Schamland
Die Armut mitten unter uns
Besonders in den (Super-)Wahljahren entdecken unsere Politiker gerne ihr soziales Gewissen. Dann wird gelegentlich über die Armen bei uns gesprochen, nie jedoch mit ihnen ... Der Soziologe Stefan Selke reiste mehrere Jahre durch Deutschland, um mit armen...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schamland “
Besonders in den (Super-)Wahljahren entdecken unsere Politiker gerne ihr soziales Gewissen. Dann wird gelegentlich über die Armen bei uns gesprochen, nie jedoch mit ihnen ... Der Soziologe Stefan Selke reiste mehrere Jahre durch Deutschland, um mit armen Menschen über ihre Lebenssituation zu sprechen. Er traf die Alleinerziehende, die froh ist, wenn ihr Kind vor dem Schulausflug krank wird (weil das ein paar Euro spart), und den Handwerker, der nach
einem Berufsunfall Hartz IV bezieht und zur
Armenspeisung geht ... Selke zeichnet das
bedrückende Bild von Menschen, die einst in der Mitte der Gesellschaft lebten und jetzt auf
Almosen angewiesen sind ... Ein beschämendes Bild für eines der reichsten Länder der Welt.
einem Berufsunfall Hartz IV bezieht und zur
Armenspeisung geht ... Selke zeichnet das
bedrückende Bild von Menschen, die einst in der Mitte der Gesellschaft lebten und jetzt auf
Almosen angewiesen sind ... Ein beschämendes Bild für eines der reichsten Länder der Welt.
Klappentext zu „Schamland “
"Wir leben im Schamland. Wir werden nun sprechen, alle zusammen. Wir sind die, die seit Jahren Almosen in Empfang nehmen. Wir sind die Stimmen und das schlechte Gewissen der neuen sozialen Frage in Deutschland. Wir sind viele."In einer einzigartigen Mischung aus Sozialreportage und messerscharfer Gesellschaftsanalyse nimmt der Soziologe Stefan Selke uns mit in die unbekannte Welt der Armen. Er zeichnet das Leben jener Menschen, die einst in der Mitte der Gesellschaft lebten und sich verzweifelt bemühen, ein Stück Normalität zu bewahren.
"Christian Lindner (FDP) hat behauptet, es gäbe in diesem Lande mehr Armutsberichte als Armut. Ich bin dankbar für jeden, der diesem Schwachsinn widerspricht." Dieter Hildebrandt, Kabarettist
"Ein kluges, überaus mutiges und brillant recherchiertes und geschriebenes Buch." Jean Ziegler, Bestseller-Autor und Soziologe
"Das Buch spricht das Thema Armut auf sensible und zugleich kämpferische Weise an." Katja Kipping, Vorsitzende DIE LINKE
Lese-Probe zu „Schamland “
Schamland von Stefan SelkeProlog
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Abend, an dem ich zusammen mit meiner damaligen Freundin zum Abschlussball unseres Tanzkurses unterwegs war. Auf dem Weg durch die Stadt sah ich zum ersten Mal in Deutschland einen Mann, der in einer Mülltonne nach Essbarem suchte. Den Abschlussball ließ ich platzen. Meiner Freundin aber war mehr nach Tanzen zumute als nach Gesellschaftskritik. Der Preis für meine Empörung bestand darin, als Single nach Hause zu gehen. Jetzt, viele Jahre später, nutze ich die Möglichkeit, mit diesem Buch erneut meiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Tanzen kann ich leider noch immer nicht richtig.
Seit 2006 beschäftige ich mich intensiv mit dem, was mich damals, knapp volljährig, so verstörte. Mit der Frage, wie Armut im Reichtum möglich ist. Mein Interesse für diesen Skandal bekam eine für mich unerwartete Aktualität, als ich selbst prekär beschäftigt und von Arbeitslosigkeit bedroht war und darüber nachdachte, wie es weitergehen könnte. Ich beschloss, ein Jahr lang bei einer Lebensmittelausgabe zu hospitieren und exemplarisch eine dieser boomenden Hilfsorganisationen aus der Innenperspektive zu erkunden. Nach und nach wurde ich zu einem kritischen Beobachter des Systems der Lebens- mitteltafeln, Suppenküchen und ähnlicher Angebote. Sie werden in diesem Buch zusammenfassend Armuts-, Almosen- oder Hartz-IV-Ökonomie genannt und versinnbildlichen die Armut mitten unter uns.
