Sänger müssen zweimal sterben
Sänger müssen zweimal sterben von Peter Pannke
LESEPROBE
Zuallererst ist Indienein Geruch. Blitzartig findet er seinen Weg ins Stammhirn. Als nächstes ertönenGeräusche, dann flackern Bilder auf. Sehen kommt später, Denken zuletzt. DasHirn folgt den Spuren der Erfahrung durch die Nasenlöcher, die Netzhaut, dieTrommelfelle, über die Oberfläche der Haut, bis es alles in Erinnerungverwandelt.
Beijeder Ankunft erlebe ich dieses Gefühl, wie Indien in mich eindringt und sich schlagartigin mir ausbreitet. Beim ersten Atemzug ist der Schock am stärksten; später,wenn ich selbst die Duftmarke dieses großen Tieres angenommen habe, werde ichdiesen Geruch nicht mehr wahrnehmen. Kaum habe ich das Land wieder verlassen,zerfließt er zu einem vagen Schatten, den Nase und Hirn nicht mehr zu fassenvermögen.
Ichversuche mich zu erinnern.
New Delhi, Indira Gandhi International Airport,
Montag, 29. Juli 2002
Es war kurz vorMitternacht, aber die Straße vom Flughafen in die Innenstadt war immer nochbelebt. Als ich im letzten Winter angekommen war, hatte die Stadt dagelegen wieeine lethargische Echse, der das kalte Blut in den Adern fast zum Stillstandgekommen war; nur dann und wann rückte sie mit Mühe ihre Beine zurecht. Diesmalbrannten keine Feuer am Straßenrand, an denen sich Nachtschwärmer die Händewärmten. Alle waren geradezu aufreizend wach. Die Menschen vor den Fenstern desTaxis nutzten die Gelegenheit, im Schatten der Nacht schnell noch einmal Atemzu schöpfen, bevor der nächste Tag vom Himmel auf sie herabfallen würde, schwerwie ein heißer Stein.
Der Juliwar fast schon vorüber, aber es hatte noch keinen Tropfen geregnet. Delhiversteckte sich hinter einem Dunstschleier und stöhnte wie eine enttäuschteFrau, die von ihrem Liebhaber verschmäht worden war. Beim Warten auf den Monsunhatte sich die Hitze ihres Verlangens immer weiter gesteigert, in brennenderEnttäuschung über sein Ausbleiben loderte sie noch einmal richtig auf. Die Luftschimmerte schwefelgelb und hatte einen schmutzigen metallisch-graublauenStich. Die Tonnen von Blei, die sie im Lauf des Tages aus den Abgasen derFahrzeuge aufgesogen hatte, regneten in der Nacht als saurer Ruß auf die Stadtherab. Nebelschwaden brachen sich im Licht der Scheinwerfer, als wir uns derStadt näherten.
New Delhi, 1978
Vor vielen Jahrenträumte ich in Indien meinen Tod.
Ichstehe in einer langen Schlange von Menschen, die alle auf den Tod warten. Erhat die Gestalt einer schwarzgekleideten Frau, diejeden der Wartenden in die Arme schließt und ihm eine kleine Klinge in denRücken stößt. Hinter mir sehe ich eine Gruppe von Menschen in Turbanen undlangen weißen Gewändern, die es furchtbar eilig haben. Immer wieder renneneinige von ihnen, so schnell sie können, links und rechts an der Schlangevorbei und werfen sich, die anderen beiseite drängend, mit Wucht der schwarzenFrau in die Arme. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen; sie trägt eine schwarzeMaske, die mit silbernen Linien verziert ist.
Als ichan der Reihe bin, umarmt sie auch mich. Ich merke, wie mich die Klinge zwischendie Schulterblätter trifft. Es ist nur ein winziger Stich, aber er ist deutlichzu spüren. Dann stellt sie mich auf den Kopf und umarmt mich ein zweites Mal.Diesmal trifft mich der Stich unten ins Rückgrat, in Höhe des Kreuzbeins.
Fragendschaue ich sie an. »Sänger muß man von beiden Seitenstechen«, sagt sie. »Sänger müssen zweimal sterben.«
New Delhi, Montag, 29. Juli 2002
Der Anruf meinesFreundes Premkumar aus Allahabadhatte mich in Berlin erreicht. Sein Vater, der Sänger VidurMallik, den ich fast dreißig Jahre lang gekannthatte, war gestorben und - wie es die Tradition gebietet - noch am Abenddesselben Tages eingeäschert worden, am Triveni, dem Zusammenfluß der Ströme Ganga, Jamuna und der mythologischen Saraswati.Die Familie war dabei, sich für die letzten Riten in seinem Heimatdorf in Bihar zu versammeln.
Amta, das Dorf der Malliks, liegt inder Nähe der ehemaligen Residenzstadt Darbhanga. Der Maharaja hatte es den Gründervätern der Familientraditionals Belohnung dafür geschenkt, daß sie mit ihremGesang den Regen herbeigerufen hatten. Das geschah um 1785; die Annalen der EastIndia Company verzeichnen für diese Jahre die größteHungersnot des 18. Jahrhunderts. Seit drei Jahren hatte es nicht mehr geregnet,das Land verdurstete. Das Unwetter, das die beiden Gründerväter Radhakrishna und Kartaram mit demmagischen Regenraga auslösten, war so heftig, daß das Land überschwemmt wurde. Immer wieder hatte Premkumar Mallik mir dieseGeschichte erzählt und dabei die Hand bis an die Brust gehoben, um zuverdeutlichen, wie hoch das Wasser gestiegen sei.
