärts und führt sein Pferd auf einerwackligen Holzbrücke über einen kleinen Mühlbach. Flottillen von Holzspänen vomHobel irgendeines Zimmermanns segeln wie Schiffe, die in den Krieg ziehen, denWasserlauf abwärts. Darunter schiebt die schwache Strömung Exkremente und Teilevon geschlachteten Tieren zum Hafen hinunter. Es riecht entsprechend. KeinZweifel, nicht weit in Windrichtung gibt es eine Seifensiederei, in der nichtzum Verzehr geeignetes Tierfett zu Kerzen und Seife verarbeitet wird. (...)
© Manhattan Verlag
Übersetzung: Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller
Autoren-Porträtvon Neal Town Stephenson
Neal Town Stephenson, 1959 an Halloween in Fort Meade imUS-Bundesstaat Maryland geboren, stammt aus einer naturwissenschaftlichgeprägten Familie: der Vater war Professor für Elektrotechnik, der eineGroßvater war Physikprofessor, der andere Professor für Biochemie. Er wuchs inChampaign-Urbana, Illinois, und Ames, Iowa, auf und studierte selbst erstPhysik, später sattelte er jedoch auf Geografie um - weil das geographischeInstitut die besseren Computer hatte. Stephenson gilt vor allem dank seinesRomans Snow Crash" als Mitbegründer der sogenannten Cyberpunk-Literatur, einerRichtung der Science-Fiction in den 80er und frühen 90er Jahren, die späterbeispielsweise in Matrix" ihr filmisches Äquivalent fand. In "SnowCrash" wurde die Idee der Avatare" - virtuelle Persönlichkeiten, diemittlerweile das Internet bevölkern - erstmals beschrieben. Stephenson war alsEssayist für das Wired Magazine" und auch schon früh für das Time Magazine"tätig. Seine Zukunftsentwürfe wirken offenbar so glaubwürdig, dass es inSilicon Valley Firmengründer gegeben haben soll, die seinen Roman Snow Crash"mit den Worten Das ist unser Geschäftsplan" auf den Tisch knallten. Für Diamond Age", einen Roman über die ferne Zukunft der elektronischen Bücher,wurde ihm der Hugo Award 1996 verliehen, und bei der Ars Electronica 2000erhielt er für sein bisheriges Gesamtwerk den Goldenen Nica", den Oscar derInternet-Welt. Schon Anfang der 90er Jahre befand US-Kult-Papst Timothy Leary: Neal Stephenson wird bald zu den ganz Großen in der amerikanischen Literaturzählen", und die euphorische Aufnahme seiner Romane Cryptonomicon" und Quicksilver" zeigt, dass er auf direktem Weg dorthin ist.
- Autor: Neal Stephenson
- 2004, 1, 1152 Seiten, Maße: 15,5 x 23,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übers. v. Juliane Gräbener-Müller u. Nikolaus Stingl
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442545684
- ISBN-13: 9783442545681
(Time Magazine)
"Ein Wunderwerk zum Lesen und Staunen ..."
(Entertainment Weekly)
"...für ein Urteil die übrigen Bände abwarten? Das ist so, wie wenn ein Kinobesucher nach zehn Minuten Spektakel, in denen drei Morde, ein Erdbeben, fünf philosophische Fragen von äußerster Brisanz, ein Dutzend Spezialeffekte und mehrere überraschende Plot-Wendungen vorkommen, konstatierte, es sei noch zu früh, den Film aufregend zu finden. Bombastischer als Stephenson kann man nicht erzählen." (Auszug aus einem euphorischen Leitartikel zum Erscheinen der amerikanischen Ausgabe von Quicksilver)
(FAZ)
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