... mehr
Was zufällig begann, ist inzwischen fester Bestandteil meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Zwischenzeitlich wurden einige meiner Thesen von Journalisten und von den Tafeln selbst aufgegriffen - wenn ich gut gelaunt bin, werte ich dies als Erfolg. Ich könnte mit dieser Rolle zufrieden sein. Nicht zufrieden bin ich hingegen nach wie vor mit der Gesellschaft, in der ich lebe. Dieses Buch schrieb ich aus Protest, als mir klarwurde, dass 2013 die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen feiern werden. Ich fragte mich, wie das wohl aussehen würde. Vielleicht wie im Herbst 2012, als ich zur 13-Jahr-Feier der Wiener Tafel in Österreich eingeladen wurde. Der Moderator wünschte allen Gästen »gute Unterhaltung bei einem höchst spannenden Thema«. Einen Abend lang standen die Themen ›Motivation älterer Ehrenamtlicher‹ und ›Tafelarbeit als Sinnstiftung‹ im Mittelpunkt. Ein Sozialforscher nannte die Wiener Tafel »vorbildlich«. Der Gründer der Wiener Tafel war begeistert vom Zuspruch anwesender Tafelhelfer. Kein Wort aber zu den Ursachen von Armut inmitten von Reichtum.
War dies ein Vorgeschmack darauf, wie die feierliche Stimmung in Deutschland unter Tafelmenschen, Tafelsponsoren und tafelnahen Politikern aussehen könnte? Für viele, auch für die uninformierte Öffentlichkeit, wird das 20-jährige Bestehen der Tafeln in Deutschland ein Grund zum Feiern sein. Den zu erwartenden Jubel, die eingeübten positiven Selbstdarstellungen der Tafeln sowie die pathetische Rhetorik der Politik möchte ich jedoch nicht unwidersprochen hinnehmen. Vielmehr ist es an der Zeit, dem Selbstlob eine fundiertere Perspektive entgegenzusetzen. Denn trotz zwischenzeitlich geschärfter sozialwissenschaftlicher Instrumente lässt sich die Public-Relations-Watte, in die die Tafelbewegung gepackt ist, noch immer schlecht durchdringen. Ich habe wenig Lust, mich dem arrangierten Schulterklopfen anzuschließen - lieber möchte ich eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie es sich aus der Sicht Armutsbetroffener anfühlt, seit vielen Jahren Teil dieses Systems zu sein. Und darüber, wie durch Tafeln und ähnliche Angebote die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich fortgeschrieben wird.
Dafür gibt es aus meiner Sicht gute Gründe. Die seit fast einer Generation mitten in Deutschland existierenden Tafeln werfen ernsthafte moralische Fragen auf, bei denen es im Kern um die existentielle Verletzbarkeit des Menschen geht. Um Rechte, die Bürgern dieses Landes (sowie in den deutschsprachigen Nachbarländern Schweiz und Österreich, wo Tafeln nach vergleichbaren Prinzipien betrieben werden) zunehmend aberkannt werden. Zentrale Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Verantwortung, Nachhaltigkeit sowie einem zivilisierten Menschenbild stehen auf dem Prüfstand.
Daher verfolgt dieses Buch das Ziel, einen Ausweg aus dem eher technokratischen Verständnis des Sozialen zu suchen. Wenn die Zivilgesellschaft die Versäumnisse des Sozialstaats kompensieren muss und sich Daseinsfürsorge vermehrt in privaten Almosensystemen erschöpft, wird zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur genutzt, sondern ausgenutzt. Mit diesem Buch ist daher eine Warnung verbunden. Es soll aber auch den Blick dafür schärfen, was es bedeutet, von der eigenen Gesellschaft aussortiert und an den unteren Rand gedrängt zu werden, dorthin, wo das eigene Leben als fremdbestimmt erfahren wird.
Das Material dafür liefern zahlreiche persönliche Begegnungen und Gespräche mit Nutzern von Tafeln und anderen existenzunterstützender Einrichtungen, die ich in den letzten Jahren bundesweit besucht habe. Daraus entstand eine detaillierte Analyse der Lebensrealität armutsbetroffener Menschen. Dieses Buch zeigt, dass der Preis für die dabei sichtbar werdende, weichgespülte Auffassung von Sozialpolitik hoch ist. Denn diese neigt immer mehr dazu, soziale Verantwortung an Freiwillige auszulagern und die Symptombehandlung von Armutsphänomenen an Agenturen wie Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern zu delegieren. Hilfeleistungen werden hier nicht angeboten, weil die Empfänger ein Recht dazu haben - sondern aus karitativen Motiven, die einer eigenen Logik folgen, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen im Blick haben. Da sich für die vielen Anbieter der Eigennutz der Hilfe immer wieder in den Vordergrund schiebt, bleiben die Hilfesuchenden oft genug auf der Strecke. In der Folge verwandelt sich unser Land in ein Schamland, in dem die Gewinner sich gegenseitig applaudieren, die Verlierer aber beschämt werden.