Das Puja, das Ritual, das nach dem Tod eines Patriarchen ausder Kaste der Gaur-Brahmanen, wie VidurMallik einer war, begangen wird, ist lang undumständlich. Es geht zurück bis zum Beginn der Schöpfung. Die Ahnen werdenherbei zitiert, Götter und Dämonen zu den Opferfesten eingeladen.Einhundertfünfundzwanzigtausend Yonis müssen gespeistwerden, die kosmischen Vaginas, aus denen Lebengeboren wird: Insekten, Tiere, Vögel und alle anderen Wesen, darunter auch die Pretas und Bhutas, die hungrigenDämonen. Zum Schluß kommt die Gattung der Manushya an die Reihe, die der Menschen. Die Bewohner derumliegenden Dörfer waren zu dem Festmahl geladen worden, mit dem das Puja enden würde.
Obwohlich den nächsten Flug nach Delhi gebucht hatte, würde ich noch einige Tagebrauchen, um den abgelegenen Ort zu erreichen. Die Riten müssen innerhalb vondreizehn Tagen beendet sein, und ich hoffte, zumindest die letzten nochmiterleben zu können.
Old DelhiRailway Station, Dienstag, 30. Juli 2002
Auf der Fahrt zumBahnhof flimmerten die Bilder am Straßenrand in der Hitze, die vom Asphaltbelagnach oben stieg und als giftgelber Dunst über den Häusern hängenblieb.Geier kreisten über der Innenstadt. Rikschas, Taxis und Busse quälten sichdurch die glühende Luft. Die Fahrt führte über den weiten Platz, der sichzwischen der Freitagsmoschee und dem Roten Fort ausbreitete. Fußgänger huschtenschweißbedeckt über das offene Gelände, um so schnell wie möglich den Schattendes nächsten Baums zu erreichen.
Die OldDelhi Railway Station ist der weniger belebte derbeiden großen Bahnhöfe der Stadt. Von der New Delhi Station aus erreicht mandie Metropolen Mumbai oder Kalkutta, die Old DelhiStation sorgt für den Anschluß in die weiten Ebenen,die sich im Norden unterhalb der Bergkette des Himalajaerstrecken. Darbhanga liegt im Nordosten. Bis vorwenigen Jahren hätte eine Fahrt dorthin noch einer tagelangen Reise mit vielfachemUmsteigen von Eisenbahn auf Bus und Rikscha bedurft. Mittlerweile gab es eineDirektverbindung. Shaheed Express hieß dieser Zug,der »Märtyrer-Expreß«.
Erführte von einem Niemandsland ins andere. Sein Ausgangspunkt im Westen war Amritsar, die letzte indische Stadt vor der pakistanischenGrenze. In Amritsar hatte Indira Gandhi 1984 denGoldenen Tempel stürmen lassen, als sich der von ihr protegierte RebellenführerSant Bindranwaleselbstständig machte und einen Staat der Sikhs ausrief. Das Heiligtum in Amritsar war die letzte Zuflucht seiner bewaffnetenAnhänger. Die Zahl der Toten wurde nie offiziell bekanntgegeben,aber die rostigen Blutspuren, die auf den Marmorfliesen zurückblieben, wurdenimmer noch gezeigt wie Stigmata. Als die Premierministerin kurz nach der OperationBluestar von ihren Leibwächtern - ebenfalls Sikhs -erschossen wurde, waren Tausende von Sikhs auf den Straßen von Delhiniedergemetzelt worden, mit Autoreifen behängt, mit Kerosin überschüttet undverbrannt. Ganze Wohnbezirke wurden abgefackelt. Es dauerte zwei Tage, bis dieArmee eingriff. Die Leibwächter wurden dann ihrerseits gehängt. Märtyrerallenthalben. Shaheed Express - der Name klang wieein ominöses Vorzeichen meiner Reise.
IndischeZüge sind in der Regel überfüllt, aber es herrschte kein Andrang auf den Märtyrer-Expreß. Darbhanga übteoffensichtlich keinen großen Anreiz auf Reisende aus, aber es gab noch einenweiteren Grund, warum die Abteile so leer waren: Der Osten Indiens stand unterWasser, keiner wußte, ob der Zug sein Ziel erreichenwürde. Im Westen war dagegen noch kein Tropfen Regen gefallen, nicht einmal dieMeteorologen konnten voraussagen, ob der Monsun in Delhi in diesem Jahr völligausbleiben würde. Seine Unzuverlässigkeit war sprichwörtlich, seit Ende der achtzigerJahre hatte sie sich noch verschlimmert. Einige Male war es seitdem schon zuDürrekatastrophen und Überschwemmungen gekommen. Es ließ sich bereits absehen, daß dies ein noch schlechteres Jahr werden würde als dasvorhergehende.
EinVierzeiler auf der dritten Seite der »Times of India«berichtete, daß in Bihardreizehn Millionen Menschen von den Überschwemmungen betroffen seien. Um Samastipur herum sollten siebentausend Dörfer unter Wasserstehen. Samastipur ist die letzte Zugstation vor Darbhanga. Das war dort, wo ich hinwollte.
© PiperVerlag
- Autor: Peter Pannke
- 2006, 318 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 12,5 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Malik
- ISBN-10: 3890293174
- ISBN-13: 9783890293172
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