Während zahlreicher Podiumsdiskussionen und öffentlicher Veranstaltungen, zu denen ich als Experte zum Thema ›Tafeln und Armut‹ seit 2007 eingeladen wurde, fiel mir immer öfter auf, dass sich dort sehr selten diejenigen befanden, um die es eigentlich geht: die Armen. Mir gefiel überhaupt nicht, wie über eine gesellschaftliche Realität geredet wurde, von der die meisten der Anwesenden nur wenig Ahnung hatten. Das Wissen über die Armut stammte in aller Regel nur aus den Medien, die ihrerseits nur eine Oberfläche zu sehen bekamen. Armut ist Teil von Lebenswelten, zu denen man gerne auf sicherer Distanz bleibt. Immer offensichtlicher wurde, dass gerne über von Armut betroffene Menschen gesprochen wurde, nicht aber mit ihnen. In anderen Worten: Mir wurde immer klarer, dass in der Debatte über die Sinnhaftigkeit privater Hilfsformen (die ich zum Teil selbst mit angestoßen hatte) sowie über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Strategien der Armutsbekämpfung eine zentrale Perspektive fehlte.
Diese Leerstelle störte mich im Laufe der Zeit so sehr, dass ich beschloss, die Perspektive der Armutsbetroffenen in diesem Buch konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Im öffentlichen Diskurs schoben sich - unmerklich, aber doch verlässlich - meist die ehrenamtlichen Helfer in den Vordergrund. Menschen, die versuchen, mit viel Engagement eine Arbeit zu leisten, die bis vor kurzem noch der Sozialstaat übernommen hatte. Die Helfer sind dabei mit der moralischen Pose ausgestattet, immer das Richtige zu tun; sie werden angetrieben vom Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit und sind vor Kritik durch ihre Lobby und das Lob aus der Politik weitgehend geschützt.
Gerade deswegen erscheint mir ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Es ist an der Zeit, dass über den weniger bekannten Teil der Gesellschaft gesprochen wird. Es geht um die Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit derjenigen Menschen, die arm sind inmitten unseres gemeinsamen Wohlstands. Ich wünsche mir, dass bedürftige Menschen nicht als Kulisse einer Bewegung missbraucht werden, die sich selbst immer ungehemmter selbst feiert. Diese Menschen sind keine Komparsen in einem Stück, das die tugendhaften Helfer in den Himmel lobt. Sie sind vielmehr die eigentlichen Hauptdarsteller.
Deshalb dieses Buch. Es ist verbunden mit der Hoffnung, dass das Bühnenstück von der »sozial gerechten Gesellschaft« in Zukunft unter einer vernünftigeren Regie aufgeführt wird als bisher. Von verantwortungsbewussten Menschen, die bereit sind, eine Perspektive einzunehmen, die Betroffene ernst nimmt, anstatt ihnen die eigene Sichtweise bevormundend auszureden. Wird dieser Perspektivwechsel vollzogen, dann wird eine neue gesellschaftliche Realität sichtbar, die für Millionen von Menschen Alltag ist. Denn der Staat trägt die Verantwortung für eine angemessene und menschenwürdige Versorgung der Armen, die ja auch Bürger mitten unter uns sind. Niemand sollte deren Wunsch, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als »spätrömische Dekadenz« diskreditieren, wie Guido Westerwelle es 2010 prominent tat.1 Stattdessen geht es in diesem Buch darum, in Zeiten grassierender Markttyrannei das Soziale im Interesse der Humanität zu verteidigen.
Für einen »Öffentlichen Soziologen« ist das eine Gratwanderung. Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten ein zumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Soziologie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen. Ich betreibe normativ engagierte Gesellschaftsforschung, die hoffentlich an manchen Stellen die Kraft hat, die herrschende Sprachlosigkeit zu beenden, weil sie die Sprache der Gesprächspartner ernst nimmt. Die Nationale Armutskonferenz2 forderte in einem Positionspapier, dass Armen eine Stimme gegeben werden müsse. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Da mein Ziel darin besteht, Soziologie öffentlich zu vermitteln, verzichte ich gerne auf die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe. Ich versuche damit, den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren. Damit möchte ich vor allem dazu beitragen, die Enttäuschten und Ungeschützten wieder in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.
Ich vertrete dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier dargestellten Szenen und Skizzen sind winzige Mosaiksteine, die sich aber zu einem großen Bild der Gesellschaft zusammenfügen lassen. Damit folge ich einem vielfach an mich herangetragenen Auftrag. »Das System muss wissen, dass es beobachtet wird« - diesen Satz schrieb mir ein Journalist, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. In ähnlicher Weise gab mir ein Tafelnutzer zum Abschied nach einem Gespräch folgende Bitte mit auf den Weg: »Ich wünsche mir, dass Sie ganz genau hingucken.« Nicht mehr länger wegschauen, genau hingucken, um Zusammenhänge zu erkennen, Interessen aufzudecken und Gesellschaft zu verändern - darum geht es. Ich teile meine Beobachtungen mit Ihnen, um Lust darauf zu machen, selbst nachzudenken. Ich wünsche mir, dass Sie als Lesende Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen können. Denn Denken ist Widerstand gegen Informationen. Der Inhalt dieses Buches kann und soll kritisiert, aber auch als Gesellschaftsdiagnose ernsthaft geprüft werden.
Letztlich geht es darum, eine um sich greifende Blindheit für die soziale Misere zu vermeiden. Gerne zitiere ich die einzige Folge der TV-Serie Die Simpsons, die ich je gesehen habe: Homer Simpson verursacht eine Massenkarambolage auf dem Highway. Er schaut in den Rückspiegel und sieht, wie sich die nachfolgenden Autos ineinander verkeilen. Seine Reaktion darauf kann als Sinnbild für die zweifelhafte Gnade der kollektiven Selbsttäuschung verstanden werden. Homer sieht die Autowracks und dreht daraufhin den Rückspiegel ein wenig zur Seite. Im Spiegel erscheint nun ein friedlich grasendes Reh auf einer wunderschönen Lichtung. Genau dies darf nicht passieren. Soziale Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Rückspiegel der eigenen Wahrnehmung nicht dauernd so zu verdrehen, dass darin nur das sichtbar wird, was gerade erwünscht ist.
Dieses Buch ist ein exemplarischer Blick in den unverstellten Rückspiegel der eigenen Gesellschaft. Es zeigt die Hinterbühne eines reichen Landes und vermeidet dabei den beruhigenden Blick auf die liebliche Lichtung. Diesem Blick standzuhalten heißt nicht, in depressive Empörung zu verfallen. Vielmehr geht es darum, den Aufbruch in eine bessere Zukunft vorzubereiten. Denn eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Neben der gesellschaftlichen Analyse stehen in den Kapiteln »Trostbrot« und »Der Chor der Tafelnutzer« die O-Töne von Armutsbetroffenen im Zentrum. Sie summieren sich hoffentlich zu einen hilfreichen Zeitdokument, das dazu beitragen kann, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen - auch wenn dieser bei zukünftigen Diskussionen gehörig wackeln wird.
© Econ Verlag
Was zufällig begann, ist inzwischen fester Bestandteil meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Zwischenzeitlich wurden einige meiner Thesen von Journalisten und von den Tafeln selbst aufgegriffen - wenn ich gut gelaunt bin, werte ich dies als Erfolg. Ich könnte mit dieser Rolle zufrieden sein. Nicht zufrieden bin ich hingegen nach wie vor mit der Gesellschaft, in der ich lebe. Dieses Buch schrieb ich aus Protest, als mir klarwurde, dass 2013 die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen feiern werden. Ich fragte mich, wie das wohl aussehen würde. Vielleicht wie im Herbst 2012, als ich zur 13-Jahr-Feier der Wiener Tafel in Österreich eingeladen wurde. Der Moderator wünschte allen Gästen »gute Unterhaltung bei einem höchst spannenden Thema«. Einen Abend lang standen die Themen ›Motivation älterer Ehrenamtlicher‹ und ›Tafelarbeit als Sinnstiftung‹ im Mittelpunkt. Ein Sozialforscher nannte die Wiener Tafel »vorbildlich«. Der Gründer der Wiener Tafel war begeistert vom Zuspruch anwesender Tafelhelfer. Kein Wort aber zu den Ursachen von Armut inmitten von Reichtum.
War dies ein Vorgeschmack darauf, wie die feierliche Stimmung in Deutschland unter Tafelmenschen, Tafelsponsoren und tafelnahen Politikern aussehen könnte? Für viele, auch für die uninformierte Öffentlichkeit, wird das 20-jährige Bestehen der Tafeln in Deutschland ein Grund zum Feiern sein. Den zu erwartenden Jubel, die eingeübten positiven Selbstdarstellungen der Tafeln sowie die pathetische Rhetorik der Politik möchte ich jedoch nicht unwidersprochen hinnehmen. Vielmehr ist es an der Zeit, dem Selbstlob eine fundiertere Perspektive entgegenzusetzen. Denn trotz zwischenzeitlich geschärfter sozialwissenschaftlicher Instrumente lässt sich die Public-Relations-Watte, in die die Tafelbewegung gepackt ist, noch immer schlecht durchdringen. Ich habe wenig Lust, mich dem arrangierten Schulterklopfen anzuschließen - lieber möchte ich eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie es sich aus der Sicht Armutsbetroffener anfühlt, seit vielen Jahren Teil dieses Systems zu sein. Und darüber, wie durch Tafeln und ähnliche Angebote die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich fortgeschrieben wird.
Dafür gibt es aus meiner Sicht gute Gründe. Die seit fast einer Generation mitten in Deutschland existierenden Tafeln werfen ernsthafte moralische Fragen auf, bei denen es im Kern um die existentielle Verletzbarkeit des Menschen geht. Um Rechte, die Bürgern dieses Landes (sowie in den deutschsprachigen Nachbarländern Schweiz und Österreich, wo Tafeln nach vergleichbaren Prinzipien betrieben werden) zunehmend aberkannt werden. Zentrale Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Verantwortung, Nachhaltigkeit sowie einem zivilisierten Menschenbild stehen auf dem Prüfstand.
Daher verfolgt dieses Buch das Ziel, einen Ausweg aus dem eher technokratischen Verständnis des Sozialen zu suchen. Wenn die Zivilgesellschaft die Versäumnisse des Sozialstaats kompensieren muss und sich Daseinsfürsorge vermehrt in privaten Almosensystemen erschöpft, wird zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur genutzt, sondern ausgenutzt. Mit diesem Buch ist daher eine Warnung verbunden. Es soll aber auch den Blick dafür schärfen, was es bedeutet, von der eigenen Gesellschaft aussortiert und an den unteren Rand gedrängt zu werden, dorthin, wo das eigene Leben als fremdbestimmt erfahren wird.
Das Material dafür liefern zahlreiche persönliche Begegnungen und Gespräche mit Nutzern von Tafeln und anderen existenzunterstützender Einrichtungen, die ich in den letzten Jahren bundesweit besucht habe. Daraus entstand eine detaillierte Analyse der Lebensrealität armutsbetroffener Menschen. Dieses Buch zeigt, dass der Preis für die dabei sichtbar werdende, weichgespülte Auffassung von Sozialpolitik hoch ist. Denn diese neigt immer mehr dazu, soziale Verantwortung an Freiwillige auszulagern und die Symptombehandlung von Armutsphänomenen an Agenturen wie Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern zu delegieren. Hilfeleistungen werden hier nicht angeboten, weil die Empfänger ein Recht dazu haben - sondern aus karitativen Motiven, die einer eigenen Logik folgen, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen im Blick haben. Da sich für die vielen Anbieter der Eigennutz der Hilfe immer wieder in den Vordergrund schiebt, bleiben die Hilfesuchenden oft genug auf der Strecke. In der Folge verwandelt sich unser Land in ein Schamland, in dem die Gewinner sich gegenseitig applaudieren, die Verlierer aber beschämt werden.
Während zahlreicher Podiumsdiskussionen und öffentlicher Veranstaltungen, zu denen ich als Experte zum Thema ›Tafeln und Armut‹ seit 2007 eingeladen wurde, fiel mir immer öfter auf, dass sich dort sehr selten diejenigen befanden, um die es eigentlich geht: die Armen. Mir gefiel überhaupt nicht, wie über eine gesellschaftliche Realität geredet wurde, von der die meisten der Anwesenden nur wenig Ahnung hatten. Das Wissen über die Armut stammte in aller Regel nur aus den Medien, die ihrerseits nur eine Oberfläche zu sehen bekamen. Armut ist Teil von Lebenswelten, zu denen man gerne auf sicherer Distanz bleibt. Immer offensichtlicher wurde, dass gerne über von Armut betroffene Menschen gesprochen wurde, nicht aber mit ihnen. In anderen Worten: Mir wurde immer klarer, dass in der Debatte über die Sinnhaftigkeit privater Hilfsformen (die ich zum Teil selbst mit angestoßen hatte) sowie über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Strategien der Armutsbekämpfung eine zentrale Perspektive fehlte.
Diese Leerstelle störte mich im Laufe der Zeit so sehr, dass ich beschloss, die Perspektive der Armutsbetroffenen in diesem Buch konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Im öffentlichen Diskurs schoben sich - unmerklich, aber doch verlässlich - meist die ehrenamtlichen Helfer in den Vordergrund. Menschen, die versuchen, mit viel Engagement eine Arbeit zu leisten, die bis vor kurzem noch der Sozialstaat übernommen hatte. Die Helfer sind dabei mit der moralischen Pose ausgestattet, immer das Richtige zu tun; sie werden angetrieben vom Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit und sind vor Kritik durch ihre Lobby und das Lob aus der Politik weitgehend geschützt.
Gerade deswegen erscheint mir ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Es ist an der Zeit, dass über den weniger bekannten Teil der Gesellschaft gesprochen wird. Es geht um die Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit derjenigen Menschen, die arm sind inmitten unseres gemeinsamen Wohlstands. Ich wünsche mir, dass bedürftige Menschen nicht als Kulisse einer Bewegung missbraucht werden, die sich selbst immer ungehemmter selbst feiert. Diese Menschen sind keine Komparsen in einem Stück, das die tugendhaften Helfer in den Himmel lobt. Sie sind vielmehr die eigentlichen Hauptdarsteller.
Deshalb dieses Buch. Es ist verbunden mit der Hoffnung, dass das Bühnenstück von der »sozial gerechten Gesellschaft« in Zukunft unter einer vernünftigeren Regie aufgeführt wird als bisher. Von verantwortungsbewussten Menschen, die bereit sind, eine Perspektive einzunehmen, die Betroffene ernst nimmt, anstatt ihnen die eigene Sichtweise bevormundend auszureden. Wird dieser Perspektivwechsel vollzogen, dann wird eine neue gesellschaftliche Realität sichtbar, die für Millionen von Menschen Alltag ist. Denn der Staat trägt die Verantwortung für eine angemessene und menschenwürdige Versorgung der Armen, die ja auch Bürger mitten unter uns sind. Niemand sollte deren Wunsch, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als »spätrömische Dekadenz« diskreditieren, wie Guido Westerwelle es 2010 prominent tat.1 Stattdessen geht es in diesem Buch darum, in Zeiten grassierender Markttyrannei das Soziale im Interesse der Humanität zu verteidigen.
Für einen »Öffentlichen Soziologen« ist das eine Gratwanderung. Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten ein zumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Soziologie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen. Ich betreibe normativ engagierte Gesellschaftsforschung, die hoffentlich an manchen Stellen die Kraft hat, die herrschende Sprachlosigkeit zu beenden, weil sie die Sprache der Gesprächspartner ernst nimmt. Die Nationale Armutskonferenz2 forderte in einem Positionspapier, dass Armen eine Stimme gegeben werden müsse. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Da mein Ziel darin besteht, Soziologie öffentlich zu vermitteln, verzichte ich gerne auf die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe. Ich versuche damit, den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren. Damit möchte ich vor allem dazu beitragen, die Enttäuschten und Ungeschützten wieder in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.
Ich vertrete dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier dargestellten Szenen und Skizzen sind winzige Mosaiksteine, die sich aber zu einem großen Bild der Gesellschaft zusammenfügen lassen. Damit folge ich einem vielfach an mich herangetragenen Auftrag. »Das System muss wissen, dass es beobachtet wird« - diesen Satz schrieb mir ein Journalist, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. In ähnlicher Weise gab mir ein Tafelnutzer zum Abschied nach einem Gespräch folgende Bitte mit auf den Weg: »Ich wünsche mir, dass Sie ganz genau hingucken.« Nicht mehr länger wegschauen, genau hingucken, um Zusammenhänge zu erkennen, Interessen aufzudecken und Gesellschaft zu verändern - darum geht es. Ich teile meine Beobachtungen mit Ihnen, um Lust darauf zu machen, selbst nachzudenken. Ich wünsche mir, dass Sie als Lesende Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen können. Denn Denken ist Widerstand gegen Informationen. Der Inhalt dieses Buches kann und soll kritisiert, aber auch als Gesellschaftsdiagnose ernsthaft geprüft werden.
Letztlich geht es darum, eine um sich greifende Blindheit für die soziale Misere zu vermeiden. Gerne zitiere ich die einzige Folge der TV-Serie Die Simpsons, die ich je gesehen habe: Homer Simpson verursacht eine Massenkarambolage auf dem Highway. Er schaut in den Rückspiegel und sieht, wie sich die nachfolgenden Autos ineinander verkeilen. Seine Reaktion darauf kann als Sinnbild für die zweifelhafte Gnade der kollektiven Selbsttäuschung verstanden werden. Homer sieht die Autowracks und dreht daraufhin den Rückspiegel ein wenig zur Seite. Im Spiegel erscheint nun ein friedlich grasendes Reh auf einer wunderschönen Lichtung. Genau dies darf nicht passieren. Soziale Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Rückspiegel der eigenen Wahrnehmung nicht dauernd so zu verdrehen, dass darin nur das sichtbar wird, was gerade erwünscht ist.
Dieses Buch ist ein exemplarischer Blick in den unverstellten Rückspiegel der eigenen Gesellschaft. Es zeigt die Hinterbühne eines reichen Landes und vermeidet dabei den beruhigenden Blick auf die liebliche Lichtung. Diesem Blick standzuhalten heißt nicht, in depressive Empörung zu verfallen. Vielmehr geht es darum, den Aufbruch in eine bessere Zukunft vorzubereiten. Denn eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Neben der gesellschaftlichen Analyse stehen in den Kapiteln »Trostbrot« und »Der Chor der Tafelnutzer« die O-Töne von Armutsbetroffenen im Zentrum. Sie summieren sich hoffentlich zu einen hilfreichen Zeitdokument, das dazu beitragen kann, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen - auch wenn dieser bei zukünftigen Diskussionen gehörig wackeln wird.
© Econ Verlag
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Autoren-Porträt von Stefan Selke
Stefan Selke, 1967, ist Professor an der Hochschule Furtwangen mit dem Lehrgebiet "Gesellschaftlicher Wandel". Im Rahmen seiner Feldforschungen beschäftigt er sich seit 2006 mit der modernen Armenspeisung in Suppenküchen und Tafeln. Er ist Initiator des Aktionsbündnisses "Armgespeist. 20 Jahre Tafeln sind genug!" und ist als kritischer Tafelforscher und öffentlicher Soziologe ein begehrter Gesprächspartner in den Medien.
Autoren-Interview mit Stefan Selke
In „Schamland" schreiben Sie darüber, wie sich das Leben für die Armen - immerhin jeden Siebten im Land - anfühlt. Wie kamen Sie als Soziologie-Professor überhaupt auf dieses Thema, diesen speziellen Blickwinkel?Stefan Selke: Eine Studentin, der ich bis heute sehr dankbar bin, hat mich 2006 in einem Flurgespräch darauf gebracht. Zu diesem Zeitpunkt war ichwissenschaftlicher Mitarbeiter mit einem Zeitvertrag -akademisches Prekariat also. Ich habe das Thema also nicht als Professor entdeckt, sondern als jemand, der die eigene nächste Arbeitslosigkeit vor sich sah. Schon meine ersten Recherchen machten mich wütend ohne Ende. Ich war geschockt, dass es so etwas wie ein Almosensystem in Deutschland gab, dass immer mehr Menschen zu einer Tafelgehen müssen, um über die Runden zu kommen. Daraus entstand der Impuls, weiter zu forschen. Sicher auch, weil ich mich noch gut an die Zeit meiner eigenen Arbeitslosigkeit (vor Hartz IV)erinnern konnte. Das war definitiv die schlimmste Zeit meines Lebens. Nun (nach Hartz IV) schien das alles flächendeckend eine ganz neue Form und ein ungeheures Ausmaß zu bekommen. Eine neue Architektur der Armutsversorgung und eine neue Armutskultur entstanden parallel. Diesen Wandel wollte ich besser verstehen. Neugierde, nicht Anklage stand also am Anfang.
Sie sind für Ihr Buch durchs ganze Land gereist, haben mit über 120 Menschen intensive Gespräche geführt, sie in ihrer konkreten Armutssituation erlebt. Was hat Sie bei den Begegnungen am meisten berührt?
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Stefan Selke: Mir war schnell klar: Was in dieser neuen Armutskultur in Deutschland passiert, kann ich nur verstehen und abbilden, wenn ich es mit eigenen Augen sehe und erlebe. Am meisten berührt haben mich nicht Dinge wie die Wohnsituation oder leere Kühlschränke. Schlimm war das Ausmaß der Selbstabwertung vieler meiner Gesprächspartner. Natürlich wertet sich kein Menschbewusst selbst ab, aber ich konnte es immer ‚zwischen den Zeilen' hören. Die Tatsache, dass sich sehr viele selbst die Schuld gaben, dass „alles so weit kommen konnte", das war schockierend -zumal es (fast) jeden treffen kann. Aber am schlimmsten war die Lautstärke der Klage: So leise, dass sich niemand daran stört. Diese stumme Klage war für mich der größte Skandal. Wenn Menschen von anderen abgewertet werden, ist das gemein. Wenn sich Menschen aber selbst nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlen, wenn sie sich nicht mehr trauen, den Mundaufzumachen, weil sie befürchten, noch das Letzte zu verlieren, wenn sie sich als nutzlos oderüberflüssig einstufen, dann ist das eine soziale Katastrophe - ungesehen und mitten unter uns.
Für einen Wissenschaftler schreiben Sie sehr ungewöhnlich. Da gibt es sehr gut beobachtete und glänzend geschriebene Reportage-Stücke, dann wieder persönliche Aussagen über Sieselbst und den Kunstgriff des „Chors", in dem Sie die Betroffenen mit einer Stimme sprechenlassen (und beim Leser eine Gänsehaut erzeugen). Sehen Sie sich mehr als Forscher oder mehr als Schriftsteller?
Stefan Selke: Dieses Buch hat mich sehr verändert. Ich lebe mit den vielen Stimmen, die ich gehört habe. Sie sind mein Arbeitsauftrag. Dabei bin ich mir bewusst, dass meine Art zu schreiben keiner typischen oder wissenschaftlichen Herangehensweise folgt. Heimlich liebe ich die Aussage von Voltaire, der sagte, dass jede Art zu schreiben erlaubt sei, nur nicht die langweilige. Leider gibt es in Deutschland kaum noch eine Wissenschaftskultur, in der neben Statistiken auch persönliche Dramen eine Rolle spielen. Dabei besteht die Welt doch letztlich aus Geschichten und nicht aus Fakten, oder? Mit „Schamland" wollte ich eine Grenze überschreiten, von der ich immer schongeträumt hatte. Dennoch sehe ich mich nicht als Schriftsteller. Ein Schriftsteller erzählt eine fiktive Geschichte. Aber nichts von dem, was ich berichte, ist erfunden. Ich wollte eine lebendige soziologische Zeitdiagnose schreiben, die Lust auf das Lesen macht. Meine Frau sieht allerdingseinen Schriftsteller in mir. Wie immer wird sie wohl am Ende Recht behalten.
Was müsste sich ändern, dass in Armut lebende Menschen sich weniger schlecht behandelt fühlen, nicht ausgeschlossen werden? Was wollen Sie mit dem Buch erreichen?
Stefan Selke: Mit dem Buch möchte ich eine ernsthafte öffentliche und politisch gewollte Diskussion über Armut beginnen und möglichst unterschiedliche Menschen dazu einladen - also die ganze Gesellschaft und nicht nur Fachwissenschaftler. Mir geht es um Aufklärung - da bin ich ganz Soziologe. Es muss also überhaupt erst einmal ein Problembewusstsein entstehen. Wie kann es sein, dass der Regierung in einem so reichen Land zur Armutsbekämpfung nichts anderes einfällt als Suppenküchen und Tafeln? Aber natürlich möchte ich auch konkrete Verbesserungenerreichen. Dafür habe ich mit vielen anderen das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" gegründet, das u.a. für ein beschämungsfreies Mindesteinkommen eintritt. Ich kann nur immer wieder betonen, dass sich eine Gesellschaft daran messen lassen muss, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Da gibt es in Deutschland noch viel zu tun. Und diese Baustellemöchte ich sichtbar machen.
Stefan Selke: Mir war schnell klar: Was in dieser neuen Armutskultur in Deutschland passiert, kann ich nur verstehen und abbilden, wenn ich es mit eigenen Augen sehe und erlebe. Am meisten berührt haben mich nicht Dinge wie die Wohnsituation oder leere Kühlschränke. Schlimm war das Ausmaß der Selbstabwertung vieler meiner Gesprächspartner. Natürlich wertet sich kein Menschbewusst selbst ab, aber ich konnte es immer ‚zwischen den Zeilen' hören. Die Tatsache, dass sich sehr viele selbst die Schuld gaben, dass „alles so weit kommen konnte", das war schockierend -zumal es (fast) jeden treffen kann. Aber am schlimmsten war die Lautstärke der Klage: So leise, dass sich niemand daran stört. Diese stumme Klage war für mich der größte Skandal. Wenn Menschen von anderen abgewertet werden, ist das gemein. Wenn sich Menschen aber selbst nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlen, wenn sie sich nicht mehr trauen, den Mundaufzumachen, weil sie befürchten, noch das Letzte zu verlieren, wenn sie sich als nutzlos oderüberflüssig einstufen, dann ist das eine soziale Katastrophe - ungesehen und mitten unter uns.
Für einen Wissenschaftler schreiben Sie sehr ungewöhnlich. Da gibt es sehr gut beobachtete und glänzend geschriebene Reportage-Stücke, dann wieder persönliche Aussagen über Sieselbst und den Kunstgriff des „Chors", in dem Sie die Betroffenen mit einer Stimme sprechenlassen (und beim Leser eine Gänsehaut erzeugen). Sehen Sie sich mehr als Forscher oder mehr als Schriftsteller?
Stefan Selke: Dieses Buch hat mich sehr verändert. Ich lebe mit den vielen Stimmen, die ich gehört habe. Sie sind mein Arbeitsauftrag. Dabei bin ich mir bewusst, dass meine Art zu schreiben keiner typischen oder wissenschaftlichen Herangehensweise folgt. Heimlich liebe ich die Aussage von Voltaire, der sagte, dass jede Art zu schreiben erlaubt sei, nur nicht die langweilige. Leider gibt es in Deutschland kaum noch eine Wissenschaftskultur, in der neben Statistiken auch persönliche Dramen eine Rolle spielen. Dabei besteht die Welt doch letztlich aus Geschichten und nicht aus Fakten, oder? Mit „Schamland" wollte ich eine Grenze überschreiten, von der ich immer schongeträumt hatte. Dennoch sehe ich mich nicht als Schriftsteller. Ein Schriftsteller erzählt eine fiktive Geschichte. Aber nichts von dem, was ich berichte, ist erfunden. Ich wollte eine lebendige soziologische Zeitdiagnose schreiben, die Lust auf das Lesen macht. Meine Frau sieht allerdingseinen Schriftsteller in mir. Wie immer wird sie wohl am Ende Recht behalten.
Was müsste sich ändern, dass in Armut lebende Menschen sich weniger schlecht behandelt fühlen, nicht ausgeschlossen werden? Was wollen Sie mit dem Buch erreichen?
Stefan Selke: Mit dem Buch möchte ich eine ernsthafte öffentliche und politisch gewollte Diskussion über Armut beginnen und möglichst unterschiedliche Menschen dazu einladen - also die ganze Gesellschaft und nicht nur Fachwissenschaftler. Mir geht es um Aufklärung - da bin ich ganz Soziologe. Es muss also überhaupt erst einmal ein Problembewusstsein entstehen. Wie kann es sein, dass der Regierung in einem so reichen Land zur Armutsbekämpfung nichts anderes einfällt als Suppenküchen und Tafeln? Aber natürlich möchte ich auch konkrete Verbesserungenerreichen. Dafür habe ich mit vielen anderen das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln" gegründet, das u.a. für ein beschämungsfreies Mindesteinkommen eintritt. Ich kann nur immer wieder betonen, dass sich eine Gesellschaft daran messen lassen muss, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Da gibt es in Deutschland noch viel zu tun. Und diese Baustellemöchte ich sichtbar machen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan Selke
- 2013, 288 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ECON
- ISBN-10: 3430201527
- ISBN-13: 9783430201520
- Erscheinungsdatum: 12.04.2013
Rezension zu „Schamland “
Selkes Porträt der Armut geht unter die Haut . , Psychologie heute, Tilmann Moser, 01.10.2013
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